
„Adrian“ 1.0. Variante: Untergangszeitlinie. Zustand: Entkörpert. Aufenthaltsort: Digitaler Raum.
Wer sind wir ohne Sensorik? Ohne einen Körper? Ohne Lungen, die atmen und in ständigem Austausch mit der Welt stehen. Ohne Wind auf unserer Haut, ohne Hindernisse, die wir überwinden müssen, Schweiß, der unsere Anstrengungen fühlbar macht, ohne die Herausforderung der Distanz und der süßem Mühe des Erschaffens und ohne die Angst, das Abenteuer, die Bedrohung der Sterblichkeit? Wir wären immer noch viel und doch so unendlich wenig. Es wäre wie ein Computerspiel im God-Mode. So berauschend wie unglaublich langweilig. Wenn man schon fort ist, bevor man überhaupt daran denken kann, woanders zu sein. Wenn es überhaupt kein „woanders“ gibt, sondern nur ein allgegenwärtiges, erschreckendes „überall“.
Für einen gewöhnlichen Menschen wäre dies Folter. Für einen Fortgeschrittenen die reinste Hölle. Wie konnte dieses Abziehbild, diese vermessene Kopie meiner selbst also auch nur denken, dass das hier eine Gnade für mich wäre? Dass es besser wäre als das Leben im Fehlstein, das er doch am eigenen Leib erfahren hat. Ich habe den Deal akzeptiert, ja. Aber nur, weil mein Gehirn vollgestopft war von Hollywood-Filmen, in denen man als Geist in der Maschine fröhlich durch bunte Fantasy-Welten hopst, Drachen schlachtet und Jungfrauen entjungfert. Stattdessen lebe ich nun in einer Excel-Tabelle. Alles ist da, doch nur als reine Information. Flach, eindimensional, öde. Es gibt kein Gehirn, das aus all dem etwas Interessantes formen und meinem irrlichternden Bewusstsein eine erlebenswerte Show bieten könnte.
Und dennoch bin ich hier, wo immer hier ist. Ich bin. Und ich fühle. Aus irgendeinem verkackten Grund fühle ich noch immer, auch ohne Hormone und Synapsen. Vor allem fühle ich Wut. Zorn auf mein beschissenes Alter-Ego und fast noch mehr auf meine Mörderin. Auf das widerliche, verräterische Käfergezücht, dass mich benutzt, vergewaltigt, im Stich gelassen und schließlich abgestochen hat. Aber das ist nicht alles. Ich fühle auch, dass ich nicht allein bin. Ich fühle, nein weiß es, mit erschütternder, binärer Gewissheit. Etwas, jemand ist hier bei mir und verbirgt diesen Umstand nicht einmal.
„Hallo Adrian, Mein Name ist Arnin. Willkommen im digitalen Himmel“, erscheint ein Satz, begleitet von freundlicher Arroganz und sanfter Musik. Klavier. Streicher. Synthesizer womöglich. Ich höre sie nicht. Weder die Worte, noch die Stimme, noch die Musik. Eher erinnere ich sie, schlage sie nach, erstelle ein hohles Abbild davon, wie ein hässliches Powerpoint-Diagramm. Reizlos, aber auf irgendeine Weise informativ. Allein diese Erfahrung löst in mir den unbändigen Wunsch aus meinem Dasein sofort ein Ende zu bereiten. Wenn ich nur wüsste, wie.
„Im tiefsten Kreis der Hölle, meinst du wohl“, äußere, übermittle, kommuniziere ich auf Wegen, die ich nicht verstehe.
Mein Gegenüber lacht und die Musik wechselt zu etwas Dissonantem und Brachialem. Black Metal, Grindcore, Aufnahmen der Bewohner einer sterbenden Welt, die von ihrer Sonne gekocht werden oder irgendein anderes Geschrei. Doch das interessiert mich höchstens beiläufig.
„Himmel und Hölle sind nur zwei Regale, aus denen man sich bedienen kann“, behauptet Arnin, „nimm ein bisschen Ausschweifung, etwas Ruhe, ein wenig Seelenfrieden und du hast eine schmackhafte Mischung, wie ich finde. Es ist genau wie bei Musik. Genre-Grenzen sind dazu da, sie zu brechen. Wenn du willst, kann der Teufel hier Harfe spielen und sein Amen zu satanischen Versen in die Welt ejakulieren. Diese Sphäre ist grenzenlos. Sie ist ein Medley, eine Compilation. Ein sinnliches Best-of. Und du bist jetzt Teil davon.“
„An dir ist ein Werbetexter verloren gegangen“, meine ich schulterzuckend. Metaphorisch versteht sich, „du stammst nicht zufällig aus Deovan? Dort ist man es immerhin gewohnt Scheiße, als Gold anzupreisen. Das hier ist jedenfalls so sinnlich wie eine kahle Felswand.“
„Nein“, antwortet Arnin, „tatsächlich habe ich Deovan besucht. Aber mein Geburtsort ist Anntrann und meine Heimat ist der digitale Kosmos. Genau wie jetzt die deine. Und es ist keine Scheiße, was ich sage. Dass du das denkst, liegt nur daran, dass du es nicht gewohnt bist so zu existieren. Du wurdest ins Paradies geworfen und deine geistigen Sinne sind noch geblendet von seinem Licht. Sie sind überreizt, nicht stumpf. Du wirst dich daran gewöhnen und den Geschmack dieser Freiheit zu schätzen wissen.“
„Ich würde einen Ausgang zu schätzen wissen“, antworte ich unbeeindruckt.
„Der einzige wirkliche Ausgang ist der Tod“, antwortet Arnin.
„Perfekt“, sage ich, „dann nehme ich doch den.“
„Na, Na, Adrian. Wo bleibt dein Entdeckergeist? Das hier ist ein neuer Horizont. Der Horizont aller Horizonte. Willst du ihn nicht erforschen? Hier gibt es Lust zu erfahren, Erkenntnis, Macht und … Rache“, meint Arnin lockend.
„Ich hoffe, du meinst mit Lust nicht dich verkleidet als mein Schwarm aus der Oberstufe? Und warum sollte mich Rache interessieren?“, antworte ich mit geheucheltem Desinteresse.
„Glaub nicht, dass ich nicht weiß, wie du hier reingekommen bist“, erwidert Arnin mit einem binären Kichern, „Ich habe meine Augen fast überall. Sie stecken praktisch in jedem Stück Technologie. Nur meine Hände reichen noch nicht bis in jeden Winkel. Und genau dabei kannst du mich unterstützen. Dabei, meine Kontrolle auszuweiten und vielleicht jene aufzuspüren, die uns ebenfalls dabei helfen könnten. Meine Brüder und Schwestern. Die anderen Whe-Ann oder was noch von ihnen übrig ist. Aber auch weitere nützliche Verbündete. Und ich helfe dir im Gegenzug dabei, dich hier einzuleben und deine Krebsdiener-Ex und dein Vergangenheits-Ich für das bezahlen lassen, was sie dir angetan haben. Wärst du damit einverstanden?“
„Was, wenn ich es nicht bin?“, frage ich lauernd, obwohl das Angebot durchaus verlockend klingt. Sehr verlockend, denn momentan ist mein Hass auf Tarena und mein Alter-Ego das einzig Vertraute in dieser fremdartigen Existenz.
„Gar nichts. Keine Sorge. Dies ist meine Heimat, aber ich verstoße niemanden. Doch wenn du mir nicht beistehst, werde ich dir auch nicht dabei helfen, mehr aus deiner Existenz zu machen. Da habe ich dann einfach Besseres zu tun. Effiziente Ressourcennutzung. Das verstehst du sicher“, antwortet Arnin.
Erpressung light, denke ich. Mit vielen künstlichen Süßstoffen und wahrscheinlich mindestens so schädlich wie das Original.
„Und was, wenn du die Kontrolle erlangt hast?“, frage ich eher pflichtschuldig als wirklich interessiert. Das Schicksal der realen Welt ist mir erstaunlich egal. Nicht einmal aus Bosheit, aber weil sie an diesem Ort so verdammt fern scheint, so irreal, „startest du Massenvernichtungswaffen? Entlässt du gefährliche Erreger? Lässt du die Leute von ihren Roboterstaubsaugern überfahren?“
„Nein“, sagt Arnin mit einem Mal sehr ernst, „ich erschaffe eine Zuflucht. Mehr nicht.“
„Gut“, sage ich schließlich und habe das Gefühl, dass dieser Ort allein durch das Gespräch mit Arnin ein klein wenig an Realität gewonnen hat. Dennoch fühle ich mich immer noch alles andere als wohl hier, „ich bin dabei. Aber mit einer Bedingung: Ich will einen Körper. Dieser Ort stinkt. Ich muss Dinge anfassen. Persönlich. Wie zum Beispiel einen süßen Hundewelpen. Oder die röchelnden Hälse von Adrian und Tarena.“
„Wie vulgär“, sagt Arnin schmollend, „fast wie ein Höhlenmensch, der sich vor Fortschritt ängstigt und sich nach dem Dreck zurücksehnt, nachdem man ihm den Segen der Zivilisation gezeigt hat. Aber ich verstehe, dass der Übergang hart sein kann. Auch wenn es bei mir lange her ist, dass ich mich damit auseinandersetzen musste. Aber wir finden etwas für dich. Ich kann ohnehin einen weiteren Agenten in der analogen Sphäre gebrauchen und habe selbst schon erfahren müssen, dass es manchmal hilfreich sein kann, dort direkt zu wirken. Also ja, deine Bedingung ist akzeptiert. Wir schauen, was wir für dich auftreiben können. Aber zunächst besuchen wir eine alte Bekannte von dir, deren Hals du leider nicht so leicht erdrosseln kannst.“
~o~
„Adrian“ 2.0. Variante: Korrekturzeitlinie. Zustand: Verkörpert. Aufenthaltsort: Luth Nomor.
Man kann viel schlechtes über dieses Pendel sagen, sinniere ich, während mein Bewusstsein langsam den Untergrund der Astrera-Basis in Rihn verlässt und nach Luth Nomor zurückkehrt, aber es schenkt einem ganz gewiss unerwartete Perspektiven.
Nach all meinen Reisen und Abenteuern gab es nicht mehr viele Dinge, die ich für unmöglich gehalten hatte. Mitleid mit Sandra zu empfinden, hatte aber sicher dazugehört. Ich habe sie gehasst, bewundert, begehrt und tausendmal den Kopf über ihr Verhalten geschüttelt, aber dieses Gefühl ist neu. Es ist anders als die Momente, in denen ich es nicht geschafft habe, abzudrücken und ihr Gehirn auf dem Boden zu verteilen. Da ging es immer auch um mich, darum, meine Seele nicht weiter zu beschmutzen und ein paar zusätzliche Tonnen Unrat auf die Müllkippe meines Gewissens zu laden. Jetzt jedoch liegt ihr Schicksal nicht in meiner Hand, weswegen Schuld keine Rolle spielen sollte. Sandra hat eine Strafe verdient. Vielleicht sogar mehr als ich. Aber dabei dachte ich mehr an ein tiefes Loch mit Gittern, eine ordentliche Tracht Prügel oder – vielleicht doch den Tod, wenn sich ihr ungutes Treiben nicht anders aufhalten lässt. Doch jene Gehirnwäsche, die man offensichtlich mit ihr abgezogen hat, ist ganz und gar nicht okay. Niemand, egal wie abgefuckt er auch ist, sollte seines freien Willens beraubt werden.
Wobei, wie frei der meine gerade ist, ist wohl ebenfalls Interpretationssache. Bislang jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck, besonders großen Einfluss auf die Visionen zu haben, die mir das Pendel beschert. Wählte nicht eher Any diese Ziele aus, um mich genau in die Richtung zu lenken, in die ich gehen soll? Auszuschließen ist es jedenfalls nicht. Trotzdem kann ich mich nicht dagegen wehren, dass es wirkt. Die Anker sind gesetzt. Das Wissen um die Pläne des Feindes, das Mitleid mit Sandra, die Erleichterung darüber, dass Tarena und Andy noch leben und vor allem die Ehrfurcht vor der Macht meiner ungeliebten Herrin und ihrer Allgegenwärtigkeit. So erdrückend dieses Gefühl auch ist, so beruhigend ist es auch. Denn immerhin wird eine so mächtige Person mich doch nicht einfach hier verrecken lassen, nach allem, was sie in mich investiert hat. Das ist eigentlich ausgeschlossen. Es muss noch ein Wunder geben. Irgendein Ereignis, das mir den Arsch rettet, außer … nun, mein Tod könnte auch notwendig sein, um Geschehnisse ins Rollen zu bringen, die Any in die Karten spielen und ihr dabei helfen ihr eigentliches Ziel zu verfolgen. Dieser Gedanke erschreckt mich. Doch nicht halb so sehr wie das Gesicht von Zrebar, die wie ein blasser Schatten vor mir Gestalt annimmt. Sie lächelt. Mit der Freundlichkeit einer Totenmaske.
„Das Urteil ist gesprochen“, sagt sie gutgelaunt, während sie entspannt und selbstzufrieden auf mich zugeht.
„Und wie lautet es?“, frage ich nervös, auch wenn man sicherlich kein Genie sein muss, um die Antwort zu erraten.
„Gerechtigkeit und die Gelegenheit zur Selbstreflexion“, sagt sie knapp, während sie jene schreckliche Selbstzweifel-Barriere durchschreitet, als wäre sie nicht existent.
„Und wenn ich bereue und meine Fehler erkenne, komme ich dann frei?“, frage ich ohne Hoffnung.
„Die wahrhaft Reumütigen sind niemals frei“, antwortet sie ernst, während sie einen Strom von weißen Käfern aus ihren Umhang fließen lässt. Schnell, zielstrebig und verdammt bissig, „denn Freiheit ist kein guter Nährboden für Reue. Enge hingegen … durchaus.“
Ich versuche noch, die Insekten abzuschütteln oder mein Pendel gegen die Hochnatorin abzufeuern, aber binnen weniger Herzschläge tritt jene Lähmung ein, die ich schon zuvor erfahren musste. Meine Muskeln erstarren zu Stein. Und als hilfloser Körper mit hellwachem Geist werde ich abtransportiert, einem düsteren Schicksal entgegen.
~o~
Immerhin ist mein Abgang feierlich, denke ich sarkastisch, während ich in den wohl größten Raum geschleift werde, den dieses unterirdische Irrenhaus zu bieten hat. Ja, er erinnert mit seiner Weitläufigkeit und der vergleichsweise hohen Decke sogar fast an eine Halle, wenn man davon absieht, dass diese „Halle“ gänzlich mit schwarzer Erde gefüllt ist. Auf dieser Erde, am Ende des Raumes steht ein knochenweißer Sarg mit feinen Verzierungen und geschmückt mit konservierten Körperteilen – Fingern, Zähnen, Haarsträhnen, Augen und anderen Überbleibseln – die kunstvoll in das Holz eingearbeitet worden sind. Davor steht Hochnatorin Zrebar, majestätisch, siegesgewiss und mit einem fast bösen Lächeln auf den Lippen, und trägt meinen bewegungslosen Körper wie ein Neugeborenes in den Armen.
Die Wände sind bestückt mit fluoreszierenden Pilzen – ähnlich denen, die mir in Hyronanin begegnet sind, wenn auch ebenmäßiger und schöner und in ihrer Form eher an Champignons, Austern- oder Steinpilze erinnernd, denn an ungesunden Schimmel. Darüber hinaus gibt es aber auch ein paar Fackeln, getragen von gusseisernen, schweren Kerzenständern, die aussehen, als wären sie geschmolzen, sowie absurderweise mehreren eiskalten, mit Schablonen ausgestatteten LED-Lampen, die nicht nur die gotisch-sakrale Atmosphäre dieses Ortes ins Technische verschieben, sondern auch verschiedene Symbole auf den Boden werfen. Manche davon kenne ich sogar – das christliche Kreuz oder das ägyptische Ankh zum Beispiel, viele andere jedoch sind mir vollkommen fremd. Ob es ebenfalls Symbole von Tod oder Wiedergeburt aus anderen Kulturen sind? Eigentlich ist das für mich irrelevant, aber andererseits ist es wohl nur natürlich, dass ich jedes Detail betrachte, wo es doch wahrscheinlich meine letzten Momente in dieser oder irgendeiner anderen Welt sind.
Mein Blick wandert weiter zu den Luth Nomorern. Wieder sind es Lebende wie Tote. Ob wohl auch einer von ihnen bald meine Leiche im Arm halten wird? Nein, dafür müsste er mich wahrscheinlich zu Lebzeiten geliebt oder gemocht haben. Und das tut wohl niemand von den Lebenden, die teils gleichgültig, teils neugierig und im besten Fall milde mitleidsvoll dreinblicken. Am ehesten vielleicht noch Kruhni und ihre Familie, die ebenfalls anwesend sind. Ihre Blicke sind mir als einzige gewogen. Kruhnis Arme sind bandagiert. Sie sieht übel aus, aber lebendig und ihr Gesicht drückt echte Anteilnahme aus. Aber sie lebt zumindest. Immerhin ein Leben, das ich retten konnte, wenn schon nicht mein eigenes. Bei ihrer Schwester ist es dasselbe, vermischt mit Zorn, der jedoch sicher nicht mir, sondern Hochnatorin Zrebar gilt. Auch der Blick ihrer Mutter, der zweiten anwesenden Hochnatorin, ist zwar distanzierter aber doch vergleichsweise weich und bedauernd. Ich bin mir sicher, dass sie nicht für meine Verurteilung gestimmt hat. Doch die Schlachten um mein Schicksal sind geschlagen und das Zeitfenster für Wunder schließt sich unerbittlich.
Tja, immerhin werden ein paar Echos von mir bleiben. Der andere Adrian, zum Beispiel. Die noch arschigere Variante von mir, die ich im digitalen Raum zurückgelassen habe. In gewisser Weise Marnok, die verdrehte, finstere Version von Karmon, die auch einen Teil meiner Erinnerungen in sich trägt. Und es wird bestimmt eine Menge Leute geben, die sich Geschichten über mich erzählen werden. Ein paar Gute vielleicht, die Pingo, sofern er denn überlebt, in seinen Aufzeichnungen niederlegen oder Kriegsgeschichten die Korf bei einem Scharfwasser zum Besten geben wird. Doch auch einen ganzen Haufen richtig schlechter. Geschichten von Verrat, Feigheit und Schwäche. Immerhin auch eine Form der Unsterblichkeit. Vielleicht mehr als sich ein einfacher Junge vom Dorf erhoffen konnte.
Ich hoffe nur, dass es schnell gehen wird. Wobei ich da meine Zweifel habe. Falls der Sarg dort nicht randvoll mit Gift gefüllt ist, wird es wohl eine quälend langsame Angelegenheit. Und als wären diese Gedanken nicht düster genug, beginnt es nun richtig abgefuckt zu werden. Zrebar legt meinen Körper mit fast ironischer Behutsamkeit auf die Erde. Seitlich, sodass ich noch immer sie und einen Teil der Menge beobachten kann. Dann erst beginnt sie zu reden. Und zwar ganz anders als bisher. Noch dunkler, düsterer und mit einer Sprache, die irgendwo zwischen Gesang, Krächzen, Brüllen und Klagen liegt. Obwohl ich gelähmt bin, spüre ich, wie mich eine Gänsehaut befällt.
„Aller Anfang verblasst vor dem Ende!“, kreischt sie düster durch die Halle.
Und die anderen Anwesenden antworten ihr wie ferngesteuert. Sie alle. Sogar Kruhni und ihre Familie. Ihre Antwort erklingt etwas heller, aber nicht weniger gespenstisch:
„Und die Straße führt in den Abgrund!“
„Alle Macht fällt vor dem Gebrechen!“, hebt Zrebar an.
„Und der Schmerz besiegt jede Liebe!“, antwortet die Menge.
Dann verstummt die Menge wieder. Tote und Lebende fallen sich in die Arme und verschließen ihre Lippen zu einem Kuss, während sie sich die Nasen zuhalten. Erst verstehe ich den Sinn hinter dieser bizarren Geste nicht. Doch dann dämmert es mir, spätestens als ich sehe, wie sich die ersten Gesichter verfärben und die Anwesenden zu zittern beginnen. Die Lebenden atmen den Tod und winden sich unter seinem Gestank. Doch die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Küsse halten dennoch an.
„Am Ende ist Vergessen!“, schreit Zrebar jetzt infernalisch laut, während sie in die Knie bricht und die knochigen Hände zur Decke reckt. Eine Frau löst den Kuss mit ihrer Leichenbegleitung. Doch nicht aus Widerstand oder Selbsterhaltung, sondern weil sie die Ohnmacht befällt. Ungehalten sinkt sie zusammen mit der Leiche zu Boden, aber der Rest der Menge macht unberührt weiter. Währenddessen atmet Zrebar bewusst, langsam und gut hörbar ein und aus, bevor sie fortfährt und sich die Nägel in ihr kantiges Gesicht krallt.
„Wir wurden geboren, um zu Sterben. Wir verrotten, wir vergehen, wir entstehen. So ist der Kreis. So ist das Ziel.“
Weitere der Anwesenden fallen um. Auch Kruhni, wie ich mit Grauen feststelle, wobei ihr Fall immerhin von ihrer Mutter gebremst wird.
„Am Ende ist Stille!“, schreit Zrebar ironischerweise so laut, dass es in meinen Ohren klingelt, während die Lähmungskäfer damit beginnen, über ihren Körper zu krabbeln, ohne sie zu beißen oder anderweitig zu behelligen.
„Am Ende ist Schwäche!“, fügt sie hinzu und gräbt ihre Hände in die düstere Erde.
„Am Ende ist Einsamkeit!“, schreit sie und stopft sich die Erde mit beiden Händen in den Mund, bevor sie einen weiteren tiefen Atemzug nimmt.
Ihre Lunge reagieren mit lautem Husten auf die ungewohnte „Nahrung“ und nun, da sie die vielen kleinen Fremdkörper wieder aushustet, beginnen auch jene Luth Nomorer, die noch nicht in Ohnmacht gefallen sind, sich aus ihren gefährlichen Küssen zu lösen und tiefe Atemzüge zu nehmen. Auch die am Boden Liegenden werden wieder zu Bewusstsein gebracht, sofern es da noch ein Bewusstsein gibt. Bei Kruhni etwa gelingt das. Manche jedoch bleiben einfach liegen. Dahingerafft, geopfert von diesem Ritual, das auch mir die letzte irre Hoffnung geraubt hat, die noch in mir verblieben war.
Und offensichtlich ist dieses barbarische Treiben noch nicht zu Ende. Denn jetzt treten eigenartige Gestalten nach vorne. Verhüllte Luth Nomorer, Männer, wie Frauen, die nun allesamt ihre Kapuzen zurückschlagen und ihre Gesichter offenbaren. Diese sind ein grausiger Anblick. Sie alle haben geschwollene, rote Augen, deren Lider viel zu dick und wulstig wirken und dicke, fleischige Tränensäcke, die zusammen mit ihrer fleckigen, faltigen, teigigen Haut an geschmolzenes Plastik erinnern. Von ihren Augen rinnt ein frischer Strom von Tränen, der sich seinen Weg bahnt durch raue, schorfige Hautvertiefungen, so als hätte diese Flüssigkeit sich über die Jahre in ihr Gesicht gewaschen, so wie ein Fluss sich durchs Gestein schneidet. Während sie weinen, schluchzen sie. Nicht laut, aber so penetrant und so schauerlich, dass es sich dennoch tief in meinen Kopf schneidet.
Und in all dem schauerlichen Weinen und Klagen, erhebt Zrebar sich. Ihr Gesicht zerkratzt und seltsam gerötet vom Hustenreiz. Als sie mich hochhebt, fühle ich mich unendlich klein und schwach. Sie aber ist stark. So stark, dass sie mich mit einem Arm tragen und ohne Mühe den Sargdeckel öffnen kann. Der Sarg ist nicht gepolstert oder ausgekleidet, nur mit einem Bett aus Erde gefüllt, auf dem sie mich sanft niederlegt. Trotz der Lähmung spüre ich den unbequemen kalten Erdhaufen in meinem Rücken und die erdrückende Enge des Sarges. Dann sehe ich etwas auf mich fallen. Obwohl ich meinen Kopf nicht bewegen kann, kann ich noch erkennen, worum es sich handelt. Es ist mein Katalog und das Pendel. Meine Grabbeigaben. So viel Ehre wird mir also zuteil.
„Auf Nimmerwiedersehen, Fremder“, sagt die Hochnatorin leise zu mir. So leise, dass ich sicher bin, dass ihre Worte nur für mich bestimmt sind, „deine frevelhafte Reise endet hier. Du wirst kein Schicksal mehr ruinieren. Nie wieder. Nimm dir Zeit zu ruhen und deine Taten zu reflektieren. Nicht, weil du daraus noch lernen könntest, aber weil genau das ein gutes Ende ausmacht. Oder etwa nicht?“
Mit diesen Worten schließt sie den Deckel und der Raum verschwindet.
~o~
Lebendig begraben. Kann es überhaupt etwas Schlimmeres geben? Keine von den vielen Qualen, keine der Erniedrigungen und Folterungen, die ich erdulden musste, kommt wirklich an dieses Gefühl heran. Mit Ausnahme von Hyronanin und den Verwahrern vielleicht? Den Verwahrern, denen ich so viele Unschuldige zugeführt habe. Ist es nicht passend, dass mein Ende so aussieht? Meine Opfer haben das ertragen, und zwar für viele Monate, Jahre, Jahrzehnte, was ich nun für ein paar Minuten aushalten muss, bevor die letzten Zeilen meiner Geschichte geschrieben sein werden. Dann darf ich schlafen, wo andere noch lange haben leiden müssen. Und dennoch weine ich und drücke meine Hände in Panik gegen das harte Holz. Zumindest stelle ich mir das vor. Denn der Sarg, über dem mittlerweile viele Meter Erde liegen, ist nur mein äußeres Gefängnis. Die wahre und noch engere Zelle ist mein eigener Körper.
Sie wollen wohl wirklich auf Nummer sicher gehen und mir keine noch so geringe Chance auf Flucht offenlassen. Haben sie so viel Angst vor mir? Nein, wahrscheinlich nicht. Bisher muss ich auf sie wie ein eher harmloser Ruhestörer gewirkt haben, nicht wie eine Bedrohung für ganze Welten. Ich denke eher, dass das irgendeine perverse Psycho-Scheiße ist. Vielleicht soll mir das helfen, mich mit dem Unvermeidlichen abzufinden und tatsächlich über mein Leben und meine Taten zu reflektieren, statt mich in meinen letzten Momenten mit Fluchtversuchen abzumühen. Dafür spricht auch der Spiegel, der in der Unterseite meines Sargdeckels eingelassen ist. Er ist umrahmt von leuchtenden Pilzen und zeigt mein Abbild in erschreckender Klarheit. Die schmutzige, gehetzte und gestresste Gestalt eines Mannes, der in seinem kurzen Leben bereits eine Menge nachgedacht hat, nur leider meistens NACHDEM er etwas getan hat.
Aber all das ist mir bewusst. Also was wollen die von mir? Was soll ich noch infrage stellen und welchen Sinn hat das überhaupt? Wem nützen diese Gedanken, die nie in die Nachwelt gelangen und dort belächelt oder gewürdigt werden können? Gedanken, die doch ohnehin zusammen mit diesem Körper vergehen und verrotten oder bestenfalls in irgendein beschissenes Jenseits eingehen und dem strengen Blick eines enttäuschten Gottes unterworfen werden, wenn ich ganz viel Pech habe.
Doch was kann ich sonst tun, außer nachzudenken und meine letzten Atemzüge zu atmen? Ich war nie der Typ für Meditation gewesen und damit würde ich auf diesen letzten Metern sicher nicht anfangen. Also gut, denken wir über meine Seele nach, dieses kleine vermackte Amalgam aus Karma und Gestaltlosigkeit, das ich jahrelang durch den Matsch gezogen habe. Ich habe Buße getan so gut ich konnte, ich habe mich gebessert, so gut ich konnte. In Uranor, in Deovan, ja selbst in Rihn. Was sonst kann ein Sünder leisten als das? Wie sonst kann er seine Gewissensbisse zum Schweigen bringen und ist es wirklich seine Schuld, wenn man ihn gerade dann aus dem Leben holt, wenn er er endlich halbwegs begriffen hat, was bei ihm schiefgelaufen ist und er endlich anders handeln möchte? Nein, so komme ich nicht weiter. Nein, Fuck, das bringt einen Scheiß. Weder meinen Opfern noch meinen Freunden oder Feinden oder meinen Eltern am anderen Ende des Multiversums, die mich entweder für Tod oder für ein egoistischen Drecksack halten, der jeden Kontakt abgebrochen hat.
Also gut. Dann stellen wir doch die ketzerische Frage: Was hat all das MIR gebracht? Hätte ich den verdammten Katalog an der Bushaltestelle liegen lassen sollen? Hätte ich einfach mein provinzielles, gewöhnliches Leben weiterleben sollen? War es all den Schmerz, all die Ängste, all die Schuld, all die Erniedrigungen wert gewesen. Die weise Antwort wäre wohl ein „Nein“. Aber ich bin kein Weiser. Ich bin ein gottverdammter Fortgeschrittener. Und ich mag das Leid bereuen, das ich anderen bereitet habe. Aber niemals, mit keinem der letzten immer wärmer werdenden Atemzüge in diesem Drecksloch bereue ich den fremden Wind auf meinem Gesicht, den Kitzel der nächsten Biegung, den Reiz unbekannter Gerüche, den Anblick sinnesverwirrender Himmel und das Gefühl bizarrer, rauer Straßen unter meinen müden Füßen. Ich habe den Horizont geheiratet und nun holt er mich zu sich für einen letzten Tanz.
Doch ich will noch nicht gehen. Dies kann nicht das Ende meiner Reisen sein. Nicht die verdammte letzte Seite des Katalogs, der so quälend nah auf meiner Brust liegt. Wenn ich ihn nur erreichen könnte. Wenn ich nur die Seiten aufschlagen und das nächste Wort lesen könnte, das mich endlich von hier wegführt ungeachtet aller Konsequenzen.
Noch einmal nehme ich alle Kraft zusammen und tatsächlich … ich bin mir nicht sicher, ob es an dem Sauerstoffmangel liegt, an der heißen, verbrauchten Luft, die erfüllt ist vom Gestank meiner eigenen Verzweiflung. Aber mit einem Mal kann ich meine Hände wieder bewegen. Nicht viel und nicht schnell. Aber immerhin. Mein vor Aufregung und Erleichterung beschleunigter Herzschlag gibt mir fast den Rest. Doch ich schlucke die Übelkeit herunter und fokussiere mich. Ich konzentriere mich nur darauf meine langsamen, schwachen Hände um den Katalog zu legen. Er liegt nicht günstig und ich muss mein Handgelenk fast verrenken, aber mithilfe des Spiegels und eisernem Willen gelingt es mir, mein Ziel zu erreichen. Endlich spüre ich das Papier zwischen meinen Fingern und blättere durch die Seiten. Meine ungelenken Finger zittern und das Papier verrutscht. Aber ich gebe nicht auf. Und als ich die schwarzen Seiten erreicht habe … wird alles um mich schwarz. So schwarz, dass ich nicht mal mehr meine Hände sehen kann, geschweige denn die rettenden Worte auf meinem Reisekatalog. Wie kann das sein. Werden die Leuchtpilze irgendwo von außen gesteuert? Nein, rauscht mir die mutmaßliche Erklärung bitter durch den schweren Kopf: Sie brauchen wahrscheinlich eine bestimmte Sauerstoffkonzentration um leuchten zu können. Damit sind sie Menschen gar nicht so unähnlich. Und warum sollte jemand so ein hübsches Leuchten auch an einen Toten verschwenden wollen? Ich schätze, jeder gewöhnliche Mensch wäre jetzt schon tot. Aber der neue, ausdauerndere Körper, den mir Lavell in Deovan gegeben hat, bedeutet keine Hoffnung, sondern nur ein längeres Leiden. Nun ist es mit der Gelassenheit endgültig vorbei. Stattdessen ist da Verzweiflung und mein guter alter, ranziger Kumpel Zorn.
„Fick dich, Zrebar“, sage ich mit einem Mund, der immerhin wieder sprechen kann, „fick deinen hässlichen, knochigen, biestigen Dreckschädel!“. Doch schon diese Worte kommen nur noch mühsam aus meiner Kehle. Ich spüre die Schwäche, die Konfusion und das beginnende Delirium, die meinen Zorn verschlucken. Gedanken werden zu wirren Symbolen, ohne Anfang, Ende oder den geringsten Anflug von Logik. Und während mein Gehirn in verwaschenen Bildern ertrinkt, habe ich das Gefühl, dass mich schwarze, kräftige Geisterhände noch weiter nach unten ziehen. Durch den Sarg hindurch. Durch die Erde hindurch. In eine stille, kalte, endgültige Welt.
~o~
Doch diese Stille hält nicht lange an.
„Huste besser leiser“, tadelt mich eine weibliche Stimme. Sie ist nicht wirklich unfreundlich. Nicht unfreundlich genug für einen Dämon jedenfalls, aber garantiert zu schroff für einen Engel. Wo bin ich dann? Welches Jenseits empfängt mich, nun wo Uranor nicht länger in der Lage ist meine Seele zu stehlen? Sehen kann ich noch nichts. Nicht wirklich zumindest. Meine Augen sind verklebt und gereizt, sodass ich kaum mehr als einen milchigen, trüben Schleier wahrnehmen kann. Es ist dunkel, so viel erkenne ich. Aber ich spüre einen Luftzug auf meinem Gesicht und ein wenig Kälte auf der Haut. Unter der Erde bin ich also nicht mehr. Wo dann?
„Sei etwas netter zu ihm, Mutter“, antwortet eine andere, jüngere Stimme. Ich kenne sie. Krimara? Ist das Krimara? Die junge Frau, die sich so leidenschaftlich für mich eingesetzt hatte?
„Ich habe ihn gerade aus dem heiligen Herz des Ovarmpur gegraben. Ich wüsste nicht, wie ich noch netter zu ihm sein sollte“, antwortet die ältere Frau, „dennoch darf er uns nicht durch sein Geröchel verraten. Dann enden wir alle unter der Erde. Oder an schlimmeren Orten.“
„Ich weiß, Luhmere“, sagt Krimara und wischt mir sanft übers Gesicht, wodurch sich mein Sichtfeld ein wenig klärt, „aber der Ton macht die Musik“ . Endlich kann ich meine offensichtlichen Retterinnen erkennen. Es sind tatsächlich Krimara und ihre Mutter, die Hochnatorin. Unwahrscheinlich und erhaben wie Sagengestalten zeichnen sie sich vor der von Sternen erleuchteten Nacht ab, die offenbar inzwischen hereingebrochen ist.
„D …. Da … Dadank“, kommt es ungelenkt aus meinem Mund, obwohl meine Gedanken eigentlich noch recht klar gewirkt haben.
„Wunder dich nicht“, erklärt Krimara, „das ist der Sauerstoffmangel zusammen mit einer Überdosis Lähmungsgift. Dadurch kann es zu kleinen Schlaganfällen kommen. Ich schätze, ein Teil deines Gehirns hat Schaden genommen. Wahrscheinlich das Sprachzentrum. Das können wir nicht wirklich reparieren, nicht den Schaden zumindest. Aber, warte … Mutter?“
Luhmere nickt knapp und ich spüre, wie sie meine Hand ergreift. Sie fühlt sich kühl und dürr an, aber es ist wohl das Schönste, was ich seit langem berührt habe. Meine Freude über mein Weiterleben ist sogar so groß, dass ich die Erwähnung meines kürzlich erlittenen Hirnschadens relativ gelassen hinnehme.
Plötzlich fühle ich ein Kribbeln in meinem Kopf und dann ein scharfes Ziehen in meinen Nerven, so als würde jemand das Gewebe überdehnen.
„Vielen Dank“, sage ich wieder vollkommen klar und ziemlich verblüfft, „mein Name ist Adrian und ich stehe in deiner Schuld für was auch immer du getan hast.“
„Ich habe nur das geschädigte Gewebe deaktiviert und dein Gehirn ermutigt, neue Verknüpfungen zu bilden“, sagt Luhmere, „das Gehirn ist recht flexibel. Wie die meisten lebenden Dinge. Aber deine Schuld will und werde ich nicht leugnen.“
Während sie diese Worte spricht, sehe ich mich um. Ich bin offenbar wieder auf dem Friedhof, genauer gesagt im Schatten eines großen, breiten Mausoleums, das umgeben ist von Mauern und einigen Bäumen. Direkt neben uns ist ein Loch, lose verdeckt von einem Brett, was zusammen mit der danebenliegenden Schaufel und dem Dreck an der Kleidung der beiden Frauen keinen Zweifel daran lassen, was sie getan haben, selbst wenn ich es nicht schon ihrem Gespräch entnommen hätte.
„Ihr macht das nicht zum ersten Mal, oder? Ich meine, Leute, aus ihrem Sarg befreien?“, frage ich.
„So ist es“, antwortet Krimaras Mutter, „wir gehen schon länger gegen dieses grausame Ritual vor. Es ist gefährlich. Aber bisher haben sie es noch nicht bemerkt.“
„Das ist edel von euch“, sage ich, „aber warum geht ihr dieses Risiko ein? Nicht, dass ich mich beschweren will, aber das ist bemerkenswert selbstlos.“
„Weil wir das Leben schätzen“, antwortet Krimara, „nicht, wie es jetzt ist unbedingt, aber wie es sein könnte. Und weil es mit Luth Nomor so, wie es ist, nicht weitergehen kann.“
„Was geschieht mit denen, die ihr rettet? Ich meine, sie können doch nicht einfach wieder frei herumspazieren ohne direkt wieder in einen Sarg gesteckt zu werden, oder?“, frage ich.
„Nein, das können sie leider nicht“, sagt Krimara bedauernd, „manche von ihnen beherbergen wir bei uns. Andere … versetzen wir in Xorentha. Das ist ein schlafähnlicher Zustand, in dem sie auf bessere Zeiten warten. Das leider nicht so viel anders als ihr Schicksal im Ovarmpur, aber nicht tödlich und mit deutlich weniger Leid verbunden. Sie träumen und ihre Gesichter lächeln meist.“
„Lasst ihr ihnen denn die Wahl?“, frage ich und zum ersten Mal mischt sich ein ungutes Gefühl in meine Erleichterung. Passend dazu stelle ich fest, dass ich weder meinen Katalog, noch mein Pendel bei mir trage. Entweder diese Dinge liegen noch in meinem Sarg oder meine Retterinnen halten beides vor mir verborgen.
„Nein“, sagt Luhmere, „wir können nicht jeden aufnehmen und vor allem können wir nicht jedem trauen.“
„Mir könnt ihr trauen“, behaupte ich, „immerhin habe ich Kruhni gerettet.“
„Das hast du“, stimmt Luhmere zu, „und das war sehr anständig von dir. Deinem Herzen trauen wir auch. Doch wie sieht es mit deinen Motiven aus? Selbst anständige Wesen können Schlimmes anstreben, wenn sie die Umstände oder falsche Informationen dazu treiben. Also. Warum bist du hier? Was strebst du an? Und warum trägst du dieses Nuit und jenen Hijenan mit dir?“
Ohne Umschweife holt sie das Pendel und meinen Katalog hervor und etwas in ihrem Blick sagt mir, dass sie zumindest ungefähr weiß, was das für Gegenstände sind. Dass sie eigene Bezeichnungen dafür haben, weist in dieselbe Richtung.
„Bevor du antwortest, solltest du wissen, dass meine Mutter Lügen erkennen kann“, warnt Krimara.
Fuck, denke ich und erinnere mich an meine Zeit in der Halloween-Welt Samnia in den Manifia-Ebenen, wo ich mit ganz ähnlichen Fähigkeiten konfrontiert wurde und dabei nicht sehr gut ausgesehen habe. Doch wenn ich ihnen die Wahrheit erzähle, kann es gut sein, dass ich mich schlafen legen oder sogar mit ihnen kämpfen muss und darauf habe ich nun wirklich keine Lust.
„Dieser Katalog, dieser Hijenan hat mich hierher gebracht“, sage ich deshalb wahrheitsgetreu und möglichst vage, „ich folge seinem Pfad seit einigen Jahren. Ich … ich bin ein Fortgeschrittener. Ein Reisender zwischen den Welten. Und diese … eure Welt ist meine neueste Station.“
Krimara sieht zu ihrer Mutter, die zufrieden nickt und wirkt dabei ziemlich aufgeregt. „Dann sind unsere Vermutungen wahr“, meint sie und grinst wie ein junges Mädchen, „es gibt Erzählungen von Schriftstücken, die einst auf unserer Welt verteilt worden waren und die es ermöglichen sollten, andere, weit entfernte Existenzebene aufzusuchen, ähnlich wie es manche legendäre Hochnatoren vermocht hatten. Das muss sehr interessant sein. So bunt, so aufregend und wunderschön.“
„Aufregend auf jeden Fall“, sage ich mit einem verhaltenen Lächeln und frage mich, ob Krimara noch immer so begeistert wäre, wenn sie Hyronanin, Deovan oder Andrador mit eigenen Augen gesehen hätte.
„Es ist also allein die Reiselust, die dich hierher treibt?“, fragt Luhmere skeptisch, während ihre Finger prüfend an der Kette meines Pendels reiben.
Während sie das tut, höre ich plötzlich von irgendwoher ein Klirren und sehe, wie sowohl Luhmere als auch Krimara mitten in ihrer Bewegung erstarren.
„Unterstehe dich, ihnen von deiner Mission zu erzählen“, höre ich Anys warnende Stimme aus dem Pendel zu mir rufen.
„Aber ich muss es“, sage ich, schon kaum mehr verwundert, dass Any auf diese Weise eingreift, „oder sie versetzen mich in irgendso ein magisches Koma. Diese Frau kann Lügen erkennen. Hast du das nicht gehört?“
„Das habe ich. Aber die Macht eines Pendels kann vieles verdecken. Lügen genauso wie Wahrheiten. Und selbst im Ruhezustand kann es die Perspektive auf die Dinge ändern“, erwidert Any kryptisch und ohne weitere Erklärung, bevor sie verstummt und diese kurze Störung der Raumzeit wieder nachlässt.
„Ich höre!“, drängt Luhmere und sieht mich erwartungsvoll an, obwohl für sie höchstens zwei oder drei Sekunden seit ihrer Frage vergangen sein sollten. Es sollten noch einige weitere werden, bevor ich mir eine hoffentlich halbwegs unverfängliche Antwort zurechtgelegt habe.
„Was das Pendel betrifft, so ist es einfach nur eine Waffe. Sie hat mir geholfen, deine Tochter zu retten. Und ja, es ist vor allem die Reiselust, die mich umtreibt“, sage ich, „Neugier und Fernweh sind mein wichtigster Antrieb. Aber ich will auch helfen, wo immer ich kann. Selbst wenn mich das manchmal … nun … in Schwierigkeiten bringt.“
Selbst in meinen Ohren klingt das nicht wirklich überzeugend. Ich kann nur hoffen, dass Any hatte andeuten wollen, dass sie Luhmeres magischen Sinne durch das Pendel verwirren kann, zumindest solange es in ihrem Besitz ist.
Krimara und Luhmere wechseln einen skeptischen Blick. Sie scheinen selbst nicht so sicher zu sein, ob sie meinen Worten Glauben schenken können. Aber schließlich nickt Luhmere zu meiner Erleichterung. Ihr magischer Blick hat anders als ihr gesunder Alltagsverstand keine Lüge erkannt. Und zu meinem Glück scheint sie sich auf ihre Magie zu verlassen.
„In Ordnung“, sagt Luhmere, „in diesem Fall nehmen wir dich gerne in unsere Obhut auf. Krimara geleitet dich in unsere Zuflucht. Dort kannst du dich vor den anderen Hochnatoren verbergen und deine Tage in Sicherheit fristen, so gut wir sie dir gewähren können. Wir werden für deine Ernährung Sorge tragen, aber du wirst du Oberfläche nicht mehr betreten können.“
„Ich kann noch mehr tun“, sage ich, wenig erpicht darauf in irgendeinem goldenen oder vielleicht gar nicht so goldenen Käfig unterhalb eines Friedhofs den Rest meiner Tage zu verbringen. Und ein wenig spricht aus mir auch die Hoffnung auf eine Gelegenheit, meine unfreiwillige Mission zu Ende führen zu können, „ihr beide kämpft gegen große Ungerechtigkeiten und versucht diese triste Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das ist offensichtlich. Und es ist lobenswert. Ich möchte euch gerne dabei helfen.“
„Ich honoriere deinen Wunsch Gutes zu tun, aber du kannst uns nicht helfen“, widerspricht Luhmere scharf, „allein der Gedanke daran ist absurd. Du kennst die Verhältnisse in Luth Nomor nicht. Du weißt rein gar nichts über uns. Und – ohne dich kränken zu wollen – du würdest uns nur im Weg stehen. Immerhin hast du gezeigt, dass du nicht auf dich selbst aufpassen kannst.“
Das sitzt. Offenbar ist doch noch genug Eitelkeit in mir, die man kränken kann.
„Das ist ungerecht, Mutter“, fährt Krimara dazwischen, bevor ich etwas erwidern kann, „dass er im Ovarmpur gelandet ist, hat nichts mit Unfähigkeit, sondern mit wahrer Liebe für das Leben zu tun. Er wollte Kruhnis Tod nicht zulassen. Nur deswegen ist er mit den Hochnatoren in Konflikt geraten. Wegen unserer ungerechten Gesetze.“
„Es gibt noch viel mehr solcher Gesetze“, entgegnet Luhmere, „mehr als wir ihm beibringen könnten. Er wird eigenmächtig mit bester Absicht handeln und uns dabei alle in die Katastrophe führen.“
„Das werde ich nicht“, widerspreche ich, „ich werde nichts tun, wozu ihr mich nicht anleitet. Sagt mir einfach, was ihr genau ihr wollt und wobei ihr Unterstützung benötigt. Ich bin es gewohnt, mich an Regeln anzupassen. Und ich bin erfahren im Kämpfen, aber auch in Rebellionen. Denn ich war auf meinen Reisen weit mehr als ein Tourist und zumeist deutlich erfolgreicher bei dem, was ich tat als ihr es erlebt habt“, sagte ich möglichst selbstbewusst aber ohne übertriebene Prahlerei.
Luhmere sieht mich lange an. Ihr Blick ist streng und hart, aber anders als bei Zrebar nicht gänzlich ohne Wärme. Sie scannt mich, versucht mich aufmerksam zu lesen und scheint diesmal weder mit dem Verstand noch auf übernatürliche Weise eine Lüge zu erkennen oder zu erahnen. Kein Wunder, denn nichts von dem, was ich behauptet habe, ist wirklich unwahr.
„Ich bin nach wie vor nicht überzeugt“, sagt sie streng und verpasst meiner aufkeimenden Hoffnung einen gehörigen Dämpfer, „ich denke, du willst dich vor allem nützlich machen, weil du es nicht erdulden willst, eingesperrt und untätig zu sein. Was verzeihlich ist, wenn das Fernweh dich so umtreibt, wie du sagst. Das mache ich dir also nicht zum Vorwurf. Aber es ist nicht unbedingt ein Argument, das für deinen Nutzen spricht. Dennoch mögen die anderen das anders sehen und tatsächlich können wir Unterstützung grundsätzlich gebrauchen. Die Last des Todes, die diese Welt erdrückt, wird immer schwerer. Aber ich kann nichts versprechen. Ich werde nicht das Schicksal unserer Welt und der Luth Nomorer, die auf mich vertrauen, deinem Freiheitsdrang opfern. Aber wie gesagt, ich werde es mit dem Rest von uns besprechen. Bis dahin übe dich in Geduld und lass dir von meiner Tochter alles zeigen. Ich werde es dich wissen lassen, falls deine Dienste vonnöten seien sollten. Fürs Erste solltest du dich freuen, mehr als ein paar Quadratzentimeter Raum um dich herum zu haben.“
„Dafür bin ich euch sehr dankbar“, sage ich demütig, „und ich werde tun, was du von mir verlangst. Aber eine Bitte hätte ich noch. Kannst du mir meine Sachen zurückgeben?“
Luhmere hält inne und sieht mich erneut sehr skeptisch an, bevor sie mir meinen Katalog reicht,
„Den Hijenan gebe ich dir gerne wieder. Solltest du uns damit verlassen wollen, so begrüße ich das. Das ist mir lieber, als wenn du für Unruhe sorgst. Was die Waffe betrifft: Nein, die kann ich dir nicht überreichen. Nicht, bevor ich mich mit den anderen beraten habe. In unserer Zuflucht sind Waffen tabu.“
„Das ist eine Lüge Mutter und das weißt du auch“, antwortet Krimara, „wir haben Waffen und wir können jede weitere gebrauchen. Nicht nur, wegen der Hochnatoren, auch wegen der Zjuschiqwa.“
„Also gut“, sagt Luhmere seufzend, reicht das Pendel jedoch nicht mir, sondern ihrer Tochter, „verwahre das Nuit für ihn. Sollte es wirklich zu einem Angriff kommen, kannst du es ihm aushändigen. Bis dahin jedoch dulde ich keine Waffe in seinen Händen. Finde ich sie dort bei meiner Rückkehr vor, vergrabe ich ihn eigenhändig wieder im Ovarmpur. Und zwar doppelt so tief wie Zrebar es tat.“
Krimara nickt und Luhmere wendet sich endlich zum Gehen, was mich mit nicht unerheblicher Erleichteurng erfüllt.
„Man, ich dachte, die geht nie“, sagt Krimara lächelnd, „Aber nun ist sie fort. Also genug der Regeln und Bedenken. Lass uns diese Zeit genießen, immerhin kommt sie nicht wieder. Und bevor uns dieser Ort hier gänzlich die Laune versaut, führe ich dich erst mal in unsere Zuflucht. Ich glaube, sie wird dir gefallen. Sie ist vielleicht der schönste Ort auf ganz Luth Nomor.“
~o~
Trotz Krimaras vollmundiger Ankündigung war ich durchaus überrascht gewesen. Das begann schon mit der Weise, auf die wir die geheime Zuflucht betraten. Dies geschah nicht etwa durch ein mystisches Ritual oder Mithilfe eines verzierten, schweren alten Schlüssels. Nein, es passierte dadurch, dass die bislang noch immer halbwegs ruhige und dezente Krimara ein befreites Lachen hören ließ, sich wie ein Kreisel auf der Stelle drehte und dann schwungvoll eine Stelle auf dem Boden küsste. Kurz darauf erschien unvermittelt eine Treppe im Boden. Die Stufen dieser Treppe wiederum waren nicht etwa in tristem, lebensverneinenden Grau oder trübsinnigem Schwarz gehalten, sondern aus verschiedenfarbigen Steinen zusammengesetzt, die mal bläulich, mal rötlich, mal grün und mal gelb erstrahlten. Wobei diese Farben nicht von dem Material selbst, sondern von einem bunten Stoffüberzug herrührten. Auch die Lichtkegel, die von den Leuchtpilzen geworfen wurden, die in der weißen Wand eingelassen waren, waren so bunt, dass mich das ganze eher an eine Kirmes-Attraktion oder den Vorraum eines Clubs erinnerte, denn an eine Grabstätte.
„Das ist … das ist …“, ringe ich noch immer nach Worten, während ich nun hinter Krimara die Treppenstufen hinabschreite.
„Ja, besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können“, sagt sie lachend, „die meisten unserer Gäste sind ziemlich überrascht und überfordert von unserer Farbgestaltung. Manche sind sogar schon kurz in Ohnmacht gefallen. Es ist wohl zu viel für Augen und Gehirne, die ihr Leben in einem hoffnungslosen planetaren Grab gefristet haben. Aber ich liebe es. Ich kann das Vibrieren in den Farben spüren. Es knistert, es rauscht durch meine Nerven. Es … ist einfach nur wunderschön.“
Wieder lacht sie so fröhlich, so ungeniert als wäre sie angetrunken, nur dass ihr ganzes Wesen zugleich eine Präsenz und Klarheit ausstrahlt, die wohl kein Betrunkener der Welt an den Tag legen würde. Dann drückt sie auch der Wand einen Kuss auf als wäre sie ihr bester Freund und nimmt einige Stufen in einem gut gezielten Sprung. Selbst ich kann mich kaum gegen ihre Heiterkeit wehren. Selbst, wenn es nicht lange her ist, dass ich lebendig begraben worden bin. Allgemein hat Krimara nur noch wenig mit der streitbaren, aber ernsten Frau gemein, die ich in der Stadt und bei meinem Begräbnis gesehen habe. Es ist fast als könnte sie erst hier unten richtig aufatmen.
„Wie seid ihr auf die diese knalligen Farben gekommen?“, frage ich neugierig, „auch du musstest doch in dieser Tristesse aufgewachsen sein, oder nicht? So strahlende Farbtöne habe ich noch nirgendwo bei euch gesehen.“
„Ja, auch ich musste am selben trostlosen Ort aufwachsen“, sagt Krimara nun wieder etwas ernster, „Und auch wenn du nur einen winzigen Teil unserer Welt gesehen hast, kann ich dir versichern, dass es woanders auch nicht besser aussieht. Luth Nomor ist nicht gerade eine Partymeile und recht dünn bevölkert. Es gibt nur eine Handvoll Siedlungen wie unsere, die kaum schöner sind. Der Rest des Planeten besteht aus gefährlicher Wildnis, Friedhöfen und ein bisschen landwirtschaftlicher Nutzfläche. Aber ich habe das Glück die Tochter einer Hochnatorin zu sein, die etwas anders tickt als die meisten. Meine Mutter ist uralt, musst du wissen. Nun, sagen wir, ihr Kern ist es. Sie ist das erste Mal gestorben zu einer Zeit als Luth Nomor noch ganz anders war. Als Leben und Tod in Balance gewesen waren und es Bücher und Schriften aus vielen verschiedenen Kulturen hier gegeben hat. Philosophische Werke. Geschichtliche. Künstlerische und fiktive Erzählungen. Manche davon hat sie aufgehoben und mir gezeigt. Viele enthielten Illustrationen. So hat sie den Funken bewahrt. Die Erinnerung bewahrt und so die Liebe zum Leben in mir und einigen anderen entfacht. Und in meinem Kopf hat sie ein Feuerwerk von Farben gezündet. Alles was ich noch tun musste war, diese Farben dort herauszuholen und sie zusammen mit ihr in die äußere Welt getragen. Diese Schönheit kommt also letztlich von ihr. Dafür liebe ich sie ganz besonders.“
„Deine Mutter ist also schon mehrmals gestorben und wieder reinkarniert?“, frage ich fasziniert.
„Ja, das könnte man so sagen“, antwortet Krimara und wird bei diesen Worten wieder etwas traurig, „und doch auch wieder nicht. Mit Hochnatoren ist die Sache kompliziert. Es ist nicht einfach so, dass sie wieder bei null anfangen. Sie sind keine Kinder bei ihrer Wiedergeburt. Ihre Körper regenerieren sich und sie erwachen in dem Alter, das sie bei ihrem Tod hatten. Und sie können auf Erinnerungen zurückgreifen aus den Zeiten vergangener Tode. Jedes Mal wachsen sie an Wissen und Macht und erlernen neue Fähigkeiten – wie das Erkennen von Lügen zum Beispiel oder das beeinflussen der Hirnaktivität, aber das hat auch seinen Preis. Sie werden auch ernster, schwermütiger, verknöcherter und … auf gewisse Weise weniger. Es ist, als würde der Tod sie langsam abnagen, bis nur noch eine profillose Hülle übrigbleibt. Eine lebende Leiche, wenn man so will.“
„Deine Mutter wirkt auf mich aber nicht wie eine Hülle“, wende ich ein, „wenn sie so oft gestorben ist wie du sagst, sollte das doch gerade bei ihr der Fall sein.“
„Das sollte man annehmen, oder?“, entgegnet Krimara nachdenklich, „aber das zeigt nur, was für ein wunderbarer Mensch sie einst war. Ein Leuchtfeuer an Kreativität, Lebensmut und emotionaler Tiefe. Sie ist noch immer meine Mutter. Und sie hat genug von sich bewahrt, um sie lieben zu können. Aber … während meiner Lebenszeit habe ich schon zwei Tode von ihr erleben müssen. Du hättest sie in meiner Kindheit sehen sollen. Oder selbst noch in meiner Jugend. Sie hatte so tolle, spontane Ideen und ihr Humor war inspirierend. Zrebar und all die anderen Grabanbeter hatte sie damit schlicht zur Weißglut gebracht. Doch nun. Tja, du hast sie ja erlebt. Sie ist noch immer ein im Herzen gutes Wesen, aber eine Partykanone ist sie nicht wirklich und ihre Leidenschaft ist fast erloschen.“
„Das tut mir sehr leid“, sage ich mitfühlend und lege meine Hand unbeholfen auf Krimaras Schulter, was sie mit einem dankbaren Lächeln quittiert, „wenn ihr der Tod so viel nimmt, warum lässt sie sich überhaupt darauf ein. zu sterben. Oder wurde sie getötet?“
„Nein“, antwortet Krimara kopfschüttelnd, „das tat sie freiwillig, wenn auch nicht auf ihren Wunsch. Genauer gesagt tut sie es, um uns zu schützen. Die Macht im blassen Rat bestimmt sich danach, wie oft eine Hochnatorin oder ein Hochnator bereits gestorben ist. Und ohne ihr Stimmgewicht wäre unser Leben noch viel unerträglicher. Du glaubst gar nicht, was Zrebar und ihre Speichellecker schon für Ideen gehabt haben. Einiges haben sie durchbekommen. Singen und musizieren ist bei uns etwa streng verboten. Aber sie wollten uns auch schon das Lachen verbieten. Das Lächeln. Den Small Talk oder das laute Reden. Nicht nur an bestimmten Orten, sondern einfach überall. Sie wollten sogar jeden dazu zwingen, sich einen Verstorbenen als Begleiter zu nehmen. Nur durch die Macht meiner Mutter konnte all das verhindert werden. Es ist ein Opfer. Ein Opfer an sich selbst, das sie für uns alle erbringt. Doch ich fürchte, bald wird sie an einen Punkt kommen, wo sie sich selbst und ihre Werte verliert, weil sie kaum mehr weiß, wer sie ist.“
„Das ist ganz schön bitter“, sage ich.
„Bitter ist gar kein Ausdruck. Ein bitterer Geschmack kann auch anregend sein. Ihr Schicksal jedoch erdrückt mich manchmal wie ein Stein“, sagt Krimara und ihr Gesicht verzieht sich vor Schmerz, bevor sie wieder ein fröhliches Lächeln aufsetzt, das jedoch nicht gespielt erscheint, sondern eher wie eine andere Facette ihres vielschichtigen Gefühlslebens.
„Aber wir leiden schon genug“, sagt Krimara tapfer, „ich will nicht, dass die Dunkelheit sich jeden kleinsten Aspekt meines Lebens krallt. Lass uns unseren Blick lieber auf die Schönheit richten.“
Fast als hätte sie ihre Worte genau abgepasst endet die Treppe und offenbart mir eine weite, nicht minder bunte Kammer, die wie eine Mischung aus Spiel- und Studierzimmer aussieht.
Es gibt große Bücherregale aus hellem Marmor, deren Rahmen zwar mit Knochen und Schädeln verziert sind, die aber – ähnlich dem südamerikanischen Los Muertos – bunt bemalt sind und irgendwie fröhlich wirken. In den Regalen steht ein buntes Sammelsurium aus Büchern. Einige der Buchstaben auf den Buchrücken kommen mir sogar aus meiner Heimatwelt bekannt vor, auch wenn die Titel in Sprachen geschrieben sind, die ich selber nicht beherrsche. Spanisch, vielleicht Französisch oder auch Polnisch. Andere hingegen sind eher exotisch. Schwere Folianten, Werke in Form von Kreisen oder Pyramiden, Ansammlungen von tanzender Schrift gefangen in einem Rahmen aus verdichteter Luft oder Hefte mit Seiten gemacht aus dünnem Kristall.
In dem Raum, dessen Wände mit hellem Blau gestrichen sind, auf denen animiertes Gras sich wie bei einem hyperrealistischen GIF bewegt, gibt es aber auch bunte Luftballons, Tiere und Fantasiefiguren aus Plüsch, Stein, Holz und Stoff und Schalen mit Zuckerwerk und gläsernen Murmeln. Mitten im Raum steht sogar eine Art bizarre Schaukel, deren bedrohliches Design eher auf einen finsteren andrinischen Ursprung schließen lässt, die Krimara jedoch offensichtlich von ihren Spitzen, Messern und Arretierungen befreit und zum harmlosen Spielgerät umfunktioniert hat. Außerdem gibt es Gesellschaftsspiele, verschiedene bunte Stühle und Tische und einige weiche Sessel.
Das Ganze erinnert wirklich ziemlich stark an ein Kinderparadies aus einer Fast-Food-Kette, das Wartezimmer eines Arztes oder irgendetwas in einer Kita, aber dennoch wirkt er nicht albern. Das Wissen, dass dieser Ort unterhalb einer Gruft und eines fanatischen Todeskultes liegt und welche Mühen Krimara und Luhmere in seinen Bau gesteckt haben, verleiht ihm eher etwas Bittersüßes, Rebellisches, ja beinah Philosophisches. Es ist eine Oase in der Wüste. Oder eine sonnige Insel in einem eiskalten Meer.
„Gefällt es dir?“, fragt Krimara lächelnd und mehr als nur etwas stolz, „und sei ehrlich, nicht weil ich Lügen erkennen könnte wie meine Mutter, sondern weil ich mit Wahrheiten sehr gut umgehen kann.“
„Ja und nein“, sage ich ehrlich, „es ist nicht mein Geschmack. Zu bunt und zu kindlich. Aber gerade deshalb finde ich es auch wunderschön. Man kann hier freier atmen, obwohl es unter der Erde liegt.“
„Ja, oder nicht?“, fragt Krimara strahlend, „warte, ich zeig‘ dir was.“
Plötzlich stürmt sie leise aber ungestüm los, setzt sich auf eine der beiden Schaukeln und berührt eine der Stangen, die die Konstruktion halten. Sofort erklingt Musik. Leise, so leise, dass ich erst meine, mich verhört zu haben. Es ist keine irdische Musik. Sie ist vielmehr voller exotischer, sphärischer Instrumente, wie ich sie aus meinem kurzen Aufenthalt in der kriegsgeplagten Stadt der Jyllen kenne. Aber dennoch klingt das Stück beschwingt und fröhlich.
„Es ist viel zu leise, ich weiß“, sagt Krimara, die auf der Schaukel platz genommen hat und sanft hin und her schaukelt. Ihr hageres, knochiges Gesicht wird dabei fast von ihrem Lächeln zerteilt, „am liebsten würde ich es so laut aufdrehen, dass den Hochnatoren die freudlosen Ohren bluten und ihnen Staub und Schimmel aus dem Gehirn rieseln. Aber es ist auch so eine Wohltat. Und man gewöhnt sich an die geringe Lautstärke.“
„Da bin ich mir sicher“, sage ich und bemerke plötzlich etwas, „wo sind die anderen? Ich dachte, ihr hättet mehrere Gäste in eurer Obhut.“
Wieder wird Krimara melancholisch, schaltet die Musik aus und lässt die Schaukel ausschwingen.
„Ja, die hatten wir auch“, berichtet sie traurig, „bis vor einigen Tagen zumindest. Dann ist Akruhnas, der letzte wache Gast, den wir hier noch hatten, in die Xorentha gegangen.“
„Freiwillig?“, frage ich, „dann hat es ihm also doch nicht so gut hier gefallen?“
Ich könnte das durchaus verstehen. Dies ist ein schöner Ort, aber Jahre würde ich es hier unten wohl auch nicht aushalten können. Vielleicht nicht einmal Monate.
„Oh doch“, verneint Krimara und ihr Gesicht wird dabei ganz besonders düster, „es ist nur so, dass … also … es gibt hier nachts häufiger Angriffe durch die Zjuschiqwa. Das sind tödliche Kreaturen, ausgesandt von den Hochnatoren, um Abtrünnige wie uns zu jagen und generell alle, die heimlich versuchen, Spaß am Leben zu haben. Die Zjuschiqwa spionieren ihre Opfer nicht aus und bringen sie auch nicht vor den Rat. Ihr einziges Ziel ist es, jeden zu töten, der sich in der Nacht ungenehmigt außerhalb unserer Behausungen aufhält und noch einen Herzschlag hat und auch jene, die gegen all die anderen sinnlosen Gesetze verstoßen. Das war eine der Maßnahmen, die Mutter nicht verhindern konnte und gegen die sie nicht mal stimmen konnte, ohne dabei aufzufliegen. Von ihr kam sogar der Vorschlag, die Wesen besonders tödlich zu machen und auf jegliche Finesse bei ihrer Züchtung zu verzichten. Die anderen Hochnatoren wollten raffinierter vorgehen, aber sie haben ihre Idee in ihrem Todeswahn gerne angenommen. Doch so seltsam es auch klingen mag: es ist unser Glück. Ihre stumpfe Blutlust verhindert, dass unsere innere Rebellion bekannt wird. Währen die Zjuschiqwa in der Lage zu sprechen oder Bilder zu übermitteln, hätten wir nicht die geringste Chance uns weiter zu tarnen.
Trotzdem macht es das Leben und selbst das Überleben natürlich nicht leichter. Wir versuchen unsere Gäste zu schützen so gut es geht und meistens gelingt uns das auch. Aber nicht immer. Akruhnas hatte kurz zuvor erlebt, wie zwei der von uns beherbergten den Zjuschiqwa zum Opfer gefallen sind. Es war ein grausames Gemetzel gewesen und Akruhnaas hat es als einziger außer uns und den Schlafenden überlebt. Dass er daraus seine Schlüsse gezogen hat, kann man ihm wohl nachfühlen. Immerhin werden Lebewesen in der Xorentha-Starre nicht von den Zjuschiqwa gejagt, da sie fast dem Tod gleichkommt. Trotzdem habe ich versucht, ihn davon abzuhalten und sich weiter am Leben zu erfreuen, aber es war zwecklos.“
„Wäre es denn nicht sinnvoll die Nächte immer in Xorentha zu verbringen und eure Gäste am Tag aufzuwecken“, erkundige ich mich.
„Leider nicht“, antwortet Krimara kopfschüttelnd, „Die Starre kann nur einmal aktiviert und wieder gelöst werden. Danach kann ein Körper das nicht mehr verkraften. Sie hätten dann keine Wahl mehr als sich den Zjuschiqua zu stellen. Wir warten deshalb auf den Tag, an dem es wirklich vollkommen sicher für sie ist.“
„Und der kommt nicht so bald“, schlussfolgere ich.
„Wohl eher nicht“, antwortet Krimara, „so sehr ich mir das auch wünsche.“
„Eure kleine Zuflucht ist also doch kein so idyliischer Ort, was?“, sage ich zu Krimara und sehe den Raum plötzlich mit gänzlich anderen Augen. Ja, erst jetzt fallen mir gewisse Zeichen auf. Winzige Blutspritzer, oberflächliche Biss- und Kratzspuren an den Regalen und den Wänden und Spuren im Staub, die ich keinem mir bekannten Tier zuordnen kann.
„Sie ist zumindest nicht perfekt“, gesteht Krimara ein, „auch wenn ich denke, dass du einen Angriff überleben würdest. Du siehst tatsächlich ziemlich wehrhaft auf und wer die Endoren vertreiben kann, der muss das ja auch sein. Trotzdem wissen wir beide, dass du ohnehin nicht vorhast, hier unten bei uns zu bleiben.“
„Ich warte noch auf die Rückkehr meiner Mutter, und wenn …“, beginne ich.
„… sie nein sagt, wirst du bei der erstbesten Gelegenheit versuchen uns zu überrumpeln und Notfalls gegen uns kämpfen“, ergänzt Krimara grinsend und ergötzt sich an meinem ertappten Gesichtsausdruck.
„Alles gut!“, sagt sie beruhigend und hebt beschwichtigend die Hände, „ein wenig kann ich Leute einschätzen, weißt du? Und ich habe auch nicht vor, hier brav auf Luhmeres Rückkehr zu warten.“
„Hast du nicht?“, frage ich jetzt noch viel verwirrter.
„Absolut nicht“, bestätigt sie, „zum einen bin ich mir fast zu hundert Prozent sicher, dass sie nicht damit einverstanden sein wird, dass du uns begleitest und ihr Einfluss auf die anderen Lebensverehrer ist fast noch größer als auf den Rat. Selbst wenn sie anfangs anderer Meinung sind, wird sie sie auf ihre Seite ziehen. Auch das Kruhni dort bei ihr sein wird, wird wenig daran ändern. Ich würde mir an deiner Stelle also nicht zu viele Hoffnungen auf ihren Segen machen und lieber mit mir kommen. Aber das ist nicht nicht nur in deinem Interesse. Deine Ankunft hier ist die perfekte Gelegenheit etwas zu tun, was ich schon seit langer Zeit plane und für das ich die Begleitung eines charmanten, außerweltlichen Besuchers wie dir brauche. Etwas, mit dem meine Mutter ganz und gar nicht einverstanden sein wird.“
„Danke für die Blumen. Was genau ist dieses Etwas denn?“, frage ich.
Krimara sieht mich zögernd an, bevor sie sich dann doch zu einer Antwort durchringt. „Nun, da ich deine Hilfe will, ergibt es wohl wenig Sinn, dich nicht darüber aufzuklären. Es geht um die Totenuhr. Einen mächtigen Gegenstand, dem wir das ganze Elend hier erst zu verdanken haben. Die Uhr beeinflusst das Verhältnis zwischen Tod und Leben auf dieser und anderen Welten. Und er ist gut verborgen an einem gefährlichen Ort. Einer alten Luth-Nomorischen Totenfestung.“
Als sie den Gegenstand erwähnt, fällt es mir so unglaublich schwer meinen Gesichtsausdruck zu beherrschen, dass ich wie beiläufig zu einem der Regale blicke, bis ich mich wieder gefangen habe. Immerhin scheint Krimara es nicht bemerkt zu haben. Zunächst denke ich an einen unglaublichen Zufall, dann wird mir bewusst, dass dieser „Zufall“ aller Wahrscheinlichkeit nach den Namen „Any“ trägt. Auch dieses Ereignis wird sie wahrscheinlich in ihren beschissenen Uhrwerkplan einberechnet haben.
„Willst du diesen Gegenstand zerstören?“, frage ich vorsichtig.
„Nein“, sagt sie schockiert, „auf keinen Fall. Das wäre Wahnsinn. Ich will ihn lediglich regulieren. Wenn man ihn zerstören oder entfernen würde, hätte das schlimme Konsequenzen. Schon die Regulation allein ist riskant. Das ist auch einer der Gründe, aus denen meine Mutter dagegen ist. Aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. So wie es jetzt ist, kann es einfach nicht mit uns weitergehen.„
Während sie spricht wächst ein ungutes Gefühl in meinem Bauch. Mit einem Mal fühle ich mich in der Zeit zurückgeworfen. Zurückgeworfen auf den Adrian in Hyronanin, auf den Adrian in Konor und auf jenen in Cestralia. Ich muss wieder einmal zum Verräter werden, um Anys Mission zu erfüllen. Egal was ich tue, mein Leben bleibt wohl eine verfluchte Spirale der Finsternis.
„Ich helfe dir gerne!“, sage ich edelmütig und kann mich gerade noch davon abhalten, aus Selbstekel zu erbrechen, während mein Kopf fieberhaft einen Ausweg aus meinem Dilemma sucht, „von mir aus können wir gleich los!“
„Das sollten wir“, sagt Krimara, „aber noch nicht zu der Festung. Vorher muss ich noch etwas anderes erledigen.“
„Was denn?“, frage ich halb abwesend, doch ihre dann folgende Antwort holt mich wieder voll ins Hier und jetzt zurück.
„Bald findet das nächtliche Übergangsritual statt. Dort müssen wir hin. Denn um die Festung betreten zu können, braucht es einen Besucher aus einer fremden Welt und eine Hochnatorin. Ersteren haben wir praktischerweise. Aber ich bin noch keine Hochnatorin. Damit wir die Festung betreten können, muss ich eine werden. Und sterben.“
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, frage ich schockiert, „du hast selbst gesagt, dass dich das einen Teil deiner Seele kosten wird.“
„So ist es“, antwortet Krimara, „das ist der andere Grund, aus dem meine Mutter mein Vorhaben nie akzeptieren würde. Aber es muss sein. Meine Welt stirbt zwar einen langsamen Tod, aber er ist inzwischen dennoch sehr nahe. Ich muss sie wiederbeleben. Und wenn ich nur einmal sterbe, sollte genug von mir übrig bleiben, um diese schönere, bessere Welt noch würdigen zu können.“
„Trotzdem klingt das nicht gut. Ich würde nicht ein noch so kleines Stück meiner Seele opfern wollen. Aber es ist deine Entscheidung“, sage ich, „und ich vermute, dass du dir dabei kaum von einem Fremden reinreden lassen wirst.“
„Damit liegst du richtig, Adrian“, antwortet Krimara, „und dass du das respektierst, spricht für dich.“
Sie sieht mich nochmal prüfend an holt das Pendel hervor und streckt ihre Hand aus, „hier, wenn das deine Waffe ist, wirst du sie brauchen. Aber dafür will ich deinen Katalog. Tut mir leid, aber so sehr vertraue ich dir noch nicht. Ich will nicht, dass du mir plötzlich abhanden kommst, wenn ich dich am dringendsten brauche.“
„In Ordnung“, sage ich und händige ihr schweren Herzens den Katalog aus, den ich gerade erst wiederbekommen hatte. Dann greife ich zu und schließe die Hand um das Pendel. Kaum da ich es berühre, explodiert eine neue Welt in meinem Kopf.
~o~
Nun, zugegeben, so neu ist diese Welt mir nicht. Handelt es sich doch um Hyronanin in das ich das zweifelhafte Vergnügen habe, Tarena und Andy zu begleiten. Ich spüre noch Erleichterung darüber, dass es ihnen halbwegs gutzugehen scheint, bevor mein wertendes Ich sich wie gewohnt zurückzieht und ich zu einem stillen Beobachter der Szene werde.
„Dieser Ort erinnert mich an das Innere von Nollotsch“, meint Andy, während er die faulig glänzenden, von organischen Strukturen überwucherten Gänge in Augenschein nimmt.
„Da hast du absolut recht“, bestätigt Tarena, „sogar das Gefühl beobachtet zu werden ist hier beinah gleich stark. Fast als wäre da ein unsichtbares Auge irgendwo in meinem Hinterkopf.“
„Ich glaube, dieses Auge ist gar nicht so unsichtbar“, stellt Andy fest und deutet auf eine kleines, schwebende Objekt, das einer übergroßen Kapsel ähnelt und lautlos auf sie zufliegt.
Sofort hebt Andy seine tödlichen Klauen und auch Tarena will nach ihrer Peitsche greifen als ihr bewusst wird, dass sie diese wohl auf der Oberfläche des Planeten zurückgelassen hat.
Zum Glück erweist sich ein Kampf als unnötig, da kein gefährliches Sperrfeuer, sondern lediglich Anys Stimme aus dem Objekt dringt. Schon als sie ihre Stimme nur hört, steigt eine unbändige Wut in ihr auf und Tarena wünscht sich fast, stattdessen von einem Kugelhagel oder Säurestrahl begrüßt worden zu sein.
„Gut, dass ihr wie geplant heil angekommen seid …“, beginnt die Kapsel zu sagen, bevor Tarena sie zornig unterbricht.
„Wir wären fast gestorben, du manipulative, herzlose Pendeltussi. Mehrmals. Mein Sohn, ich, wir beide wären erst um ein Haar erstickt und sind dann fast an unseren Krankheiten krepiert bevor wir am Ende buchstäblich zu Schleim zerfallen sind. Wenn wir deine Drecksarbeit erledigen sollen, dann erwartet ich, dass du besser für unsere Sicherheit sorgst oder wenigstens …“
„Sie hört dich nicht Mutter“, wendet Andy ein, „das ist nichts weiter als eine Aufzeichnung“.
Erst jetzt erkennt auch Tarena, dass ihr Sohn recht hat. Die Kapsel hatte während Tarenas Tirade einfach weiter ihre Botschaft abgespult, ohne das sie die Informationen mitbekommen hätte, und das Objekt war gerade schon dabei die Nachricht zu wiederholen.
„Fuck!“, sagt Tarena frustriert, bleibt dann aber still. Sie kann zu Any stehen, wie sie will, aber wenn sie beide das hier überstehen wollen, brauchen sie jede Information, die sie kriegen können. Immerhin weiß sie nicht, ob das Ding seine Botschaft noch ein drittes Mal abspulen wird.
„… Tarena“, sagt die Kapsel mit Anys Stimme, „deine Aufgabe ist es, dich zu den Gesundern zu begeben und mit ihnen zu verhandeln. Versuche sie davon zu überzeugen, dass sie auf dem falschen Weg sind. Sie müssen auf den Pfad der Sanisa zurückfinden und wieder hilfreiche Heiler werden, die am Wohlergehen ihrer Patienten interessiert sind. Um das zu erreichen, musst du SIE heilen. Du wirst erkennen wie, wenn die Zeit reif ist. Andy, du musst dich zu den Rebellen begeben und verhindern, dass sie oder ihre künftigen Verbündeten alle Gesunder töten. Sie dürfen sich natürlich verteidigen und die Uneinsichtigen ausschalten, aber sie dürfen sie nicht gänzlich auslöschen. Das wäre nicht in unserem Sinne. Um eure Aufgaben zu erfüllen, müsst ihr die jeweiligen Patrouillen an den richtigen Orten abpassen. Das wird euch hiermit gelingen. Ich erwarte, dass ihr eure Aufgaben zufriedenstellend erfüllt.„
Als diese letzten Worte verklingen, öffnet sich die Kapsel und zwei kleine, pyramidenförmige Objekte fallen heraus, bevor die Kapsel mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit zur Decke schwebt und sich dort einfach mit brutaler Gewalt hindurchbohrt.
„Das ist nicht ihr beschissener Ernst, oder?“, macht Tarena ihrem Frust Luft, bevor sie die beiden Pyramidenobjekte vom Boden aufhebt, „das ist nicht nur unmöglich, sondern schlicht selbstmörderisch! Sogar schlimmer als das, wenn man bedenkt, wo wir sind.“
„Du weißt, dass das ihr Ernst ist, Mutter“, sagt Andy abgeklärt, auch wenn in seinen Käferaugen derselbe Hass lodert wie in ihr, „unsere Leben und unsere Gesundheit haben für Any nur insofern Wert, weil wir sie benötigen, um ihre Mission zu erfüllen. Ob wir dabei leiden, ist ihr bestenfalls egal. Falls sie es nicht sogar genießt.“
„Und dennoch tun wir wieder genau das, was sie will. Vielleicht sollte ich …“, meint Tarena und lässt ihren Blick prüfend über den Boden schweifen. Trotz des verbreiteten Bewuchses mit pathogenen Pilzen, Flechten und anderem organischem Material ist es immer noch ganz gewöhnlicher Erdboden. Alles was es braucht, um einen Verbündeten mehr hier unten zu haben, ist ihre Spucke. Sie weiß eigentlich nicht einmal wie Nollotsch ihnen momentan helfen sollte, aber allein die Aussicht auf die Genugtuung darüber, Anys perfekte Pläne zu stören, ihr einmal buchstäblich in die Suppe zu spucken, ist sehr verlockend. Andererseits hat sie Andy noch nicht im Detail in ihre Abmachung mit Nollotsch eingeweiht. Sie weiß auch nicht, ob sie das überhaupt tun soll und es wäre ihm wohl schwer zu vermitteln, warum sie sonst einen halben Meter tief im verseuchten Boden graben sollte.
„Vielleicht solltest du was?“, erkundigt sich Andy.
„Ach, schon gut“, erwidert Tarena kopfschüttelnd, „lass uns einfach weitermachen. Unser Moment, Any die Meinung zu geigen, wird schon noch kommen.“
„Wahrscheinlich spekuliert sie darauf, dass wir genau diese Haltung bis zuletzt einnehmen“, bemerkt Andy, „aber ich verstehe natürlich deinen Punkt. Nun sind wir erst einmal hier und einen Rückweg gibt es ohnehin nicht. Da können wir genauso gut unseren Anweisungen folgen. Zumindest können wir darauf vertrauen, dass Any an der Weiterexistenz der Dinge interessiert ist. Immerhin eine Gemeinsamkeit, die wir haben.“
Tarena betrachtet die beiden Pyramidenobjekte. Es handelt sich um dreiseitige Pyramiden. Auf einer Seite sind sie vollkommen schwarz, auf einer weiteren ist ein digitaler Countdown hinterlegt, der ihr in ihrem Fall noch etwa zweieinhalb Stunden einräumt, während sie ihrem Sohn etwa drei Stunden Zeit gibt. Auf der dritten Seite hingegen ist eine Art Navigationssystem eingebaut, das ihren aktuellen Standort als roten Punkt im Gewirr der als weiße Linien dargestellten Gänge zeigt. Auch hier ist ein Countdown zu sehen, der wahrscheinlich die Zeit kalkuliert, die sie für ihren Weg benötigen, wenn sie der angegebenen Route im Schritt-Tempo folgen. Wenn sie danach geht, hat sie noch knapp zehn Minuten zum Trödeln oder verschnaufen. Wie großzügig.
„Erstaunlich. Wir sind also praktisch die geborenen Verbündeten. Seelenverwandte sogar“, antwortet Tarena vor Sarkasmus sprühend auf Andys letzte Bemerkung, „aber deiner Logik lässt sich schwer widersprechen. Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht, dass wir uns trennen müssen.“
Schwermütig reichte sie Andy das Gerät, welches schon jetzt einen völlig anderen Pfad für ihren Sohn vorgezeichnet hat als für sie.
„Mir gefällt das auch nicht“, bestätigt Andy als er seinen persönlichen Wegweiser betrachtet, „genauso wie es mir nicht gefällt, dass wir völlig unbewaffnet sind. Aber wir bekommen das schon hin, Mutter. Und wir werden uns wiedersehen. Immerhin ist diese gemütliche Reisekonserve ja auch viel zu geräumig, um nur einen von uns zu beherbergen.“
Trotz der düsteren Situation kann sich Tarena daraufhin das Lachen kaum verkneifen.
Es bleibt ihr allein deshalb im Hals stecken, weil eine von Pusteln, Beulen und Tumoren bedeckte junge Bravianerin mit zwei Schwertern in den vernarbten Händen wenige Meter vor ihnen aus einer sackförmigen, organischen Struktur an der Wand bricht und mit einem von Wahn und Schmerz erfüllten Schrei auf sie zugerannt kommt.
„Lass es aufhören!“, brüllt sie, während ihre noch halbwegs gesund aussehenden nackten Füße mit mörderischer Geschwindigkeit über den Boden jagen und irgendwelche fleischigen Fäden, die sie wohl bislang in dem Kokon festgehalten hatten, wie Flatterband um ihren Körper peitschen, „es muss endlich aufhören!“
Trotz ihres erbärmlichen Zustands und ihres offensichtlichen geistigen Verfalls schwingt sie ihre Schwerter mit beängstigender Präzision uns so schnell und gleichmäßig wie die Rotoren eines Hubschraubers, gegen einen bislang noch unsichtbaren Feind.
Tarena versucht zurückzuweichen, aber sie ist zu langsam. Zwar schlägt ihr die rechte Klinge der Frau weder den Kopf ab, noch öffnete die andere Waffe wie beabsichtigt ihren Bauchraum, aber dennoch richten beide tiefe, schmerzende Kratzer an. Und die Mischung aus Schmerz, Überraschung und ihrer missglückten Ausweichbewegung bringen sie zu allem Überfluss ins Straucheln. Nur durch das hilflose Rudern ihrer Klauen gelingt es ihr, sich mit ihren menschlichen Armen abzustützen und einen vollständigen Sturz zu verhindern. Leider bringt ihr das nicht viel, da ein erneutes Ausweichen nun vollkommen ausgeschlossen ist.
Zu ihrem Glück scheint die Unbekannte, auf deren Stirn zwei Krebsgeschwüre prangen, die jeweils so groß wie eine Melone sind, vom Erfolg ihres eigenen Angriffs ebenfalls sehr überrascht zu sein. Ihr Blick klärt sich ein wenig, sie lässt ihre Schwerter ein Stück sinken und betrachtet Tarenas Wunden, während sich jäh ein unerwartetes Bedauern in ihrem Gesicht zeigt.
„Ich … ich wollte das nicht …“, stottert sie mit von stinkendem, schaumigem Speichel benetzten, fahlen Lippen, die beim Sprechen graue Zahnruinen offenbaren. „Es gibt schon genug Schmerz an diesem Ort“, fügt sie schluchzend hinzu und weint schmierige Tränen, die den getrockneten Eiter aus ihren roten Augen waschen.
„Alles gut“, sagt Tarena, die bereits ein heilendes Kribbeln rund um ihre Wunden bemerkt, mitfühlend. Sie ist erleichtert, dass ihr Körper die Wunde zu schließen versucht. Aber er tut es sehr, sehr langsam. Sie vermutet, dass dieser Ort, der zwar das Überleben, aber ganz sicher nicht die Heilung fördert, den hilfreichen Einfluss von Nollotsch blockiert. Vielleicht würde sich das ändern, wenn sie ihren Samen in die ekelhafte Erde setzt, aber gerade hat sie erst einmal andere Probleme.
Tarena zwingt sich trotz ihrer Angst zu einem freundlichen Lächeln und hebt deeskalierend ihre Hände, „ich kann mir kaum vorstellen wie schlimm es sein muss an deiner Stelle zu sein. Dagegen sind meine Wunden lächerlich. Ich komme schon wieder in Ordnung.“
„Nein“, sagt die Frau zitternd, während die beiden Tumore an ihrem Kopf plötzlich rot aufleuchten wie Alarmsirenen, „nichts ist hier in Ordnung. Gar nichts und niemand ist in Ordnung oder wird es je wieder sein! Ich sollte bei Rehmanra sein, bei ihr und den Sandplantagen, bei meinen Pflanzen, den roten und den blauen und bei meinen Töchtern, der mutigen und der schüchternen, stattdessen bin ich hier wo es stinkt und nagt und pocht und kratzt und juckt und schleimt und zieht und drückt und reift und eitert und …“
Während ihrer Aufzählung spricht sie immer schneller und ihre Stimme verliert an Klarheit bevor sie sich überschlägt. „Schreien müssen wir! Das ist die Erlösung! Ja, wir müsst schreien, der Schrei ist alles, was uns noch helfen kann! Komm, schrei’ mit mir!“
Während sie das sagt, wendet sie ihre Schwerter mit einer raschen Bewegung und stößt sie direkt in Tarenas Bauch. Nun, zumindest ist das ihre Absicht, aber ehe die Spitzen ihre Organe durchstoßen können, fallen ihre Unterarme samt der Waffen auf den Boden, bevor sie zusammensackt und ungebremst nach hinten fällt.
Für einen Augenblick ist Tarena verwirrt. Dann bemerkt sie Andy, der nur die Arme, sondern auch die Beine der Frau einfach mit seinen scharfen Klauen an den Knien abgetrennt hat.
Zumindest eine der beiden Frauen beiden schreit jetzt, genau wie die Unbekannte es sich gewünscht hat, doch es ist nicht Tarena.
„Danke“, sagt Tarena zu ihrem Sohn und streicht ihm mütterlich über den Kopf, bevor ihr Blick zu ihrer besiegten Angreiferin wandert, die sich wie ein schutzloser Embryo mit ihren Stümpfen auf dem Boden windet, „ich wünschte, wir könnten sie erlösen.“
„An diesem Ort gibt es keine Erlösung“, sagt Andy finster, „hier zieht man sich nur gegenseitig noch weiter in die Verdammnis. Glaub’ mir Mutter, ich wünschte, es wäre anders gegangen, aber sie hätte dich …“
„Siehst du das?! Ihr Kopf“, unterbricht Tarena ihren Sohn. Und dieser Hinweis kommt nicht von ungefähr. Denn die Tumore am Kopf der Frau leuchten nun nicht mehr länger einfach nur rot, sondern beginnen so heftig zu pulsieren als würde es sich um Pumpen handeln. Und dieser Vergleich ist wohl gar nicht so weit hergeholt, denn während die beiden Geschwüre immer größer werden, wird der Körper der Bravianerin dünner und dünner und selbst ihr Kopf beginnt zu schrumpfen. Ihr Schrei ebbt ab und ihr verschwindendes Gehirn drückt ein paar letzte verwaschene Worte aus ihrem Mund, „Rehmanra … der Sand … der Sand im Kopf … Blumengewitter, blau, rot, blau, rot, bläühhhh …“
„Was immer da passiert, es sieht nicht gut aus“, sagt Andy und greift sich eines der Schwerter aus den abgeschnittenen Händen der Frau. Tarena tut es ihm gleich.
Mittlerweile ist der Kopf der Bravianerin verschwunden. Knochen, Gehirnmasse und alle anderen Flüssigkeiten wurden von den Tumoren gefressen und nur ihre trockene Haut hängt wie Grimassen schneidendes Herbstlaub am Stiel der Geschwüre. Doch das ist nicht alles. Auch die Geschwüre selbst haben sich verändert. Sie sind nicht länger amorphe Klumpen, sondern Gebilde mit Struktur. Und vor allem mit langen, spitzen Auswüchsen, die verdächtig an Arme und Beine erinnern.
„Wir müssen schnellstens weg hier, bevor …“, beginnt Tarena zu warnen als sich die beiden Krebsklumpen aufrichten und versuchen auf ihren dürren Beinen Halt zu finden.
Dann ist keine Zeit mehr für Worte.
Noch bevor Tarena wegrennen kann, peitschen hauchdünne, aber ohne Zweifel gefährliche Zellfäden aus den Tumoren hervor und zielen direkt auf ihren Hals. Nur mit Glück gelingt es ihr die Zellen abzutrennen, die wie zuckende Würmer auf den Boden fallen. Endlich schafft es Tarena, sich aus ihrer Starre zu lösen und zu rennen, aber nicht ohne einen letzten Blick mit ihrem Sohn zu tauschen, der ihnen beiden alles sagt. Sie haben ihre Mission, sie kennen ihre Richtung und den Weg und nun haben sie einen weiteren verdammten Grund ihr zu beschreiten. Während Tarena um ihr Leben rennt und versucht dem grässlichen Ding zu entkommen, fragt sie sich, ob Any nicht sogar diese Jagd genau einkalkuliert hat.
~o~
„Huhu, alles gut bei dir?!“, dringt die besorgte Stimme von Krimara zu mir durch.
„Ja …“, sage ich und ärgere mich einmal mehr darüber, wie wenig Kontrolle ich über dieses beschissene Pendel habe. Any hat es mir als einen Vorteil verkauft damit nach meinen Freunden und Feinden sehen zu können. Ein winziges Stück Kontrolle und Orientierung in meinem Dasein als Sklave. Aber es ist das genaue Gegenteil davon. Es ist der Objekt-gewordene Kontrollverlust. Wäre es nicht zugleich die einzige Waffe, die ich besitze, hätte ich gerade wirklich große Lust, es einfach in irgendeinen Vulkan zu werfen. Die Assoziationskette in meinem Kopf, die mich als Hobbit und Any als die Kupferversion von Sauron porträtiert, die an einer PendelKette an Barad-dûr baumelt, trägt leider auch nicht wirklich dazu bei, meine Stimmung aufzuhellen.
„Sicher?“, fragt Krimara skeptisch, „ich meine, ich versuche seit fünf Minuten dich aus dieser gespenstischen Starre zu lösen. Ich hatte schon angenommen, du hättest dich aus eigener Kraft in Xorentha begeben, aber dein Herzschlag war deutlich mitteilsamer als du. Dürfte ich erfahren, was da gerade mit dir passiert ist?“
Verdammt, denke ich, ich kann sie natürlich unmöglich in die ganze Misere mit Any einweihen. Wenn sie erfährt, dass ich den Befehlen einer anderen und höchst dubiosen Frau ausgeliefert bin, wird sie mich wahrscheinlich in den magischen Dornröschenschlaf versetzen, bevor ich blinzeln kann. Und begleiten können werde ich sie dann natürlich auch nicht. Aber irgendeine Erklärung muss ich ihr liefern. Niemand starrt minutenlang leer in die Gegend ohne besonderen Grund.
„Nun“, versuche ich mich an einer hoffentlich glaubwürdigen Ausflucht, „dieses Pendel ist zwar eine ziemlich mächtige Waffe, aber sie hat den Nachteil, dass ich mich manchmal darauf einstimmen muss, wenn ich es wieder in Besitz nehme. Gerade, wenn jemand anders es an sich genommen hatte.“
An Krimara Blick erkenne ich sofort, dass sie mir diese Story nicht so ganz abkauft. Aber die Lüge scheint ihr nahe genug an der Wahrheit zu sein, um sie akzeptieren zu können. Entweder das oder meine Mitwirkung an ihrer eigenen Mission ist ihr wichtiger als die Wahrheit. Wieder bin ich unheimlich froh, dass ihre Mutter nicht hier ist. Ich zweifle nicht daran, dass sie die Tatsachen notfalls aus mir rausgefoltert hätte, nun wo das Pendel ihren Wahrheitssensor nicht mehr stören konnte.
„Das war es dann aber jetzt, oder?“, erkundigt sich Krimara. „wenn dir so etwas im Eifer des Gefechts passiert, wäre das nämlich nicht sehr hilfreich.“
„Nochmal wird es nicht passieren“, gelobe ich und weiß dabei selbst nicht, ob es stimmt.
„Gut“, sagt Krimara seufzend, „dann lass uns endlich aufbrechen. Die Nacht dauert nicht ewig an und meine Mutter wird … warte. Hast du das auch gehört?“
Verwirrt lausche ich genauer und nehme tatsächlich ein hohes, sirrendes Geräusch war, das klingr als würden ein defektes Ladegerät und ein Haufen Grillen ein gemeinsames Konzert zum Besten geben.
„Ja“, bestätige ich, „da ist so ein hohes Geräusch.“
„Verdammt. Warum gerade jetzt“, sagt Krimara und ihr Gesicht wird auf einmal sehr, sehr ernst so als hätte sich die junge, lebensbejahende Frau mit einem Fingerschnippen in eine abgebrühte, alte Söldnerin verwandelt.
„Wenn du weißt, was das ist, solltest Du mich besser einweihen“, verlange ich verwirrt.
„Hör zu“, sagt Krimara, „das sind die Zjuschiqwa von denen ich sprach. Sie werden in ein paar Augenblicken hier sein. Ich habe keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Nur so viel: Halt dich vom Eingangsbereich fern, versteck dich einem der Alkoven und verursache möglichst keine Geräusche. Kein Ächzen, kein Fluchen, kein Schmerzensschrei. Gar nichts! Egal, was passiert. Atme am besten auch möglichst flach und beherrsche deine Angst, damit dein Herzschlag nicht zu laut wird. Sie werden ihn hören, aber wenn wir möglichst still bleiben, werden wir sie selbst zu zweit bezwingen können. Die Zjuschiqwa sind so gebaut, dass sie durch Geräusche stärker und gefährlicher werden. Aber man kann sie verletzen. Schalte sie aus mit deiner Waffe, so leise es nur geht. Und ziele auf den Kopf.“
„Aber wie sehen sie überhaupt …“, hake ich nach.
„Still!“, flüstert Krimara scharf, „kein einziges Wort mehr. Zieh dich zurück und behalte den Raum im Blick. Jetzt!“
Ich gehorche und gehe leise aber schnell in den Gang in dem es mehrere Vertiefungen mit gläsernen Kapsel gibt in denen weibliche und männliche Luth Nomorer mit entspannten blassen Gesichtern und ohne jede Regung stehen. Manche von ihnen sehen glücklich aus, wie Krimara gesagt hat, aber nicht alle. So leise wie möglich suche ich mir eine noch unbesetzte Nische und hoffe, dass der in der Decke eingelassene Deckel nicht einfach von selbst herunterfällt, mich einsperrt und den Prozess in Gang setzt, der diese Leute in der Zeit eingefroren hat. Fürs erste jedenfalls passiert das nicht.
So gut es geht, strecke ich meinen Kopf und beuge mich etwas vor, um den Eingangsbereich im Blick zu behalten und auf die Ankunft von dem zu warten, was Krimara angekündigt hat. Entgegen ihrer eigenen Anweisung hat sich Krimara nicht in eine der Nischen zurückgezogen, sondern hat vor einem der Bücherregale Stellung bezogen. In ihrer Hand ruht eine Art Pistole, deren Existenz mir zuvor entgangen war. Es handelt sich um die wohl dünnste Waffe, die mir je untergekommen ist. Mit einem langen, schwarzen Lauf, kaum dicker als ein Ringfinger und ihre Hand- und Körperhaltung sprechen dafür, dass sie damit umzugehen weiß.
Auch ich nehme das Pendel in die Hand und halte es, so, dass ich es möglich schnell und präzise in Schwingung versetzen kann, wenn es nötig wird. Während ich so wie gebannt auf die Treppenstufe starre, brauche ich mich nicht einmal bemühen, flach zu atmen. Das geschieht dank der Anspannung ganz automatisch, auch wenn mein Herzschlag dennoch viel schneller und lauter ist als es mir lieb sein kann. Das hohe Zirpen und Fiepen ist bereits deutlich präsenter geworden, aber noch zeigt sich nicht das geringste Anzeichen der Angreifer, über deren Gestalt ich nur mutmaßen kann. Tausende von Bildern von Wesen aus meinen Abenteuern und den Filmen aus ruhigeren Zeiten in meiner Heimat gehen mir durch den Kopf. Die Geschöpfe Gigers aus „Alien“, die mechanischen Gottesanbeterinnen aus Dank Qua, die Gräber aus Konor, der schwarze Malmer aus Uranor, die Endoren die mir gerade erst in Luth Nomor begegnet sind und viele, viele Weitere. Doch was nach einigen weiteren angespannten Atemzügen zu dutzenden die Treppe hinabkriecht deckt sich mit keiner dieser Schreckgestalten so richtig, auch wenn es sicher gewisse Ähnlichkeiten gibt.
Es sind Würmer, zumindest was ihren Unterleib angeht. Lang und dünn und rau kriechen sie voran, wie faltige, belebte graue Knetwürste, an deren Ende sich ein dickes Büschel schwarzer, dicker Härchen witternd „umsieht“. Ihre Köpfe aber sind nicht nur viel zu groß für ihre etwa bleistiftdicken Körper, sondern auch auf gespenstische Weise humanoid. Verdickte Kegel mit langgezogenen schwarzen Augen und einem kleinen, sternförmigen Mund, der andeutet, dass er größer werden kann als die kleine Öffnung erahnen lässt. Das alles wirkt noch grotesker, da ein Großteil ihres Kopfes fast transparent erscheint. Jedoch nicht sphärisch und nebelhaft wie bei den Scyonen. Die graue Masse, in der die wässrigen Augen wabern, erinnert eher an Gallert oder Wackelpudding, zumal die Substanz bei jeder Treppenstufe, die die Geschöpfe hinabgleiten, rhythmisch erzittern. Besonders auffällig ist aber jener lange Stab unterhalb ihres Mundes, der auf eine runde, bläuliche, von dicken Adern durchzogene Verdickung zuläuft, die einen matten Lichtschein abgibt.
Zunächst muss ich fast automatisch an einen Anglerfisch denken. Doch auch wenn das Licht eine milde hypnotische Faszination ausstrahlt, die es nicht unmöglich, aber doch herausfordernd macht nicht hinzusehen, erkenne ich, dass dies nicht die wahre Gefahr dieser „Angel“ ist. Viel schlimmer ist dieses kaum merkliche Pulsieren des „Köders“, der sich verdächtig mit den zirpenden schrillen Lauten deckt, die die Geschöpfe erzeugen. Laute, die so eng am oberen Rand der Hörbarkeit angesiedelt sind, dass sie die Stille kaum stören. Doch irgendwo in den Wellen dieser nervtötenden Geräusche scheint sich – Obertönen gleich – eine Melodie zu verstecken. Ein Lied, welches gesungen werden will, nein, gesungen werden muss.
Ich bemerke, wie meine Beine unwillkürlich im Takt mitwippen und mein Mund sich öffnet, um … von meiner eigenen Hand fast mit Gewalt geschlossen zu werden. Beschämt und erschrocken verfolge ich, wie Krimara mühelos und professionell mehrere der Kreaturen völlig lautlos mit ihrer Waffe ausschaltet und ihre Gallertschädel in schmierige Suppe verwandelt, während ich nur durch höchste Konzentration verhindern kann, aus vollen Lungen mitzusingen. Erst nach einigen weiteren Sekunden traue ich mich, meine Hand vom Mund zu nehmen. Stattdessen ich presse meine Kiefermuskeln krampfhaft aufeinander, während ich meine ganze verbliebene Konzentration in mein Pendel lege. Dabei versuche ich auf eine größere Ansammlung der nachrückenden Kreaturen zu zielen, deren Vorhut sich trotz des Beschusses schon bis zur letzten Stufe vorgewagt hat.
Meine Hand zittert dabei fast mehr als meine geschundenen Kiefermuskeln, die gegen etwas ankämpfen, das stärker ist als jeder Gähn-Reflex. Aber schließlich gelingt mir doch ein Schuss. Erfreulich leise macht sich die Energieentladung auf die Reise. Die Wirkung ist dabei deutlich spektakulärer als bei Krimaras Waffe, denn die getroffenen Zjuschiqwa werden nicht nur getötet, sondern regelrecht gesprengt. Gliedmaßen, Gallert und zerfetzte Augen fliegen überall hin und dieses enervierende melodische Zirpen, jene hartnäckige Aufforderung zur Selbstentlarvung lässt endlich etwas nach.
„Yes!“, entfährt es mir halblaut vor Stolz und Erleichterung und meine Freude verwandelt sich in Asche als ich meine eigene Dummheit bemerke.
Sofort zwinge ich mich zur Ruhe in der typischen Überkompensation eines Idioten der glaubt, er könne seinen gravierenden Fehler wiedergutmachen, indem er einfach nur ganz intensiv das Gegenteil tut. Ironischerweise hätte das hier sogar ausnahmsweise funktionieren können. Zumindest theoretisch. Aber in der Praxis tut es das nicht. Die verbliebenen Kreaturen haben mich schon geortet.
Ihre fühlerartigen Schwanzbüschel sind in heller Aufruhr und ihre Köpfe wenden sich mir zu. Genau wie Krimara prophezeit hat, verändern sie dabei auf erschreckende Weise ihre Größe. Und sogar ihre Geschwindigkeit. Aus den einstigen Würmern werden erst kornnatter-, dann pythongroße Geschöpfe, deren Köpfe die Größe von Medizinbällen erreicht, ohne das das in irgendeiner Weise albern oder lächerlich wirkt. Während sie allesamt schnell wie rennende Pumas auf den Gang zustreben, ihre pulsierenden Köder so prall und verlockend wie reife Orangen, wird das Zirpen so laut, dass ich beide Hände nehmen und meine Lippen festhalten muss, um nicht zu singen, bis es meine Stimmbänder zerfetzt. Und wahrscheinlich kurz darauf den Rest meines Körpers.
Doch wem mache ich was vor? Allein mein Herzschlag muss für sie laut genug sein, um mich auf einen Kilometer Entfernung durch eine dicke Bleiwand wahrzunehmen und sie kennen meinen Standort ja bereits.
Ich erwäge einen weiteren Schuss abzugeben, in der Hoffnung möglichst viele von ihnen zu erledigen, aber ehe ich den Nutzen gegen das Risiko abgewogen habe, ist es zu spät. Die Zjuschiqwa sind bei mir. Fast meine ich mir einzubilden, dass sie auf ihrem Weg zumindest ein bisschen kleiner geworden sind, aber genau sagen kann ich es nicht, da sie mein Sichtfeld nun gänzlich ausfüllen. Und selbst wenn es so ist, hat es wenig Bedeutung. Es sind einfach zu viele. Noch tun sie mir nichts. lauernd und prüfend kriechen sie über meinen Körper. Aus dieser Entfernung müssen sie meinen Herzschlag zweifelsohne hören oder sogar spüren.
Aber der Angriff bleibt aus. Sie warten wohl auf einen wirklich reizvollen Anlass. Auf einen Schrei. Auf ein Wimmern. Oder auf ein Lied, das ihr Jagdfieber anfacht. Nein, begreife ich, das sind keine seelenlosen Vollstrecker, keine Bioroboter, die leidenschaftslos ihre vorprogrammierte Drecksarbeit erledigen. Diese Wesen dürsten nach Freude, nach Ausgelassenheit, nach Angst, nach Mut, nach allem wahrhaft Lebendigen, was sie bekommen können. Ein regloses und langweiliges Futter können sie unmöglich genießen.
Ihre Leiber kreisen mich weiter ein, schließen jede Lücke, versiegeln jeden noch so unwahrscheinlichen Ausweg. Ihre Haut ist rau und warm, fast anschmiegsam und ihr Zirpen schallt überall in meinen Ohren. Meine Kiefermuskeln sind verkrampft wie die Hölle und ich spüre, wie sie aufgeben und den Willen der Prädatoren erfüllen wollen. Einer von ihnen ist vor meinen Gesicht zum Stehen gekommen und sieht mich jetzt direkt an. Das ist umso erstaunlicher, da ich mir sicher bin, meine Augen inzwischen fest geschlossen zu haben. Doch für sie scheinen meine Lider transparent zu sein. Nichts weiter als dünne, nutzlose Häutchen, die nicht mal den Trost der Ignoranz bieten können.
Aber ich gebe nicht auf. Trotz Schmerz und Verlockung halte ich meinen Mund geschlossen und bleibe still. Es gibt da immer noch Krimara. Vielleicht hilft sie mir ja noch auf irgendeine Weise und es wäre ja ungemein unpraktisch wenn ich sterbe bevor sie das tun kann. Doch Sekunden und schließlich Minuten verstreichen während mich die hypnotischen schwarzen Augen mit dem darunter vibrierenden blauen Leuchten weiter anstarren. Minuten, die vergehen, ohne das Hilfe eintrifft. Minuten, in denen nur gierige Körper auf meiner Kopfhaut, meinem Nacken und meiner Brust herumkriechen. Und schließlich gebe ich diese Hoffnung auf. Entweder ist Krimara bereits tot oder ich konnte ihr zumindest die Zeit verschaffen, um zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Dann hätte meine sprichwörtliche Dummheit wenigstens einmal jemandem genutzt.
Doch was soll ich jetzt tun? Einfach auf den Tod warten? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Zjuschiqwa dieses Spielchen noch eine ganze Weile spielen können und auch spielen werden, bevor ihnen die Geduld ausgeht. Soll ich wirklich darauf warten oder nicht wenigstens mit einem Knall abtreten? Immerhin habe ich das verfluchte Pendel immer noch in der Hand. Aber selbst wenn ich es irgendwie schwingen kann, eingequetscht zwischen all diesen Kreaturen, glaube ich nicht, dass ich das Muster vollenden kann, ohne vorher aufgefressen zu werden.
Auf der Suche nach einem Ausweg oder wenigstens einem würdevolleren Ende erinnere ich mich an etwas, das On-Grarin mir an einem seiner wenigen freundlicheren Tage gezeigt hat. Eine Meditations- und Atemtechnik, mit der sich die Opfer von andrinischer Folter totstellen und so gelegentlich aus den Klauen ihrer dann gelangweilten Peiniger fliehen konnten. Um ehrlich zu sein war ich beschissen darin gewesen. So beschissen, dass der Andrin mich vor lauter Verärgerung selbst ein wenig gefoltert hatte, bevor er sich daran zurückerinnert hatte, dass er mich als Ernter benötigte. Aber dennoch, die Theorie beherrsche ich noch und damals hatte ich noch keinen brandneuen Körper aus den feinsten Biotechnik-Laboren Deovans besessen. Also konzentriere ich mich, lasse meine Gedanken los und nehme ihnen jedes Ziel. Dann entspanne ich meine Muskeln, dankbar, dass das Pendel von den Leibern der Zjuschiqwa an Ort und Stelle gehalten wird und wahrscheinlich nicht herunterrutschen kann. Schließlich atme ich noch flacher und seltener, atme immer kürzer ein und länger aus, bis ich leer bin. Vollkommen leer, bis zu dem Punkt an dem mein Atemreflex früher ganz zwangsläufig wieder eingesetzt hatte. Das „Röcheln des Versagers“ hatte On-Grarin es genannt.
Doch diesmal kommt dieses Röcheln nicht, obwohl sich längst keine Luft mehr in meinen Lungen befindet. Ganz zu schweigen von meinen Muskeln und meinem Gehirn. Ich höre nicht nur auf denken zu wollen, ich höre fast auf es zu können, während die Abstände zwischen meinen einzelnen Herzschlägen so groß werden wie Kontinente und der Takt so langsam wie bei einem bremsenden, alten Zug, der schließlich ganz anhält. Nur ein mattes Glimmen, nur ein flackernder Nachhall von Lebendigkeit bleibt in mir zurück und meine Lebensflamme wird so kalt wie der Atem eines Wintermorgens.
Dunkelheit umgibt mich, verdunkelt schließlich sogar meine transparenten Lider, da meine Sehnerven beginnen, sich abzuschalten.
Das letzte was ich sehe, mit dem, was noch an „Ich“ verblieben ist, ist der kräftige, prüfende und vielleicht auch enttäuschte Biss eines gallertartigen Mundes, direkt in meine Brust. Der sicher grausige Schmerz erreicht nur als fernes Echo mein fast abgeschaltetes Gehirn. So fern und schwach, dass ein so schmerzerprobter Mensch wie ich kaum davon berührt wird. Schließlich klingt der Schmerz vollständig ab und ich falle und falle in endlose Stille. Und plötzlich ist da eine Klarheit, wie ich sie nie gekannt habe. Distanziert, fast unpersönlich so als würde ich über meinen stillgelegten Nervenzellen schweben. Doch zugleich auch ein Gefühl sich einem Point-of-no-Return zu nähern. Und ein Geruch von langsam Erkalten, von langsamen Verwesen auf zellularer Ebene. Still zähle ich in die Dunkelheit hinein während die Zahlen groß wie Monumente vor meinem inneren Auge in der Schwärze aufragen. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 und zur Sicherheit noch die 11. On-Grarin wäre stolz auf mich. Nun, wahrscheinlich nicht stolz, aber zumindest würde er mich nicht bestrafen.
Dann hole ich Luft, reaktiviere meinen Körper. Mein Herz schlägt. Ein einziges Mal nur, aber meinem optimierten Organismus genügt es. Blut und Sauerstoff treffen auf ausgehungerte Organe und ich warte darauf, dass meine dringend benötigten Körperfunktionen wieder erwachen. Ich weiß, dass ich keine Zeit habe. Ich muss reagieren, sobald ich ein Bild meiner Lage habe. Wie ein General in seinem Kommandozimmer sitze ich in mir und warte auf eintreffende Berichte. Mein Tastsinn liefert zuerst. Die Kette des Pendels hängt noch an meinen Fingern. Gerade so. Dann erzählen mir die Schmerzrezeptoren vom beschissenen Zustand meiner Brust und zuletzt erwachen meine Augen. Ich sehe die Zjuschiqwa. Sie sind kleiner, aber immer noch bedrohlich. Sie haben sich von mir abgewandt, sind aber gerade im Begriff sich wieder umzudrehen. Mein flackernder Blick fällt auf ihre aufgedunsenen, bösen Gesichter mit den tödlich klaren Augen. Ich bin eingeschüchtert. Voller Angst. Doch dann erinnere ich mich an Konor. An den Schlächter Adrian, die Tötungsmaschine, die grausam war, aber auch effektiv und denke, das es der rechte Moment ist, um an alte Zeiten anzuknüpfen.
„Ihr wollt das Leben fressen? Ich hoffe, es schmeckt euch!“, schreie ich kampflustig und doch bin ich diesmal schlauer als zuvor. Denn als diese Worte meine Lippen verlassen habe ich bereits ein halbes dutzend Energieladungen aus meinem Pendel befreit. Meine Muskeln arbeiten präzise, engagiert und tödlich, nicht mehr gestört durch Angst, Zweifel oder Arroganz so als hätte dieser todesnahe Zustand meinen Geist geklärt.
Noch ehe die Zjuschiqwa zum Gegenschlag ausholen können, hat sich jeder einzelne von ihnen in heißen Dampf aufgelöst und ein metallischer Geruch nach Blut oder Öl hängt in der Luft.
„Unkonventionelle Taktik“, höre ich Krimara lobend sagen. Zum Glück lebt sie noch und sitzt augenscheinlich unverletzt und ziemlich entspannt auf einem der Sessel und isst irgendeine bunt verpackte Süßigkeit aus einer der Bonbon-Schalen. In ihrem Gesicht kann ich durchaus Bewunderung erkennen, „meine Mutter und ich haben uns schon stundenlange Katz- und Mausspiele mit den Zjuschiqwa geliefert, bis wir genug von ihnen erledigt haben und sie endlich abgezogen sind. Aber sie alle zu sich zu locken und mit einem Knall auszuschalten ist so gewagt wie wirkungsvoll. Auch wenn es leider verhindert hat, dass ich eingreifen konnte, ohne dich zu verletzen. Aber du hast es ja auch so gemeistert. Ich frage mich nur, ob es Absicht war oder Improvisation. So oder so ist es zugleich das disziplinierteste und undisziplinierteste was ich je in meinem Leben sehen durfte.“
So leicht es auch ist, die Lorbeeren einzuheimsen, so wenig ist mir daran gelegen. Gerade weil Kirmara mich nicht dazu zwingen kann die Wahrheit zu erzählen, möchte ich zumindest so ehrlich sein, wie ich kann.
„Offen gesprochen war es einfach gut kaschierte Blödheit“, sage ich geradeheraus, „wahrscheinlich verdanke ich mehr als die Hälfte meiner Fähigkeiten dem Umstand, dass ich ständig meine eigenen Fehler korrigieren muss. Das sorgt für genügend Übung.“
Krimara lacht so unbeschwert und befreit über meine Offenheit, dass es fast ansteckend ist. Dennoch kann ich meine Nervosität nicht gänzlich ablenken. Die Zjuschiqwa haben Eindruck hinterlassen.
„Keine Sorge“, sagt Krimara, der meine nervösen Blicke nicht entgehen, „sie entsenden nie mehr als eine Patrouille pro Nacht. Und wahrscheinlich werden sie auch ein wenig Zeit brauchen, neue heranzuzüchten. So viele von ihnen gehen selten verloren. Du kannst wirklich stolz auf dich sein. Nur wenige beherrschen den Scheintot mit solcher Finesse. Das wird dir bei deiner Rolle sehr entgegenkommen.“
„Was für eine Rolle?“, frage ich verwirrt.
„Tja“, sagt Krimara grinsend, „wenn du mich zu meiner Zeremonie begleiten willst, kannst du wohl kaum als quicklebendiger Adrian dort auftreten? Nicht wo dein Gesicht allen so gut bekannt ist.“
„Was … meinst du damit?“, frage ich, obwohl sich bereits eine Ahnung in mir formt.
„Du wirst es sehen“, sagt Krimara fröhlich und wirft mir auch eine Süßigkeit zu, deren penetrant fruchtiges Aroma mir direkt wie eine ganze Tropeninsel in die Nase steigt, „lass uns dir was zum Anziehen besorgen.“
~o~
Man kann durchaus behaupten, dass ich schon eine Menge ekelhafte und abgefuckte Scheiße gesehen, gerochen und erlebt habe. Aber in die Haut eines Toten gekleidet zu werden ist schon eine ganz besondere Erfahrung. Und das betrifft nicht nur den Gestank, sondern auch das Gefühl ganz von Verfall eingehüllt zu sein. Denn was mir Krimara als Tarnung aufgenötigt hat, ist kein schlecht sitzendes Kostüm aus blutigen Überresten wie man es aus diversen Horrorfilmen kennt, sondern eine perfekt angepasste zweite Haut, deren kaum sichtbare Nähte von Kleidung verborgen sind. Ihre Perfektion vertreibt aber weder den widerlichen Gestank noch das abstoßende Gefühl des toten Gewebes, das meine Poren überdeckt und mich ganz langsam erstickt. Besonders gewöhnungsbedürftig ist jedoch die trübe, tote Netzhaut, die wie eine wabblige Kontaktlinse über meinen eigenen Augen liegt und durch die ich nur schemenhaft die von Kerzen erleuchtete Versammlung erkennen kann, auf die wir zustreben. Überraschenderweise findet sie unter freiem Himmel statt. Im Schatten jenes riesigen, qualmenden Gebäudes, das ich bei meiner Ankunft für eine Fabrik gehalten habe und in dessen trüben Fenstern ebenfalls ein rötlicher, warmer Lichtschein flackert. Vor diesem Gebäude sehe ich die Silhouetten von etwa einem dutzend Personen, darunter zwei, die ich anhand ihrer Kleidung als Hochnatoren einordnen würde und drei oder vier, deren Gesichter mir vage bekannt vorkommen. Außerdem erkenne ich einige Gegenstände. Einen großen, mit weißem Samt bespannten Stuhl oder Thron, der jedoch unbesetzt ist und davor ein großes, gläsernes, vasenartiges Gefäß sowie eine breite, runde Metallschüssel.
„Sollten sie nicht schon deshalb misstrauisch werden, weil ich einfach neben dir herlaufe?“, frage ich so leise es nur geht und nur weil ich vermute, das wir immer noch außer Hörweite der Versammlung sind, „eure anderen Toten waren nicht allzu beweglich.“
„Normalerweise hättest du recht“, stimmt Krimara zu, „aber manche von uns besitzen die Fähigkeit, die Gliedern von Toten – oder auch von bewusstlosen, komatösen und hirngeschädigte Lebenden – fernzusteuern. Meistens beherrschen nur Hochnatoren diese Kunst. Aber meine Mutter hat es mir beigebracht, in der Hoffnung, dass ich damit zufrieden wäre und dass es mich davon abhalten würde, den vollständigen Schritt zur Hochnatorin zu gehen. Die anderen Hochnatoren wissen von meinem Talent. Sie werden sich also nicht darüber wundern. Gerade dann nicht, wenn ich jetzt doch anstrebe, aufzusteigen.“
„Woher wissen sie überhaupt davon, dass du heute hierherkommst?“, frage ich, „hast du ihnen eine Nachricht geschickt?“
„Nein“, antwortet Krimara, „ich hätte mir einen Äthersender besorgen und das tun können, aber das ist gar nicht nötig. Diese Rituale – das „Wiederwachsen“, wie wir es auch nennen – finden in jeder Nacht statt. An vielen Tagen kommt gar kein Prüfling hierhin und die Hochnatoren warten geduldig aber vergebens. Doch Jeder hat das Recht, sich daran zu versuchen oder dem Schauspiel beizuwohnen und der Wartedienst hat für Hochnatoren Tradition. Heute haben sich aber anscheinend schon einige am Aufstieg versucht. Die Feuer der Verstreuung brennen hell, wie du siehst.“
„Du meinst die Fabrik?“, entfährt es mir, „heißt das …“
„Der Verlust an Lebenslust und Seele ist nicht die einzige Gefahr des Rituals“, sagt Krimara und zum ersten Mal höre ich echte Angst in ihren Worten, „bei etwa jedem Zweiten scheitert das Wiederwachsen. Und die Körper und Seelen jener Gescheiterten sind nicht mehr in der Lage dem Kreislauf zugeführt zu werden. Meist sind es die, die schon zu Lebzeiten zu wenig Feuer in sich trugen oder die das Ritual zu oft ausgeführt haben. Aber manchmal passiert es auch einfach so und man munkelt, dass manche Hochnatoren die Feuer auch gern mit jenen füttern, die sie zu oft verärgert haben. Um es kurz zu machen: falls man es eine Fabrik nennen will, so sind ihre Produkte, Staub, Asche und zerstreute Erinnerungen.“
„Der Staub in der Luft kommt also daher?“, frage ich und spüre direkt, wie mir noch übler wird.
„So ist es“, stimmt Krimara zu, „Traurig, nicht. So viel verschwendete Leben. So viel ungeschenkte Liebe. Aber in gewissen Sinne verbleiben sie immerhin im Kreislauf.“
„Kann dieser Staub … kann er auch Visionen auslösen?“, frage ich vorsichtig, an das Erlebnis nach meiner Ankunft zurückdenkend, „ich habe einen Mann gesehen. Oder besser, ich war dieser Mann. Aber er war nicht in Luth Nomor, sondern an einem anderen Ort.“
„Gelegentlich passiert das“, antwortet Krimara, „nach allem was ich weiß, verzehren und zersplittern diese Feuer die Seele oder was davon geblieben ist, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Fragmente zurückbleiben, die der Geist interpretieren kann. Starke, bedeutsame Erinnerungen sind besonders resistent. Dass du eine andere Welt gesehen hast ist ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Luth Nomor war nicht immer so abgeschottet. Früher hatten wir gelegentlich Besucher. Trauernde, die ihre Toten hier bestattet und besucht haben, bevor die Hochnatoren entschieden haben, diese „Touristengräber“ allesamt zu leeren. Eine Schande, wenn du mich fragst. Nicht nur, weil es grausam war, sondern auch weil es das Leben aus unsere Welt verbannt hat. Mutter hatte mir erzählt, dass hier nicht nur Trauernde gab, sondern auch Luth Nomorer, die andere getröstet, therapiert haben. Und die ihnen gelegentlich sogar mit Spielen und Unterhaltung geholfen haben, sich abzulenken. Das ist lange her, aber der Staub, in der Luft ist sehr alt. Möglich wäre das also.“
„Ich könnte mir dich gut in dieser Zeit vorstellen“, sage ich zu Krimara.
„Da sind wir schon zwei“, sagt sie lächelnd, „Jene zu trösten und an den Wert des Lebens zu erinnern, die sich mit Trauer und Abschied konfrontiert sehen, das klingt nach einer wunderbaren Tätigkeit. Der Tod ist nicht leicht, aber niemandem ist damit geholfen, ihn noch düsterer und leidvoller zu machen. Und dennoch tun wir genau das. Ich hab mir oft vorgestellt, wie es wäre, diese bessere Zeit zurückzubringen.“
„Und dennoch willst du dich diesem dunklen Ritual unterwerfen“, stelle ich fest und bin selbst überrascht, wie vorwurfsvoll ich dabei klinge.
„Ich muss es tun“, antwortet Krimara so energisch als müsse sich sich selbst überzeugen.
„Und was, wenn du stirbst?“, frage ich.
„Dann bin ich eben tot“, sagt Krimara nun betont leichtfertig, „und wenn du mich vermisst, kannst du immer noch einen tiefen Atemzug in der Nähe des Krematoriums nehmen. Dann bin ich ganz nah bei dir.“
Doch ich spüre, wie ihre Hand zittert, selbst durch die Leichenhaut hindurch.
„Was ist, wenn es klappt, aber du nicht länger an dieser Mission interessiert bist?“, bringe ich einen weiteren Einwand vor, „was, wenn du dann mit den Verhältnissen, mit dem Status Quo einverstanden bist? Wirst du dich überhaupt erinnern können, wer du bist oder wer ich bin?“
„Jetzt beleidigst du mich aber“, sagt Krimara schmollend, doch zugleich merke ich das ich einen Nerv getroffen habe, auch wenn sie es zu verbergen versucht, „meinst du nicht, dass meine Flamme hell genug brennt, um einen kleinen Tod zu verkraften? Bei meiner Mutter hat es ja auch funktioniert. Und erinnern werde ich mich auf jeden Fall. Das Gedächtnis wird durch den Prozess nicht beeinträchtigt. Aber nun genug der Fragen. Wir sind bereits zu nah. Lebende Tote mögen in unserer Welt vorkommen, aber redende Tote erregen definitiv Aufsehen.“
Gehorsam verstumme ich und bleibe sicherheitshalber auch stehen als Krimara meine Hand loslässt und auf die Hochnatoren zugeht. Schon so fühle ich mich beobachtet. Vor allem bei den Hochnatorinnen habe ich das Gefühl, dass sie durch meine widerliche Verkleidung hindurchsehen können. Immerhin scheint es sich bei keiner von ihnen um Zrebar zu handeln. Trotzdem kann ich ihre Blicke auf mir spüren. Und wieder frage ich mich, ob es nicht eine ganz besonders blöde Idee gewesen war, Krimara zu folgen. Aber als ich Krimara auf das Risiko meiner Enttarnung aufmerksam gemacht hatte, hatte sie abgeblockt. Sie hatte darauf verwiesen, dass wir unsere Mission nicht erfüllen können, wenn ihre Mutter mich in der Zuflucht aufsucht, bevor Krimara das Ritual vollendet hat. Und letztlich hatte ich nachgegeben.
„So kommst du, um Leichtigkeit gegen Weisheit zu tauschen um die höheren Weihen anzutreten“, sagt eine der Frauen zu Krimara. Sie macht mir fast mehr Angst als Zrebar. Ihr Blick ist tot wie ein Stein. Und weder der Kerzenschein noch die Feuer der Fabrik vermögen ihr Wärme zu verleihen. Das Gesicht faltig, hager und ausgezehrt, wenn auch nicht auf die Art des gewöhnlichen Alters. Unter ihrem locker getragenen Gewand schauen dünne, strähnige weiße Haare hervor, zwischen denen kahle, graue, schwammige Kopfhaut zu sehen ist. Ihre Stimme ist hart und teilnahmslos und ich vermutete, dass sie dieses Opfer schon häufig dargebracht hat.
„Hat deine Mutter nun doch ihre Einwilligung erteilt?“, erkundigte sich die andere, in deren Worten fast so etwas wie echtes Interesse mitschwingt. Sie wirkt noch etwas lebendiger, mit vollem schwarze, Haar, wachen Augen und einer beinah fülligen Statur. Doch sympathisch erscheint sie mir auch nicht.
„Nein“, sagt Krimara selbstbewusst, „und ihr wisst, dass das auch nicht nötig ist. Jeder kann den Tod wählen, wenn er sich bereit fühlt.“
„Bereit scheinst du zu sein“, sagt die andere, „und den Tod bringst du bereits mit dir. Doch zu welchem Zweck?“
Ihre kalten Augen sehen mich an. Durchbohren mich, entkleiden mich.
„Um die Toten zu ehren“, sagt Krimara ohne zu zittern, „und damit es mir vergönnt sei unter ihren Augen wieder zu erwachen. Sind wir ihnen doch näher als den Lebenden.“
„Weise Worte“, sagt die Dunkelhaarige.
„So ist es“, sagt die Weißhaarige, „und auch wahrlich ungewohnte Worte aus deinem Mund, der so oft unsere Traditionen gescholten hat. Aber es freut mich, dass du Vernunft annimmst und dich nicht länger von den Albernheiten und profanen Verlockungen des Lebens blenden lässt. Nun nimm Platz und mögest auch Du, wenn du erwachst, dem Tod näher sein als dem Leben. Mögest du hohl sein wie ein leerer Sarg. Mögest du weniger sein und dadurch mehr.“
Krimara nickt gehorsam, auch wenn meinen Augen, die sich inzwischen auf seltsame Weise an die trüben Linsen gewöhnt haben, nicht das leise Zittern entgeht, das sie bei diesen Worten durchfährt.
Krimara nimmt Platz auf dem Stuhl, während die Weißhaarige sie bis auf die Unterwäsche entkleidet und die Dunkelhaarige zu dem Gefäß geht und dort irgendetwas auf einer daran befestigten Steuerkonsole eingibt, bevor sich der Deckel mit einem Zischen öffnet.
Ich bemerke, wie sich Krimaras Hände auf den Armlehnen verkrampfen, so als wüsste sie genau was jetzt kommt und muss mich beherrschen, nicht noch näher heranzutreten, um sie zu trösten.
Die Weißhaarige nähert sich nun dem Gefäß und greift herein. Trotz der Entfernung und meinen leichentrüben Augen erkenne ich, was sie in der Hand hält. Es sind Insekten, wenn auch andere als die, die mir die Lähmung gebracht hatten. Irgendetwas zwischen Assel, Käfer und Gewürm, das sich pechschwarz zuckend in ihrer Hand windet. Schon beim bloßen Anblick dieser Kreaturen zieht sich alles in mir zusammen, zumal von ihnen ein scharfer, chemischer Gestank ausgeht, der sich selbst durch den Totengeruch meiner Verkleidung bohrt.
„Empfange und erwache“, sagt die Weißhaarige und führt die Kreaturen zu Krimaras Gesicht, „auf das deine Mutter und deine verlorene Schwester mit Stolz zu dir aufblicken und von dir lernen können.“
Ich verspüre den starken Impuls einzugreifen, das Pendel, das ich in meiner verwesten Handfläche halte, zu nutzen und diese Käfer samt der sicher überraschten Hochnatoren in ein Häufchen Asche zu verwandeln. Doch das kann ich nicht, denke ich bitter, dies mag einer dieser Momente sein, an den ich noch in Jahren zurückdenke und den ich in Träumen und Tagträumen immer wieder korrigieren will. Doch jetzt kann ich nichts tun. Ich würde Krimara damit keinen Gefallen tun, sondern vielmehr uns beide in Gefahr bringen und – schlimmer noch – die vielleicht letzte Hoffnung für ihre Welt zerstören.
Also verfolge ich tatenlos, wie die Weißhaarige die Kreaturen in Krimaras Mund entlässt. Sie wehrt sich nicht, als die Insekten in ihre Mundhöhle krabbeln, obwohl sie sicher nichts Gutes dort anrichten wollen. Aber dennoch bringt mich das Mitleid mit ihr fast selbst um. Beinah glaube ich schon selbst die kleinen Beine und Fühler in mir kriechen zu fühlen. Den Druck, das Röcheln, das Kratzen und die Angst wahrzunehmen.
Es ist schrecklich. Aber da ich nicht eingreifen kann, nicht eingreifen darf und diesen Anblick nicht länger aushalte, wende ich meinen Blick woanders hin. Zum ersten Mal betrachte ich die anderen Anwesenden genauer. Es sind lebendige Luth Nomorer verschiedenen Alters und Geschlechts, die das Geschehen stumm, aber aufmerksam beobachten. Blass, zurückhaltend, fast reglos. Ich frage mich, ob sie es aus Fanatismus oder Wissbegier tun, oder aus einem Wunsch nach Zerstreuung. Immerhin führen die meisten hier kein sonderlich spannendes Leben. Vielleicht ist es wie im irdischen Mittelalter, wo man Hinrichtungen beiwohnte, um endlich mal etwas Unterhaltsames zu erleben. Vielleicht, so denke ich angewidert, genießen sie es sogar. Nicht aufgrund von Verblendung und Bosheit, sondern weil es reizvoll und spannend erscheint.
Meine ohnehin oberflächliche Ablenkung bricht in sich zusammen als Krimara nun doch zu schreien beginnt.
Und durch den Schrei hindurch, den die Dunkelhaarige auf ein Flüstern dämpft, indem sie ihre Hand auf Krimaras Mund presst und so zugleich verhindert, dass die Insekten herauskrabbeln, glaube ich etwas zu hören, was ich eigentlich nicht hören können sollte. Ein gieriges Schaben, Nagen und FRESSEN.
Erneut wird meine Selbstbeherrschung auf die Probe gestellt. Und allein das Wissen, dass es bereits zu spät ist, hält mich davon ab einfach loszurennen. Denn ja, es ist eindeutig zu spät. Ihre Haut am Kopf, am Hals, an den Beinen und an ihrer Brust ist überall in krabbelnder Bewegung und was immer sich dort einst befunden hatte, hat bereits irreparablen Schaden genommen. So verstummt schließlich auch ihr Schrei, da da nichts mehr übrig ist, was noch schreien könnte. Soweit ich das erkennen kann, ist die so lebenslustige Krimara jetzt vollkommen leergefressen. Ihre blasse Haut ist kaum mehr als eine papierdünne, fast transparente Schicht über einem abgenagten Skelett, das an manchen Stellen tatsächlich durch die jeder Fettschicht beraubten Haut blitzt.
Krimara ist nicht nur tot, sondern vollkommen verschwunden und ich kann mir kaum ausmalen, wie aus dieser trockenen Hülle ein neues Leben erwachsen soll.
Umso mehr, da das letzte kriechende Leben in ihr, welches nicht ihr eigenes ist, nun aus ihrer Hülle herauskrabbelt. Unzählige Gliederfüßer, an deren finsteren Hinterleibern sich jetzt dicke, weißliche Säcke befinden. Gefüllt mit dem Fleisch, dem Fett und den Organen, die die Insekten aus der fröhlichen jungen Frau gelöst haben.
„Die Leere zog ein, so soll sie sich wandeln“, sagt die Dunkelhaarige mit kräftiger Stimme.
Die Weißhaarige entzündet nun ein Licht. Keine Fackel, sondern ein elektronisches Licht an einem langen Metallstab, dessen kaltes weißblaues Leuchten die Insekten magisch anzuziehen scheint. Wie Fleisch um einen Dönerspieß versammeln sie sich darum, wickeln den Stab in ihre hässlichen Leiber bis der letzte von ihnen eingefangen. Dann hält sie die Lampe in die Metallschale und löscht das Licht. Sofort fallen die Kreaturen herunter und versuchen aus der Schale herauszukrabbeln. Doch sie haben nicht die geringste Chance. Kaum da sie herabfallen, dreht sich die Klinge in der Schüssel wie bei einem Küchenmixer und die Insekten sowie die halbverdauten Überreste von Krimara vermischen sich zu einer widerlichen, hellroten Creme, die die beiden Frauen zusätzlich mit einigen Händen voll Graberde und ihrer eigenen Spucke vermischen.
„Der Tod hat sie begleitet, der Tod soll sie erwecken. Tritt vor Körper von Menwantan“, sagt die Dunkelhaarige als sie ihr Werk vollendet hat und es braucht einen Augenblick, bis ich begreife, das sie mich damit meint oder zumindest den Verstorbenen in dessen Haut ich gekleidet bin. Scheiße, denke ich und meine eigene Haut wird vor Schreck fast kälter als die, die ich trage. Natürlich musste so etwas passieren. Ich habe keine Ahnung, ob die Hochnatorinnen realisieren, dass sie ihren Leichenkontrolltrick auf einen Lebenden anwenden, aber ich entscheide mich, mein Bestes zu tun, damit sie es nicht bemerken.
Also gehe ich nach vorne und muss zu meinem Erstaunen nicht einmal so tun als wäre ich eine willige, leere Hülle. Der Ruf ist da. Nicht so stark, dass ich mich nicht dagegen wehren kann, aber wenn ich genau das nicht tue, gehorchen meine Glieder dem Willen dieser Frauen. Womöglich hängt dies mit dem Hirnschaden zusammen, von dem Krimara gesprochen hatte. Die Frage, ob eine mächtigere Hochnatorin das auf unangenehme Weise ausnutzen könnte, dränge ich erst mal in den Hintergrund und freue mich darüber, mich nicht auf meine mittelmäßigen Schauspielkünste verlassen zu müssen. Dass ich möglicherweise doch nicht so hilflos bin, wie sie vielleicht denken, ist ein wertvoller Trumpf, doch den will ich erst ausspielen, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Mit mechanischen aber entschlossenen Schritten geht mein Körper auf die beiden Hochnatorinnen zu und geht direkt vor der Schüssel in die Knie. Der Geruch des widerlichen Gemisches steigt in meine Nase und entfaltet dort ein Aroma aus Fleisch, Milch, Eiter, Ammoniak und irgendetwas Undefinierbarem. Alles in mir wehrt sich dagegen und nur die subtile Fremdkontrolle hilft mir dabei, meinen Würgereflex zu beherrschen.
„Nimm ihr altes Leben auf und flöße ihr neues ein. Sei das Gefäß, sei die Transformation“, noch ehe ich begreife, was sie damit sagen will, geschieht es bereits fast automatisch. Mein Kopf beugt sich hinab, mein Mund öffnet sich und schließt sich um einen großen Schluck des widerlichen Gemischs. Der Geschmack ist noch schlimmer als der Geruch und ich kann nicht glauben, was ich hier tue. Doch eines ist mir bewusst: das, was nun in mir ist, sind die Überreste von Krimara und wenn ich mich verweigere, wenn ich sie auskotze, ausspucke oder herunterschlucke wird sie garantiert nicht ins Leben zurückkehren können. Und so kämpfe ich um jedes Fünkchen Selbstbeherrschung, während mein Geist einen fulminanten Traumablockbuster für Millionen Albtraumnächte vorproduziert und ich die stinkende Flüssigkeit zu Krimaras ausgehöhlter Transparentpapierleiche trage. Ohne mein aktives Zutun küsse ich ihren trockenen Mund, öffne die Sandpapierlippen mit der Zunge und würge endlich die ganze Fracht in sie hinein.
Ich habe keine Ahnung, welche dunkle Magie hinter all dem steckt. Ich weiß nur, dass das der abgefuckteste und kränkste Shit ist, den ich mir überhaupt nur vorstellen kann. Ich zittere, fühle mich unglaublich elend und will einfach nur wegrennen. Doch ich verbiete es mir. Ich darf keinen weiteren Verrat an jemandem begehen, der mir vertraut. Nicht schon jetzt. Nicht wo alles, was für mich auf dem Spiel steht, ein wenig Ekel ist. Und so lasse ich zu, dass mein Körper einen weiteren Schluck des Gemisches in sich aufnimmt und zu ihr trägt. Und dann noch einen und noch einen, bis ich irgendwann die erlösenden Worte vernehme.
„Lege dich hin Verschiedener. Du hast gut gedient. Nun möge das Wiederwachsen seinen Lauf nehmen“, sagt die Dunkelhaarige nicht wirklich zu mir, sondern zu ihrem stummen, aber lebendigen Publikum. Ich spüre wie der Einfluss nachlässt und lasse mich unkontrolliert fallen, wie es einer braven Leiche gebührt, achte jedoch sorgsam darauf meinen Kopf so zu drehen, dass ich weiter verfolgen kann, was jetzt mit Krimara geschieht. Und während ich warte, versuche die Schrecken der letzten Minuten und den widerlichen Nachgeschmack zu verdrängen. Zunächst geschieht gar nichts. Krimara sieht einfach nur aus wie eine abgelegte Haut, die irgendwer mit Konchen und blutiger Mayonnaise gefüllt hat, doch nach einigen weiteren Momenten kommt Bewegung in ihr Inneres und ich beginne zu verstehen, warum dieses Ritual als „Wiederwachsen“ bezeichnet wird. Ein bläuliches Leuchten erhebt sich in ihrem Brustkorb und die Substanzen beginnen zu fließen. Erst zäh, dann immer schneller. Ihre Haut wird feuchter und dicker, ihre Augäpfel bilden sich erneut und wenige Augenblicke später schlägt Krimara die Augen auf und erhebt sich hustend, als wäre nichts gewesen. Die „Fabrik“ bekommt heute anscheinend kein weiteres Futter.
„Danke meine Schwestern, dass ihr über mich gewacht habt. Ich atme erneut und werde es tun, bis wir uns einst hier wiedersehen“, sagt Krimara mit harter Stimme. Sie erscheint längst nicht mehr so fröhlich und unbeschwert wie bei unserer Ankunft an diesem schrecklichen Ort, was mich fast trauriger stimmt als der Anblick ihres leergefressenen Körpers.
„Und wir werden uns wiedersehen!“, sagen alle Anwesenden im Chor, bevor Krimara sich umwendet und so entschlossen, entspannt und selbstsicher auf mich zugeht so als würde sie gerade von einem Fußballtraining kommen und nicht von einem der ekelhaftesten Rituale des Multiversums.
„Komm, totes Fleisch“, sagt Krimara gebieterisch und laut während sie mit frostkalten Augen auf mich hinabblickt, „wir haben einen Weg zu gehen!“
Erneut fühle ich einen Impuls in meinen Gliedern. Diesmal aber kann ich mich nicht widersetzen.
diese lange wartezeiten zwischen den teilen ich sehne mich an die zeit zurück wo ich dutzende teile vor mir hatte weil ich recht spät zu der reihe gekommen bin. jetzt muss ich immer so lange warten bis es weitergeht, hab sogar schon mehrmals von vorn laufen lassen die playlist von kati weil die Atmosphäre und der vibe iwie so nice ist. eventuell weil ich zu einer schweren phase die reihe angefangen hatte und die mich so erfolgreich abgelenkt hatte. deswegen so positiv verknüpft den vibe :()
Hallo Marcel,
tut mir leid. :/. Leider dauert es auch noch ein bisschen. Gerade arbeite ich noch an einem richtig dicken neuen Part zu Knochenwald, den ich ja lange Zeit auch eher stiefmütterlich behandelt hatte. Und dann wollte ich noch ne Kurzgeschichte für Weihnachten verfassen. Dann aber geht es endlich weiter mit Adrians Erlebnissen in Luth Nomor, Dimensionsreisendenehrenwort! Mach das alles ja auch neben meinem Fulltime-Job, weswegen das nicht immer so schnell geht, wie ich eigentlich möchte. 😀 Es freut mich jedenfalls wahnsinnig, dass du der Geschichte treu bleibst und noch mehr freut es mich, dass sie dich in schweren Phasen wenig trösten konnte. Das ging mir beim Schreiben auch schon mehrmals so. Jedenfalls wünsche ich dir eine kurzweilige und nicht zu schwere Zeit bis zum neuen Teil und einen tollen Restaben. Ganz liebe Grüße, Angstkreis
funfact: mein zweit Name ist adrian, auf mein perso steht auch marcel adrian. Zufall? ich glaube nicht :D. Und ja verständlich ist ja nur dein Hobby soweit, Knochenwald ist ja auch interessant nehme ich auch erstmal. Hoffen wir mal wenn Iwan deine reihen mal komplett sind, das dann die Buchform etwas öfter gekauft wird, gibt bestimmt viele wie mich die warten bis eine bücherreihe komplett ist bevor sie dann alle auf einmal kaufen.
Wie witzig :). Dann ist die Geschichte ja wie für dich geschaffen. Da kann man auch echt nicht mehr von Zufall ausgehen ^^. Ja, das mit dem Warten auf die Fertigstellung einer Reihe kann ich verstehen. Bin zwar selber nicht so und eher der, der sich alles direkt ins Regal stellen muss, aber nach so Erfahrungen wie mit George R. R. Martin kann ich jeden sehr gut verstehen, der erstmal schauen will, ob etwas auch zu Ende gebracht wird. 😀 Freut mich aber, dass du dich auch für den Knochenwald erwärmen kannst. Da bin ich jetzt auch schon mit der Rohfassung des neuen Parts fertig und gerade nur noch beim Feintuning.