Fortgeschritten: Die Lebensmärkte von Deovan 6

„Hilft Ihr Devilium dagegen auch?“, fragte Callan und zeigte auf regelrechte Wolkenformationen aus Doweng-Fliegen und weiteren Stechinsekten, die die in grünes Dämmerlicht getauchte Sumpflandschaft bevölkerten und vor dem kalkweißen, projizierten Mond ihre Bahnen zogen. Lediglich ein schmaler Trampelpfad und die überall verstreuten, urigen Lehmhütten, die wie lahme, warzige Kröten im Sumpf hockten, blieben von ihnen verschont.

Lehmhütten, die dekoriert waren mit grinsenden Schädeln, ausgeblichenen Knochenstücken, getrockneten Reptiliengliedern und Insekten. Sowie mit rostigen Kultgegenständen von Gottheiten, die niemand von ihnen kannte und die womöglich eigens von Enry und seinem Team erdacht worden waren. Die Luft im „klagenden Moor“ roch erdig, würzig, verbrannt und beinah ein wenig umgekippt, so als hätte sie es irgendwie fertiggebracht ihr Verfallsdatum zu überschreiten.

„Ja und Nein“, antwortete Devell auf Callans Frage, „zum einen habe ich nichts mehr davon. Aber selbst wenn wäre das nicht unbedingt hilfreich. Zwar könnte ich unsere Körper damit fliegendicht verschließen, allerdings wäre die Struktur dann so engmaschig, dass wir uns nicht nur nicht mehr bewegen könnten, sondern auch ersticken würden.“

„Ich habe gehört, das besorgen Doweng-Fliegen auch so ganz gut“, erinnerte Callan, „wenn sie einen nicht gerade von innen auffressen oder explodieren lassen.“

„Wirklich erstaunlich, wie viel Sie wissen“, sagte Devell anerkennend, „Sie haben sich einiges erarbeitet.“

„Ja, alles außer Geld, Glück und Schönheit“, seufzte Callan.

„Zumindest eines davon ist gelogen“, meinte Devell zwinkernd und mit einem recht freundlichen Lächeln, „aber was die Fliegen angeht, haben Sie leider wirklich recht. Wir sollten besser Mund und Nase abschirmen, wenn wir in ihre Nähe kommen.“

„Was mich betrifft, werde ich das ohnehin versuchen“, antwortete Callan, „auch wenn sie sich dann vielleicht einfach durch meine Haut zu bohren. Aber Sie müssen sich deswegen ja nicht so viel Sorgen machen. Ihr Nehmer-Organismus schützt Sie doch sicherlich davor, oder nicht?“

„Vor ein paar verstreuten Fliegen ganz bestimmt, aber falls die Sumpfmagierin, die hier haust, einen konzentrierten Angriff befiehlt, eher nicht“, sagte Devell, „Sie sollte uns lieber nicht bemerken.“

„Das hat Sie bestimmt längst“, war sich Callan sicher.

„Pessimismus ist nicht immer eine gute Überlebensstrategie“, bemerkte Devell, „im Gegenteil: er verkürzt das Leben. Statistisch gesehen.“

„Bisher lebe ich noch“, sagte Callan trocken, „und ich versuche diesen Status zu erhalten. Mehr positives Denken werden Sie von mir nicht bekommen. Die Frage ist, wie wir am schnellsten zum Ausgang kommen. Ich sehe nämlich nicht mal einen.“

Tatsächlich war die Sichtweite erheblich eingeschränkt. Nicht nur durch die Fliegenschwärme und durch das schlechte Licht, sondern auch durch diverse Nebelbänke, die vielerorts geisterhaft durch die Luft trieben. Natürlich lag es nah, dass das Gebiet nicht deutlich größer war, als das Soldatengrab, aber andererseits schien es, als könnten sich in den größten Nebelbänken auch ganze Galaxien verbergen.

„Das ist nun mal ein Sumpf“, erwiderte Devell schulterzuckend, „da müssen wir wohl erst mal auf das achten, was direkt vor uns liegt und versuchen auf sicherem Untergrund zu bleiben.“

Sie zeigte auf den schmalen, aber vergleichsweise trocken und fest erscheinenden Pfad direkt vor ihren Füßen.

„Ein wenig zu offensichtlich, meinen Sie nicht?“, zweifelte Callan nervös.

„Stimmt schon“, gestand Devell zu, „allerdings vertrauenerweckender als dieses stinkende Wasser, oder etwa nicht?“

~o~

Langsam einen Fuß vor den anderen setzend und ihre Waffen im Anschlag beschritten die beiden Life-Runner den schmalen Pfad, der sich relativ geradlinig durch das feuchte Sumpfgebiet zog. Die einzigen Abzweigungen, die der Weg von Zeit zu Zeit bot, waren jene, die zu den ominösen Lehmhütten führten.

„Was haben Sie vor?“, fragte Callan, als Devell in die erstbeste dieser Abzweigungen einbog und direkt auf eine der niedrigen Hütten zusteuerte.

„Mich umsehen“, sagte Devell, „es macht Sinn, das Gelände kennenzulernen. Falls wir uns zurückziehen oder verstecken müssen.“

Dem wollte Callan nicht direkt widersprechen. Allerdings hatte er auch kein allzu gutes Gefühl dabei, der großen Frau zu den hässlichen, mit Schlamm, verrotteten Pflanzen und Pilzen bewachsenen Behausungen zu folgen, die noch weniger lebensfreundlich und behaglich aussahen, als die Grabstätten im letzten Areal.

Trotzdem hatte Callan keine Lust darauf alleine hier auf dem unsicheren Pfad zu verweilen. Umgeben von stinkenden, schlammigen Gewässern, in denen er manchmal ein leises Platschen und Blubbern wahrnahm, so als würde sich etwas darin regen.

Schweren Herzens entschied er sich, Devell zu folgen.

Nach mühevollem Balancieren auf der schmalen Abzweigung, deren Ränder vom nahen Sumpfwasser glitschig und rutschig waren, erreichten sie die Hütte, die zumindest auf Callan aus der Nähe noch hässlicher und abstoßender wirkte, als aus der Ferne.

Gemeinsam spähten sie durch eines der winzigen, runden Fenster, die wie schwärende Wunden in den feuchten Lehm geschlagen worden waren. Ihre Blicke fielen dabei in einen denkbar unspektakulären Raum. Zu seinem Mobiliar zählten lediglich aus Lehm geformte Bänke, die direkt in die Wände eingelassenen worden, ein kleiner, grober Tisch, sowie ein etwas veralgter, aber intakter Holzeimer, der wohl einmal Flüssigkeit enthalten hatte. Die Wände waren verziert mit tribalistisch anmutendem Wandschmuck und unbekannten Runen. Davon abgesehen war die Hütte leer. Bewohner, Leichen oder finstere Opferaltäre gab es hier zumindest nicht.

„Nicht allzu komfortabel, aber wenigstens keine Monsterhöhle“, stellte Devell erleichtert fest, „und die Fliegen scheinen es auch nicht zu mögen.“

Die CEO zeigte auf einen großen Schwarm, der sich konsequent hinter der Hütte aufhielt und keine Anstalten machte, sich ihnen zu nähern.

„Trotzdem gefährlich“, fand Callan, der sich hier immer noch nicht wohlfühlte, „sie kostet uns wertvolle Zeit. Lassen Sie uns weitergehen.“

Devell nickte und so machten sie sich wieder auf den Weg, schritten durch den Nebel und den gewundenen, festgetretenen Pfad entlang.

Irgendetwas schien sich jedoch verändert zu haben. Die verstohlenen Geräusche und Bewegungen, die Callan schon zuvor im Sumpf bemerkt zu haben glaubte, wurden nun so deutlich, dass man sie nicht mehr als Einbildung abtun konnte und aus dem brackigen Wasser stiegen gelegentlich dicke, stinkende, gasgefüllte Blasen auf und platzen wie Rotze an der Nase eines Kleinkinds. Die unausgesprochene Bedrohung, die dieser Ort verströmte, wurde immer greifbar, aber noch blieb sie verborgen.

„Warum greift Sie uns nicht an?“, fragte Callan leise, denn je tiefer sie sich in das klagende Moor begaben, desto mehr hatte er das Bedürfnis zu flüstern, ja gar zu schweigen. Trotzdem glaubte auch er nicht mehr so recht daran, dass sie noch nicht entdeckt worden waren.

„Das ist nicht die Art der Scyonen, soweit ich weiß“, erklärte Devell, „sie sind eher Fallensteller und Lauerjäger. Offene Schlachten kämpfen Sie nur im Notfall. Zudem verfügen sie über einen gewissen Spieltrieb. Uns einfach nur zu töten, wäre ihnen wohl zu langweilig.“

„Woher wissen Sie das?“, fragte Callan neugierig, „gehört das Wissen über außerirdische Militärtaktik zum kleinen Einmaleins der Baubranche?“

„Ein Hobby“, sagte Devell wie beiläufig, „Nehmerin Doraine Le Creal hat außerdem einige gute Romane darüber verfasst. Nur mäßig spannend, aber sehr akkurat.“

Bei dem Wort „Hobby“, zuckte Callan unwillkürlich zusammen.

„Tut mir leid“, meinte Devell, „ich habe nicht oft Umgang mit Gebern, wissen Sie. Da entfällt einem leicht wie … limitiert Ihre Lebensgestaltung ist.“

„Schon in Ordnung“, sagte Callan müde, „normalerweise komme ich damit klar. Es ist nur … ich habe sehr wenig geträumt in letzter Zeit… außer …“

„Ich verstehe“, sagte Devell, „Traumkontrakte sind so eine Schande. Und ineffektiv noch dazu. Wer sich auf so etwas einlässt, kann ohnehin nicht mehr groß in die beworbenen Produkte investieren. Wissen Sie, ich glaube, im Grunde ist es so etwas wie ein verkapptes Sozialprogramm, um zu verhindern, dass der ganze Planet gesellschaftlich implodiert. Eigentlich wäre es ehrlicher, den Armen ein paar Dominanten zu geben und auf diesen ganzen Hokuspokus zu verzichten. Oder man lässt den Dingen halt ihren Lauf, aber das ist … inkonsequent.“

„Sehen Sie das?“, fragte Callan, der zu diesem Zeitpunkt auch notfalls irgendein Ereignis erfunden hätte, um diesem unangenehmen Gesprächsthema zu entkommen. Aber er hatte wirklich etwas gesehen.

„Was denn?“, erwiderte Devell fragend, machte dann aber dieselbe Beobachtung wie zuvor Callan. Einen noch fernen, dunkelgrünen, fluoreszierenden Schemen, der als etwas mehr als personengroßer Umriss durch den Nebel stach, sich dabei jedoch schnell näherte.

„Ein Irrlicht“, vermutete Devell, „ein Diener und Lockvogel der Scyonen. Wer so dumm ist, ihm zu folgen, findet sein sicheres Ende, nach allem, was man so hört. Auch von Hypnose und Gehirnwäsche ist die Rede. Dem sollten wir lieber nicht zu nahe kommen.“

„Einverstanden“, antwortete Callan stirnrunzelnd, „nur leider kommt es auf UNS zu.“

Devell nickte und sah sich dabei rasch in der Umgebung nach einem möglichen Fluchtweg um. Alles, was sie dabei jedoch entdeckte, war der Weg, den sie bisher gegangen waren, den stinkenden, blubbernden Sumpf … und die Pfade zu den Hütten.

„Wir sollten uns verstecken“, schlug Devell vor und zeigte auf das Lehmgebäude, vom dem sie gerade zurückgekehrt waren, „nur für ein paar Minuten. Sobald das Irrlicht an uns vorbei ist, rennen wir so schnell wir können.“

„Ich weiß nicht recht“, sagte Callan nachdenklich, „irgendwie hab ich kein gutes Gefühl bei diesen Hütten. Vielleicht sollten wir lieber versuchen, über den Sumpf zu fliehen. Das Wasser sieht nicht sehr einladend aus, aber ich bin ein ordentlicher Schwimmer und wenn wir …“

„Nein“, unterbrach ihn Devell, „Wer weiß schon, was unter diesem Wasser lauert und wann wir wieder auf festes Ufer stoßen? Und wenn wir irgendwo mitten im Sumpf stranden, ist uns damit auch nicht geholfen. Außerdem gibt es da noch die Fliegen. Bisher haben sie sich glücklicherweise zurückgehalten, aber das Wasser scheint so etwas wie ihre Heimat zu sein. Sollten wir uns dort zeigen, wäre es fast so, als würden wir mit einem Stock gegen ein Nest aus Morng-Bienen schlagen. Nur viel tödlicher.“

Callan nickte einsichtig, „Okay. Dann müssen wir einfach unser Glück im Kampf versuchen. Hypnose hin oder her. Unsere Waffen haben eine gewisse Reichweite und zumindest Ihre
Wumme sollte auch ein wenig Schaden anrichten können. Wenn uns das Glück gewogen ist, können wir das Irrlicht auch in die Flucht schlagen.“

Devell sah nervös zu der sich nähernden Gestalt, die noch immer etwas vom Nebel verdeckt wurde. „Sie können gerne kämpfen“, erwiderte sie ungeduldig und ein wenig patzig, „wenn Sie Erfahrung darin haben, gegen Geister und Zauberei vorzugehen. Ich werde lieber meine Chance nutzen, solange es mich vielleicht noch nicht gesehen hat. Viel Glück, Geber Callan!“

Devell deutete eine Verbeugung an, rannte die Straße hinab und verschwand mit wehendem Panzerstoffmantel in der nächstbesten Hütte.

Callan starrte ihr mit offenem Mund hinterher, der sich aber schnell wieder schloss, als seine Verblüffung sich in Furcht verwandelte.

Nun, wo er ganz alleine in diesem unheimlichen Sumpf stand, wurde Callans Angst so übermächtig und die Sehnsucht nach etwas Sicherheit, nach irgendeiner Zuflucht allmählich so groß, dass Callan seine Abscheu vor den Hütten fast überwunden hätte, um Devell zu folgen.

Jetzt aber war es zu spät. Was immer das hier war, was sich im rasanten Tempo auf ihn zubewegte, es hatte ihn inzwischen ohne jeden Zweifel bemerkt. Das wusste er mit Sicherheit, da dieses Wesen mehr war als nur ein gewöhnliches, gestaltloses Irrlicht.

Das Ding besaß Augen. Und ein Gesicht, auch wenn dieses Gesicht alles andere als ansehnlich war. Sein Schädel war grob, ungewöhnlich groß und ähnelte leicht dem einer Kröte, mit einem sackartigen, warzigen, aufgeblähten Unterkiefer, aus dem sechs lange, gebogene, röhrenartige, bewegliche Gebilde ragten, deren Funktion wohl irgendwo zwischen Zähnen, Saugrüsseln und Tentakeln verortet sein mochte.

Trotz des teigigen, wabbeligen, von strohigen, schwarzen Haaren gekrönten Kopfes, in dem ihm ein kleines und ein sehr großes Auge boshaft anblickten, war der Rumpf der Kreatur nicht nur nackt, sondern auch drahtig und muskulös. Er zumindest unterschied sich kaum von dem eines gewöhnlichen Deovani. Ganz anders als die dreißig winzigen, drahtartigen Beine, die sich wie zähe Schleimfäden aus der Erde erhoben und die vier kräftigen Arme, in denen das Wesen gezackte, grobe, schmutzige Speere hielt.

Der Anblick der Kreatur erzeugte natürlich Furcht und Ekel in Callan, aber dennoch war er beinah froh, dass es sich nicht um ein Irrlicht handelte, sondern offenbar um ein Wesen aus Fleisch und Blut. Ein Wesen, das er vielleicht verletzen konnte. Wenn er Glück hatte.

Doch wie sollte er das anstellen? Er sah sich die Kreatur noch einen Moment lang an. Dann, gerade als das Wesen entschlossen auf ihn zustürmte und dabei einen blubbernden, knurrenden Laut von sich gab, fasste er seinen Pinpointer fester und zielte auf das größere der beiden Augen des Geschöpfes. Callan atmete aus, versuchte dabei alle Nervosität, alle Angst loszulassen und drückte ab.

Der leise, trockene Knall seiner Billigwaffe ertönte und auch wenn er das Zittern in seiner Hand nicht gänzlich hatte unterdrücken können, traf das Projektil sein Ziel. Callan war nah dran einen Freudenschrei auszustoßen, aber der blieb ihm im Hals stecken, als das Wesen einfach ungerührt weiterlief. Etwas langsamer vielleicht, aber offenbar unverletzt.

„Verflucht!“, rief Callan und gab noch einen Schuss ab und danach noch einen weiteren, mit demselben Ergebnis. War es doch ein Geist? Ein magisches Geschöpf, gegen das er nichts ausrichten konnte?

Das Ding kam noch näher, war jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Plötzlich bewegte sich eine der Röhren im Mund des Ungeheuers. Die Röhre glättete sich, verlor ihre Krümmung, streckte sich ihm ein Stück entgegen und … spie etwas aus.

Callan sprang im letzten Moment zur Seite und fiel fast in den Sumpf. Er bereute diesen Sprung trotzdem nicht, denn genau an der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte, landete das ausgewürgte Sekret. Der Auswurf ließ den Untergrund zischen und brodeln und fräste ein Loch hinein, in das kurz darauf dreckiges Sumpfwasser sickerte. Das Wesen drehte sich zu ihm, blieb stehen und fauchte ihn an. Seine flexiblen Röhrenzähne bewegten sich unruhig und klackten hörbar gegeneinander, während sie sich diesmal allesamt schussbereit ausstreckten. Dann hob das Geschöpf auch seine Waffen ein Stück und Callan ahnte, dass dieser Angriff eine Art Warnung gewesen war. Wahrscheinlich die Letzte.

Doch was sollte er tun? Aufgeben konnte er nicht. Das war etwas für jene, die es sich leisten konnten – Für Leute wie Devell – und in den Hütten verstecken konnte er sich auch nicht mehr. Selbst ein extrem dummes Wesen würde ihn problemlos in einem solchen Versteck aufspüren können, wenn es ihn dort hineinlaufen sah.

Doch vielleicht würde die Kreatur auch gar nicht nach ihm suchen. Womöglich wollte sie ihn einfach nur geradewegs in einen dieser zweifelhaften Lehmsärge hineintreiben, aus welchen Gründen auch immer. Callan beglückwünschte sich selbst zu seiner Entscheidung diese Häuser gemieden zu haben. Doch leider half ihm das in diesem Moment auch nicht weiter. Was sollte er tun, wenn er nicht fliehen konnte und ein direkter Kampf einem Himmelfahrtskommando gleichkäme?

Callan sah noch einmal zu der hässlichen, drohenden Fratze, deren Röhren jederzeit mannigfaltigen Tod auf ihn ausspeien konnten. Dann traf er eine Entscheidung. Sie war impulsiv und womöglich vollkommen wahnsinnig. Aber immerhin gab sie ihm das Gefühl nicht einfach nur das zu tun, was von ihm erwartet wurde.

Statt wie bisher immer weiter langsam zurückzuweichen, preschte er direkt auf das Sumpfungeheuer zu und feuerte aus allen Rohren. Für einige Augenblicke wirkte das Wesen tatsächlich verwirrt. Dann jedoch fing es sich und griff seinerseits an. Wie zielsuchende Kanonen richteten sich seine Zähne auf Callan aus und spuckten ihre korrosive Substanz aus, während es mit all seinen Speeren ausholte ausholte und … Callan verfehlte, als dieser sich beinah im letzten Moment abrollte und einfach im stinkenden, zähen Wasser versank.

~o~

Callan spürte sein Ende nahen. Der Aufprall auf dem Sumpf war härter als gedacht. Das grünliche Sumpflicht verschwand unter schlammiger Dunkelheit, als seine ausgehungerten, entleerten Lungen sich mit brackigem, modrigem Wasser füllten. Kleine, winzige, kaltblütige Kreaturen gruben ihre scharfen Zähne in seine Beine, seine Arme und seinen Unterleib und Schilf und halb verrottete Schlingpflanzen, wickelten sich um seinen Körper.

Er hustete, versuchte es zumindest, während er das Gefühl hatte, dass seine Atemwege Feuer fingen. Sauerstoff, er brauchte Sauerstoff, doch alles, was er bekam, war schlammige, glitschige Fäulnis. Erneut ein Husten, eine verzweifelte Konvulsion seiner Muskeln, ein Rudern mit den Armen und dann … ein großer, hässlicher Brocken Schleim, der sich aus seiner Kehle presste wie ein Pfropfen und klatschend auf dem Boden vor ihm landete. Auf einem nackten, rauen, trockenen Betonboden, der lediglich von ein paar glitschigen Algen bewachsen war.

Und plötzlich … ja, plötzlich konnte Callan wieder atmen. Er sah sich genauer um und erkannte, dass er sich in einer Art offenem Abwassersystem befand. Über ihm erstreckte sich – gleich einem bizarren Himmel – noch immer der grässliche Sumpf, doch hier unten gab es nur gewöhnliche, etwas stickige Luft und jenen nüchternen, seltsamen Kanal.

Es war ein unentdeckter, offensichtlich geheimer Pfad, den er mit seiner Verzweiflungstat offengelegt hatte. Er war der Illusion entkommen, hatte die Falle überwunden, die ihm gestellt worden war und konnte nur hoffen, dass es sich hierbei nicht um eine noch viel perfidere Falle handelte. So oder so beschäftigte ihn eine Frage, während er sich vorsichtig durch die veränderte Umgebung bewegte. Wenn dieser ganze Sumpf nicht das war, was er zu sein schien, wo war dann Devell wirklich hineingeflüchtet?

~o~

„Wissen Sie, die meisten denken, dass Doweng-Fliegen gar keine wirklichen Lebewesen sind. Dass wir sie einfach aus dem Nichts erschaffen würden“, flüsterte Spectra mit einer ruhigen, genießerischen Stimme, „natürlich hilft dieser Glaube dabei, das Mysterium um uns Scyonen zu vergrößern, hat man doch vor allem Angst vor dem Unbekannten. Aber dennoch finde ich es wichtig, diesen Aberglauben nicht weiter zu nähren. Die Wahrheit ist nämlich, dass die Doweng-Fliegen von unserer Heimatwelt stammen. Sie sind unsere Mitgeschöpfe, ja beinah so etwas wie unsere Geschwister, und meine Geschwister verleugne ich nicht. Das verstehen Sie doch, oder?“

„Nein“, sagte Devell ächzend, „ich bin eine Deovani. Die beste Erinnerung an meine Schwester war ihr Ausscheiden aus dem Familienverbund und mein danach folgender Aufstieg in der Hierarchie. Doch ich muss Nallam Zugutehalten, dass sie zumindest nicht so hässlich war wie das hier.“

Devell lachte gequält. Ihr Körper war bedeckt mit Schweiß und einem stinkenden, süßlichen Sekret, das die Luft dieser Fallgrube so stark sättigte, dass es überall kondensierte. Ob es – genau wie die Fliegen, die über ihre Beine krabbelten – aus dem großen, schwarzen Rüssel stammte, der wie ein Wasserrohr aus Chitin aus der von schleimigen Gewebe überwucherten Wand ragte, wusste sie nicht, aber es lag nahe. Leider konnte sie die Falle, in die sie in ihrer Verblendung getappt war, nicht gänzlich einsehen, da ihre Arme und Beine von großen, harten, schmerzhaften Stacheln durchbohrt und festgehalten wurden.

„Sie halten sich für witzig, oder?“, fragte Spectra.

„Zumeist schon“, meinte Devell, „zumindest traut sich selten jemand nicht über meine Witze zu lachen.“

„Interessant“, erwiderte Spectra, „dabei lachen doch vor allem Sie die ganze Zeit. Sie lachen über jene, die Ihnen ausgeliefert sind, über jene, die weniger Glück hatten als Sie. Über alle, die sich nicht gegen Sie und Ihren Machtanspruch wehren können. Sie lieben Ihre Macht, nicht wahr? Lieben Sie mehr als jede Person, die Sie je in Ihrem Leben getroffen haben.“

„Nein, im Gegenteil. Sie langweilt mich“, verneinte Devell kopfschüttelnd, „wäre ich sonst hier?“

„Dass Sie hier sind, haben Sie auch Ihrer Macht zu verdanken. Nur deshalb können Sie beliebig über Leben und Tod entscheiden. Auch über Ihren eigenen möglichen Tod“, sagte Spectra, „Sie sind so neidisch, so unfassbar missgünstig, dass Sie die Schwächeren sogar um Ihre Schwäche beneiden. Nur deshalb, sind Sie hier. Sie wollen sich lebendig fühlen, bedroht und ausgeliefert, in echter Gefahr. Doch ich muss Sie leider enttäuschen: Diesen Luxus können Sie sich nicht aneignen. Sie können nicht einfach so aus ihrem alltäglichen Spiel ausbrechen. Sie sind noch immer mittendrin.“

„Was meinen Sie damit?“, fragte Devell neugierig und beobachtete dabei nervös die winzigen Fliegenlarven, die sich mittlerweile energisch durch ihre Haut bohrten und nach und nach in ihren Beinen und Armen verschwanden.

„Ihr Konzern will, dass Sie leben“, eröffnete ihr Spectra, „ich sollte Ihnen das eigentlich nicht sagen, um ihr zartes Seelchen nicht zu sehr zu belasten, aber so ist es. Sie sollen um jeden Preis überleben und glauben, dass Sie Ihrem Triumph dem Schicksal oder Ihrem Talent zu verdanken haben, damit Sie hoch motiviert in Ihre Vorstandssitzung zurückkehren und weiteren, wertvollen Profit für ihren Konzern scheffeln können. Ich habe sogar direkte Anweisung Sie zu verschonen, und das, obwohl Sie so dumm waren in meine Falle zu stolpern und Ihr Freund Callan nicht. Sie meinen vielleicht, dass Ihr System die besten nach oben spült, aber so ist es nicht. Es ist auch kein Schicksal, sondern ein sinnloses Würfelspiel, das bei jedem neuen Wurf ein wenig mehr gezinkt wird, bis nur noch jene die Sechsen würfeln können, die sie immer schon gewürfelt haben.“

„Das mag schon sein. Aber warum sagen Sie mir das alles?“, fragte Devell, in deren Blick mit einem Mal tatsächlich etwas Schockiertes, Desillusioniertes lag, was Spectra zufrieden zur Kenntnis nahm, „Ihnen muss doch klar sein, dass Sie dadurch Ihre eigene Stellung riskieren.“

„Ich riskiere gar nichts“, meinte Spectra, „ich habe mein altes Leben längst aufgegeben und dieses hier ist recht zwecklos. Wenn die Arbeit alles ist, was man noch hat, führt das vielleicht kurzfristig zu mehr Motivation, doch irgendwann … tja, irgendwann holt einen die Leere. Meine Kollegin – Oblivia – hat oft davon geredet und ich habe stets darüber gelacht – schließlich ist ihr Hirn steinzerfressen und sie nimmt sich immer schon viel zu wichtig. Aber ein wenig muss ich ihr inzwischen recht geben. Spüren Sie es nicht auch? Dass sich alles totgelaufen hat? Dass sich alles nur noch wiederholt und mit jedem Mal blasser wird? Jeder einzelne Tag unserer Existenz?“

„Ahh!!“, schrie Devell laut auf und holte ein paar mal keuchen Luft, bevor es ihr schließlich gelang zu antworten, „um ehrlich zu sein, spüre ich vor allem grauenhafte Schmerzen.“

„Ja“, sinnierte Spectra, „die Doweng-Larven sind besonders hungrig. Sie zumindest haben Ihren Sinn noch nicht verloren. Die simpelsten Impulse tragen oft am längsten: Hunger, Durst, Rache. Das ist bei mir nicht anders. Gut, zugegeben, der Hunger hat sich bei mir auch ein wenig abgenutzt. Der Junge heute … er hat mich kaum noch befriedigt. Ja, fast hat er mich sogar etwas traurig gestimmt. Aber die Rache, sie könnte noch funktionieren. Natürlich haben wir beide keine persönliche Geschichte miteinander. Wir sind einfach nur Kundin und Dienstleisterin. Dafür taugen Sie aber wunderbar als Symbol, wissen Sie?

Doch keine Angst, ich bin eine brave Angestellte und werde Sie nicht töten. Darum verwende ich auch keine ausgewachsenen Fliegen. Die Larven sind hungrig, aber nicht tödlich, wenn man sie schnell genug entfernt und wenn nicht zu viele von ihnen im Körper verbleiben. Sie fressen am liebsten Muskel- und Nervengewebe und ihre Ausscheidungen verhindern jede Regeneration und machen auch das spätere Anbringen von Prothesen praktisch unmöglich. Sie werden ihre Arme und Beine verlieren, soviel ist sicher, aber noch nicht sofort. Vielleicht nicht einmal heute.“

Spectra machte eine Geste, bei der sie ihre Finger miteinander verschränkte und dann ruckartig nach oben führte. Sofort rissen Devells Beine an mehreren Stellen auf und versprühten eine kleine Wolke aus Blut und Gewebsflüssigkeit, während die Doweng-Larven aus ihrer Haut herausplatzten. Gleichzeitig zogen sich auch die großen Chitins-Stacheln aus ihren Armen zurück.

Mit einem spitzen Schrei bäumte Devell sich auf, erschlaffte und blieb schwer atmend liegen.

„Sie können jetzt gehen, falls Sie es schaffen“, sagte Spectra, „Ihr Nehmer-Organismus wird verhindern, dass Sie verbluten und niemand hindert Sie daran, noch ein wenig durch unser hübsches Etablissement zu flanieren. Gut möglich, dass sie dabei etwas unsicher auf ihren Beinen stehen werden, aber ich bin mir sicher, Enry wird schon dafür sorgen, dass die anderen Creeps Sie unbehelligt vorbei stolpern lassen.

Sie werden also wahrscheinlich noch die Freiheit sehen. Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen. Ich habe nicht alle Larven entfernt. Sie sitzen weiter an zentralen Stellen ihres Nervengewebes und werden fressen. Langsam, behutsam, aber unaufhörlich und spätestens, wenn Sie hier raus sind, wird es zu spät sein. All Ihr Geld, all Ihre Macht wird Ihnen dann nicht mehr helfen können. Dann werden Sie bemerken, wie es ist, vom Leben wirklich gedemütigt zu sein.“

Spectra gab ein kurzes, fröhliches Lachen von sich und schwebte dann mit spielerischer Leichtigkeit aus der Grube empor.

„Wo wollen Sie hin?“, fragte Devell stöhnend.

„Meine Arbeit tun“, antwortete Spectra, „Callan hatte nun wirklich genügend Vorsprung. Ich darf es ihm nicht zu leicht machen.“

Dann verschwand Spechtra und ließ Devell geschwächt und verzweifelt zurück. Für einige Augenblicke blieb sie einfach so liegen, gab sich ihrer Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit hin, doch schließlich stemmte sie sich mühsam in die Höhe, griff sich ihren Swirler, der noch immer neben ihr auf dem schmutzigen Boden lag und suchte nach einer Möglichkeit, die Grube zu verlassen.

Sie konnte nicht anders. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gespielt und so lange sie sich noch bewegen konnte, würde sie weiterspielen.

~o~

Callan konnte kaum glauben, dass er so viel Glück hatte. Er war sich natürlich nicht sicher, aber wenn es nicht eine erneute Täuschung war, zog sich der Kanal nicht nur bis zum Ende des gesamten Areals, sondern bot an einigen Stellen auch leiterartige Aufstiege, die ihn zurück in das vermeintliche Sumpfgebiet bringen konnten. Natürlich war es möglich, dass das Sumpfungeheuer dort oben noch immer auf ihn lauerte und nur darauf wartete, dass er den Pfad wieder betrat. Doch war das überhaupt schlimm? Vielleicht handelte es sich bei ihm ja auch gar nicht um einen Geist, sondern ebenfalls um eine bloße Illusion, die nur dazu gedient hatte sie beide in die vermeintliche Sicherheit der Hütten zu locken. Dass seine Schüsse einfach glatt durch das Wesen durchgegangen waren, sprach sicherlich für diese Theorie, die Speere und die Säure hingegen eher nicht. Da ihn diese Angriffe aber ebenfalls verfehlt hatten, konnte er auch nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wirklich gefährlich oder auch nur Blendwerk gewesen waren. So oder so konnte er nicht den Rest seines Lebens in diesem Kanal verbringen, also würde er es wohl darauf ankommen lassen müssen.

Viel mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm ohnehin eine andere Frage: Wie war es Devell ergangen? War sie bereits tot oder lediglich im Begriff zu sterben? Callan hielt beides für denkbar. Sein Wissen über Scyonen war begrenzt, aber er wusste zumindest, dass es nicht die freundlichsten Geschöpfe waren. Es war also gut möglich, dass Devell gerade grauenhafte Qualen litt und aus irgendeinem Grund ließ ihn das nicht kalt. Mit Devells Tod hätte er sich abfinden können, auch wenn er die Gesellschaft der Nehmerin in den letzten Stunden unerwarteterweise zu schätzen gelernt hatte, aber er hatte selbst zu viel gelitten, um irgendeinem anderen Wesen Schmerzen und Folter zu gönnen. Das war vielleicht keine typische Einstellung für einen Deovani, aber der durchschnittliche Deovani träumte wohl auch nicht Nacht für Nacht von einem sphärischen Paradies unter einem ewig scheinenden Mond. Hinzu kam, dass ihm immer noch drei Areale bevorstanden und er seine Chancen, sie ganz allein zu bewältigen, als nicht allzu hoch einschätzte.

Statt also den Ausstieg zu wählen, der ihn vielleicht direkt an sein Ziel gebracht hätte, drehte er um und wählte eine Leiter direkt am Anfang des Kanals. Er hoffte nur, dass er all diesen Aufwand nicht für eine Leiche betrieb.

~o~

Callans plötzliche Glückssträhne schien nicht abreißen zu wollen. Nicht nur, dass er Devell viel schneller und leichter aufspürte, als erwartet, er konnte auch eine erneute Begegnung mit dem Sumpfmonster vermeiden. Jedoch war Devell dermaßen übel zugerichtet, dass er sie im ersten Moment ebenfalls für ein Ungeheuer gehalten hatte. Ihr extravaganter Haarkranz war von Schmutz und Schlamm verklebt, ihr Gesicht von kaum vorstellbaren Martern gezeichnet und das Feuer in ihren Augen brannte kaum mehr. Auch ihre Kleidung bestand – abgesehen von ihrem unverwüstlichen Panzerstoffmantel – nur noch aus Lumpen. Vor allem jedoch klafften große, verkrustete Wunden in ihren Oberarmen und Oberschenkeln, ihre Beine waren übersät mit roten und blauen Flecken und ihr einst so federnder Gang war müde und unsicher geworden. Immerhin lebte sie noch.

„Was ist passiert?“, fragte Callan bestürzt.

„Ich habe nicht auf Sie gehört“, sagte Devell gequält lächelnd, „das ist passiert. Ach ja, und die Hausherrin hatte ihren Spaß mit mir.“

„Aber Sie konnten trotzdem fliehen?“, wunderte sich Callan.

„Ja und Nein“, antwortete Callan, „entkommen musste ich selbst, aber meine Gastgeberin ist irgendwann einfach verschwunden. Das hat es mir etwas leichter gemacht. Und fragen Sie mich bloß nicht, warum Sie mich nicht kalt gemacht hat. Das weiß ich nämlich selbst nicht genau. Vielleicht hofft sie darauf, dass ich langsam an meinen Wunden verrecke.“

„Hat Sie denn recht damit?“, wollte Callan wissen, der die Halbwahrheit offenbar schluckte.

„Nein“, flüchtete sich Devell in eine Halbwahrheit, „ich bin eine Nehmerin, mich haut so schnell nichts um. Allerdings werde ich wohl die nächsten Tage aufs Sprinten verzichten müssen.“

Callan nickte etwas zweifelnd, aber zumindest ein wenig beruhigt. „Wo ist die Scyonin jetzt?“, fragte er.

„Eigentlich sucht sie nach Ihnen“, antwortete Devell, „sie hat wohl nicht damit gerechnet, dass Sie nach mir suchen würden.“

„Ich auch nicht“, gestand Callan, „immerhin haben Sie mich gerade erst im Stich gelassen.“

„Sie hätten ja mitkommen können“, erwiderte Devell mit einem verkniffenen Grinsen, „dann hätten wir beide unsere persönliche Intensiv-Massage genießen können. Aber wie es aussieht, hat sich Ihr Altruismus erneut ausgezahlt. Ich weiß zwar nicht, wie Sie es geschafft haben, hier einfach so aufzutauchen, aber wenn Sie nicht hier bei mir wären, hätte sie Sie sicher schon erledigt.“

„Wahrscheinlich“, stimmte Callan zu, „andererseits hat sie Sie auch verschont.“

„So kann man das auch nennen“, sagte Devell und rieb sich die schmerzenden Oberschenkel, „ich würde mich aber an Ihrer Stelle nicht darauf verlassen.“

Callan nickte verstehend. Er wusste genug über Deovan und über das House of Life, um sich keinen großen Hoffnungen hinzugeben.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Devell, „dem Weg folgen und ihr in den Rücken fallen?“

Callan schüttelte den Kopf. „Ich habe eine bessere Idee. Haben Sie vielleicht Lust auf ein Bad?“

~o~

„Das alles hier ist also eine Illusion?“, fragte Devell, nachdem sie gemeinsam den verborgenen Kanal betreten hatten, diesmal jedoch auf der anderen Seite des Weges, in der Hoffnung, es der Scyonin etwas schwerer zu machen Callans Spur zu folgen.

„Nicht alles“, sagte Callan, „anfangs dachte ich das, aber inzwischen glaube ich nicht mehr, dass es so einfach ist. Es ist wohl vielmehr eine Vermengung von Realität und Scheinwelt und womöglich ist es auch das bloße Wirken manifester Magie. Durchaus denkbar, dass es hier eine ganz reale, dünne Sumpfschicht gibt, die lediglich magisch komprimiert wird und sich jederzeit wieder ausdehnen und uns unter sich begraben könnte.“

„Sehr beruhigend“, sagte Devell und blickte zu der blubbernden, trüb-braunen Masse über ihren Köpfen.

„Nicht wahr?“, erwiderte Callan.

„Was ist mit dem Irrlicht?“, hakte Devell nach, „war das Wirklichkeit oder Täuschung?“

„Vor allem war es kein Irrlicht“, antwortete Callan, „es war irgendeine ätherische Sumpfkreatur, die uns Angst einjagen und in die Sumpfhütten treiben sollte. Ob sie real ist und uns auch verletzen kann, weiß ich nicht, aber wir sollten besser damit rechnen.“

Inzwischen hatten sie den Ausstieg am Ende des Kanals erreicht und Callan legte seine Hände auf die erste der Sproßen.

„Das sollten wir“, pflichtete Devell bei, „ohnehin sollten wir auf alles vorbereitet sein, wenn wir dort hinaufgehen. Die Scyonin ist nicht dumm. Wenn sie Sie nicht aufspüren kann, wird sie ahnen, dass Sie einen anderen Weg genommen haben. Und hier wird sie sicherlich als Erstes nach Ihnen suchen. Oder Sie wird sich die Mühe sparen und gleich die Aufstiege im Blick behalten. Immerhin ist das ihr Arbeitsplatz und sie kennt sich entsprechend gut hier aus. Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass unsere Chancen, das hier zu überleben gegen null tendieren.“

„Natürlich ist mir das bewusst“, sagte Callan, „zumindest was mich selbst betrifft. Sie hingegen könnten doch praktisch jederzeit aufgeben, oder nicht? Vielleicht sollten Sie es tun.“

Devell schwieg eine Weile, bevor sie dann doch antwortete. „Ich bin hergekommen, um echtes Risiko zu erleben. Das hat sich nicht geändert, nur weil meine Chancen nun viel schlechter stehen. Außerdem bin ich neugierig. Ich will unbedingt sehen, wie Sie sich schlagen.“

„Oder eher wie ich geschlagen werde?“, gab Callan verschmitzt zurück, während er langsam begann die Leiter hochzuklettern.

„Das natürlich auch“, sagte Devell, die ihm folgte, grinsend, „wer hat schon was gegen eine gute Tragödie?“

~o~

„Hören Sie das?“, fragte Callan, nachdem Devell hinter ihm aus dem Sumpf gestiegen war und sich dabei genau wie er von Kopf bis Fuß mit Schlamm und Wasserpflanzen bedeckt hatte.

„Ja“, sagte Devell, während sie sich den Schlamm aus Augen, Nase und Ohren wischte, „es ist vollkommen still. Wahrscheinlich gehört das zu ihrer Show. Die Frau liebt große Auftritte, das kann ich Ihnen versichern.“

„Ich weiß nicht“, überlegte Callan und suchte vergebens nach Fliegenschwärmen oder Sumpfungeheuern, „irgendwie habe ich nicht den Eindruck, dass das hier geplant ist. Aber wir sollten natürlich weiterhin auf der Hut sein.“

Beide blickten sich aufmerksam um. Direkt hinter ihnen, halb im Nebel verborgen, verlief der altbekannte, feste Pfad durch das Sumpfgebiet, während sich vor ihnen ein kleiner Moorwald aus Bäumen erstreckte, die in etwa an irdische Moorbirken und Schwarz-Fichten erinnerten, nur das ihre Kronen ausladender und ihre Stämme etwas knorriger und unförmiger waren. Zudem gab es zu beiden Seiten wieder zwei kleine Hütten, die diesmal keiner von ihnen besuchen wollte.

„Meinten Sie nicht, dass der Ausgang hier irgendwo in der Nähe befinden müsste?“, fragte Devell verwirrt.

„So schien es auch“, versicherte Callan, „vorhin zumindest. Vielleicht hätten wir doch nicht die Seite wechseln sollen.“

„So breit ist dieser Pfad nicht“, meinte Devell, „Wenn der Kanal auf der anderen Seite bis zum Ende des Areals geführt hat, sollte das auch hier der Fall sein. Aber vielleicht führt dieser Tunnel ja auch gar nicht bis zur Zielgeraden oder aber dieser Wald ist einfach nur eine weitere, magische Illusion.“

„Das lässt sich herausfinden“, sagte Callan, ging vorsichtig ein paar Schritte nach vorne und berührte einen der knorrigen Nadelbäume an seinem Stamm. Er glitt nicht hindurch, sondern berührte festes, gewöhnliches Holz und spürte klebriges, leicht auf der Haut brennendes Harz an seinen Fingern, das er an seiner schlammigen Hose abwischte.

„Offensichtlich nicht“, schlussfolgerte Callan, „und wenn, ist sie diesmal so gut, dass wir sie nicht enttarnen können. Ich glaube aber eher, dass Magie dahintersteckt, die nicht nur unsere Sinne, sondern auch die Realität beeinflusst. Es könnte eine Barriere sein, die unser Entkommen verhindern soll. Immerhin gibt es hier auch keinen Pfad mehr.“

„Das lässt sich ändern“, sagte Devell und hob ihren Swirler.

„Nein“, warnte Callan, „wir müssen es der Scyonin auch nicht zu leicht machen, uns zu finden. Vielleicht können wir uns irgendwie zwischen den Stämmen hindurchzwängen.“

Während er dies sagte, näherte er sich wieder den Bäumen und beobachtete verblüfft, wie sie sich auf magische Weise entwurzelten, lautlos ein Stück zur Seite „krabbelten“ und so einen schmalen, wenn auch holprigen Pfad eröffneten.

„Was zum …“, flüsterte Callan ungläubig.

„Diesmal rieche sogar ich eine Falle“, bemerkte Devell düster.

„Ich auch“, antwortete Callan, „leider sehe ich aber keine Möglichkeit ihr zu entgehen. Wir müssen einfach so schnell sein, dass wir hindurch sind, bevor sie zuschnappt.“

„Guter Witz“, sagte Devell und massierte sich ihre malträtierten Arme und Beine. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

„Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Callan, „Was immer sie mit Ihnen angestellt hat, es sieht nicht so aus, als ob es heilen würde.“

„Zumindest nicht so schnell, wie ich es mir wünschen würde“, sagte Devell, „allein hätten Sie wohl bessere Chancen. Und Sie wären viel schneller.“

„Sie wollen einfach so aufgeben?“, fragte Callan.

„Nein“, behauptete Devell kopfschüttelnd, „ich kämpfe bis zum letzten Atemzug. Aber ich denke, das hier ist der Punkt, an dem Kooperation uns nicht länger nützt.“

„Bisher hat sie uns gut gedient“, wandte Callan ein, „ich sehe keinen Grund, unsere Strategie zu ändern.“

Devell lächelte, trotz ihrer Schmerzen. „Oh doch, den sehen Sie. So dumm sind Sie nicht. Allerdings ist es für Sie mehr als eine Strategie. Ich glaube, Sie wollen anderen helfen. Es ist Ihnen ein Bedürfnis, eine Mission. Sie fühlen Mitleid und Empathie. Ich habe das noch nie bei einem erwachsenen Deovani gesehen. In Ansätzen vielleicht, aber nie in diesem Ausmaß. Eigentlich kenne ich das eher von Bravianern oder von Menschen. Eigenschaften, die sich gut ausnutzen lassen, auch wenn sie manches verkomplizieren. Allerdings finde ich es auch erfrischend. Ich glaube, Kooperation kann eine gute Investition sein. Sie liefert Sinn. Das vergessen viele von uns oder sie wissen es nicht, weil sie es nie gelernt haben.“

„Kann es nicht sein, dass Sie sich einfach zu wichtig nehmen?“, fragte Callan, dem Devells Analyse unangenehm war, vielleicht gerade, weil er Wahrheit darin erkannte, „Sie sind ein rücksichtsloses, egomanes Arschloch. Eine Frau, die ihr ganzes Leben Schwächere ausgebeutet und zu Grunde gerichtet hat. Wieso sollte ich mit so jemandem Mitleid haben?“

„Eben. Warum sollten Sie?“, sagte Devell lächelnd, „und dennoch haben Sie es. Das ist bemerkenswert.“

Plötzlich stolperte Devell auf Callan zu und drückte ihm einen Kuss auf die schlammigen Lippen. Callan war überrumpelt, wehrte sich aber nicht.

„Was sollte das?“, fragte Callan verwirrt.

„Ein Geschenk“, sagte Devell, „oder eine Investition. Je nachdem, wie man es betrachtet. Und es ist nicht die einzige, die ich tätigen will.“

Devell griff in die magnetverschlossene Tasche ihres Panzerstoffmantels, holte einen schweren, silbernen Anhänger mit drei unterschiedlich großen, miteinander verbundenen Hochhäusern hervor und reichte ihn Callan.

„Was soll ich damit?“, fragte Callan unsicher.

„Sie sollen ihn aufbewahren“, antwortete Devell, „und zwar sorgsam. Sollte ich hier sterben, könnten Sie es hilfreich finden. Wenn nicht, hole ich es mir zurück.“

„Für gewöhnlich holt man sich Geschenke aber nicht zurück“, sagte Callan, „das widerspricht der Definition dieses Wortes.“

„Wir sind hier immer noch in Deovan“, lachte Devell.

Auch Callan musste grinsen. „Trotzdem vielen Dank“, sagte er und sein Lächeln verschwand, als er wieder an Devells Vorhaben dachte, „soll ich Sie ernsthaft hier zurücklassen?“

„Ja. Laufen Sie ruhig voraus“, bestätigte Devell, „ich komme hinterher, so schnell es geht. Vielleicht sehen wir uns wieder. Wenn nicht … nun, dann gute Geschäfte, Geber Callan.“

Callan nickte, sah seine Verbündete noch einmal an und verschwand dann zwischen den Bäumen. Devell sah ihm lange nach, nicht nur aus sentimentalen Gründen, sondern auch, weil ein plötzlicher, schmerzhafter Krampf in ihren Beinen verhinderte, dass sie sich auch nur ein winziges Stück bewegte. Devell glaubte fast die Fressgeräusche der Doweng-Larven hören zu können und hatte große Mühe ihre Beherrschung zu bewahren, während sie darauf wartete, dass der Anfall vorüberging. Erst als sich ihre Muskeln wieder etwas entspannt hatten, betrat auch sie das verzauberte Wäldchen.

~o~

Callan hatte noch immer mit der Verwirrung zu kämpfen, die Devells „Geschenke“ in ihm ausgelöst hatten. Sein ganzes Leben war ihm nie etwas geschenkt oder auch nur geliehen worden. Zuneigung schon gar nicht. Dass ihm das ausgerechnet von der CEO des Konglomerats von Rise widerfahren würde, hätte er sich nicht einmal in seinen seligsten Träumen ausgemalt. Entsprechend skeptisch barg er den Anhänger in seiner Hand und traute sich auch nicht ihn anzulegen. Er hielt es immer noch für möglich, dass es irgendein Trick war, der Devell einen Vorteil verschaffen sollte. Womöglich ließ ihn das Ding direkt am Ausgang explodieren und Devell an seine Stelle teleportieren oder es spionierte ihn aus, übermittelte alles, was er sah und sagte und diente dazu Callan als Vorhut zu benutzen. Allein, was hätte Devell davon? Ihre Verletzungen sahen ihm nicht so aus, als seien sie nur gespielt gewesen und er hatte zudem den Verdacht, dass sie mehr Schäden erlitten hatte, als man mit bloßem Auge erkennen konnte.

Nein, dachte er, während sich die Bäume weiter wie gehorsame Soldaten von ihm entfernten und ihre Wurzeln selbstständig aus der schlammigen Erde rissen, vielleicht habe ich nach all den düsteren Jahren einfach endlich auch mal ein wenig Glück.

Kurz fragte Callan sich, ob dies sogar eine Art Botschaft aus jener fernen, unerreichbar scheinenden Welt sein konnte, von der er so gerne träumte. Er fand keine Antwort und er hatte auch keine Zeit, sich lange darüber Gedanken zu machen. Das hier und jetzt war noch immer eine potenzielle Todesfalle und er wusste nicht, ob diesem Wald zu trauen war. Allein schon deswegen, weil seine Ausdehnung viel größer war, als sie eigentlich sein sollte. Er rannte hier sicher schon mehr als zwanzig Minuten herum, obwohl er stur geradeaus lief und das House of Life unmöglich solche Ausmaße haben konnte. Nicht einmal unterirdisch. Auch das letzte Gebiet hatte nicht einmal einen Bruchteil dieser Größe gehabt.

Gleichzeitig erschien es ihm zu einfach. Die Bäume machten ihm bereitwillig Platz und weder das Sumpfungeheuer noch die Scyonin, die Doweng-Fliegen oder irgendeine andere potenzielle Bedrohung sprang zwischen den Stämmen hervor, um ihn aufzuhalten.

So lief er einfach weiter und hatte dabei beinah das Gefühl endlos zwischen diesen Stämmen umherrennen zu können. Vielleicht würde genau das geschehen, dachte er und seine Knie begannen zu zittern. War das der Plan? Dafür zu sorgen, dass er sich selbst zu Tode hetzte? Ihn herumirren zu lassen, bis seine Kräfte versagten und Hunger und Durst ihn in die Knie zwangen? Der Gedanke wollte ihn nicht loslassen und so wurde er versuchsweise langsamer, drosselte seinen Lauf auf ein gemütliches Schritttempo … und erstarrte, als sich die Bäume mit einem Mal nicht mehr bewegten, sondern wie eine undurchdringliche Wand vor ihm aufragten.

Lähmende Gewissheit erfüllte ihn und verstärkte sich noch, als er allen Mut zusammennahm, erneut auf die Stämme zuraste und beobachtete, wie sie ihm wie gewohnt Platz machten. Er drehte sich um, versuchte dasselbe in der Richtung, aus der er gekommen war und stieß sich dabei schmerzhaft den Schädel, als er direkt gegen eine der Birkenstämme donnerte. Benommen hielt er sich den Kopf und blickte sich um. Einen Weg zurück gab es nicht, dämmerte es ihm mit eiskalter Klarheit. Nur nach vorn, immer nach vorn, bis er irgendwann zusammenbrach und ein Mitarbeiter von Enry seine Leiche vom Boden abkratzte und an Monument Inc. überführte.

In seiner Verzweiflung griff er sich seinen Pinpointer, die Waffe, die ihm bisher so wenig Glück gebracht hatte und zielte auf den Birkenstamm, der ihm seine Kopfschmerzen beschert hatte. Diesmal brannte die kleine Pistole wirklich einige beachtliche Löcher in das Holz. Jedoch zerstreuten sich all seine Hoffnungen, sich auf diese Weise einen ohnehin viel zu mühsamen Weg bahnen zu können, als sich all diese Löcher nach wenigen Augenblicken schlossen.

„Devell!“, brüllte er mehr aus Kalkül, denn aus Leichtsinn. Er wusste, dass ihm die Nehmerin wahrscheinlich nicht würde helfen können, selbst wenn sie ihn hörte. Aber er wollte vor allem die Scyonin anlocken, ja hoffte fast darauf, dass sie hierherkommen und das hier abkürzen würde. Ein kurzer Kampf war noch immer besser als ein langsamer, aber unausweichlicher Tod und wer weiß, vielleicht gelang ihm sogar ein Wunder.

Doch alles, was er hörte, während er mit flachem Atem und vollkommen ruhig ausharrte, war sein eigener Herzschlag. Minute um Minute verstrich, während sich um ihn herum nicht das geringste tat. Schließlich setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, entschlossen seine Kräfte zu sparen und so vielleicht etwas länger auszuhalten und betrachtete den Anhänger in seiner Hand.

Die drei Hochhäuser waren trotz ihrer vergleichsweise geringen Größe sehr detailliert gearbeitet. Ihre Eingangstüren waren mit Pflanzenkübeln geschmückt und mit Gravuren versehen, die den Schriftzug von Devells Konzern trugen. Die vielen kleinen Fenster besaßen nicht nur Vorhänge, in einigen erkannte man sogar winzige Personen, die aus den Fenstern hinausblickten und auch wenn Callan dies seiner Nervosität zuschrieb, so glaubte er dennoch, dass sie sich bewegen und ihn sogar ansehen würden.

Callan stellte den Anhänger vor sich ab und fragte sich zum ersten Mal ernsthaft, was er da vor sich hatte. War es einfach nur ein sentimentales Erinnerungsstück, ein Glücksbringer, oder vielleicht sogar eine Art Empfehlungsschreiben, für den Fall, dass er auf die irre Idee käme sich bei Rise zu bewerben? Letzteres hielt er durchaus für möglich, aber er glaubte nicht, dass er darauf eingehen würde. Für ihn gab es keine Zukunft in Deovan mehr, das fühlte er genau. Weder bei diesem Ausbeuterbetrieb, noch bei irgendeinem anderen. Entweder er ging hier mit genügend Geld für ein Flugticket raus oder gar nicht.

Dennoch wusste er natürlich Devells Geste zu schätzen, genau wie den unerwarteten Kuss, den er immer noch auf seinen Lippen spürte. Er merkte, wie seien Gedanken zunehmend abdrifteten und das Grübeln, die in ihm tobenden Emotionen und die Erschöpfung ihn in einen fast tranceartigen Zustand versetzten. Er betrachtete den kleinen Anhänger wie ein Totem, wie eine Kultfigur und stellte sich vor, wie die Gebäude in die Höhe wachsen und alle Bäume überragen würden. Wie er hineingehen und einen der Aufzüge benutzen würde. Wie er bis in die oberste Etage fahren und eine kleine Treppe bis zum Dach hinaufsteigen würde. Wie er einen der Gleiter besteigen würde, die auf dem Dach des mittleren Gebäudes bereitstanden, um über das Blätterdach hinweg in den Himmel zu entschwinden und all dem hier zu entfliehen.

Leider erfüllten sich Callans Fantasien nicht und das Modell blieb bei all seiner Detailverliebtheit nichts weiter als ein Modell. Trotz seiner Situation musste Callan kurz freudlos auflachen, als er darüber nachdachte, dass Devells erste selbstlose Tat – vorausgesetzt sie war eine solche – vollkommen sinnlos verpuffen würde, während sie ihre tausenden von egoistischen Entscheidungen zu einer der mächtigsten Frauen von Deovan gemacht hatten. Das entbehrte zumindest nicht einer gewissen Ironie. Doch sein absurdes Amüsement über diesen Umstand hielt nicht lange an. So ließ er sich schließlich resigniert mit dem Rücken auf den matschigen, kalten Boden sinken und malte sich aus, wie es wäre, einfach von ihm verschluckt zu werden, einfach nur zu versinken und …

Callan zuckte hoch, als ein Art Geistesblitz seine Trübsal durchbrach. Der Boden … könnte es nicht sein, dass auch er mehr war als das, was er zu sein schien? Ähnlich, wie es beim Sumpf gewesen war? Ein wenig beschämt von dieser irren, naiven Hoffnung drehte sich Callan dennoch um, steckte den Anhänger ein, kämpfte sich hoch und feuerte mit seinem Pinpointer direkt vor seine Füße.

Hatte Callan eigentlich eher damit gerechnet, dass er damit nichts weiter erreichen würde, als ein wenig Schlamm aufzuwühlen, so wurde er vom Ergebnis durchaus überrascht. Anstelle eines bloßen Kraters im Schlamm, erschien in der Erde ein glattes, scharf abgegrenztes Loch unter dem eine glitzernde, klare Flüssigkeit zu sehen war und anders als bei den Bäumen schloss sich dieses Loch auch nicht wieder. Entsprechend ermutigt gab Callan weitere Schüsse ab, bis das Loch groß genug war, um hindurchzugehen. Einige Augenblicke verweilte er noch am Rand der von ihm geschaffenen Öffnung und starrte auf die schillernde Substanz, der er eher mäßig vertraute und bei der es sich allem Anschein nach auch nicht um Wasser handelte. Dann jedoch holte er tief Luft und sprang kopfüber ins Unbekannte. Sollte er sich auflösen, galt das immerhin auch für seine Sorgen.

~o~

Callan löste sich nicht auf. Was immer dies für eine Flüssigkeit war, sie mochte zwar zäher und von höherer Viskosität als gewöhnliches Wasser sein, aber sie war nicht korrosiv, auch wenn er natürlich noch nichts über ihre langfristigen Auswirkungen auf seinen Organismus sagen konnte. Es fühlte sich einfach nur so an, als würde man durch Sirup schwimmen. Welche Art von Substanz ihn da umgab, blieb ihm jedoch schleierhaft. War es eine Kühlflüssigkeit oder vielleicht sogar das Flüssigkeits-Reservoir, aus dem sich die Nebel speisten, sofern sie nicht magisch erzeugt wurden?

Überhaupt verwunderte es ihn, wie viele verborgene Geheimnisse dieser Sumpf bereithielt. War das alles wirklich als physikalisch existenter Raum im House of Life angelegt oder befand er sich längst in einer neuen Illusion? Es ergab wohl wenig Sinn sich diese Frage zu stellen, denn einen Weg zurück gab es jetzt nicht mehr.

Statt sich also den Kopf zu zerbrechen, konzentrierte er sich lieber auf seine Umgebung. Anders als die Kanäle unter dem Moor schien es sich hier um eine grobe, natürlich aussehende Höhle zu handeln, deren kantige, dunkle Felsenstruktur in der aus sich selbst heraus leuchtenden Flüssigkeit umso deutlicher hervortrat. Immerhin gab es einen zwar abschüssigen, aber klar erkennbaren Pfad ohne Verzweigungen, was auch durch den Boden unterstrichen wurde, auf dem in regelmäßigen Abständen von etwa zehn Metern weiße Pfeile aufgemalt worden waren.

Trotz dieser klaren Wegführung begann Callan sich allmählich Sorgen zu machen. Das Lungenvolumen eines Deovani-Gebers ist zwar um gut zwei Drittel größer als bei einem Menschen (bei einem Nehmer etwa zehnmal so hoch) und die Effizient der Sauerstoffausnutzung ist ebenfalls höher, aber dennoch wusste Callan, dass ihm früher oder später die Luft ausgehen musste, wenn er nicht bald zurück an die Oberfläche kam.

Zum Glück dauerte es nicht mehr allzu lange, bis dieser lineare Abschnitt der Höhle endete und er nun doch eine Art Weggabelung erreichte. Jedoch verlief diese vertikal und nicht horizontal. Über ihm war es heller und auch wenn er die Oberfläche noch nicht sehen konnte, da die unbekannte Substanz mit zunehmender Entfernung trüb zu werden begann, lag es natürlich nah, dass sie sich irgendwo dort befand. Der Tunnel unter ihm hingegen war pechschwarz und verströmte eine unangenehme, kraftraubende Kälte.

Die Wahl fiel ihm entsprechend nicht allzu schwer, zumal er langsam wirklich feststellte, dass sein Vorrat an frischer Luft bedenklich knapp wurde. Also katapultierte er sich mit kräftigen Schwimmbewegungen nach oben, wobei er sich immer am heller und heller werdenden Licht orientierte. Sein anfangs vorsichtiger Optimismus wandelte sich in regelrechte Euphorie, als er oben, am Ende des vertikalen Tunnels nicht nur das grüne Leichenlicht der Sumpflandschaft, sondern auch einige Bäume zu erblicken glaubte. Er hatte die richtige Wahl getroffen.

Callan mobilisierte seine Reserven und schwamm immer schneller auf den Ausgang zu, der sich dabei klarer und klarer vor ihm materialisierte. Doch als er nur noch ein paar dutzend Meter entfernt war, erkannte er plötzlich sechs dunkle Schemen, die bedrohlich vor dem Ausgang warteten. Anfangs hatte er sie noch für Ausbuchtungen des Gesteins gehalten, mittlerweile jedoch ging er davon aus, dass es sich um Lebewesen handeln musste. Weitere Sumpfungeheuer womöglich? Oder irgendwelche aquatischen Geschöpfe, die Life-Runnern, die dieses Schlufploch entdeckten, das Durchkommen erschweren sollten?

Callan wurde eiskalt, als er daran dachte, dass sein Pinpointer unter Wasser noch viel nutzloser sein würde als an Land. Wie sollte er praktisch unbewaffnet gegen gleich sechs womöglich magische Kreaturen bestehen?

Andererseits war es nun zu spät, um umzukehren. Er durfte sich einfach nicht auf einen Kampf einlassen und musste versuchen, irgendwie durch diese Wächter hindurchzuschlüpfen. Wenn es tatsächlich aquatische Geschöpfe waren, hätte er an Land die besseren Karten. Natürlich war ihm bewusst, wie gering seine Erfolgschancen waren, aber das hatte ihn ja auch nicht davon abgehalten, das House of Life zu betreten.

Unbeirrt schwamm er weiter auf die kreisrunde Öffnung zu und versuchte sich dabei genau in der Mitte zu halten und den sechs Wächtern keine Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei war dies keine bloße Angstreaktion, sondern auch Kalkül. Er wusste, dass er unmöglich auf die Bewegungen so vieler Feinde reagieren konnte und dass ihn jeder Reflex und jedes bisschen Angst am Ende nur lähmen würden. Entweder er schaffte es, sie schnell genug zu passieren oder eben nicht. Alles andere brauchte ihn nicht zu beschäftigen.

Callan fokussierte sich allein auf sein Ziel, auf den Sumpf und die Birken und Fichten, die lediglich auf der linken, nicht aber auf der rechten Seite zu wachsen schienen, was dafür sprach, dass dies die andere Seite der Baumgrenze war. Trotz seines Vorhabens, nahm er natürlich aus den Augenwinkeln wahr, wie die sechs Wächter immer größer und größer wurden. Bald würde der entscheidende Moment kommen. Instinktiv rechnete er damit, dass jeden Augenblick jemand nach ihm greifen oder eine Waffe auf ihn abfeuern würde. Aber noch geschah nichts.

Nur noch zehn Meter. Sein Herz klopfte laut und beanspruchte immer mehr von den kümmerlichen Sauerstoff, der noch in ihm kreiste. Noch acht Meter. Die Bäume offenbarten ihre Details, obwohl noch immer ein wenig Nebel über der Szenerie lag. Noch fünf Meter. Er entschied sich kurz, die Augen zu schließen, um seiner Panik zu entkommen. Drei Meter. Eine Berührung an seiner Seite. Nicht schmerzhaft, aber auch nicht zu leugnen. Reflexhaft öffnete er die Augen, hielt inne und wandte sich entgegen seines Vorsatzes zu dem Angreifer um. Allerdings war es kein Angreifer, sondern ein bulliger Rorak, dessen milchige Augen blind und dessen Gesicht so weich, weiß und teigig war wie eine aufgeblähte Torte, während sein fleckiger, schwammiger Arm es wohl war, der Callans Brust gestreift hatte.

Rasch drehte Callan sich im Kreis und erkannte dabei, dass die anderen Gestalten ebenfalls Leichen waren – vier Deovani und eine Andrin –, die sich in verschiedenen Stadien der Auflösung befanden und deren halb zersetztes Fleisch wie Plankton durch die ölige Flüssigkeit trieb. Nein, dies waren keine Feinde, sondern bedauernswerte Life-Runner, die hier ihr Ende gefunden hatten. Wobei das eine das andere ja nicht ausschließen musste. Ganz besonders nicht, wenn man sich im Reich einer Sumpfmagierin befand. Fürs Erste jedoch ging von dem aufgedunsenen Körper lediglich jene stumme Drohung aus, die jeder Tote stets gegenüber den Lebenden aussprach: „Das wird auch dein Schicksal sein.“

Diese Drohung wurde dabei noch viel weniger abstrakt, als Callan den Rorak zur Seite stieß, dessen Leiche daraufhin träge taumelnd gegen den Körper seines deovanischen Nachbarn prallte, und versuchte seine Hände nach dem nahen Ufer auszustrecken. Dabei stieß er auf ein Hindernis. Jedoch nicht auf ein magisches Kraftfeld, sondern auf unendlich feinen, aber massiven Stahl, der fast so dünn war, dass er seine Finger zerschnitten hätte, wenn er nicht sofort bei der ersten Berührung innegehalten hätte.

Ein Gitter, beinahe unsichtbar, aber doch unüberwindlich. Ein Sargdeckel, der den wertvollen Sauerstoff dort oben vor seinem Zugriff verschloss. Callan war kurz davor, laut vor Enttäuschung zu brüllen. So nah war der Ausgang und doch unerreichbar, während die Toten stumm nach ihm riefen, bunte Flecken vor seinen Augen tanzten und sein Atem sich unaufhaltsam verbrauchte.

~o~

Devells Stimmung war an einem Tiefpunkt angelangt, während sie sich mühsam durch die Baumreihen schleppte, die sich wie durch Zauberhand vor ihr lichteten. Und das lag weder an ihren Beinen und Armen, die ihr mit jeder Minute etwas weniger gehorchten, noch an dem Wissen, von innen aufgefressen zu werden. Ihre Niedergeschlagenheit hatte einen anderen Grund: Sie hatte mittlerweile keinen Zweifel mehr daran, dass sich die Bäume bei ihr bereitwilliger zurückzogen, als sie es bei Callan getan hatten. Ja, sie war sogar fest davon überzeugt, dass sie in ein paar Minuten problemlos das Ende des Areals erreicht haben würde, ohne sich einer ernsthafteren Herausforderung stellen zu müssen, ganz wie es ihr die Scyonin prophezeit hatte.

Der erste Creep, dem sie begegnet war, jenes gewaltige Monster, das sich das Soldatengrab zu eigen gemacht hatte, hatte sie – zumindest am Anfang – nicht geschont und ihr ein paar Mal fast das Lebenslicht ausgeblasen.

Von diesem Erlebnis hatte sie sich blenden lassen und dabei alle Anzeichen dafür ignoriert, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Dabei hätte sie der Koloss ja schon damals mühelos zertreten können, als sie in dem Mausoleum gefangen gewesen waren, Verletzungen hin oder her. Stattdessen war er einfach verschwunden und hatte ihnen sogar noch diese unmissverständliche Botschaft hinterlassen: „Zufall“. Devell hatte es damals als eine Art Auszeichnung für ihre Leistung und ihren guten Kampf betrachtet, aber schon damals hätte ihr klar sein müssen, dass das House of Life für sie nicht mehr war als eine bessere Geisterbahn. Natürlich, sie hatte auch von Konzernchefs gehört, die das Haus nicht mehr lebend verlassen hatten, aber keiner von denen hatte ihre Bedeutung gehabt und viele waren – nüchtern betrachtet – bereits auf dem Weg in die totale Bedeutungslosigkeit gewesen. Sie jedoch war noch immer erfolgreich und die Ironie, dass genau dieser Erfolg ihr nun zum Verhängnis wurde, brachte sie schier um den Verstand.

Genau dieser Gedanke war es, der Devell alle Kraft raubte und den verbliebenen Lebensmut aus ihr herausfließen ließ, wie Blut aus einer frischen Wunde. Dieses ganze Spiel, dieser Life-Run, war ihre letzte Hoffnung gewesen, sich wieder zu spüren, wieder das Gefühl von echtem, rohen Sinn zu erleben und sei es nur durch den basalen Kick von Adrenalin und Überlebensinstinkt.

Jetzt aber hatte sich auch dieser Ausweg als eine weitere Kulisse entpuppt. Eine weitere seidenverkleidete Sänfte, mit der sie mühelos durchs Leben getragen wurde, ob sie nun wollte oder nicht. Das Schlimmste aber war, dass sie es tief in sich die ganze Zeit über gewusst hatte. Für sie gab es kein wirkliches Risiko mehr. Sie war „too big to fail“ geworden, zu erfolgreich und zu wichtig, um ihrem Konzern abhandenzukommen. Sie war keine Person, sondern eine atmende Investition, ein Konglomerat aus Unmengen von Informationen, Implantaten, Verbindungen, Erfahrungen und Zeit. Ihr Herzschlag bestimmte den Börsenkurs und ihr Atem war das Fließen von Kapital. Sie war ein Rädchen – groß, wichtig und gut verzahnt, aber längst nicht mehr frei.

Insofern waren die Doweng-Larven in ihren Gliedern beinah ein Geschenk. Das einzige echte, unberechenbare, was sie seit langem erfahren hatte. Ein Geschenk, das natürlich als Strafe gedacht gewesen war, obwohl das keinen Unterschied machte, denn immerhin entsprang es einer ehrlichen Motivation. Dennoch war ihr bewusst, dass sich die Scyonin irrte. Die Fliegen mochten aggressiv und schwer zu entfernen sein, aber mit genügend Geld war eine Behandlung möglich. Geld, von dem sie so viel hatte, dass sie sich tausende solcher Behandlungen hätte leisten können.

Sie könnte auch auf eine Behandlung verzichten und das Schicksal entscheiden lassen, ob ihr hocheffizienter Nehmer-Organismus das Problem allein in den Griff bekäme, doch sie wusste, dass ihr Konzern das nicht akzeptieren würde. Und sie wusste auch, dass das nicht die wahre Botschaft war, die die Scyonin oder vielleicht auch ihr gedankenloser Gott ihr damit sandte. Es ging nicht um bloßes Abwarten und auch nicht um Glück. Diesmal ging es um Entscheidungen.

Genau in diesem Moment öffnete sich der Wald vor ihr. Nicht wie bisher ein bisschen, sondern vollständig. Nicht einmal hundert Meter entfernt sah sie die Baumgrenze, ein weiteres Fleckchen Moor und dahinter die Tür zum nächsten Abschnitt, die sich sicher bereitwillig für sie öffnen würde. Die Scyonin war nicht zu sehen und auch Callan konnte sie nirgends entdecken.

War er tot? Nein, das glaubte sie nicht. Womöglich hatte er einen anderen Weg genommen, so wie er immer einen anderen Weg hatte nehmen müssen, um sich durchzuschlagen. Ein Umstand, für den sie ihn gleichermaßen bewunderte und beneidete.

Auf seine Weise war Callan ein außergewöhnlicher Mann. Devell liebte ihn nicht. Dieses Gefühl war ihr vollkommen fremd, wenn auch mehr aus sozialen, denn aus biologischen Gründen. Aber sie respektierte ihn, fand ihn faszinierend und irgendwie sah sie in ihm auch das, was sie gerne gewesen wäre, aber nie hatte sein können. Sie fragte sich, was jemand wie er in ihrer Stellung, in ihrer Position getan hätte oder tun würde, wenn er die Chance dazu bekäme. Nun, vielleicht ließ sich das herausfinden, dachte sie lächelnd. Die Saat hatte sie ja bereits gelegt.

Ein letztes Mal atmete sie ein, sog die stinkende Sumpfluft in ihre Lungen, als wäre es ein erlesener, kostbarer Tropfen. Dann nahm sie ihren Swirler, hielt ihn an die Stirn und drückte ab. Die Drehgeschosse ließen ihrem Organismus keine Chance.

~o~

Callan bemerkte, wie seine Sicht zunehmend verschwamm, dennoch gab er nicht auf, handelte nach der denkbar einfachsten Logik: Wenn der Weg nach oben versperrt war, musste man es unten versuchen.

Er machte sich keine Gedanken über Wahrscheinlichkeiten, Zeiträume und Lungenvolumen, sondern hielt einfach stur auf jene dunkle Grotte zu, die er anfangs gemieden hatte. Natürlich war es unlogisch anzunehmen, dass er auf diesem Weg schnell zur Oberfläche gelangen würde. Aber vielleicht gab es dort irgendeinen Hohlraum, eine Art Luftblase oder doch einen alternativen, versteckten Tunnel zur Oberfläche. Er musste es versuchen. Meter für Meter kämpfte er sich nach vorne, auch wenn seine Muskeln müde waren, seine Sicht verschwamm und er das Gefühl hatte, dass sein Kopf in eine Schraubzwinge geraten wäre.

Ausdauernd und kompromisslos schwamm er weiter. Wie eine Kugel, die man abgefeuert hatte und die nun unweigerlich ihr Ziel finden musste. So lange jedenfalls, bis unmittelbar vor ihm mehrere, gitterförmige Stahlstreben aus den Wänden schossen und auch seiner letzten, winzigen Hoffnung jede Luft zum Atmen nahmen. Die Streben waren nicht so scharf und dünn wie die an der Oberfläche, jedoch gerade wegen ihrer Dicke genauso unüberwindlich. Nun erkannte er in letzter Konsequenz, was die Toten dort oben bereits stumm angedeutet hatten: Das hier war ein Grab und niemand tat in einem Grab etwas anderes als zu sterben. Oder zu verrotten.

Er hielt inne, spürte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Er weinte nicht um sein beschissenes Leben, sondern darüber, dass es nie das geworden war, was es hätte sein können. Wieder wollte er schreien, ja war kurz davor seinen Mund zu öffnen und der ihn umgebenden Flüssigkeit Einlass zu gewähren, bloß um sich diese Genugtuung zu verschaffen und um ein Haar hätte er dem Drang nachgeben. Dann jedoch vibrierte es in seiner Tasche.

Verwirrt und zunächst der festen Überzeugung, er würde fantasieren, schob er letztlich doch seine Hand in die Tasche und holte das kleine Hochhausmodell hervor, das Devell ihm geschenkt hatte. Verwundert betrachtete er die fingerkuppengroßen Eingangstüren der Bürotürme. Sie waren nicht mehr grau, wie zuvor, sondern erstrahlten in leuchtendem Rot. Mehr einem bloßen Impuls, als einer bewussten Überlegung folgend drückte Callan mit seinem linken Zeigefinger auf die erste der drei Türen. Sofort sprang sie auf und er spürte einen feinen, schmerzhaften Stich. Erst in seinem Finger, dann in der ganzen Hand und schließlich in seinem gesamten linken Arm, während die Fenster des Modellhochhauses im selben Rot aufleuchteten wie die Tür.

Kurz darauf begann sein ganzer Körper zu krampfen. Alle seine Nerven schienen sich gleichzeitig zu entzünden und obwohl er sich hier unten, inmitten dieser unbekannten, kühlen Flüssigkeit befand, hatte er eher das Gefühl zu schwitzen.

Dann, schlagartig, endete es. Nicht nur die Krämpfe in seinen Muskeln ebbten ab. Auch das dumpfe Gefühl von Benommenheit, die schlechte Sicht und die Kopfschmerzen, welche ihm der Sauerstoffmangel beschert hatte, endeten und eine ungewohnte Klarheit entstand in seinem Kopf. Er fühlte sich ausgeruht und vital, wie seit vielen Jahren nicht mehr. Wie war das möglich? Callan dachte angestrengt nach, doch die einzige Erklärung, die sich ihm bot, erschien ihm so vollkommen absurd, dass er am liebsten laut aufgelacht hätte, wenn das nicht sein Ende bedeutet hätte.

Andererseits hätte er es auch vor wenigen Stunden noch für fast ebenso absurd gehalten, ein Geschenk von einer Nehmerin zu erhalten und dennoch war es passiert. Könnte dann nicht auch andere Wunder geschehen?

Er beschloss, seine Vermutung einem Praxistest zu unterziehen. Noch immer etwas unsicher legte er die Hände um die Gitterstäbe, packte zu und … verbog sie völlig mühelos mit einem quietschenden, schrillen Geräusch.

Callan starrte ungläubig auf die deformierten Gitterstäbe und konnte sein Glück kaum fassen. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Seine plötzliche Fähigkeit, mit wenig Luft auszukommen, seine ungewöhnliche Vitalität und Stärke, der Stich, den er gefühlt hatte – dafür konnte es wirklich nur eine Erklärung geben. So unglaublich es auch schien, Devell musste ihm einen Nehmer-Organismus vermacht haben. Noch dazu jene Premium-Version, die der Kartellwächter immer nur dreißig Personen im gesamten, deovanischen Einflussgebiet zugestand.

Das wiederum ließ nur einen Schluss zu: Devell war tot. Eine schwere, unerwartete Trauer überkam Callan bei diesem Gedanken. Eigentlich war es rational kaum erklärbar. Er hatte Devell nur kurz gekannt und sie hatte in ihrem Leben – trotz ihres späten Sinneswandels – sicher so viel Herzloses getan, dass ihr Tod nüchtern betrachtet kein wirklich großer Verlust für diese kaputte Welt war. Umso mehr, da er fast sicher war, dass sie nach diesem kleinen Abenteuer Stück für Stück zu ihren alten Gewohnheiten zurückgefunden hätte, da man den ungeschriebenen Gesetzen dieses Systems nicht so einfach entfliehen konnte, wie dem Leben selbst. Aber soziale Beziehungen waren keine Mathematik. Hier konnten kleine Zahlen viel mehr Gewicht haben als große und was ihn betraf, so hatte ihn Devell besser behandelt, als alle Deovani, die er je kennengelernt hatte.

Er fragte sich, was hinter den anderen Türen der Hochhäuser liegen mochte und seine Neugier war so groß, dass sie sich beinah in Angst verwandelte. Dennoch würde er sie beherrschen müssen. Seine neuen körperlichen Kräfte waren sicher beachtlich, aber er brauchte nach wie vor etwas Sauerstoff, um zu überleben. Er durfte also keine Zeit vergeuden.

Callan entschied sich, das nicht länger nur unter sentimentalen Gesichtspunkten wertvolle Geschenk, um seinen Hals zu legen, wo er es besser im Blick haben würde. Dann wandte er sich um und begann wieder direkt auf die Oberfläche zuzuschwimmen, statt sich er dunklen Grotte zu stellen. Es wäre doch eine zu große Ironie gewesen, wenn er sich in irgendwelchen obskuren Tunneln verloren hätte und trotz seines neuen Nehmer-Organismus jämmerlich ertrank.

Es dauerte nicht einmal halb so lange wie erwartet, bis er sich wieder inmitten der aufgedunsenen, gescheiterten Life-Runner befand und seine Hände besonders behutsam nach dem extradünnen Gitter ausstreckte. Er fühlte einen leichten Schmerz, als seine Fingerkuppen das scharfe Metall berührten. Ihm war klar, dass er diese Finger mit seinem „alten“ Körper wohl bereits verloren hätte, aber auch so war das hier immer noch hochriskant.

Dennoch platzierte er seine Hände seitlich an den beiden mittleren Gitterstäben, direkt am Rand der Öffnung und drückte mit aller Kraft. Aus dem leichten Schmerz wurde ein widerliches Stechen als die drahtdünnen Gitter seine widerstandsfähige Haut durchstachen und sich in seine verbesserten Muskeln fraßen. Immerhin verbogen die Stäbe sich ein kleines Stück und als er spürte, wie seine zerrissenen Muskelfasern ihre zerstörte Struktur langsam wiederherstellten, verstärkte er den Druck.

Die Stäbe gaben knarzend nach und Callan hörte erst auf, als er bemerkte, wie das Metall auf blanken Knochen traf. Hastig und vor Schmerzen schon beinah ohnmächtig zog er seine zerschnittenen, zitternden Finger zurück und wartete einige Sekunden, bis seine Wunden wieder etwas verheilt waren, bevor er von Neuem begann. Er brauchte genau fünf Anläufe, bis die Lücke groß genug geworden war. Und das war auch gut so, denn die Anstrengung und die Pein, zusammen mit dem wieder stärker werdenden Sauerstoffmangel hätten einen sechsten Versuch ohnehin unmöglich gemacht. Erschöpft zog er sich nach oben, achte darauf, sich nicht an den Gitterresten zu schneiden, und hoffte, dass die Scyonin ihn nicht direkt erwarten würde. In diesem Fall wäre seine Karriere als Nehmer wirklich sehr kurz gewesen.

~o~

„Das sollte reichen!“, meinte Yonis und stellte die Maschine ab, „wie fühlen Sie sich?“

Kollom fühlte sich ungefähr so als hätte ein Titan mit Stahlgebiss für mehreren Stunden auf seinem Schädel herumgekaut und als hätte sich eine ganze Legion giftiger Schlangen seinen Magen als Nest auserkoren.

„Besser“, antwortete Kollom matt, was zumindest insofern stimmte, als sein Verstand an Klarheit gewonnen hatte. Er hatte wieder das Gefühl, die Dinge zu durchschauen wie früher und selbst vieles von dem, was er völlig vergessen hatte, war mit einem Mal wieder in seinem Gedächtnis präsent.

„Gut“, sagte Yonis sarkastisch, „Deovans Geflecht wird sich freuen, dass sein Opfer nicht umsonst gewesen ist.“

„Sehr lustig“, erwiderte Kollom, strich sich über den Kopf, wie um seine Benommenheit damit wegzuwischen und stand auf, „wie lange wird der Effekt anhalten?“

„Schwer zu sagen“, meinte Yonis, „wie gesagt, musste ich etwas improvisieren. Gut möglich, dass sie ein ganzes Jahr lang wieder der Alte sind, oder auch ein Jahrzehnt. Vielleicht fängt Ihr Gehirn aber auch nach ein paar Tagen an, wieder nachzulassen. Dann müssen wir es nochmal versuchen. Ein letztes Mal. Noch mehr dieser Prozeduren können wir dem Geflecht nicht zumuten.“

„Das Geflecht hat schon eine Menge mehr verkraftet, als das hier“, erwiderte Kollom kühl, „viel mehr Gedanken mache ich mir um meine alternativen Selbste. Haben sie einige davon intakt gelassen?“

„Ihr Egoismus ist wirklich inspirierend, selbst für mich“, antwortete Yonis kichernd, während er den Ring aus der Maschine nahm und ihn Kollom reichte, „ja, ich habe vor allem die Intelligenz von den Kolloms in eher unbrauchbaren Zeitlinien reduziert. Einige Optionen bleiben uns also noch, falls wir scheitern. Aber natürlich sollten wir uns nicht zu sehr darauf verlassen. Wir können uns keine Verzögerung mehr leisten. Wir müssen das Projekt unverzüglich zu Ende bringen. Dann nehmen wir uns die Waffe – und Geberin Sandra, wenn es sein muss – und verlassen dieses traurige Grab von einem Planeten, bevor er auch unsere Pläne begräbt. “

„Ich verstehe“, sagte Kollom, der sich den Ring wieder überstreifte, „also gut. Dann sollten wir nun schnellstens …“

Kollom brach ab, als das Labor von einer heftigen Erschütterung erfasst wurde.

„Was ist das?“, fragte Kollom, „Ein Angriff? New Day Inc.? Joytech, vielleicht?“

„Ich dachte eigentlich, sie hätten Ihren Verstand zurück“, spottete Yonis, wobei sich ernste Sorgenfalten in allen seinen Gesichtern zeigten, „dabei ist es doch offensichtlich: Anscheinend haben wir Deovans Geflecht doch ein wenig zu viel zugemutet.“

„Wenn wir es tatsächlich übertrieben hätten, würde doch mehr passieren, als nur ein leichtes Erdbeben“, wiegelte Kollom ab.

In diesem Moment begannen der Raum um sie herum kurz durchsichtig zu werden. Und nicht nur das – für ein, zwei Sekunden sah man durch die transparenten Mauern hindurch nicht mehr die Stadt, sondern nichts weiter als die kalte, schwarze Leere des Alls. Ja, Kollom hatte sogar das Gefühl, dass für einen mikroskopischen Augenblick die Atemluft und der atmosphärische Druck vollkommen verschwundenen waren, bevor sich die gewohnte Realität wieder stabilisierte.

„So etwas zum Beispiel?“, fragte Yonis, während er einige seiner Augenbrauen hochzog.

„Das … denken sie, es ist bereits zu spät?“, fragte Kollom nun doch ein wenig erschüttert, „sollen wir die Zeitlinie wechseln?“

Yonis grinste bitter, „Ich glaube, Sie verstehen nicht. Das war ein „Pre-Void-Flimmern“, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das hiesige Geflecht an der Schwelle zur Auflösung befindet. Und falls das Geflecht zusammenbricht, gibt es keine Zeitlinie mehr, in der Deovan noch existiert. Oder sie. Durch einen Wechsel würden wir das Gleichgewicht noch schneller kippen lassen. Wir können nun nichts weiter tun, als das Beste zu hoffen und so weiterzuarbeiten, als wäre nichts geschehen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“

„Natürlich“, sagte Kollom, den die mögliche Aussicht auf ein Ende seiner eigenen Existenz nicht ganz kalt lies, fast schon übereifrig.

„Perfekt“, antwortete Yonis, „dann sollten wir zurück zu den anderen gehen. Mit jeder Minute unserer Abwesenheit schüren wir nur weiteres Misstrauen. Ich traue diesem Haufen Flüchtlinge nicht. Sie mögen dumm und naiv sein, ja. Aber das Unangenehme an Dummheit ist, dass sie meistens dann versagt, wenn man sich zu sehr auf sie verlässt.“

~o~

Als sich Callan klitschnass aus dem Loch zog, frischen Sauerstoff in seine Nehmer-Lungen sog und sich schwer auf den halbwegs festen Boden fallen ließ, stellte er erleichtert fest, dass die Scyonin noch nicht auf ihn lauerte.

„Vielleicht hält sie mich für tot“, flüsterte er zu sich selbst und wuchtete sich mühsam auf die Beine. Bereits jetzt spürte er, wie seine Erschöpfung nachließ. Er schüttelte das etwas ölige Nichtwasser aus seinem Pinpointer und hoffte, dass die Waffe noch einigermaßen zu gebrauchen sein würde. Auch wenn sie ihm streng genommen nur selten eine Hilfe gewesen war, würde er dem Kommenden nur ungern völlig unbewaffnet entgegentreten. Ohnehin entbehrte es nicht einer gewissen Komik, dass er als eine der dreißig körperlich stärksten Personen in ganz Deovan eine der schlechtesten Waffen mit sich führte, die für Geld zu erwerben war.

Er schaute sich um und sah noch einmal zu dem kleinen Wäldchen, das fast sein Ende bedeutet hätte. Devell hingegen hatte er das Leben gekostet. Ob durch Fremdeinwirkung oder aus eigener Entscheidung wusste er natürlich nicht, aber in jedem Fall trug Devells Tod nicht dazu bei, dass ihm der Wald geheuerer wurde.

Callan atmete noch einmal tief durch und genoss sein neues, großes Lungenvolumen. Sollte er es hier rausschaffen, hätte er wahrscheinlich etwas bessere Chancen diese goldene Hölle zu verlassen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob Devells großzügiges Erbe ihm nicht sogar weitere Schwierigkeiten bereiten konnte. Er war immer noch ein Geber. Selbst mit dem bescheidenen Preisgeld, von dem sich Monument ohnehin eine Menge einstecken würde, würde er diesen Status nicht verlassen. Er hatte keine Ahnung, ob man es akzeptabel war, dass er plötzlich über einen Super-Nehmer-Organismus verfügte. Selbst wenn der Kartellwächter das tolerieren sollte, konnte es immer noch sein, dass das Konglomerat von Rise das etwas anders sah. Aber darüber konnte er sich später noch immer den Kopf zerbrechen. Erst einmal musste er diesen Life-Run beenden, was noch immer Herausforderung genug war.

Rasch, aber dennoch vorsichtig folgte er dem feuchten Sumpfpfad, der ihn geradewegs zum Ausgang führen würde. Immer wieder sah er sich dabei um, ohne mehr als ein paar ferne, aber erfreulich zurückhaltende Fliegenschwärme, einige träge umhertreibende Nebelbänke und grünliches, gespenstisches Licht zu sehen.

Während er die letzten Meter zum Ausgang zurücklegte, rief er sich ins Gedächtnis, was ihm Devell über den nächsten Raum verraten hatte. Dort sollte eine Art Schattenwesen leben, eine Onyx-Geweihte, die über die Dunkelheit gebot. Callan war natürlich weit davon entfernt, diese Bedrohung zu unterschätzen, aber er hatte auch keine übermäßige Angst vor der Dunkelheit. Die Nacht hatte ihm zu keinem Zeitpunkt übler mitgespielt als der Tag. Nein, im Gegenteil; während seine Tage beständig mit Stress und Druck erfüllt gewesen waren, hatte er in der Nacht zumindest etwas ruhen können. Und manchmal, wenn ihm sein Unterbewusstsein gnädig gewesen war, hatte er sogar von seinem unbekannten Sehnsuchtsort geträumt. Von streichelnden, blauen Händen, friedvollen, lauwarmen Seen und würzigen, schimmernden Pilzen.

Nein, mit der Dunkelheit würde er sich schon arrangieren und wenn er das überlebte, müsste er nur noch zwei weitere…

„Es tut mir wirklich leid“, hörte er eine weibliche Stimme sagen und obwohl seine verbesserten Reflexe sofort reagierten, konnte er nicht verhindern, dass sich kräftige Schlingpflanzen aus dem Sumpf erhoben und sich wie Fesseln um seine Arme und Beine schlangen.

Einen Augenblick später schwebte die Scyonin in sein Sichtfeld und sah Callan tatsächlich weniger zornig, als vielmehr mitleidig an.

„Es ist beeindruckend, wie weit Sie gekommen sind. Weiter sogar als die Reichen und Schönen“, sie lachte ein dunkles, aber nicht unsympathisches Lächeln.

„Doch leider muss Ihr Weg hier enden. Ich kann Ihnen aber versprechen, dass Ihr Ende friedlich und schmerzlos sein wird“, sagte die Sumpfhexe sanft.

Noch während sie geredet hatte, hatte Callan all seine Kraft zusammengenommen, die Fesseln zerrissen und seine Arme befreit. Sofort riss er den Pinpointer hoch und eröffnete das Feuer. Auch wenn er es kaum zu hoffen gewagt hatte, trafen die kleinen Kugeln tatsächlich in die Brust der Frau, rissen halbätherisches Gewebe aus der Scyonin heraus und schleuderten seine Gegnerin ein ganzes Stück zurück. Ermutigt durch diesen Erfolg riss Callan nun auch seine Beine los, gab noch eine weitere, weniger gut gezielte Salve ab und rannte los.

Er kam nicht sonderlich weit. Bereits nach wenigen Metern verflüssigten sich der Boden und er versank bis zur Hüfte im Matsch. Sofort versuchte er sich dort herauszukämpfen, aber je mehr er es versuchte, um so tiefer versank er in der schlammigen Brühe. Schließlich, als lediglich noch sein Kopf, seine Brust und seine Arme aus dem Boden ragten, verfestigte sich der Schlamm und wurde hart wie Beton. Jetzt gab es kein Entkommen mehr.

Wieder erschien das Gesicht der Sumpfhexe vor ihm. Sie blutete schimmerndes, graues Blut aus mehreren Wunden, hatte jedoch ihr Lächeln nicht verloren.

„Sie haben sich weiterentwickelt“, sagte sie anerkennend und respektvoll, „um so trauriger, dass Sie nichts mehr davon haben werden. Aber trösten Sie sich. Auch der Tod ist nur eine weitere Metamorphose.“

Dann hob sie ihre Hände und Callan spürte kühlen Schlamm in seiner Kehle wachsen, als … die Tür erst für einen Augenblick völlig verblasste und direkt darauf in einem grellen Lichtblitz explodierte. Im selben Augenblick wurde die Scyonin angesaugt, wie ein Astronaut bei einem Druckverlust. Callan schirmte seine Augen mit dem rechten Unterarm ab und als er sich wieder traute hinzusehen, war der helle Blitz einer massiven, klar abgegrenzten, kreisförmigen Dunkelheit gewichen.

Inmitten dieser Dunkelheit stand eine helle, weiße, weibliche Gestalt und hielt die Scyonin in ihren Armen. Beinah als wären sie Liebende, nur dass außer Frage stand, dass die Sumpfmagierin diese Umarmung nicht begrüßte. „Oblivia, bist du endgültig irre geworden? Lass das sein, verflucht, ich bin deine Kollegin, kein Gast. Du lässt mich jetzt sofort los, oder ich …“

Ihre Worte verloren sich in bloßen, primitiven Lauten. Sie schrie, brüllte, tobte und wurde immer schwächer, während die Steingeweihte sie eisern umklammert hielt, alle Energie aus ihr herauspresste und sie gnadenlos in ihrem Ereignishorizont festsetzte, wie ein humanoides schwarzes Loch. Dann begann die Steingeweihte zu singen. Sie sang ein dunkles, zerbrechliches, so schönes wie erschreckendes Lied.

„Wir Funken erwachen und suchen das Licht
Wir spielen und lachen und lernen Verzicht
Ein Taumel der Träume, ein Pfeifen im Wald
Unter sterbenden Bäumen, verrottet und alt

Wir Funken erlöschen, in Meeren aus Nacht
Umarmen die Leere, aus der wir gemacht
kein Sinn wird uns retten, nichts dämpft unsr’en Fall
Ein trostloses, lichtloses Grab ist das All“

Callan zweifelte keine Sekunde daran, dass das hier nicht von der Leitung des House of Life geplant gewesen war. Und vor allem wusste er, dass er in jedem Fall der nächste sein würde, der in den Sog dieser Frau geriet. Er musste hier raus und das so schnell wie möglich.

Er hustete den kleinen Klumpen Schlamm aus seiner Kehle, der fast seine Luftröhre verschlossen hätte, spannte noch einmal seine Muskeln an und stellte erleichtert fest, dass aus dem Beton wieder gewöhnlicher Erdboden geworden war. Der Zauber der Scyonin schien nachzulassen. Mit einem gewaltigen Ruck zog er sich heraus, kletterte aus dem noch immer recht feuchten Untergrund empor und lief direkt in den Schattenkreis hinein, wobei er sich jedoch so weit wie möglich an dessen Rand hielt, um nicht in den Sog der entfesselten Onyxgeweihten zu geraten. Nun würde sich zeigen, wie gut er wirklich mit der Dunkelheit klarkäme.

~o~

Callan lief so schnell er konnte. Dennoch hatte er bei jedem Schritt das Gefühl, dass ihn eine kräftige, unsichtbare Hand in das Zentrum des Schattenkreises ziehen wollte. Von der Scyonin war mittlerweile kaum mehr als ein blasser Schemen übriggeblieben und ihre Schreie waren lange verstummt. Callan konnte sich problemlos ausmalen, was mit ihm geschehen würde, wenn die Steingeweihte mit ihrem momentanen Opfer fertig war. Zum Glück war das Ende der dunklen Scheibe, die noch immer Staub und Bruchstücke des Labyrinthes in sich hineinsaugte, bereits zu erkennen. Der Raum dahinter war zwar ebenfalls dunkel – ein schattenhaftes Herrenhaus mit morschen, geschwärzten Holzdielen und matten, flackernden Deckenlampen – jedoch schien ihm diese Dunkelheit nicht halb so tödlich zu sein, wie die, in der er sich befand.

Je näher er dem Ende der Schattenscheibe aber kam, desto langsamer schien er sich zu bewegen. Zuerst hielt er es für einen Effekt des rätselhaften Sogs, dann jedoch erkannte er, dass es kein äußerer Zwang war, der ihn dazu trieb, seine Schritte zu verlangsamen, sondern ein wachsender innerer Widerwillen und eine tiefe, seltsame Trauer. Jene Art von Trauer, in der man gerne versank und nach der man auf eine verquere Weise süchtig werden konnte.

Callan spürte Tränen in seinen Augen. Nicht warm, wie er sie gewohnt war, sondern so kühl wie ein erfrischender Wasserstrahl im Gesicht an einem zu heißen Tag. Und nicht nur das. Nein, sie flossen auch aus seinen Ohren. Ja, ohne Zweifel, das waren weder Schweiß noch Blut, sondern reine, herzensgeborene Tränen, hervorgelockt von diesem grauenhaft schönen, hoffnunglosen Gesang.

Er ertappte sich dabei, wie er seine Lippen bewegte, undeutlich summte und schließlich aus vollster Kehle mitsang, ohne jene kalte, zerstörerische Perfektion zu erreichen. Er hielt vollkommen inne, drehte sich um und ging langsam auf die Onyxgeweihte zu.

In diesem Moment zerfiel die Scyonin zu reinem Nichts und Oblivia breitete die Arme aus.

~o~

„Wofür haben wir dich überhaupt angestellt! Das hier ist dein Arbeitsplatz, kein Ruheraum!“, donnerte es über die verborgenen Lautsprecher in meinen Ohren.

„Ich habe auf deine Befehle gewartet“, antwortete ich verteidigend, wobei ich mich in Wahrheit in den letzten Minuten vor allem daran versucht hatte, Kontakt zu Karmon aufzunehmen. Ein Unterfangen für das ich nicht nur meine eigentliche Aufgabe, sondern sogar meinen Vorsatz, Autemga im Auge zu behalten sträflich vernachlässigt hatte. Dabei war mir die ganze Zeit über klar gewesen, dass ich mich damit in Schwierigkeiten brachte, aber die Ungewissheit über Karmons Schicksal hatte mir keine Ruhe gelassen. Alles, was ich hatte hören wollen, war ein kurzes Signal, ein Strohhalm, an dem ich meine Hoffnungen festmachen konnte. Doch leider waren all meine Bemühungen vergeblich gewesen.

„Meine Befehle?“, wiederholte Slura meine Worte mit sich vor Wut überschlagender Stimme, „Meine Befehle?! Du bist unsere verdammte Wildcard, der Geist im Rattenpalast, der ungesehene Albtraum im Rücken eines jeden Gastes. Ich weiß ja nicht, aber könnte es nicht sein, dass da ein wenig Eigeninitiative angebracht wäre?“

„Ich hatte bislang den Eindruck, dass unsere Creeps ganz gut mit den Gästen fertig werden“, wandte ich ein, „alles war mehr oder weniger unter Kontrolle, seit ich das mit Crave geregelt habe.“

„Unter Kontrolle?“, sagte Slura mit einem panisch-verzweifelten Unterton, „warst du nicht nur faul, sondern auch noch blind und taub? Es ist eine Katastrophe! Devell ist tot, Spectra auch, Oblivia hat komplett ihren Verstand verloren und diese hartnäckige Geber-Kakerlake Callan lebt immer noch. Tu etwas verdammt! Es reicht schon, wenn wir Rise erklären müssen, was mit ihrer CEO passiert ist. Wenn wir Monument auch noch enttäuschen, sind wir geliefert, von den Schäden am Haus ganz zu schweigen. Aber ich will deine offenbar nicht existente Kreativität nicht überfordern. Wenn du Befehle brauchst, hier hast du sie: Geh runter und hol Callan da raus, bevor Oblivia nichts mehr von ihm übrig lässt, das Monument noch verwerten könnte und dann übergib ihn Schlinger und Schlund oder mir oder vernichte ihn von mir aus selbst. Mir egal, aber tu es!“

„Warum willst du Callan denn vor Oblivia retten?“, wagte ich zu fragen, auch wenn mir das Schicksal des Mannes nicht gänzlich gleichgültig war, „wäre es nicht viel einfacher sie gewähren zu lassen?“

„WIR HABEN KEINE ZEIT FÜR SOLCHE FRAGEN, DU WURM!“, brüllte Slura zornig, „aber wenn du es unbedingt wissen willst: bislang hatten wir sie halbwegs unter Kontrolle. Sie hätte ihn in einen Eisblock verwandelt, seinen Atem gestohlen oder im schlimmsten Fall seinen Körper zu Staub aufgelöst, aber seine Seele wäre intakt geblieben und hätte Monument zur weiteren Verwendung übergeben werden können. Nun aber ist ihre Kette gerissen und das letzte bisschen Vernunft hat sie verlassen. Sie ist zu allem fähig. Also halt dein neugieriges Maul und beweg deinen Arsch da runter oder ich werde dafür sorgen, dass du bei diesem Desaster mit Abstand die größten Verluste einfährst!“

„In Ordnung“, sagte ich mit betont ruhig, da ich keinen gesteigerten Wert darauf legte vor Slura oder Enry im Staub zu kriechen, „nur eine Frage noch. Soll ich Oblivia töten?“

Slura antwortete nicht darauf. Sie lachte lediglich. Ein verächtliches, höhnisches Lachen, das mich noch lange verfolgte, während ich aus dem Rattenpalast in das tobende Chaos hinabstieg.

~o~

Der „Rattenpalast“ war weit mehr als ein gewöhnliches Gangsystem. Andernfalls hätte ich wohl kaum eine Chance gehabt, rechtzeitig bei Oblivia und Callan zu sein. Wenn man darin rannte, unterstützen die Gänge diese Fortbewegung mittels einer Art Laufband, sodass man leicht Geschwindigkeiten von mehr als hundert Stundenkilometern erreichen konnte. Zudem brauchte man nur das Ziel-Areal zu nennen, damit der Bremsvorgang rechtzeitig eingeleitet wurde und sich das passende Seitentor öffnete, wo dann eine durch Kraftfelder gedämpfte Rutsche einen raschen, aber gefahrlosen Transport zum Zielort ermöglichte.

So stand ich nur wenige Augenblicke, nachdem ich „Klagendes Moor, Abschnitt 4“ gerufen hatte, vor dem unheilvollen Schattenkreis in Spectras ehemaligem Sumpfreich. Dass die Scyonin nicht mehr dort residierte, machte mich nicht allzu traurig. Letztlich hatte sie ein passendes Ende gefunden, ähnlich wie der arme Junge, der ihr heute zum Opfer gefallen war, und auch wenn Scyonen sicher manchmal nützliche Verbündete waren, so kam ich langsam aber sicher zu der Überzeugung, dass sie vor allem gefährliche Parasiten waren, ohne die das Multiversum sicher besser dran wäre.

Callan war da eine ganz andere Geschichte. Auch wenn ich seinen Weg nicht so aufmerksam verfolgt hatte, wie es wohl eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre, hatte ich das Gefühl, dass er für einen Deovani ein recht anständiger Kerl war. Er hatte es gewiss nicht verdient, auf diese Weise zu enden.

Dennoch sah es danach aus, als würde ihn in Kürze genau dieses Schicksal ereilen. Traumwandlerisch und mit verklärtem Gesicht taumelte er auf die wahnsinnige Steingeweihte zu, die ein hypnotisches, dunkles Lied sang. Auch ich spürte die zerstörerische Faszination jener Musik, jenen manifesten, wortwörtlichen Ruf der Leere, jedoch lähmte sie nicht meinen Willen. Lag es daran, dass ich ein Fortgeschrittener war? Möglich. Wahrscheinlicher war jedoch, dass mich Karmons Anwesenheit – so schwach und entfernt sie gerade auch war – davor schützte.

Trotz der Dringlichkeit der Lage konnte ich nicht verhindern, dass ich an Pingo denken musste. Jenen sanften, liebenswerten Steingeweihten, der uns allen in Uranor das Leben gerettet hatte und der irgendwo noch immer verzweifelt nach einer Heilung suchte. Lag auch in Oblivias Seele noch so etwas wie Herzlichkeit oder auch nur Vernunft? Nein, entschied ich nach kurzem nachdenken, sie gehörte ganz ihrem Stein und dessen Wesen war sogar noch nihilistischer als das zynische Gelächter des Pyrits, welcher nach Pingos Seele griff. Es gab keine Rettung für Oblivia. Nur VOR ihr. Wenn wir Glück hatten.

„Karmon, steh mir bei“, flüsterte ich ein wahrscheinlich ungehörtes Gebet. Dann rannte ich los.

~o~

Das Nichts in Oblivia trank, fraß, schlang, ersehnte die Materie, die es so sehr hasste. Verfluchte ihren bitteren, unreinen Geschmack und verlangte doch nach mehr. Beflügelt von dem Leereblitz, von der Berührung seiner Uressenz, hatte es seine eigene Hülle gefressen, jene Frau, in der es so lange gewohnt hatte. Und nun auch jene Frau, die diese gleichermaßen verachtet, wie insgeheim vergöttert hatte, jedenfalls bevor seine Schatten all ihre Gedanken verdreht und verschleiert hatten. Doch all das befriedigte es nicht. Beide Frauen waren ein wenig wie es selbst gewesen. Sauger, Fresser, Nehmer, auch wenn man sie als Geber bezeichnet hatte. Dieser Mann, jenes neue, so nahe Geschöpf war anders. Er war kein Ausbeuter, kein Benutzer, kein Parasit, sondern wahrhaftig ein Geber und er würde ihm alles geben, was er hatte.

~o~

Callans trieb auf ein Meer aus friedlicher, melodischer Schwärze zu. Bereit, alle Gedanken, alle Sorgen, alle Verletzungen und Traumata darin zu versenken. Keine noch so feine Welle, kein störender Impuls trübte das pechschwarze Wasser, zu dem die Musik ihm eine Brücke baute. Das war der Frieden, das Ende der sinnlosen Kämpfe, nach dem er gesucht, die Welt, von der er geträumt hatte. Es mochte keinen silbernen Mond, keine lächelnden Gesichter und keine blauen, fluoreszierenden Pflanzen geben, aber dennoch war es magisch. Es war hier. Es war greifbar. Das alles stimmte, erschien ihm logisch, hielt jeder noch so kritischen Betrachtung stand. Doch wenn dem so war, wenn all dies der Wahrheit entsprach, warum hatte er dann solche Angst?

~o~

Meine Aufgabe war die – vorläufige – Rettung von Callan und offenbar nicht die Vernichtung der Onyx-Geweihten, die Slura mir schlicht nicht zutraute, wie ihr Gelächter gezeigt hatte. Dennoch glaubte ich nicht, dass es mir möglich sein würde, den hypnotisierten Life-Runner mit mir zu schleppen, ohne die Steingeweihte außer Gefecht zu setzen oder wenigstens abzulenken, weshalb ich nicht auf Callan, sondern geradewegs auf Oblivia zuhielt.

Zugegeben, ich machte mir in diesem Moment nicht allzu viele Gedanken um eine ausgefeilte Strategie. Aber eines erschien mir logisch: Ein Wesen der Dunkelheit ließ sich sicher nicht mit meinem Schattenstrahler bezwingen. Also verließ ich mich stattdessen auf meine Schnelligkeit und die bloße Kraft von Karmons Körper.

Während ich rannte, bemerkte ich, wie mich kleine Tropfen von Licht und winzige Splitter von Gestein, Holz und Kunststoff wie ein peitschender Regen trafen, ohne durch Karmons dicke Haut zu kommen. Gleichzeitig spürte ich den unnatürlichen Sog, der von Oblivia ausging, mit jedem Schritt stärker. Denn auch, wenn ich gegen ihre psychische Anziehungskraft immun war, konnte ich mich ihrer unnatürlichen Gravitation nicht gänzlich entziehen. Unweigerlich musste ich an den Traum denken, den ich zusammen mit Karmon geträumt hatte. Die Parallelen waren unübersehbar: eine Frau, die Masse ansammelte, eine große Leere, eine gewaltige Anziehungskraft. Doch während es vor Sandras Macht kein Entkommen gegeben hatte, war Oblivias Einfluss zwar groß, aber nicht unendlich. Unbewegte Materie und selbst Photonen mochten gegen ihre Gravitation machtlos sein, doch das galt nicht für ein Wesen wie Karmon. Dennoch war die Anziehung hilfreich, da sie unser Tempo sogar noch weiter erhöhte.

Die Onyxgeweihte, deren Aufmerksamkeit vor allem Callan galt, bemerkte mich erst relativ spät und schien verwirrt über diese seltsame Kreatur, die sich nicht von ihren hypnotischen Tricks beeindrucken ließ. Das räumte nicht nur meine letzten Zweifel darüber aus, dass Oblivia schlicht nicht mehr existierte, sondern war auch mein allergrößter Vorteil.

Mit einem gewaltigen Schlag von Karmons rechter Klaue traf ich die in hellem Weiß erstrahlende Frau mitten ins Gesicht. Ihr Gesang verstummte. Sie taumelte zurück und verlor für einen Moment ihr gespenstisches, weißes Leuchten, als ein großer Brocken schwarzen Gesteins aus ihrem Kopf absplitterte. Erst jetzt wurde mir wieder das Risiko einer Infektion bewusst und ich konnte nur hoffen, dass Karmon, dessen körperliche Hülle schließlich auch das Produkt eines infektiösen Steins war, dafür nicht empfänglich sein würde. Immerhin gelang es mir, Oblivia in die Defensive zu drängen.

Ich verpasste ihr einen Kinnhaken und einen kräftigen Schlag gegen ihre Wange, was ihr Gesicht weiter verunstaltete und einen dumpfen, aber erträglichen Schmerz in Karmons Gelenken erzeugte. Oblivia brach in die Knie und mir war durchaus bewusst, dass nun eine gute Gelegenheit wäre, mir Callan zu schnappen und zu verschwinden. Doch irgendetwas in mir – sei es nun der Kwang Grong oder meine eigene gekränkte Eitelkeit – verlangte, es zu Ende zu bringen. Verlangte, diese Kreatur der Leere endgültig in den Staub zu treten und nicht nur Sluras Herablassung Lügen zu strafen, sondern auch einen – wenn auch vielleicht winzigen – Dienst am Multiversum und seinen Geschöpfen zu leisten.

Also verfiel ich in einen regelrechten Rausch, schlug weiter auf Oblivia ein, verwandelte ihr Gesicht in einen undefinierbaren Steinklumpen, trat mit Karmons scharfen Zehen gegen ihren inzwischen nur noch pechschwarzen Unterleib und hörte mich selbst vor euphorischer, beinah irrer Freude kichern. Jedenfalls so lange, bis eine steinerne, mit frisch ausgebildeten Spitzen versehene Faust aus reinem Onyx mitten in Karmons verletzlicher Brust landete. Jetzt lachte ich nicht mehr.

~o~

Callan fühlte sich, als ob ein dichter Schleier vor seinen Augen weggerissen worden wäre. Der Traum war zerrissen. Alles, was er jetzt fühlte, war Angst, Ekel und Leere. Er sah die allgegenwärtige Zerstörung, sah den saugenden Kreis aus Schatten und die nicht länger leuchtende, sondern pechschwarze Gestalt, die sich im Kampf mit einem kaum weniger dunklen, furchterregenden Geschöpf befand. Jegliche Gemeinsamkeiten mit seinem Sehnsuchtsort waren nun Geschichte. Er zitterte vor Enttäuschung und seelischer Müdigkeit und Tränen liefen über sein Gesicht. Hier würde er keinen Frieden finden. Vielleicht nicht einmal den des Grabes.

Callans erster Impuls war zu fliehen, weg von diesen düsteren, bizarren Kreaturen. Einfach weiterzulaufen durch dieses irre Labyrinth, das er in seinem vermessenen, verzweifelten Wahn betreten hatte. Doch er wusste, dass es diese Frau, diese Onyx-Geweihte gewesen war, die seinen Geist gefangengenommen und ihn beinah verspeist hätte, so wie sie es mit der Scyonin getan hatte. Sollte sie gegen diese unbekannte Kreatur gewinnen, könnte sie es wieder tun und er hätte keine Chance etwas dagegen zu unternehmen.

Nein, bevor er sich weiteren Herausforderungen stellte, musste er sichergehen, dass ihm niemand in den Rücken fiel, und das bedeutete, dass er dem Unbekannten beistehen musste. Natürlich kannte er dessen Beweggründe nicht, doch wenn er einfach so einen Creep angriff, war es eher unwahrscheinlich, dass er zur Belegschaft des „House of Life“ gehörte.

Womöglich war er einfach ein weiterer Life-Runner, der später zu ihrer Party dazugestoßen war. Wie ihm Devell erzählt hatte, kam das durchaus gelegentlich vor, auch wenn das Preisgeld für diese Nachzügler deutlich geringer ausfiel. Zugegeben, die Statur des Fremden war mehr als ungewöhnlich, aber bizarre Ausrüstung oder auch drastische genetische Eingriffe waren unter den Life-Runnern nicht unbekannt und da Deovan zwar nicht sehr, aber doch ein wenig multikulturell war, war es auch nicht ausgeschlossen, dass er einfach einer ihm unbekannten Spezies angehörte.

Vielleicht war der Fremde auch der Agent eines konkurrierenden Unternehmens, das Enry und seinem Etablissement auf diese Weise Schaden zufügen wollte. So oder so war vielleicht eine Kooperation möglich und wie Devell ihm begreiflich gemacht hatte, war Kooperation das A und O, wenn man an diesem Ort überleben wollte.

~o~

Als sich die scharfen Spitzen von Oblivias Hand in unsere Brust bohrten, begann ich zu schreien, wenn auch weniger aus Schmerz, denn aus Panik. Da ich im Fehlstein steckte, konnte es mir zwar theoretisch egal sein, ob die Onyxgeweihte Karmons Herz zerfetzte, jedoch wäre das in der Praxis viel schlimmer als mein eigener Tod. Nicht nur, wegen der völligen, womöglich ewigen Isolation, die das bedeuten würde, sondern auch, weil Karmon immer noch mein Freund war, mein Bruder, ja meine Geschichte, selbst wenn wir uns in letzter Zeit immer weiter voneinander entfernt hatten.

Verzweifelt packte ich Oblivias steinernen Arm, versuchte ihn aus Karmons Körper herauszuziehen, ihn zu zerbrechen, ihn irgendwie zu stoppen, doch alles, was ich ohne Karmons Hilfe erreichte, war, dass er sich etwas langsamer auf sein Ziel zubewegte.

Fieberhaft überlegte ich, was ich noch tun könnte, doch in meiner wachsenden Panik fiel mir nichts ein und auf Sluras Hilfe brauchte ich bei meinem Alleingang bestimmt nicht zu zählen. Durchaus denkbar, dass sie sich über meine Lage gerade köstlich amüsierte.

„Karmon“, brüllte ich ein weiteres mal in mich hinein, „Karmon, bitte, hilf mir! Du hast genug meditiert! Falls du mich durch dein Schweigen beschützen willst, versagst du gerade vollkommen!“

Einige Augenblicke herrschte weiter Stille in mir, während ich mich vergeblich mit zitternden Muskeln wehrte. Dann erreichte Oblivias Hand ihr Ziel und Karmon antwortete. Nicht mit Worten. Aber mit Taten.

~o~

Es stand nicht gut um seinen potenziellen neuen Verbündeten, so viel war klar. Die Schattenfrau hatte ihre Faust tief in dessen Brust versenkt und Callan fragte sich, ob die Steingeweihte ihrerseits irgendeine Schwachstelle besaß, die er mit dem Pinpointer durchdringen könnte. Nach kurzem Nachdenken entschied er, dass dem nicht so war. Aber vielleicht konnte er zumindest für ein wenig Ablenkung sorgen.

„Hey!“, schrie er in Richtung der Onyxgeweihten und eröffnete das Feuer, wobei er wahllos auf die verschiedensten Körperregionen seiner Gegnerin zielte. Die kleinen Projektile prallten lautstark gegen den massiven Körper und rissen Staub und winzige Gesteinssplitter ab, aber weder verursachten sie nennenswerten Schaden, noch lenkten sie die Aufmerksamkeit der Frau auf ihn.

„Verdammt!“, sagte er zu sich selbst, „ich muss näher ran“. Seine neuen Körperkräfte mochten vielleicht mehr bewirken als seine schwächliche Bewaffnung. Mit etwas Glück könnte er sie von dem Unbekannten losreißen. Natürlich war er sich des Risikos bewusst. Nicht nur, weil er fürchtete, wieder in den hypnotischen Sog der Steingeweihten zu geraten, sondern vor allem wegen einer möglichen Infektion. Er hatte keine Ahnung, ob sich ein Super-Nehmer mit der Steinkrankheit infizieren konnte. Aber vielleicht musste er es versuchen. Wenn sie den Fremden niederrang und ihn verfolgte, würde er es ohnehin herausfinden müssen.

Zitternd und mit einem ordentlichen Kloß im Hals rannte Callan auf die Steingeweihte zu. Erst als er nur noch wenige Schritte entfernt war, hielt er inne. Diesmal nicht aus Furcht, sondern aus purer Überforderung angesichts des Schauspiels, welches sich ihm plötzlich bot.

Als wäre eine unsichtbare Hand in ihn hineingefahren, straffte sich die Gestalt des Fremden. Seine Hände lösten sich vom Arm der Frau, schossen stattdessen ruckartig wie abgefeuerte Pfeile in ihren Oberkörper hinein und rissen ihn einfach in zwei Hälften, die wie Teile einer umgestoßenen Statue auf den Boden aufdonnerten, ohne jedoch zu zersplittern. Im Gegenteil, die beiden getrennten Hälften krochen wie umgeworfene Käfer auf dem Boden herum und taten ihr Bestes, um sich wieder zu erheben und auch der Schattenkreis um sie herum war nicht erloschen.

Währenddessen zog sich der Fremde den Onyx-Arm, der noch immer in seinem Körper steckte, heraus und warf ihn achtlos auf den Boden. Jetzt erst bemerkte er den ungebrochenen Lebenswillen der Steingeweihten und seine Augen erglühten in einem violetten Licht. Dann, als wäre er selbst zu einem Vakuum, einem unaufhaltsamen Sog geworden, begann er die Frau in sich aufzunehmen. Nicht nur ihre verstreuten Körperteile, sondern auch die sie umgebende Schwärze flossen als ein steter Strom aus feinem Gesteinsstaub in ihn hinein.

Callan stand da wie angewurzelt, wie eingefroren und blieb es auch, bis der Unbekannte sein Werk getan hatte. Die letzten verstreuten Fragmente der Onyxgeweihten verschwanden in seinem grotesken Mundgitter. Dann fiel der Blick des Fremden auf Callan.

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Selten zuvor hatte Callan eine solche Angst verspürt. Sein Leben war fast durchweg Scheiße gewesen und auch die Dinge, die ihm bislang im House of Life widerfahren waren, waren ein regelrechter Albtraum gewesen, aber das hier war etwas anderes. Der Unbekannte, das mutmaßliche Monstrum, welches gerade vor seinen Augen eine Personifizierung der Leere selbst verschlungen hatte und das nun wirkte wie ein Schnittpunkt verschiedenster, dunkler, uralter Mächte, schritt majestätisch auf ihn zu. Und auch wenn Callan niemals religiös gewesen war, musste er an Dämonen denken, an den Schnitter, an das Böse höchstselbst.

Das Wesen streckte seine graue, fast mechanisch wirkende Hand aus und Callans nutzlose Waffe fiel ihm aus den zitternden Händen. Ohne seine Nehmerblase und Muskulatur hätte er sich sicherlich eingenässt, als sich diese harte, kalte Hand um seine eigene schloss.

„Folge mir“, sagte das Wesen dunkel und brummig, „ich kenne einen einfacheren Weg hier raus.“

NEIN! AUF KEINEN FALL!, dachte Callan entschlossen und zugleich meldete sich ein verquerer Funken Hoffnung in ihm. Sein Leben war in den letzten Stunden dermaßen verrückt und chaotisch verlaufen, dass ihm nichts mehr unmöglich schien. Die CEO von fucking Rise hatte ihm ihren Organismus vererbt, warum also sollte dieses Wesen, dessen Aura giftiger war als eine Überdosis Qunwarin, ihn nicht auch hier rausbringen können? Natürlich bliebe dann die Frage, ob dies nicht einer Vertragsverletzung gleichkäme, denn immerhin würde er das House of Life dann nicht auf regulärem Wege durchqueren. Andererseits konnte er sich an keine Klausel erinnern, die ihm verbot eine Abkürzung zu nutzen und selbst, wenn er das Preisgeld nicht bekäme, so ließ sich ja vielleicht mit Devells Geschenk noch immer etwas anfangen. Es war natürlich eine Wette, eine Risikoinvestition, wie sie Devell geliebt hätte. Aber das sprach nicht unbedingt dagegen, denn je nachdem, wie man es betrachtete, war Devell nun ein Teil von ihm.

„Einverstanden“, sagte Callan gepresst und hoffte, dass er dieses Wort nicht bereuen würde.

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Mir war übel. So übel wie nur selten auf meinen Reisen. Diese Übelkeit hatte keine physischen Ursachen und hatte nicht einmal in erster Linie mit der Onyx-Geweihten zu tun, die Karmons Körper in sich aufgenommen hatte. Nein, sie kam von Karmons Präsenz. Jener Präsenz, die er mir zum ersten Mal seit Stunden wieder deutlich offenbart hatte. Karmon hatte sich verändert, mehr als ich es je für möglich gehalten hätte. „Verlass mich! So schnell du kannst“, hatte er gebrüllt. So lieblos und hasserfüllt, wie eine gutgemeinte Warnung nur ausgesprochen werden konnte.

Dann war ein Sturm losgebrochen. Ein inneres Unwetter, dessen Vibrationen den Fehlstein so heftig durchgerüttelt hatten, dass ich beinah befürchtete hinausgeschleudert zu werden oder zu zerbrechen. Und nicht nur das: Auch die beiden Reisekataloge, die Karmon tief in seinem Leib versteckt hielt, hatten zu sprechen begonnen. Mit Bildern von fremden und bekannten Orten von fast verblassten Vergangenheiten und unfassbaren Zukünften, hatten sie mein schlafendes Fernweh geschürt. Und fast hatte ich geglaubt, nun meine letzte epische Reise anzutreten, nicht als Mensch, sondern als körperloser Geist, gezogen, getrieben von Horizont zu Horizont durch alles, was ist oder sein konnte. Rastlos und ohne Kontrolle. Fliegend und Schwebend durch frisch geborene Welten in der ewig heimatlosen Fremde bis das Multiversum kollabieren und wieder neu entstehen würde.
Aber weder das eine, noch das andere war geschehen. Stattdessen hatte Karmon wieder die volle Kontrolle über seinen Körper übernommen und die schwerkranke, nihilistische Essenz der Onyx-Geweihten restlos getrunken. Wie ein Verdurstender, der gierig das Gift einer Schlange konsumiert, einfach, weil es sich um Flüssigkeit handelte. Es hatte Karmon nicht getötet, aber in jedem Fall hatte es seine Seele weiter verfinstert. Mehr, als es jede von Sluras Konditionierungsmaßnahmen und mehr als jede böse Tat es je hätte tun können.

Jene sinistre Lawine hatte einen lange tobenden Kampf entschieden, ein fragiles, zitterndes Gleichgewicht kippen lassen. Karmon war nun ein Kwang Ana. Diese Erkenntnis durchrauschte mich wie eine Woge. Lediglich ein winziger, kümmerlicher Rest seiner einstigen Verbindung zu mir, ein schwindender, sentimentaler Erinnerungssplitter hielt das Wesen, dem dieser Körper gehörte, noch davon ab, mich zu verschlingen oder – sollte ihm das nicht möglich sein – seinen lästigen blinden Passagier einfach abzuwerfen.

Dieser Schutz konnte jederzeit bersten. Schon jetzt spürte ich ein finsteres, unruhiges Brodeln in den unergründlichen Tiefen von Karmons bereits wieder heilendem Herzen. Fürs Erste überließ das Wesen mir wieder die Kontrolle, aber es war unmöglich zu sagen, wie viel Zeit mir noch blieb. Stunden? Tage? Minuten? Sekunden? Doch was sollte ich mit dieser Zeit anfangen? „Verlass mich! So schnell du kannst!“, hatte man einstiger Seelenpartner gekeift. Aber ein Stein konnte nicht weglaufen. Alles, was mir blieb, war jemanden zu finden, der sich freiwillig mit mir verbinden würde, der mir Asyl gewähre würde, und Karmon seinem Schicksal zu überlassen.

Ehrliche Trauer mischte sich in meine egoistische Angst. Unweigerlich dachte ich an unsere gemeinsame Geschichte. An den Tag in Hyronanin, als ich jene bewohnte Waffe fand, die mir trotz ihrer anfänglichen Unzuverlässigkeit mehr als nur einmal das Leben gerettet hatte. An unsere ersten, beängstigenden Gespräche, an unsere überirdische, unglaubliche Verschmelzung. An unsere moralisch verwerfliche, aber berauschend machtvolle Zeit in Konor, an unsere erzwungene Trennung, Karmons selbstlose Aufopferung und unsere unerwartete Wiedervereinigung in Uranor und an jene bitteren Tage hier in Deovan. Heiße Tränen liefen über mein Gesicht, zumindest gedanklich, denn natürlich war Karmons Körper nicht zu solchen Regungen in der Lage. War dies das Ende unserer Geschichte? Gab es die Möglichkeit, einen Kwang Ana zurückzuverwandeln? Damals, als ich noch nicht über das Wissen aus den Archiven verfügte, hatte ich natürlich keine Antwort auf diese Frage und alles, was mir blieb, waren Ratlosigkeit und nackte, nagende Angst.

Dabei hatte ich längst nicht nur Angst um und vor Karmon. Als ich in die geweiteten, verstörten Augen Callans sah, der mich gleichermaßen Hilfe suchend wie verunsichert anblickte, hatte ich vor allem Angst vor mir selbst. Slura hatte mir einen Auftrag gegeben und der bestand nach wie vor.

„Folge mir“, sagte ich zu Callan, „ich kenne einen einfacheren Weg hier raus.“

„Einverstanden“, meinte Callan und ich führte ihn auf verschlungenen Pfaden hinauf zum Rattenpalast. Zum ersten Mal fühlte ich mich dabei wie eine Ratte.

~o~

„Die Temperatur beträgt hier schon 58,3 Grad“, sagte Garwenia ungläubig, während sie angestrengt auf den Bildschirm starrte. Die beiden Teams hatten auf Sandras Befehl hin auf die intakten Gebäude zugesteuert, die nun besser zu erkennen, aber noch immer vergleichsweise weit entfernt waren.

„Wundert mich nicht“, sagte Hord. Die Stimme des Kannibalen aus Dank Qua verriet, dass er nicht in bester Stimmung war, „hier drin ist es so heiß wie in einem Knochenkäfig“.

„Das sollte eigentlich nicht sein“, überlegte Sandra, „die Anzüge müssten doch über eine eingebaute Kühlung verfügen. Ist sie eventuell beschädigt?“

„Auf den Instrumenten kann ich keinen Schaden erkennen“, sagte Garwenia, „aber vielleicht habe ich auch nur …“

„Das sehen Sie schon richtig“, steuerte Nanita süffisant bei, „die Anzugkühlung leistet nur das Nötigste. Sie lässt eine Maximaltemperatur von 32 Grad zu.“

„Was?!“, sagte Garwenia ungläubig, „das kann nicht Ihr Ernst sein!“

„Ein Außeneinsatz ist kein Freizeitvergnügen“, konterte Nanita kühl, „niemand hat behauptet, dass es angenehm werden würde.“

Garwenia wandte sich an Sandra, „Das können Sie unmöglich zulassen. Das würde bedeuten, dass das Team früher oder später in seinen Anzügen gekocht wird.“

„Das werde ich auch nicht zulassen“, versprach Sandra, die selbst ziemlich überrascht über diesen Irrsinn war, „wir werden die Kühlung verstärken. Können diese Parameter von hier aus gesteuert werden?“, wandte sie sich an Nanita.

„Ja“, sagte diese lächelnd, „allerdings sind die Energiespeicher dafür nicht konzipiert. Wir würden eine zusätzliche Energiequelle benötigen. Und die einzige dort zur Verfügung stehende ist …“

„Geflechtenergie“, vermutete Sandra, die immer mehr das Gefühl hatte, nicht mit, sondern gegen Nanita arbeiten zu müssen.

Regevo, der die Nutzung von Geflechtenergie schon vorher als Sakrileg betrachtet hatte, murmelte etwas ganz sicher nicht zustimmendes.

„Exakt“, sagte Nanita, „eine kolossale Verschwendung, wenn Sie mich fragen. Nur für ein wenig Komfort.“

„Sie werden es trotzdem veranlassen. Und nur nebenbei: Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass Einsatzkräfte, die sich wohlfühlen, besser arbeiten?“, fragte Sandra.

„Leistung ist keine Frage der Temperatur, lediglich eine des Engagements“, erwiderte Nanita.

Garwenia, aber auch die anderen Mitglieder des Basisteams sahen Nanita an, als wäre sie ein Ungeheuer, das zum Schein eine humanoide Form angenommen hatte. Sandra konnte das gut verstehen. Allerdings machten Nanitas Aussagen ihre Geschichte vom Verteidigungskampf einer freiheitlichen, wohlmeinenden Nation nicht gerade glaubwürdiger.

„In diesem Fall ist es vor allem eine Frage des Gehorsams“, sagte Sandra zu Nanita, „veranlassen Sie eine Intensivierung der Kühlung. Ich will eine Anzugtemperatur von zwanzig Grad. Sofort!“

„Wie Sie meinen“, sagte Nanita und gab etwas in die Konsole ein.

Neugierig beobachtete Sandra die Bildschirme und versuchte auf den Helmkameras zu erkennen, ob das Abzapfen der Geflechtenergie irgendein sichtbares Zeichen hinterließ, aber zumindest in der Nebel und zwischen all den seltsamen, belebten Partikeln konnte sie nichts dergleichen ausmachen.

„Danke“, sagte dafür Hord nach einigen Minuten, „so ist es viel besser.“ Kurz darauf taten auch die anderen Teammitglieder ihre Erleichterung kund, als ihre Anzüge auf eine angenehmere Temperatur heruntergekühlt worden waren. Alle, außer den Bleigeweihten zumindest, für die man diese Anstrengungen nicht unternommen hatte.

„Bei den Tiefen, seht euch das an“, sagte Rischah plötzlich und als Sandra auf die Helmkamera der Lomäine blickte, wurde ihr übel.

Aus dem Nebel, nur wenige Meter vor einem ehemaligen Bürogebäude der Firma „Nurtrics Industries“, das mit seiner halb eingefallene Fassade und den blinden, schmierigen, staubverklebten Fenstern einen bemitleidenswerten Eindruck machte, tauchte eine ganze Gruppe von Personen auf, bei denen es sich wohl um Angestellte jenes Unternehmens handelte.

Jedoch waren die Beschäftigten eindeutig nicht mehr am Leben, wie schon allein ihr Äußeres verriet. Ihre Haut war schwarz – nicht nur dunkel, sondern so tiefschwarz wie gepresste, trockene Kohle, nur unterbrochen von bunten, öligen Flecken, die ihre Leiber wie tanzende Wellen durchfuhren. Diese Flecken waren auch das einzige, was sich an ihnen bewegte, denn ihre Körper waren nicht nur starr, sondern zum Teil auch mitten in einer unvollendeten Bewegung eingefroren. Auf ihren Haaren und Schultern hatten sich die allgegenwärtigen, lebendigen Partikel niedergelassen, wie Tauben auf einem Hausdach oder einem Denkmal.

„Das ist … das ist grauenhaft“, sagte Rovenia und streckte vorsichtig die rechte Hand nach einer Frau aus, die ihrer Haltung nach zu urteilen offenbar gerade zum Sprung angesetzt hatte, als die Bombe detoniert war, die sie höchstwahrscheinlich in diesen Zustand versetzt hatte.

„Seid lieber vorsichtig“, warnte Garwenia über Funk, „die Mantianz ist hier extrem und die Plectarität ist so niedrig, dass die Instrumente sie kaum noch erfassen können.“

Doch bevor sie ihre Warnung ausgesprochen hatte, hatten die die Finger der Bravianerin bereits den Körper der unbekannten Frau berührt. „Seltsam“, sagte sie, „sie fühlt sich feucht an, eher wie Lehm, als wie Asche oder Stein.“

Rovenia zog ihre Hand zurück, wobei sie auch einige der weißen Partikel aufwirbelte und zerrieb die dunkle Substanz zwischen den Fingern. Als sie versuchte, sie voneinander zu lösen, gelang ihr das erst mit einer leichten Kraftanstrengung.

„Sie ist klebrig. Vielleicht ist das der Grund, aus dem sie ihre Form aufrechterhalten, und …“ Rovenia brach ab und schrie auf, als ihr druckempfindlicher Handschuh begann sich im rasanten Tempo zu zersetzen. Der synthetische Stoff verschwand einfach, wie Zucker, der sich in Wasser auflöste, während sich die Substanz im selben Tempo ausbreitete und sofort in ihre Hand einsickerte, wobei er zum Großteil auf ihrer Haut sichtbar blieb. Rovenia kreischte in nackter Panik und versuchte hektisch, die Substanz mit der linken Hand wegzuwischen.

„Bei den Sanden von Nerath, Nein! Lass das! Es wird sich nur weiter ausbreiten“, warnte Garwenia, doch da hatte Rovenia bereits zugegriffen und zerrte verzweifelt an dem schwarzen, zähen Klumpen, der wie ein Parasit in ihrem Fleisch hockte. Natürlich geschah genau das, wovor sie Garwenia gewarnt hatte, doch die Bravianerin hatte keinen Blick für das, was mit ihrem zweiten Handschuh passierte. Ihre rechte Hand beanspruchte bereits ihre volle Aufmerksamkeit. Diese nämlich verlor rasant ihre Form. Die Handfläche wurde unförmig, begann krebsartig zu wuchern und sich zu verdicken, während ihre Finger dünner und länger wurden, sich krümmten und sich in die verschiedensten Richtungen drehten. Schon nach wenigen Sekunden sah Rovenias Hand aus, wie ein übergroßer, verkrüppelter Diadem-Seeigel und sie schien jegliche Kontrolle darüber verloren zu haben.

„Tun sie etwas!“, schrie Garwenia panisch und sah Sandra dabei direkt an.

Sandra wollte etwas tun. Natürlich. Aber sie sah dafür nur eine Möglichkeit.

„Amputieren!“, sagte sie zu den Bleigeweihten und die degenerierten Kreaturen, in ihrem mangelndem Bewusstsein kaum in der Lage sich ihrem durch spezielle, elektrische Signale verstärktem Befehl zu widersetzen, zögerten nicht.

Sandra, Garwenia und alle anderen sahen fassungslos dabei zu, wie der Mann von zwei der klobigen Bleigeweihten gepackt und festgehalten wurde, während ein dritter ihm erst den einen und dann den anderen Unterarm mit einem heftigen Ruck abriss. Rovenia brüllte und Blut spritzte aus ihren zerrissenen Muskeln und Gefäßen. Der Blutstrom wurde unterbrochen, als der Bleigeweihte hoch erhitzten Dampf aus einer Düse an seinem Anzug schießen ließ und Rovenias Wunden damit kauterisierte. Ihr Schrei jedoch hielt an. Auch dann noch, als die Bleigeweihten die Frau losließen.

Doch nicht nur in Rovenias, sondern auch in Garwenias Augen standen Tränen und auch die anderen Mitglieder des Basisteams schienen erschüttert. Lediglich Nanita wirkte relativ unbeeindruckt.

„So etwas Mittelalterliches habe ich noch nie jenseits des Geschichtsunterrichtes gesehen“, sagte Garwenia, deren Gesicht kreidebleich geworden war, „warum muss eine so fortschrittliche Nation auf so barbarische Methoden zurückgreifen?“

Sandra kannte die Antwort. Weil Heiltechnologie teuer war und keiner der Flüchtlinge wertvoll genug, um zu investieren. Doch das konnte sie natürlich nicht laut sagen. „Wir mussten schnell handeln“, sagte sie stattdessen, „es war ein unbekannter Organismus, der sich wahnsinnig rasant ausgebreitet hat. Hätten wir zu lange gezögert, wäre Rovenia auf jeden Fall verloren gewesen.“

Rovenia hatte inzwischen aufgehört zu schreien. Ungläubig blickte sie auf ihre beiden Armstümpfe.

„Rovenia, wie geht es dir?“, fragte Sandra, auch um sich gegenüber Garwenia ein wenig mitfühlend zu zeigen, „es tut mir wirklich leid, dass wir das hier machen mussten, aber wir hatten keine Wahl. Ich weiß, es muss sich grauenhaft anfühlen, aber dennoch muss ich wissen: fühlst du dich irgendwie anders? Irgendein Kribbeln oder Jucken? Hast du nach wie vor das Gefühl, die Kontrolle über dich selbst zu haben?“

„Ich … ich … nein, ein Kribbeln spüre ich nicht“, stotterte Rovenia, „aber Kontrolle? Ich habe meine verdammten Arme verloren? Ich kann gar nichts mehr kontrollieren. Ich … es wäre besser gewesen, wenn ihr diesen Schleim hättet gewähren lassen.“

„Recht hat sie“, sagte Nanita zynisch, doch ausnahmsweise so leise, dass wahrscheinlich nur Sandra sie hörte. Sandra wusste genau, was Nanita meinte. Eine amputierte Person hatte in Deovan kaum eine Zukunft, wenn sie nicht zufällig extrem reich war. Wahrscheinlich würde Rovenia das früh genug feststellen, falls sie lebend von dieser Mission zurückkehrte.

„So ein Schwachsinn“, sprach sie der Verstümmelten dennoch Mut zu, „es gibt hoch entwickelte Prothesen und kybernetische Implantate.“ Die du nie bekommen wirst, dachte Sandra. „Verlier nicht die Nerven und schau, dass du heil zu uns zurückkommst, dann sehen wir weiter. In Ordnung?“

„Das soll wohl ein Witz sein“, flüsterte Rovenia so leise, dass es sicher nicht für ihrer aller Ohren bestimmt gewesen war, doch den Helm-Mikrofonen entging nichts. „In Ordnung“, sagte sie laut, ließ ihre versehrten Arme sinken und drehte ihren Kopf zu den Bleigeweihten. Ihr erhöhter Puls verriet, dass sie ihnen alles andere als dankbar war.

„Was ist mit diesem Schleim?“, fragte die Loth Numorerin Zuh mit einer ruhigen, sonoren Stimme, wobei sie strahlendweiße, gleichmäßige Zähne offenbarte, „sollen wir ihn neutralisieren und diese vermeintlichen Toten gleich mit ihm?“

Sandra schaltete auf Kriwas Kamera, die den besten Blick auf die abgetrennten Unterarme erlaubte. Was einstmals zu Rovenias Körper gehört hatte, wies im Grunde keinerlei Ähnlichkeit mehr zu gewöhnlichen Gliedern auf, sondern wirkte wie eine Mischung aus Wurzeln und großen, dünnen Spinnen, die im verstrahlten Boden steckten und dort wie im Rhythmus einer unhörbaren Musik pulsierten. Immerhin schienen sich diese Abscheulichkeiten nicht auf das Team zuzubewegen. Vorerst zumindest.

„Nein“, entschied Sandra, „Wer weiß, wie die Substanz auf Beschuss reagieren wird. Nicht auszuschließen, dass wir sie damit noch ernähren. Und selbst wenn ihr sie vernichten könnt, würden wir nie erfahren worum es sich genau handelt, ob es vielleicht ein intelligenter Organismus ist und in welchem Zusammenhang er zur Bombendetonation steht. Ihr müsst eine Probe nehmen“, entschied Sandra.

„Und wie soll das gehen?“, fragte Rischah und sah Mitleidig zu Rovenia, „wer auch immer das Ding anfasst, hat noch Glück, wenn er nur zum Krüppel wird.“

„Stasis-Container“, schlug Garwenia vor, „wenn ich das richtig verstanden habe, ist das Außenteam doch mit Vorrichtungen ausgerüstet, die ohne physischen Kontakt auskommen.“

„Genau“, pflichtete ihr Sandra bei, „dennoch sollten sie natürlich vorsichtig sein.“

Sandra gab die entsprechenden Anweisungen an das Außenteam weiter und Rischah übernahm freiwillig diese nicht sonderlich attraktive Aufnahme. Die Lomäine ging auf den noch immer pulsierenden Überrest von Rovenias Hand zu, kniete sich hin und holte mit ihrer rechten Hand ein silbernes, kugelförmiges Metallgitter an einer kurzen, schwarzen Kunststoffstange aus ihrem Rucksack, während sie ungeachtet Garwenias Bedenken mit der kleinen, weißen Pistole in seiner Linken auf die Substanz zielte. Vorsichtig und mit angehaltenem Atem führte sie das Gitter erst an die Substanz heran und tauchte es dann hinein. Sofort begannen die hauchfeinen, von unsichtbarer Energie umgebenen Drähte zu rotieren, eine kleine Kugel aus der öligen, schwarzen Mutation hinauszuschneiden und als schwebende, isolierte Einheit in ihrer Mitte einzuschließen.

„Hab die Probe“, sagte Rischah und wischte sich mit dem Handrücken ihrer Waffenhand den zähen, mit schimmernden Kalkstückchen gesättigten Schweiß von der Stirn.

Die mysteriöse Substanz jedoch schien ganz und gar nicht mit ihrem Verlust einverstanden. Sie gab ein schrilles, hohes Geräusch von sich, bei dem es sich durchaus um einen Schrei handeln konnte und wand sich wie ein verletztes Tier. Dann setzte sie zum Sprung an.

„Vorsicht!“, warnte Garwenia, und Rischah, die zum Glück über hervorragende Reflexe verfügte, eröffnete sofort das Feuer auf das spinnenartige Ding, ohne dabei die Probe loszulassen. Trotzdem hätte sie nicht die geringste Chance gehabt, wenn nicht Kriwa, Nozzequa und Hord ebenfalls gefeuert und so das Ding davon abgehalten hätten, sie anzufallen. Als dann noch zwei der Bleigeweihten ihre größeren, wuchtigeren Kanonen auf die Kreatur entluden, verbrannte die scheinbar intelligente Masse in einem weiß-rötlichen Feuer, woraufhin sich graue Asche auf den Boden senkte. Offenbar waren ihre Waffen doch geeignet dieser Bedrohung zu begegnen.

„Danke“, sagte Rischah zu den anderen, wobei die Polypen in ihren Augenhöhlen vor Aufregung tanzten, „das war knapp!“

Kriwa und Hord nickten. Rischah entspannte sich ein wenig und verstaute die noch immer intakte und erfreulich passive Probe in ihrem Rucksack.

„Passt auf!“, rief diesmal Sandra, als sie eine erneute Bewegung am Rand von Hords Helmkamera bemerkte.

Sofort wirbelten die Mitglieder des Außenteams herum und ihre Herzfrequenzen steigerten sich rasant, als sie beobachteten, wie die ehemaligen Bombenopfer sich vor ihren Augen verformten und ihre frisch ausgebildeten, neuen Glieder wie Geschosse auf das Team abfeuerten.

„Team 3, bildet einen Kreis und feuert aus allen Rohren!“, rief Sandra geistesgegenwärtig, „Team 2, versteckt euch hinter den Androiden!“

Sandra bemerkte, dass sie keine schlechte Wahl getroffen hatten, als sich die Mitglieder des Außenteams ohne zu Zögern und mit soldatenhaften Reflexen in Sicherheit brachten. Selbst der Andrin Nozzequa, die von allen den Kreaturen am nächsten war, gelang es dank ihrer recht flexiblen Gliedmaßen ihrem Zugriff knapp zu entgehen und hinter dem rasch formierten Kreis aus wuchtigen, Schwermetall-Leibern zu verschwinden. Statt auf weiche Haut trafen die verformten Arme auf hartes, infektiöses Metall. Dennoch hielt Sandra für einige Momente den Atem an, als sich die Substanz durch die Anzüge fraß und die bleiernen Leiber freilegte. Sie hatte keine Ahnung, wie der Stein auf diesen Beschuss reagieren würde, Doch zum Glück schienen die erwachten Bombenopfer keinen Weg durch die Körper der Bleigeweihten finden zu können. Lediglich ihre Anzüge wurden zerfressen und legten die darin eingehüllten, vermeintlichen Androiden in ihrer gesamten, hässlichen Pracht frei. Zunächst fürchtete Sandra um die Glaubwürdigkeit ihrer improvisierten Geschichte, dann jedoch entschied sie, dass diese Steingeweihten in jedem Fall unnatürlich genug aussahen, um als Roboter durchzugehen.

Zumindest funktionierten sie so zuverlässig wie Maschinen. Ihre mächtigen, präzise ausgeführten Angriffe schalteten die meisten der Angreifer binnen kurzer Zeit aus. Lediglich zwei missgestaltete, dreizehnfingrige Hände schoben sich zwischen ihren dicken Füßen hindurch und schafften es fast, Nozzequa zu berühren. Sie wurden jedoch von den Tritten bleierner Füße, die sie einfach zerquetschten und einer entschlossenen Kanonensalve daran gehindert.

Zwei weiteren Bombenopfern, die den Angriffen der Bleigeweihten bislang entgangen waren und die sich offenbar entschieden hatten, sich in Gänze in Bewegung zu setzen, gelang ein absurd hoher und schneller Sprung. Wie Raubvögel stießen sie auf die schutzlosen Köpfe des zweiten Teams hinab, doch Nozzequa und Kriwa verwandelten sie gerade noch rechtzeitig in Asche, die sich wie harmloser Schnee auf das Team herabsenkte.

Die Zahl der Angreifer hatte sich bereits drastisch reduziert und alles sah nach einem Sieg aus. Damit hatte sicher auch Nozzequa gerechnet, die nach wie vor wachsam in den Himmel blickte. Ihr Tod kam von unten.

Unbemerkt hatte sich einer der beiden letzten überlebenden Feinde mit seinen Armen durch das verseuchte Erdreich gegraben und ließ sie direkt unter der Andrin wie eine Lava-Eruption nach oben steigen. Der invasive Schleim hielt sich gar nicht erst mit ihrem Anzug auf, sondern drang tief in ihren Körper vor und übernahm ihre Zellen, ihr Gewebe, ihre Knochen und Muskeln. Sofort verdickten sich Nozzequas Beine, ihre Augäpfel schwollen an und lösten sich aus ihren Höhlen, die diesem rasanten Wachstum nicht mehr gewachsen waren. Wie übergroße, geäderte Luftballons schwebten sie über ihrem Gesicht, während ihre Zunge länger wurde, sich als raue, noppige Schlange aus ihrem geschlossenen Mund schob, ihre unterschiedlich großen Zähne zerfetzte und wahllos nach den Umstehenden schnappte.

Rischah, Hord, Rovenia, und Kriwa taumelten zurück, hatten jedoch noch Hemmungen auf ihre ehemalige Kameradin zu schießen. Die hatten die Bleigeweihten nicht. Noch bevor ihre körperliche Veränderung noch absurdere Formen annehmen konnte, endete das Leben von Nozzequa, deren letzte Momente selbst für andrinische Standards äußerst schmerzhaft gewesen waren.

Stille breitete sich aus, während die Bleigeweihten ihre Formation auflösten und einen Blick auf das ganze Ausmaß des Massakers erlaubten.

„Wir … wir müssen hier weg“, sagte die amputierte Rovenia, „Egal, was wir hier über diese Waffe herausfinden können. Das ist es nicht wert. Wir werden hier nicht draufgehen. Lieber noch kämpfe ich irgendwo an der Front, als mich mit … dem hier auseinanderzusetzen.“

Die Gesichter der anderen Teammitglieder zeigten, dass sie das genauso sahen. „Ja, lasst uns zurück zum Transporter gehen“, stimmte auch Rischah zu, „es gibt keinen Grund hier sinnlos zu sterben.“

Nanita sah Sandra mit einem sarkastischen Lächeln an. Das hast du nun von deiner hübschen Lüge, sagte ihr Blick.

Dann sah Sandra zu Garwenia. Auch sie nickte. „Sie haben recht. Für den Kampf gegen solche Kreaturen sind diese Leute nicht ausgerüstet und die Messwerte werden von hier an nur noch schlechter“, sagte die Leiterin des Basisteams, „Diese … Roboter können ja vor Ort bleiben. Für sie stellt das alles offenbar kein Problem dar. Aber wenn ihr dieses Albtraumgebiet unbedingt von Lebewesen untersuchen lassen wollt, dann schickt eure besten Soldaten, nicht ein paar Flüchtlinge. Wir haben die Probe und eine Menge von Messdaten. Lassen wir diesen Leuten ihr Leben. Sie haben schon genug durchgestanden.“

Noch während Sandra über Garwenias Worte nachdachte, machte ihr ein Blick auf die Kameras klar, dass das Außenteam ihre Entscheidung nicht erst abwarten wollte. Rischah, Hord, Rovenia, und Kriwa sammelten sich und entfernten sich geschlossen vom Eingang.

Sandra hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder sie setzte die Bleigeweihten ein, ließ ihre mühsam aufgebaute, hübsche Illusion zerplatzen und riskierte einen Aufstand auch im Basisteam oder sie ließ die Leute ziehen und riskierte nicht nur Kolloms Unmut, sondern auch den des Aufsichtsrates. Beides käme einer Katastrophe gleich. Wie also, sollte sie sich entscheiden?

Ihr Finger, die sie nervös in ihren Hosentaschen bewegte, berührten den Delimiter, den Kollom ihr gegeben hatte. Dieses Ding war ihr so wenig geheuer, wie der Mann, der es ihr überreicht hatte. Aber trotz aller Bedenken keimte ein Fünkchen Hoffnung in ihr auf, als ihre Haut vorsichtig über die kalte Nadel fuhr. Vielleicht konnte eine entgrenzte Version ihrer selbst ihr Problem lösen.

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