Fortgeschritten: Die blendenden Himmel von Uranor 8

„An alle, die zum ersten Mal hier sind, vorab ein Wort der Warnung“, sagte Kollat mit einer Stimme, die mich in ihrer herablassenden Hochnäsigkeit ein wenig an Tannvan erinnerte. Wo dieser jedoch wie ein aufgeblasener, blasierter Adelsjüngling wirkte, besaß der Webermeister eine kalte Autorität, die seinen Worten deutlich mehr Gewicht verlieh. Sein Körperbau und seine vollkommen gläserne Gestalt ließen vermuten, dass er ein geborener Rilandi war. Anders als die beiden anderen Meister trug er keine Kleidung, was jedoch nicht unangenehm auffiel, da er aus irgendeinem Grund keine Geschlechtsteile besaß. Sein Kopf war vollkommen haarlos und ebenfalls ohne Zier, jedoch mit einer tiefen, dreieckigen Einkerbung darin, deren Ränder mit roter Farbe bemalt worden waren. Obwohl gläsern, stachen seine dichten Augenbrauen deutlich hervor, wenn auch nicht so sehr wie seine Augen, welche beinahe schwarz wirkten. Sein Mund war hingegen nur ein blasser, freudloser Strich. Kollat strahlte keine wilde Bosheit aus, jedoch jene Form von rationale Sadismus, wie man sie oft in den Amtstuben autoritärer Länder antraf.
„Ich bin weder dafür da, mich wie Gorun um euer empfindliches Seelenleben zu kümmern, noch bin ich wie Herreth mit der nötigen Geduld gesegnet, mir eure unausgegorenen Ideen anzuhören. In meinem Unterricht sprecht ihr nun dann, wenn ich euch eine Frage stelle und ihr stellt lediglich Fragen, wenn eure undisziplinierten Geister nicht in der Lage sind, eine meiner Lektionen zu verstehen. Am besten stellt ihr sie also gar nicht.“
Kollat, der ähnlich wie ein klassischer Lehrer aus meiner Welt vor einer Tafel aus weißem Gestein stand und zu seinen Schülern sprach, die zusammen mit mir auf dem harten, nackten Boden des kleinen, gläsernen Raumes knieten, ließ den Blick aufmerksam über seine Schülerschaft schweifen. Dabei erblickte er nicht nur Nojun, der in der zweiten Reihe links von mir saß und Ominee, die sich rechts von mir befand, sondern auch Slizza, Tannvan, Gorweo und Ninvinee.
„Ihr denkt, dass ihr es geschafft hättet. Dass ihr eure Prüfungen hinter euch habt, aber das ist ein Irrglaube. Das Leben ist voller Prüfungen und in diesem Raum werdet ihr einigen der schwersten gegenübertreten. Das gilt ganz besonders für die Unreinen unter euch.“
Toll, dachte ich, ein Rassist ist er also auch noch.
„Und wer sollen diese Unreinen sein?“, fragte Ominee herausfordernd.
Kollat richtete seinen Blick auf Ominee und verzog spöttisch seinen Mund, „Solche wie du selbstverständlich“, antwortete er, „aber das weißt du ja bereits.“
„Was ich weiß ist, dass wir alle Rilandi sind“, entgegnete Ominee.
„Das kann man so sehen“, räumte Kollat ein, „aber könnt ihr Fremdgeborenen das hier?“
Kollat legte sich die gespreizte rechte Hand auf die Brust und sofort darauf schrie Ominee erschrocken auf, während ihre Augen begannen hervorzutreten. Ominees Hände bewegten sich reflexartig zu ihrem Gesicht, doch sie hielt inne, als Kollat sie warnte. „Behalte deine Hände unten, oder du verlierst dein Augenlicht.“
Also lies Ominee ihre Hände gehorsam sinken, während ihre Anmella-Stränge nervös hin und her peitschten und ihre Augen anfingen, sich langsam und mit einem schmatzenden Laut aus ihren Höhlen zu lösen.
„Fast jeder wahrgeborene Rilandi beherrscht solche Kunststücke im Schlaf“, erklärte Kollat im nüchternen Duktus eines Wissenschaftlers, „Fremdgeborene wie Ominee jedoch, scheitern oft selbst nach unzähligen Lektionen daran.“
Vielleicht bist du nur ein miserabler Lehrer, lag es mir auf der Zunge, aber ich sprach diese Worte nicht aus. Auch sonst erhob niemand die Stimme gegen diese sinnlose Barbarei oder versuchte gar, sie zu verhindern. Sollte ich es riskieren? Es wäre sicher das Richtige, aber andererseits war ich nicht mehr weit davon entfernt, durch einen Laarmaschk ersetzt zu werden.
Eine Moment rang ich mit mir, doch als Ominees in der Luft schwebende Augen schließlich nur noch wie groteske Stielaugen an Sehnerven hingen, die sich immer weiter streckten und spannten, konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Auch wenn Ominee selbst keine Gnade mit den Mitsch gezeigt hatte, so war sie doch eine Jyllen, mit der ich noch dazu das Bett geteilt hatte und zu der ich sogar so eine Art Liebesbeziehung unterhielt.
„Aufhören!“, verlangte ich energisch, jedoch ohne zu schreien.
„Glaubst du jetzt, mir Befehle geben zu können, Fremdgeborener?“, fragte Kollat und bedachte mich mit einem spöttischen Blick. Dann schlug er sich demonstrativ mit der freien Hand gegen die Stirn, „aber natürlich glaubst du das. Du warst ja einst ein hohes Tier bei den Rorak, nicht? Weißt du was, niemand soll mir nachsagen, dass ich Autoritäten nicht respektieren würde. Also will ich mich deiner Bitte beugen.“
Mit diesen Worten nahm er die andere Hand von seiner Brust und Ominees Augen fielen ohne die Stütze seiner psychokinetischen Kräfte einfach schlaf hinab, als wären es zwei Halsketten mit übergroßen Anhängern. Der Anblick war so bizarr wie mitleiderregend. Zumindest, wenn man noch Mitleid kannte.
Was das betraf, so gab es unter den Schülern zumindest einige, die bewusst wegschauten oder den Mund verzogen, doch die meisten Rilandi nahmen das alles gleichmütig hin.
„Wie verletzlich und hässlich dieses unreine Fleisch ist“, sagte Kollat naserümpfend, „ganz besonders verglichen mit der Schönheit der Rilandi. Ihr Fremdgeborenen solltet uns und dem Licht in jedem Moment eures Lebens für eure Reinigung danken. Stattdessen erlebe ich nur Widerspruch und Undankbarkeit.“
„Mach deine Gräueltat rückgängig, du widerlicher Sadist!“, rutschte es mir heraus.
„Gräueltat?“, fragte Kollat lauernd, „du wagst es, mich zu beleidigen und meinen Unterricht zu kritisieren?“
„Mit Unterricht hat das nichts zu tun“, sagte ich und drückte dabei die Hand der wimmernden Ominee, schon allein, um sie von dem Versuch abzuhalten ihre Augen selbst wieder an ihren Platz zu bringen, was mehr als riskant wäre, „das ist reine, sinnlose Grausamkeit. Mach es rückgängig!“
Kollat sah mir direkt in die Augen, ganz als wolle er eine Art Blickduell mit mir beginnen. Wenn das so war, gab es ein Unentschieden, denn keiner von uns wandte den Blick ab.
„Ich habe einen anderen Vorschlag, Massenmörder“, sagte Kollat betont ruhig, „du erledigst das selber. Wenn es dir gelingt, werde ich sogar darauf verzichten, dich für die Speisung zu empfehlen. Wenn nicht, werden wir bald erfahren, ob dein Laarmaschk ein besserer Schüler ist. Also, Olevan, worauf wartest du noch? Zeig mir, dass du talentiert genug bist, um über einen wahrgeborenen Rilandi urteilen zu können. Und an alle anderen eine Warnung: Wer versucht, Olevan mit seinen kümmerlichen Fähigkeiten zu helfen, wird dafür ebenfalls bestraft werden. Ich würde es in jedem Fall bemerken.“
So eine Scheiße, dachte ich. Warum hatte ich mein vorlautes Maul nicht halten können? Immerhin war ich ja hier, um das zu lernen, was dieser Mistkerl von einem Webermeister an Ominee angewendet hatte und das hier war meine erste Unterrichtsstunde. Wenn es sogar Ominee bislang nicht gelungen war diese Fähigkeit zu erlernen, wie sollte ich sie dann einfach aus dem Stand heraus anwenden? Ich wusste ja nicht mal, worauf es dabei ankam. Ich sollte mir wohl besser gleich Gedanken darüber machen, wie ich auf anderem Weg verhindern könnte erneut Teil der Speisung zu werden. Wenn ich gewusst hätte, wo sich mein Katalog befand, hätte ich damit fliehen könne, aber leider war dem nicht so. Selbst, wenn Onyra ihn nicht vernichtet hatte, hatte ich keine Ahnung, wo er sich befand. Und ohne meinen Waffenarm und Karmons Unterstützung hätte ich nicht einmal eine realistische Chance auch nur aus diesem Klassenraum zu entkommen.
„Was ist jetzt?“, fragte Kollat höhnisch, „ich dachte, du willst deiner Freundin helfen.“
Ja du Hurensohn, das will ich, dachte ich, wenn ich nur wüsste, wie. Aber auch, wenn ich meine Hand wie Kollat es getan hatte auf meine Brust legte und mich darauf konzentrierte Ominees Augen irgendwie anzuheben, tat sich rein gar nichts.
„Nutze deine Leidenschaft“, hörte ich Slizza ganz leise hinter mir flüstern.
Was zum Henker, meint sie, fragte ich mich, während mich Kollats herausfordernder Blick zunehmend nervöser machte. An Leidenschaften mangelte es mir sicherlich nicht, aber ich wüsste nicht, wie mir ein Wutausbruch dabei helfen sollte, psychokinetische Kräfte zu entwickeln und ich hielt es auch nicht für sonderlich zielführend irgendeinem der Anwesenden sexuelle Avancen zu machen. Dann jedoch – ob durch bloßen Zufall oder geführt von einer rätselhaften Intuition – verstand ich, was sie meinte.
Meine ureigenste Leidenschaft war weder Lust noch Zorn, sondern Fernweh. Der unbedingte Wunsch neue, fremdartige Orte zu entdecken und zu erkunden. Das war schon lange vor dem Fund des Katalogs so gewesen und selbst jetzt, nachdem ich ihn freiwillig aufgegeben hatte, war dieser Drang noch in mir. Das Licht und die Prüfungen mochten ihn gedämpft und überstrahlt haben, aber sie hatten ihn nicht auslöschen können. Also stellte ich mir vor, was jenseits des Schlamms von Uranor liegen mochte, welche Zauber und Schrecken sich unterhalb davon in der unterirdischen Heimat des schwarzen Malmers erstrecken mochten, wie die anderen Etagen der Hallen der Prüfung beschaffen sein mochten, wie die von Laarmaschk und gequälten Seelen bevölkerte Schattenwelt Uranors jenseits des Gebäudes aussah, in das Nojun mich geführt hatte und was hinter den bislang unzugänglichen Türen der Rilandi-Festung liegen könnte. Ich ließ diese Fragen in mich einströmen, öffnete ihnen die Tore wie ein Verräter einem Belagerungsheer und versuchte mich einmal mehr nicht wie Olevan, der Rilandi, sondern wie Adrian, der Fortgeschrittene zu fühlen.
Zu meiner Überraschung bewegten sich Ominees Augäpfel tatsächlich ein kleines Stück nach oben. Es war nur ein kurzes, kaum merkliches Zittern, doch zusammen mit dem verblüfften Gesichtsausdruck Kollats bot mir dieser kleine Erfolg genügend Motivation, um es weiter zu versuchen. Also stellte ich mir die anderen, unbekannten Seiten des Kataloges vor, entwarf aufregende Gedankengebäude, bizarre Landschaften, mysteriöse Labyrinthe, albtraum- und zauberhafte Geschöpfe und ließ sie wie ein Wirbelsturm aus Bildern um meinen Kopf kreisen, wo sie eine gewaltige Anziehung entwickelten, die einen Teil meines Geistes aus meinem Körper zu saugen schien. Ich sah die Luft vor mir leicht flimmern und spürte, dass meine Kraft gewachsen war. So vorsichtig wie möglich hob ich Ominees Augen an, führte sie wie auf unsichtbaren Schienen zurück zu ihren Höhlen und ließ ihre Sehorgane auf einer geisterhaften Schmierschicht psychokinetischer Energie zurück an ihren gewohnten Platz gleiten, ohne sie auch nur im geringsten zu beschädigen.
„Danke“, sagte Ominee so verstört wie überglücklich.
Ich nickte ihr lächelnd zu und wandte mich dann wieder an Kollat. Da ich zu wissen glaubte, wie solche Typen wie er tickten, rechnete ich fest damit, dass er meinen Erfolg kleinreden und vielleicht sogar sein Angebot zurückziehen würde. Doch ich irrte mich. In Kollats Augen lag tatsächlich Anerkennung.
„Ich verachte Fremdgeborene“, sagte er offen, „jedoch vertraue ich auch auf das, was mir meine Augen mitteilen. Offenbar gibt es ab und an wirklich Talente unter ihnen. Für heute geht dein Laarmaschk leer aus. Und wenn du dich künftig in meinem Unterricht benimmst, wird das auch so bleiben. Haben wir uns verstanden?“
Ich nickte und schwieg, auch wenn es mir sehr schwerfiel, da mein wiedererwachtes Gewissen sich mit der Wildheit des alten Adrian, dem Mitleid mit Ominee und der Wut auf diesen aufgeblasenen Despoten mischte.
Der Rest der Stunde verlief vergleichsweise ruhig. Kollat verzichtete vorerst auf weitere grausame Disziplinarmaßnahmen und ließ seine Schüler nach und nach ihr Talent unter Beweis stellen, welches sehr unterschiedlich verteilt war.
Tannvan und einige mir unbekannte, geborene Rilandi bestätigten Kollats rassistische Thesen durchaus, indem sie mühelos und schnell Schwerter, schwere Steine und Gewichte bewegten und sogar in kunstvollen Choreografien tanzen ließen, die von Kollat zu Übungszwecken bereitgestellt worden waren. Unter den Fremdgeborenen bewies lediglich Slizza ein vergleichbares Talent, auch wenn ihre Kunststücke zwar effektiv, aber nicht halb so elegant gerieten, wie etwa bei Tannvan.
Gorweo, Ninvinee und die meisten anderen bewegten sich im Mittelfeld und zeigten immer wieder Aussetzer und Patzer bei dem Versuch ihre Übungsgegenstände zu bewegen. Ominee hingegen schien tatsächlich keinerlei Talent für diese Dinge zu besitzen. Selbst eine kleine Glaskugel, die sie zu bewegen versuchte, erhob sich maximal ein oder zwei Zentimeter über den Boden, bevor sie wieder hinabfiel. Ich vermutete, dass ihre kürzlich erlittene Folter ihrer Konzentration nicht gerade zuträglich war, zumal sie sich tatsächlich in keinem guten emotionalen Zustand befand. Ich sah, wie sie zitterte, leise seufzte und irgendwelche Worte zu sich selbst sprach, die ich nicht genau verstehen konnte.
Unter Kollats wachsamer Aufsicht traute ich mich nicht, sie in die Arme zu schließen oder mit ihr zu sprechen, doch ich tat mein Bestes, um sie wenigstens mit Blicken zu trösten. Meine Bemühungen wurden – sofern sie überhaupt etwas bewirkt hatten – jedoch schnell wieder zunichtegemacht, wenn Kollat sie finster oder verächtlich ansah oder die anderen Schüler – mit Ausnahme von Slizza, Ninvinee und Gorweo – sich ganz offensichtlich über sie lustig machten und ätzende Kommentare abließen, welche von Kollat allesamt ignoriert wurden.
Ich musste wieder an meine eigene Schulzeit denken, in der es an Arschloch-Mitschülern und Kacklehrern nicht gemangelt hatte und in der ich in der Mobbing-Hierarchie vielleicht nicht ganz, aber doch relativ weit unten gestanden hatte. Nicht, dass man einen Ort, an dem einen jeder Fehler seine Seele kosten konnte, damit vergleichen könnte, aber die Erinnerung an meine eigenen frühen Dramen und kleinen Martyrien vergrößerten mein Mitgefühl mit Ominee und verringerten meine Freude an diesem Unterricht ganz erheblich.
Gut, ich war durchaus erleichtert darüber, solche Fähigkeiten zu besitzen, noch dazu praktisch ohne Übung. Aber dennoch war das hier nicht fucking Hogwarts. Ich war nicht drauf und dran mit meinen Freunden lustige Abenteuer zu erleben und die Welt zu retten, während ich auf dem Besen in den Sonnenuntergang flog. Wenn überhaupt, dann lernte ich hier für die dunklen Künste bei Voldemort höchstpersönlich und sollte dazu in die Lage versetzt werden Seelen zu knechten und Völker zu versklaven, während mir das Verderben bei jedem meiner Worte über die Schulter schaute und mir imaginäre Briefchen der Marke „Willst du untergehen? Ja, nein, vielleicht“ zuwarf.
Am liebsten hätte ich diese verkommene Veranstaltung hier augenblicklich gesprengt, jedoch war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Erst musste ich mögliche Verbündete finden, denn selbst der alte Adrian hätte Uranor nicht im Alleingang zu Fall bringen können und nun, wo ich nicht länger Grong-Shin mit Karmon war, hatte ich nicht die geringsten Aussichten gegen ein Heer von Telepathen zu bestehen. Doch was die Suche nach Verbündeten betraf, so sah ich bislang wenig Anhaltspunkte. Auf Nojun konnte ich zwar ohnehin zählen und auch Slizza schien mir nicht allzu zufrieden mit den Praktiken der Rilandi zu sein, aber darüber hinaus wurde es dünn.
Von den anderen Schülern hatte jedenfalls bislang kaum jemand Mitleid oder gar Widerstand gezeigt. Andererseits konnte diese Gleichgültigkeit auch nichts weiter als eine Maske sein, die sie sich aufsetzten, um nicht im Handumdrehen bei der Speisung zu enden. Schon Ominees Fall zeigte mir, dass man selbst hier, an diesem religiös aufgeladenen Ort mit Schwarz-Weiß-Denken nicht weiterkam. Ich hatte Ominees herzlosen Vorschlag, der zu einem Genozid geführt hatte, nicht vergessen. Sie war ohne Zweifel eine Täterin, aber sie war zugleich auch ein Opfer meiner eigenen Verbrechen und der Gehässigkeit der anderen Rilandi und sie konnte mitunter eine mitfühlende, humorvolle und liebevolle Person sein.
Ich dachte an Drohnenpiloten in meiner Heimatwelt, die auf Knopfdruck und hunderte Kilometer entfernt den sicheren Tod verteilten, nur um dann am Abend ihren Partner liebevoll zu umsorgen und ihren Kindern Märchen von strahlenden Helden und sprechenden Tieren vorzulesen.
Moral ist keine Ampel, die nur Rot oder Grün kennt, nicht einmal eine Skala. Sie ist ein chaotischer Sack, gefüllt mit Scheiße und Blumen und es kommt wohl darauf an, ihn mit Würde zu tragen und eine Mischung anzuhäufen, die einen Selbst und andere nicht andauernd zum Kotzen bringt.
Vielleicht würden ich und Nojun am Ende doch noch genügend Rilandi davon überzeugen können, dass sie auf dem falschen Weg waren. Fürs Erste jedoch versuchte ich weiterhin Kollats Unterricht zu folgen.
Nachdem der praktische Teil vorüber war, verlegte sich Kollat auf den theoretischen Teil. Dabei schwadronierte er zunächst noch ein wenig von seinem Lieblingsthema, nämlich davon, dass die wahrgeborenen Rilandi allen anderen überlegen seien. Er skizzierte dabei ein Hierarchiesystem, in dem ganz oben Wornaara, darunter die Webermeister (inklusive ihm), dann die wahrgeborenen Rilandi, die integrierten (also gläsernen) Fremdgeborenen, die neuen Fremdgeborenen, die Prüflinge in den Hallen der Prüfung und zuletzt die ungeprüften „Schlammkriecher“ standen und lobte es als perfekte Harmonie. Da ich als ausgewiesener „Pragmatiker“ nicht sehr anfällig für solche Formen von Ideologie war, bemühte ich mich nach Kräften interessiert auszusehen und gleichzeitig diesen Bullshit behutsam durch mein Gehirn zu leiten, ohne dass er dort hässliche Flecken hinterlassen konnte.
Interessanter war da schon der Teil seiner Ausführungen, bei dem es um den Ursprung und die Nutzung der telepathischen Fähigkeiten der Rilandi ging. Demnach war es zwar grundsätzlich möglich dafür die Kraft des Lichts zu benutzen, welches von den Suchern gesammelt wurde, jedoch riet Kollat davon ab, sich allein darauf zu verlassen. Frühere Generationen von Rilandi hatten das getan, da das Licht im günstigsten Fall eine viel potentere Kraftquelle darstellte als die eigenen geistigen und seelischen Ressourcen. Jedoch hatten sie auch eindrucksvoll bewiesen, dass es gefährlich war sich allein auf eine externe Quelle zu verlassen. Denn der Strom des Glaubens, aus dem die Rilandi ihr Licht gewannen, floss nicht immer gleich stark.
Ab und an geschah es, dass Völker ihren Glauben verloren oder – wie kürzlich die bedauernswerten Mitsch – vollständig untergingen und damit die Zahl der von Uranor beeinflussten Welten sank. Einmal, vor etwa achttausend Jahren, war ein solcher Tiefpunkt für die Rilandi erreicht gewesen, dass nicht nur die Lichtmauer zwischen der Festung und dem Schlamm dadurch zerfiel, sondern auch ihre psychokinetischen Fähigkeiten schwanden. Dadurch konnten sie den Ungeprüften, die nun ungehindert in die Festung strömten kaum noch etwas entgegensetzen, da nun nicht nur die für gewöhnlich unbewaffneten Sucher und Weber vollkommen wehrlos waren, sondern auch die normalerweise durch das Licht verstärkten Angriffe der Hirten längst nicht mehr so effektiv waren. Zwar setzte man den Schwarzen Malmer darauf an, möglichst viele der Eindringlinge bereits im Schlamm zu töten, doch das half nicht viel. Tausende wütende Ungeprüfte zogen in die Festung der Rilandi ein und schlachteten erst Dutzende und dann hunderte Rilandi hin. Allein dem Allrichter und seiner Macht war es zu verdanken gewesen, dass diese Rebellion niedergeschlagen und die Ungeprüften vernichtet werden konnten.
Ich hörte das alles mit einer Mischung aus Abscheu und aufkeimender Hoffnung. Es war schockierend zu hören, wie offen und unverschämt Kollat mit den Verbrechen seines Volkes umging. Andererseits stimmte es mich optimistisch, dass die Rilandi schon einmal beinahe besiegt worden waren. Wieso sollte es dann nicht ein weiteres Mal gelingen?
Natürlich existierte die damalige Schwachstelle nicht mehr in dieser Form, aber wenn es zumindest möglich wäre die Lichtmauer zu zerstören und die Ungeprüften – wie etwa Sandra und Pingo – zur Hilfe zu holen, würde das die Chancen einer Rebellion erheblich verbessern. Das waren jedoch zu diesem Zeitpunkt nur flüchtige, unausgegorene Gedanken, denen ich nicht allzu lange nachging, um nichts von Kollats Ausführungen zu verpassen, die sich ja vielleicht noch als hilfreich entpuppen konnten.
„Wie ist es den Rilandi denn dann gelungen ihre Macht wiederaufzubauen?“, wollte eine junge Bravianerin mit Brille und schwarzem Kurzhaarschnitt wissen, die einen sehr eifrigen und lernwilligen Eindruck machte.
Kollat schien dieses Interesse trotz der Herkunft der Schülerin zu begrüßen, da ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte.
„Dafür ersann der Allrichter einen genialen Plan, der als der ‚Hoffnungspakt‘ in die Geschichte einging“, antwortete Kollat, „dabei traf Wornaara sich mit den Gesundern in Hyronanin und machte die finsteren Seuchenbringer zu einem Werkzeug des Lichtes. Er vereinbarte mit ihnen, dass sie ihre Seuchen in jenen Welten entfesseln, deren Bewohner den Glauben verloren hatten. Es sollten nach Möglichkeit Krankheiten sein, gegen die die Wissenschaft der verseuchten Völker nichts oder zumindest wenig ausrichten konnten, die Gesandten der von uns geschaffenen Glaubenssysteme jedoch durchaus, zumindest dann, wenn sich die Gläubigen auf den Pfad der Tugend begaben und inbrünstig beteten. Natürlich wurde dafür gesorgt, dass immer noch genügend von ihnen starben und nur die Allerfrommesten von diesen Plagen verschont blieben. Auf diese Weise erhielten wir genügend Licht und die Gesunder ausreichend Gesundheit, um ihren finsteren Trieben zu genügen. Es war sicherlich keine Glanzstunde in der Geschichte unseres Volkes, aber diese Allianz war notwendig gewesen, um unsere edle Mission fortführen zu können.“
Ich spürte, wie mir angesichts solcher Bigotterie die Magensäure in den Mund schoss.
Es war eine Sache, solche Dinge zu tun, um zu überleben, aber eine ganz andere, sie als Dienst an der guten Sache darzustellen. Ich hatte eigentlich gedacht, dass die Rilandi gar nicht weiter in meiner Gunst hätten fallen können, aber offenbar hatte ich mich getäuscht.
„Sind wir noch immer mit den Gesundern verbündet?“, fragte die eifrige Schülerin.
„Nein“, antwortete Kollat, „sobald wir unsere nötige Stärke wiedererlangt hatten, haben wir die Kooperation einvernehmlich beendet. Wir wollten uns nicht länger als unbedingt nötig mit den Gesundern zusammentun und es war beiden Seiten von Anfang an klar, dass diese Verbindung nicht von Dauer sein konnte. Licht und Dunkelheit sind nun mal keine natürlichen Partner.“
Das mag stimmen, dachte ich, aber Arschlöcher und Drecksäcke schon.

~o~

Als die Unterrichtseinheit endlich beendet war und die Schüler zurück auf die Wolkenstraße strömten, um ihre Freizeit zu genießen, begab ich mich erneut zu Nojun.
„Wusstest du das mit den Gesundern?“, fragte ich ihn nicht ohne einen gewissen Vorwurf.
„Ja“, gab Nojun zu, „und es gefällt mir so wenig wie dir. Aber letztlich ist es Geschichte und ändert nichts an unserer aktuellen Situation, die …“
„Olevan? Hast du etwas Zeit für mich?“, unterbrach Ominee plötzlich unser Gespräch. Sie wirkte niedergeschlagen und irgendwie ängstlich. Der Schmerz in ihrem Gesicht berührte und beunruhigte mich zugleich.
„Natürlich“, sagte ich und wandte mich dann wieder an Nojun, „wenn das für dich in Ordnung ist.“
Seine Augen drückten ein klares „Nein“ aus, aber sein Mund sagte etwas anderes. „Geh ruhig“, sagte er, „ich komme gegen achtzehn Uhr zu dir. Wenn ihr dann fertig seid.“
Er versuchte sich an einem anzüglichen Grinsen, was jedoch weder Ominee noch mich zu irgendeiner Reaktion veranlasste. Ich nickte lediglich bestätigend und wandte mich dann wieder Ominee zu.
„Was gibt es?“, fragte ich sie.
„Lass uns zu dir gehen“, schlug sie vor und streckte mir ihre Hand entgegen, „ich will diese Dinge lieber nicht hier besprechen.“
Was sollte das jetzt schon wieder heißen? Hatte Nojun sich in ihr getäuscht und Ominee hegte ebenfalls konspirative Gedanken? Zwar konnte ich mir so etwas schwer vorstellen, aber andererseits kannte ich mich mit inneren Widersprüchen sehr gut aus.
Ich ergriff ihre Hand und wir gingen gemeinsam die Wolkenstraße zu meiner Kammer hinunter, während vereinzelte Passanten uns entgegenkamen, die manchmal schweigend vorbeiflanierten, manchmal aber auch in angeregte Gespräche vertieft waren. Inzwischen war das Licht schon wieder etwas schwächer geworden als noch vor der Unterrichtsstunde bei Kollat. In Uranor gab es keine Sonnenuntergänge im klassischen Sinn. Lediglich eine graduelle Ab- und Zunahme der Lichtintensität. Doch auch ohne die bläuliche Färbung des Nachmittags oder den rötlichen Schimmer des Abends, wie ich ihn aus meiner Heimat kannte, beunruhigte mich die sich langsam ankündigende Dunkelheit, da sie unangenehme Erinnerungen an den gestrigen Abend wachrief.
„Findet die Stunde der Schwärze heute erneut statt?“, fragte ich Ominee.
Ominee zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Meine Frage schien sie irgendwie zu erschrecken. „Ja“, flüsterte sie, „sie findet an jedem Tag statt, auch wenn es natürlich nur jene betrifft, die … die zur Speisung vorgemerkt sind.“
Mehr sagte sie nicht zu diesem Thema und auch sonst sprachen wir nicht mehr miteinander, bis wir erneut mein Zimmer betraten und uns nebeneinander auf mein gläsernes Bett setzten.
Die fast andächtige Stille, die in dem Raum vorherrschte, der mich noch immer an ein luxuriöses Hotelzimmer erinnerte, hätte entspannend wirken können. Doch trat diese Wirkung bei mir ganz und gar nicht ein. Nicht nur, dass dieser ganze Ort schon in seiner ätherischen, strahlenden Erscheinungsform begann mich krankzumachen, ich wusste nun ja auch, dass er auf einer anderen Ebene vollkommen anders aussah. Vielleicht saß ich hier gerade auf einer verrottenden Stück Stoff, während mich glotzende, ausgedörrte Seelen mit offenen Mündern anstarrten und irgendein Laarmaschk an meinem Haar schnüffelte. Doch selbst wenn ich diese ekelhafte Ebene ausblendete, blieb die eigenartige Situation, dass ich hier neben einer Quasi-Massenmörderin saß, für die ich gleichzeitig Mitleid und eine fast teenagerhafte Zuneigung empfand. Schon unter ganz gewöhnlichen, irdischen Umständen hätte mir solch eine Situation Unbehagen bereitet. Doch hier, in diesem kosmischen Zentrum der Bigotterie war es eine wahre Herkulesaufgabe meine Zunge in Bewegung zu setzen. Während ich versuchte Mut zu sammeln, blickte ich Hilfe suchend zur Decke, wo gerade passenderweise ein gewaltig erscheinendes, gieriges schwarzes Loch das Licht und die Masse hoffnungslos verlorener Sterne trank.
„Worüber wolltest du mit mir reden?“, fragte ich schließlich, als ich die zunehmend unangenehmer werdende Stille nicht mehr aushielt.
Ominee blickte zu mir auf. Ich spürte die Schwere der Gedanken, die in ihrem Kopf kreisten und wünschte mir fast, dass das Schwerkraftungeheuer über uns sie dort heraussaugen würde, während Ominee immer noch schwieg.
„Ich habe Angst vor der Speisung“, antwortete sie letztlich doch seufzend. Also doch keine heldenhafte Widerständlerin, dachte ich ein wenig enttäuscht.
„Wieso?“, fragte ich, „zumindest seit ich hier bin, hast du dich doch an alle Regeln gehalten. Herreth hat dich sogar gelobt und deinen Vorschlag für den … Umgang mit den Mitsch angenommen. Ich sehe keinen Grund, weshalb man dich deinem Laarmaschk ausliefern sollte.“
„Herreth ist nicht das Problem“, sagte Ominee, „Es ist Kollat. Er hasst mich. Mehr als die anderen Fremdgeborenen.“
„Kollat ist keine allzu angenehme Person“, versuchte ich es mit einer verhältnismäßig höflichen Kritik, obwohl ich ganz andere Worte auf den Lippen hatte. Es war schon erschreckend, wie schnell sich Selbstzensur in den eigenen Gedanken breitmachte, wenn man an einem Ort lebte, welcher die Meinungsfreiheit einschränkte, „aber ich kann nicht glauben, dass er dich wegen ein paar harmloser Widerworte sofort derart schlimm bestrafen würde“, versuchte ich sie aufzumuntern und wusste sofort, dass das nichts als leeres Gerede war. Immerhin hatte Kollats ja auch mir gegenüber entsprechende Drohungen geäußert und selbst Herreth hatte mich wegen einer Nichtigkeit bestraft.
Trotzdem schien Ominee meine ungelenken Aufheiterungsversuche zu würdigen, denn sie rang sich ein schwaches, trauriges Lächeln ab, bevor die Angst wieder die Herrschaft über ihre Mimik übernahm. „Es geht nicht um meine Widerworte“, erklärte Ominee, „es geht darum, dass ich absolut kein Talent für die Beherrschung des inneren und äußeren Lichtes besitze. Nicht nur was die Geistfäden betrifft. Ich bin schon eine ganze Weile hier, Olevan und ich habe noch nicht mal die kleinste Menge Glas an meinem Körper. Es ist fast so, als ob das Licht mich nicht wollen würde.“
Vielleicht solltest du froh darüber sein, dachte ich. Laut jedoch sagte ich: „Vielleicht liegt es an deiner Herkunft. Womöglich verwandeln sich Jyllen einfach nicht so schnell in Glaswesen.“
Ominee schüttelte den Kopf, „hast du dir Ninvinee nicht angesehen? Sie kam zwei Wochen nach mir an und hat bereits Glasaugen und auch ihre Brustwarzen bestehen aus Glas. Nein, ich fürchte, dass ich früher oder später zur Speisung geschickt werde. Bislang hat Herreth sich noch für mich eingesetzt. Sie meinte, man könne in der Webhalle nicht auf meine Talente und meine Kreativität verzichten, aber ich weiß nicht, wie weit ihr Einfluss auf den Allrichter reicht. Kollat versucht wohl schon lange, Wornaara davon zu überzeugen, dass ich ein Fremdkörper in der Gemeinschaft bin. Und mir gegenüber hat er auch schon oft entsprechende Andeutungen gemacht. Vorhin, als du bereits den Unterrichtsraum verlassen hattest, hat er mich aufgehalten und mir ins Ohr geflüstert. Weißt du, was er gesagt hat?“
„Nein“, antwortete ich.
„Er hat mir ein altes, rilandisches Gedicht vorgetragen“, erklärte Ominee, „eine Art Sinnspruch mit recht eindeutiger Aussage:

Oh, Abendkind lass endlich los,
dein dunkler Mond ist krank und alt.
Die Sonnenstrahlen legen bloß,
die Züge deiner Nachtgestalt.

Streck‘ die gekrümmten Finger durch,
nimm Abschied vom porösen Stein.
Nichts was in tiefster Nacht geboren,
kann wohl im Licht von Dauer sein.

Drum stürzt hinab zu Frost und Wind,
die dir doch Heim und Samen sind
Lass sie dich ins Vergessen führen,
drum stürz‘ hinab, oh Abendkind.“

„Das lässt tatsächlich nicht viel Interpretationsspielraum“, sagte ich und nahm tröstend ihre Hand, „vielleicht kannst du mit dem Allrichter reden.“
Ominee lachte freudlos auf, „keinem einfachen Weber ist es gestattet, den Allrichter ohne Einladung aufzusuchen. Und selbst wenn … wieso sollte er auf mich hören? Nein, Olevan, ich sehe die Speisung und damit meinen Untergang kommen.“
„Ich habe die Speisung ebenfalls überstanden“, warf ich ein, „wenn es deine Erste ist, wird sie sicher nicht dein Untergang sein. Es ist ein grauenhaftes Ereignis, das ich nie wieder erleben will, aber sie ist nicht in jedem Fall das Ende.“
„Du verstehst es nicht, oder?“, fragte Ominee beinah vorwurfsvoll, während Tränen in ihren Augen glitzerten, „es geht hier nicht um irgendeine Strafe. Es geht um den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Normalerweise würde man mich zurück in den Schlamm schicken und mich dem Malmer überlassen, aber da sie meine Fähigkeiten als Weberin nicht gänzlich verlieren wollen, werden sie diesen Weg wählen.
Wenn ich zur Speisung geschickt werde, wird es für mich keine Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang geben. Ich ertrage diesen Gedanken nicht, Olevan. Während meines Lebens in Konor hatte ich akzeptiert, in einer vom ewigen Krieg zerrissenen Welt zu leben. Ich hatte mich mit dem Gedanken angefreundet, irgendwann eine ausgebrannte An-Jyll zu werden und in den Feuern des Krieges zu vergehen. Ich habe verkraftet, dass ich nie mehr im Laufe meiner restlichen Existenz einen Jyllen mit meinem Nijram-Spiel erfreuen würde. Ja, ich habe mich sogar mit dem Ende meiner Spezies und dem Wissen arrangiert, dass nie wieder ein freier Jyllen in Konor geboren werden würde. All das kann ich ertragen, irgendwie. Aber das Wissen, dass irgendetwas mit meinem Körper, meiner Stimme und meinen Erinnerungen herumläuft ohne dabei ich zu sein …“
Sie verstummte und in ihrem Blick sah ich eine Hoffnungslosigkeit aufblitzen, die mit Macht an die Tore zum Wahnsinn hämmerte. Von Mitleid und Zuneigung ergriffen schloss ich sie in die Arme und spürte, wie sie zitterte. Ihr Körper fühlte sich angenehm warm an und ich genoss die Berührung ihrer Anmella-Stränge, die sich sanft um meinen Rücken schlangen. Diesmal jedoch lag keine Lust darin. Nur der verzweifelte Ruf nach Halt. In diesem Moment verspürte ich ehrliche und tiefe Zuneigung zu ihr und wollte nichts mehr, als ihr irgendwie in ihrer scheinbar aussichtslosen Lage zu helfen. So verblieben wir für eine lange Zeit schweigend. Und eine Zeitlang fühlte ich mich ihr so verbunden und so nah, als stünde ich noch immer unter dem Einfluss des Lichtweins.
Als wir uns wieder voneinander lösten, hatten sich die Zeiger der Uhr schon deutlich weiterbewegt. Die Zeit meiner Verabredung mit Nojun nahte. „Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit“, überlegte ich laut und erschrak sofort darüber, dass ich diese Worte ausgesprochen hatte.
„Was meinst du?“, fragte Ominee skeptisch.
Alles in mir warnte mich davor sie einzuweihen, riet mir dazu ihr irgendeine lahme Plattitüde anzubieten, ihr einen hastig improvisierten, albernen Vorschlag zu unterbreiten, der der Betrachtung eines kritischen Geistes keine drei Sekunden standhalten würde. Doch stattdessen sprach ich die Wahrheit.
„Was wäre, wenn wir gegen diese unmenschliche Praxis aufbegehren? Gegen die Webermeister, gegen den Allrichter, gegen dieses ganze dekadente verlogene Unrechtssystem?“, fragte ich.
Ominee löste sich von mir als hätten wir uns urplötzlich in zwei gleich gepolte Magnete verwandelt. Ihr Gesicht war erfüllt von Unglauben und Überraschung.
„Bist du von Sinnen?“, fragte Ominee, „So etwas darfst du nicht mal denken. Nicht einmal im Scherz.“
„Das ist kein Scherz“, sagte ich.
„Umso schlimmer“, erwiderte sie, „Das ist Blasphemie in ihrer schlimmsten Form. Hat die Speisung dich nichts gelehrt?“
„Im Gegenteil“, preschte ich weiter nach vorn, da ich mich nicht traute, mir selbst vor Augen zu führen, welchen gefährlichen Weg ich da gerade einschlug, „Sie hat mich einiges gelehrt, nämlich wie barbarisch die Kultur der Rilandi ist. Wie manipulativ sie sind. Wie wenig sie auf das Selbstbestimmungsrecht anderer Völker geben. Es hat mich gelehrt, dass sie nichts weiter als Parasiten sind, die sich hinter hübscher Ästhetik verstecken.“
„Hör sofort auf“, erwiderte Ominee aufgewühlt, „du siehst das alles vollkommen falsch.“
„Wo bitte sehe ich denn etwas falsch?“, fragte ich, „entscheiden die Rilandi etwa nicht darüber, was und wie ein Volk zu glauben hat? Lassen sie etwas keine hilflosen Seelen im Schlamm und in den Hallen der Prüfung leiden? Lassen sie niemanden vom schwarzen Malmer fressen? Spielen sie nicht mit dem Schicksal von Völkern und nehmen Milliarden Individuen ihre Freiheit? Nutzen sie etwa nicht die Scyonen gegen ihren Willen als Energieverstärker, paktieren mit den Gesundern, liefern ihre eigenen Leute gestaltwandelnden Ungeheuern aus?“
Ominee antwortete nicht, sondern sah mich nur grübelnd und niedergeschlagen an.
„Du weißt, dass es so ist“, stellte ich fest, „und nun sag mir: Soll das das Licht sein? Soll das das Gute sein, für das es sich einzustehen lohnt?“
„Die Rilandi sind mein Neuanfang, meine zweite Chance“, erwiderte Ominee schluchzend, „ihnen verdanke ich, dass ich überhaupt noch existiere.“
„Du verdankst ihnen gar nichts“, gab ich zurück, „ich weiß nicht, wohin wir nach unserem Tod normalerweise gehen. Aber wo unser Ziel auch liegt, die Rilandi verhindern, dass wir es erreichen. Sie haben dich nicht gerettet Ominee, sie haben dich gestohlen.“
„Das ist mir egal“, entgegnete Ominee trotzig, „es kümmert mich einen Dreck, wo ich hätte sein können. Ich bin genau dort, wo ich sein muss. Dort, wo ich Gutes bewirken kann. Mag sein, dass hier nicht alles perfekt ist. Das war es in Konor auch nicht. Aber hier habe ich die Chance Dinge besser zu machen, sie in die richtige Richtung zu lenken, das Gleichgewicht des Multiversums zu wahren. Das ist mehr, als ich irgendwo sonst tun kann.“
„Das Gleichgewicht wahren?“, antwortete ich humorlos lachend, „Erst heute Morgen hast du die Mitsch ausgelöscht. Jeden Einzelnen von ihnen. Frauen, Männer, Kinder.“
„Du wagst es, mir das vorzuhalten?“, donnerte Ominee, „du, der meine gesamte Welt in Asche verwandelt hast!?“
„Gerade deshalb solltest du Mitleid mit den Opfern deiner eigenen Taten haben. Dir ist schlimmes widerfahren, Ominee, aber dein erlittenes Unrecht macht dich nicht schuldlos für deine eigenen Verbrechen.“
„Es waren keine Verbrechen. Es war notwendig!“, verteidigte sich Ominee, während an der Decke über ihr ein strahlend heller Pulsar mit seiner blenden weißen Energieeruption einen fruchtbaren, grünen Planeten zerschmetterte, so als wäre es nichts weiter als eine amüsante Zielübung.
„Das war Adrians Leitspruch“, sagte ich mit einem bitteren Lächeln, „diese Worte haben seine Hand geführt, als er euer Volk vergiftete. Als er eure Arnivel verriet. Willst du sie wirklich zu den deinen machen?“
Noch einen Moment lang schlugen mir Stolz und Trotz aus ihren Augen entgegen. Dann sackte sie in sich zusammen und senkte ihren Blick. „Nein“, flüsterte sie, „das will ich nicht.“
Ich atmete erleichtert auf. Das hier hätte auch gehörig schiefgehen können, „also wirst du mir helfen?“
„Wobei denn helfen?“, fragte sie, „welche Chance haben wir beide schon gegen die Macht des Lichts?“
„Adrian ist es gelungen allein eine ganze Welt zu verändern“, gab ich zu bedenken.
Ominee schüttelte den Kopf, „du bist nicht mehr Adrian. Und es wäre vermessen zu denken, dass er es ganz allein geschafft hätte. Er hatte eine mächtigen Symbionten an seiner Seite und er hatte die Unterstützung seiner Söldner und des Rorak-Imperiums.“
„Auch wir haben Hilfe“, antwortete ich.
„Welche Hilfe?“, wollte Ominee wissen.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Sowohl Ominee als auch ich zuckten bei dem Gedanken zusammen, dass jemand unser Gespräch belauscht haben könnte.
„Ich bin es nur, Nojun“, schallte es von draußen herein und ich glaubte die Erleichterung, die mich daraufhin befiel, förmlich schmecken zu können.
„Einen Moment noch“, rief ich Nojun zu.
„Wir reden später weiter“, sagte ich zu Ominee und gab ihr einen kurzen Kuss, „dann erkläre ich dir die Details. Bis dahin musst du nur wissen, dass es Hoffnung gibt. Für dich, für mich und alle anderen. Sag bitte zu niemandem ein Wort, in Ordnung?“
Ominee nickte, stand auf und öffnete die Tür, hinter der ein leicht nervös wirkender Nojun zum Vorschein kam. „Hallo Ominee“, grüßte er sie.
„Hallo, Nojun“, erwiderte sie knapp und rauschte dann ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei zurück zur Wolkenstraße.
Nojun trat hinein und schloss die Tür hinter sich. Er blickte sich verschwörerisch um und wartete einige Augenblicke ab, bevor er das Wort ergriff.
„Warum hat sie so fertig ausgesehen?“, fragte Nojun, nachdem wir uns – wie zuvor Ominee und ich – nebeneinander auf das transparente Bett gesetzt hatten, da dies die einzige Sitzgelegenheit in dem Raum war, „hast du mit ihr Schluss gemacht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe sie für unsere Sache gewonnen.“
„Du hast was?“, fragte Nojun fassungslos, während seine gläsernen Augen vor Überraschung aus den Höhlen zu quellen schienen.
„Ich habe sie davon überzeugt, dass die Rilandi auf dem falschen Weg sind. Es war nicht einfach, aber letztlich ist es mir gelungen“, erwiderte ich gefasst, auch wenn mich Nojuns Reaktion durchaus verunsicherte.
„Natürlich war das nicht einfach“, gab Nojun zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch sein Gesicht, „Ominee ist eine durch und durch überzeugte Anhängerin des Lichts. Sie mag keine geborene Rilandi sein, aber was ich bisher von ihr gehört habe, hätte aus dem Mund jedes anderen Fanatikers stammen können. Sie vergöttert Herreth und das, was sie tut.“
„Jeder hier ist gezwungen sich zu verstellen, um zu überleben“, wandte ich ein, „du doch auch.“
„Da hast du vielleicht recht“, gab Nojun zu, „aber dennoch gibt es hier nicht nur Schauspieler. Die Mehrzahl liegt vollkommen auf Linie. Das bemerkt man schon an jenen kleinen Regungen und Reaktionen, über die jedes mitfühlende Wesen verfügt und die man sich nur schwer bis überhaupt nicht abtrainieren kann, ohne zugleich das Mitgefühl zu verlieren. Und wenn es danach geht, nun, dann ist deine Geliebte so kalt wie ein toter Fisch.“
„Sie hat sich für mich eingesetzt“, widersprach ich, „als es kaum ein anderer getan hatte. Und sie hat Angst davor ausgestoßen zu werden und ihre Identität an einen Laarmaschk zu verlieren. Das ist ein starker Antrieb, um zur Revolutionärin zu werden“, widersprach ich.
„Das ist etwas anderes. Du bist für sie ein Rilandi und da sie selbst eine Fremdgeborene ist, ist es ihr wichtig, dass jeder, der sich würdig zeigt, integriert werden und an unserer netten Puppenspieler-Party teilnehmen kann. Deshalb kann sie sich noch längst nicht in die Lage der von uns geknechteten Völker versetzen. Und Angst ist keine Triebfeder von Revolutionen im Namen der Gerechtigkeit. Angst sucht nicht nach Veränderung, sondern nach Sicherheit und es ist ihr vollkommen gleich, wer sie ihr bietet“, antwortete Nojun.
„Du warst bei unserem Gespräch nicht dabei, Nojun. Sie hat ihren Irrtum begriffen. Und sie weiß durchaus, wie sich Geknechtete fühlen. Immerhin habe ICH ihr Volk in eine Sklavenrasse verwandelt“, sagte ich.
„Ja das hast du“, erwiderte Nojun, „und genau deshalb, siehst du etwas in ihr, was sie nicht ist. Weil du dich schuldig fühlst, und weil du in sie verliebt bist.“
„Das mag sein“, gab ich nach kurzem Nachdenken zu, „aber das ist nicht der Grund, aus dem ich ihr vertraue. Ich bin wirklich überzeugt davon, dass sie uns helfen wird.“
„Ich hoffe sehr, dass du recht hast“, sagte Nojun seufzend, „andernfalls ist unser Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu. „Mal was anderes: Hast du dir schon mal die Frage gestellt, ob dieser Raum hier abgehört wird?“
Mein entsetzter Gesichtsausdruck gab ihm die Antwort. Er hatte recht. Anfangs hatte ich zwar ein vages Unbehagen dabei empfunden mich kritisch zu äußeren, aber wirklich über diese Möglichkeit nachgedacht hatte ich nicht. Meine entglittenen Gesichtszüge fingen sich jedoch wieder, als die Logik die Angst überwand. „Du würdest selbst nicht so frei sprechen, wenn es so wäre“, schloss ich.
Nojun nickte, „es ist auch nicht so, soweit ich weiß. Andernfalls würde die Gerüchteküche im Recriondo noch viel stärker brodeln, als ohnehin schon und es gäbe sicher keinen einzigen Weber mehr, der nicht durch einen Laarmaschk ersetzt wurde. Eine Zeitlang war es anders. Doch vor allem Herreth haben wir es zu verdanken, dass das Abhören aufgehört hat. Sie meinte, es schade unserer Kreativität. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass du bis jetzt nicht darüber nachgedacht hast. Nicht gerade ein vorbildliches Verhalten, wenn man einen Umsturz organisieren will, nicht wahr? So etwa hätte ich nicht erwartet, nachdem es dir immerhin gelungen ist, die Jyllen allein durch eine List zu Fall zu bringen.“
Ich errötete vor Scham, da ich den Wahrheitsgehalt seiner Worte nicht leugnen könnte. „Du hast recht. Adrian wäre so etwas wohl nie passiert. Die Prüfungen müssen mich mehr verändert haben, als ich zunächst gedacht habe. Olevan ist vielleicht weniger grausam, aber auch naiver.“
Das mochte stimmen, aber selbst in meinen Ohren klang es nach einer lahmen Ausrede.
„Du musst wieder zu Adrian werden“, sagte Nojun, „andernfalls können wir das hier vergessen.“
Diese Worte brachten die Drohung zurück, die Ominee ausgesprochen hatte, als sie letzte Nacht auf mir gelegen hatte: „Solltest du je wieder den Namen ‚Adrian‘ annehmen und zu deinem alten Leben zurückkehren, dann verspreche ich dir, werde ich dich töten.“
„Ich weiß nicht, ob das so einfach geht“, erwiderte ich, „aber ich werde mich bemühen. Jedoch solltest du mich weiter ‚Olevan‘ nennen.“
„Natürlich“, antwortete Nojun, der von Ominees Drohung nichts wusste, leicht verwirrt.
„Aber wenn wir Ominee als Variable einmal ausklammern, bleibt immer noch die Frage, wie genau wir jetzt vorgehen“, fuhr Nojun fort, „hast du dir dazu wenigstens schon Gedanken gemacht, oder hast du das ebenfalls vergessen?“
„Das habe ich tatsächlich“, antwortete ich, ohne auf seinen gerechtfertigten Spott zu reagieren.
„Ich höre“, sagte Nojun.
„Nun, du warst ja genauso wie ich bei Kollats Geschichtsstunde dabei und hast – falls du es nicht ohnehin schon wusstest – von der Beinahe-Niederlage der Rilandi gehört“, begann ich mit meinen Erklärungen.
Nojun nickte und bedeutete mit mir mit einer Geste fortzufahren.
„Die Gefahr für ihre Herrschaft entsprang aus zwei Säulen. Zum einen aus dem Mangel an Licht, sowie dem damit verbundenen Versagen der Lichtmauer und ihrer psychokinetischen Kräfte und zum anderen aus dem Ansturm der Ungeprüften aus dem Schlamm. Genau da müssen wir wieder ansetzen, wenn wir Erfolg haben wollen. Wenn wir uns …“
„Tut mir leid, wenn ich dich unterbreche, Olevan“, warf Nojun ein, „aber dir ist schon bewusst, dass die Rilandi gerade auf dem Zenit ihres Einflusses sind? Wir kontrollieren oder beeinflussen den Glauben tausender Welten und das Licht quillt uns quasi zu den Ohren raus. Das ist also eine vollkommen andere Situation als damals. Und was unsere Fädenkräfte betrifft, …“
„Würdest du mich bitte meinen Plan vorstellen lassen und ihn erst dann zerpflücken?“, fragte ich mehr schmunzelnd als wirklich verärgert. Nojun konnte durchaus sehr leidenschaftlich sein, wenn er sich in Rage redete und ich konnte mir im Moment sehr gut vorstellen, welche Anziehungskraft er einst auf seine Freier ausgeübt hatte. Für einen Moment dachte ich, dass ich meine erste homosexuelle Erfahrung weitaus lieber mit ihm als mit dem Kotzbrocken Tannvan genossen hätte. Doch den Gedanken verdrängte ich schnell. Nicht, weil ich mich dafür schämte, sondern weil es gerade Wichtigeres zu diskutieren gab.
„Entschuldigung“, sagte Nojun.
„Schon gut“, erwiderte ich und fuhr fort, „also, mir sind die Hindernisse durchaus bewusst. Ich weiß, dass die Rilandi nicht mehr so schwach sind wie damals, zumindest hatte ich bislang nicht diesen Eindruck. Aber um den Lichtstrom zum Versiegen zu bringen, muss man nicht unbedingt die Quelle austrocknen. Es reicht vollkommen, wenn wir verhindern, dass die Energie genutzt werden kann.“
„Du willst die Webmaschine zerstören?“, fragte Nojun und es ließ sich unmöglich sagen, ob er entsetzt oder beeindruckt war.
„Das auch“, sagte ich nicht ohne Stolz, „aber vor allem will ich die Scyonen befreien.“
Nun war es definitiv Entsetzen, das ich auf Nojuns Gesicht lesen konnte. „Das wäre reinster Selbstmord. Scyonen sind böse, unberechenbare, gefährliche Kreaturen. Wenn du sie befreist, gibt es ein Massaker.“
„Ich kannte einst einen von ihnen“, sagte ich ruhig, „er wirkte auf mich recht vernünftig. Ein wenig starrsinnig vielleicht und niemand, mit dem man gerne abhängt, aber zumindest war er Argumenten zugänglich.“
„Du warst mit einem Scyonen befreundet?“, fragte Nojun, und wenn er nicht bereits auf dem Bett gesessen hätte, wäre er wohl vor lauter Unglauben umgekippt, „Rorak, Andrin, Kwang Grong, Gesunder, Scyonen“, zählte er auf und bewies, dass er erstaunlich gut über mich informiert war, „gibt es eigentlich irgendeine schlechte Gesellschaft, die du noch nicht genossen hast?“
„Wahrscheinlich“, sagte ich trocken, „als ich meinen Katalog abgab, war die Zahl der schwarzen Seiten noch recht dick. Außerdem fehlen die Rilandi noch in deiner Aufzählung.“
Ich grinste und kurz darauf prustete auch Nojun los. Es war ein zynisches, von Galgenhumor geprägtes Lachen, aber dennoch wirkte es befreiend und trug dazu bei, die bedrohliche Aura zu vertreiben, die für mich inzwischen alles in Uranor umgab, seit ich die Wahrheit über diesen Ort erfahren hatte.
Als wir uns wieder gefangen hatten, ergriff ich erneut das Wort. „Befreundet wäre zu viel gesagt. Aber wir haben uns arrangiert und deshalb glaube ich, dass die Scyonen nicht so unzuverlässig sind, wie du meinst.“
„Trotzdem sind es Monster“, beharrte Nojun nun wieder Bierernst, „als ich noch auf Braviania gelebt hatte, hat einer von ihnen den Sohn eines Nachbarn in seine verfluchte Moorwelt geholt. Der Mann war ein Mitglied der Ragkan-Kaste; ein Krieger. Trotzdem konnte er es nicht verhindern und sein Sohn wurde nie wieder gesehen. Die Scyonen tauchen nicht oft auf, aber wenn, dann richten sie nur Unheil an. Und selbst, wenn es unter ihnen einst vernünftigere Zeitgenossen gegeben haben sollte, so hat die lange Gefangenschaft und ihre Zwangsarbeit als Licht-Kanäle sie ganz bestimmt ihren Verstand gekostet. Sobald sie frei sind, werden sie blind auf jeden losgehen, den sie finden und sie werden keinen Unterschied zwischen ihren Befreiern und ihren Sklavenhaltern machen. Wenn überhaupt, müssten wir direkt bei der Webmaschine ansetzen.“
„Wenn du meinst“, sagte ich enttäuscht, auch wenn ich zugeben musste, dass Nojuns Logik erneut entwaffnend war, „die Scyonen zu befreien schien mir vergleichsweise einfach zu sein, immerhin müssten wir dafür nur ein wenig Glas zerbrechen …“
Ich stockte kurz, weil ich mich fragte, ob ich Nojun mit dieser Formulierung beleidigen würde, aber da er nicht reagierte, fuhr ich fort.
„… und den Rest würden die Scyonen für uns erledigen. Die Maschine hingegen erschien mir äußerst stabil. Wahrscheinlich bräuchte man gutes Werkzeug und eine Menge Leute, um sie außer Kraft zu setzen.“
„Nicht nur das“, erwiderte Nojun. „Die Webmaschine anzugreifen, erscheint mir grundsätzlich wie ein guter Plan. Zumal ihre Zerstörung eine Rückkopplung auslösen sollte, die bis hinab in die Sucher-Kammer reichen und dort ein ziemliches Durcheinander anrichten würde. Leider können wir sie auf dieser Ebene überhaupt nicht zerstören. Die Webmaschine existiert in zwei Welten. Doch um sie zu vernichten, müssten wir in die Schattenebene, ins Geflecht gehen, wie sie auch genannt wird. Erst wenn sie dort zerstört wurde, könnten wir sie auch im hier im Licht angreifen.“
„Das klingt unangenehm“, gab ich zu, als ich an das düstere Haus und die starrenden, ausgezehrten Seelen dachte, „aber ich war schon an vielen unangenehmen Orten.“
„Du hast keine Ahnung“, mahnte Nojun, „was du bisher vom Geflecht gesehen hast, ist ein Witz. Aber selbst, wenn alles nach Plan läuft, wir das Licht zum Versiegen bringen, die Lichtkräfte – inklusive unserer eigenen – schwächen und die Ungeprüften in die Festung stürmen, haben wir noch nicht gewonnen. Du vergisst, dass die letzte Rebellion trotz einer besseren Ausgangslage gescheitert ist. Das lag vor allem am Allrichter. Er ist vielleicht nicht unbesiegbar, aber nah dran. Bisher kennst du ihn als zwar ehrfurchtgebietenden aber gütig erscheinenden Herrscher, aber wenn er in die Enge getrieben wird, ist sein Zorn furchtbar. Dann kann er es allein spielend mit Hunderten aufnehmen. Und auch der schwarze Malmer wird seinen Teil beitragen.“
„Dann brauchen wir noch mehr Leute“, überlegte ich, „es gibt nicht nur die Ungeprüften im Schlamm. Es gibt auch die Hallen der Prüfung. Auf jeder ihrer Ebenen liegen doch sicher eine Menge potenzieller Verbündete im Schlaf. Meinst du, man könnte sie wecken?“
Nojun runzelte nachdenklich die Stirn, „ja, jeder halbwegs erfahrene Rilandi könnte das, wenn er etwas Zeit hat. Allerdings wird die Halle von den Hirten bewacht, deren Kampfkunst selbst ohne Unterstützung des Lichts nicht zu unterschätzen ist. Und falls es uns gelingen würde, einige der Träumer zu wecken ist es schwer vorauszusagen, wie sie reagieren würden. Immerhin haben sie lange geglaubt ganz woanders zu sein und haben schmerzvolle Kämpfe und Prüfungen in ihrem Kopf ausgetragen. Du weißt sicher selbst noch, wie du dich gefühlt hast, als du aus deiner Illusion erwacht bist. Tut mir leid das zu sagen, Olevan, aber verzweifelte Schlammkriecher und verwirrte Gefangene einer Scheinrealität bilden kein sehr zuverlässiges Heer.“
„Mag sein“, sagte ich, „aber es ist das einzige, das wir aufstellen könnten. Außer natürlich, dir ist es gelungen einen Teil der Rilandi auf unsere Seite zu ziehen.“
Nojun machte ein verlegenes Gesicht. „Einen Teil gewiss“, sagte er, „aber keinen großen. Slizza wäre auf jeden Fall dabei, Gorweo konnte ich überzeugen, sowie eine Handvoll anderer, bei denen ich häufiger Gewissensbisse oder Zweifel bemerkt habe. Insgesamt wären wir zehn. Dich und mich eingerechnet. Einige weitere habe ich noch im Blick, bin mir aber noch nicht sicher genug, um sie zu kontaktieren.“
„Das ist nicht sehr viel“, fand ich, wobei mir auffiel, dass er Ominee wohl bewusst nicht mitgezählt hatte, „aber ich denke trotzdem, dass es klappen kann. Einige der Leute im Schlamm machten einen sehr kampfstarken Eindruck und in der Halle schläft einer der gefährlichsten Krieger, den ich kenne. Wir treten dem Allrichter sicher kräftig in den Arsch.“
Nojun kicherte, doch seine Augen blickten fast traurig. „Weißt du, Olevan, eigentlich glaube ich eher, dass WIR am Arsch sind. Aber das ist mir egal. Ich habe dieses Leben schon vor deiner Ankunft kaum ertragen und nun bin ich mir sicher, dass ich es so nicht weiterführen will. Besser ich riskiere meine Existenz für dieses fast aussichtslose Unterfangen, als noch länger als nötig eine Lüge zu leben. Wenn wir verlieren, können wir den Rilandi vielleicht wenigstens etwas Schaden zufügen.“
Es gab doch nichts Besseres, als überzeugte Verbündete, dachte ich. „Und wenn wir gewinnen“, fragte ich, „wie geht es dann weiter?“
„Was meinst du?“, fragte Nojun zurück.
„Nun, wie hast du dir die Zeit nach der Revolution vorgestellt“, präzisierte ich meine Frage, „was geschieht mit den gestohlenen Seelen, was mit den Laarmaschk und den Rilandi, die sich gegen uns gestellt haben? Was wird aus dem Malmer und der Festung? Was aus den Scyonen? Und welche Ordnung und welche Ziele wollt ihr euch künftig geben?“
Nojun antwortete nicht, sondern sah mich etwas ratlos an. Ein wenig wirkte es fast, als wäre ihm meine Frage unangenehm.
„Ist das etwa etwas, über das DU noch nicht nachgedacht hast?“, neckte ich ihn.
„So ist es“, gestand er verlegen ein, „wahrscheinlich, weil ich es für unwahrscheinlich genug halte, je mit dieser Frage konfrontiert zu werden. Und sollten wir wirklich Erfolg haben, wird sich sicher ein Weg auftun. Hauptsache wir befreien das Multiversum von unserem unseligen Einfluss. Was danach kommt, ist zweitrangig.“
„Die meisten Revolutionen, die in meiner Welt mit dieser Einstellung begonnen wurden, haben die Lage nicht unbedingt besser gemacht“, gab ich zu bedenken.
„Das mag sein“, sagte Nojun nachdenklich, „aber sag mir, Olevan, nach allem, was du gesehen hast: Kann es wirklich noch schlimmer werden?“
Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

~o~

Nachdem Nojun wieder gegangen war, lag ich vollkommen allein auf meinem Bett und starte an die Decke, die nun nichts weiter zeigte, als eine nur von wenigen, matten Sternen unterbrochene Leere. Dieser Anblick war nicht eben reizvoll. Aber bei all dem Chaos, das in mir herrschte, kam mir dieses reizarme Bild durchaus gelegen. Umso mehr, da ich nur knapp eine Stunde Zeit hatte, um dieses Chaos zu sortieren. Dann nämlich begann eine neue Stunde der Schwärze und Nojun hatte darauf bestanden, dass wir an dem düsteren Ritual und den Feierlichkeiten danach teilnehmen sollten, um keinen Verdacht zu erregen. Ich konnte seine Argumentation zwar nachvollziehen und würde seiner Empfehlung folgen, aber auch wenn ich diesmal kein Teil der Speisung sein würde, hatte ich wenig Lust darauf, anderen dabei zuzusehen, wie sie zur Schlachtbank schritten.
Jeder Tag in Uranor schien gleich abzulaufen. Am Vormittag spielten die Weber mit ihrem kosmischen Experimentierkasten. Am Nachmittag folgte der Unterricht bei diesem Arschloch, Kollat. Dann wurden nach ein wenig erbaulicher Freizeit die Laarmaschk gefüttert, bevor nach rituellen Feierlichkeiten, lichtweingeschwängerten Orgien und langem Ausschlafen ein neuer Tag anbrach. Wären da nicht die düsteren Aspekte dieses Lebensstils gewesen, kam das meiner Vorstellung von einem perfekten Studierendenleben recht nahe, aber ich konnte mir durchaus vorstellen, dass es einen nach Wochen, Monaten, vielleicht auch erst nach Jahren veränderte und aushöhlte. Diese Mischung aus Ausschweifungen und Konzentration, Dramatik und Besinnung, Schrecken und Freude, Ritualen und Kreativität musste fast zwangsläufig dazu führen, dass man sich für mächtig und auserwählt hielt.
Sie war wie geschaffen dafür einem das Mitgefühl auszutreiben und Wesen wie Tannvan oder Kollat hervorzubringen. Umso bemerkenswerter fand ich es, dass Nojun diesem Wahn noch nicht verfallen war.
Die Bosheit der Rilandi hatte jedenfalls ganz besondere Qualitäten. Die Andrin wussten wenigstens, dass sie grausam waren und standen dazu. Auch die Rorak verbargen ihren Blutrausch und ihre Eroberungslust nicht und ich war mir sicher, dass die meisten Gesunder sich nicht für gütige, selbstlose Heiler hielten. Andere, wie die Kannibalen von Dank Qua waren Gefangene ihrer Umstände. Die meisten Rilandi hingegen, glaubten ihrer eigenen Propaganda und waren davon überzeugt, dass sie für das Gute standen. Das machte sie vielleicht nicht bösartiger als die genannten, aber definitiv gefährlicher. Und unsympathischer.
Diese Gedanken brachten mich zurück zu unserer kleinen Revolution. Irgendwie schienen mich meine Reisen in letzter Zeit immer an einen Punkt zu führen, an dem ich große Veränderungen in der Welt bewirkte, in der ich mich aufhielt. Falls ich das hier überleben sollte, war ich Teil von zwei Revolutionen und einem Krieg gewesen. Keine schlechte Bilanz für ein gelangweiltes Dorfkind. Die erste Revolution in Hyronanin war jedoch gescheitert. Würde das mit dieser hier ebenfalls geschehen? Ich musste erneut an meinen Traum denken, der mich nach meiner Ankunft in Uranor befallen hatte. „Du kannst uns doch nicht mit all dem Chaos, mit all dem Leid, dass du angerichtet hast, zurücklassen“, hatte mein jüngeres Ich zu mir gesagt. Und ich hatte geantwortet: „Ich bin ein Fortgeschrittener. Genau das ist es, was wir tun.“
Konnte ich diesen Teufelskreis wirklich durchbrechen und wenn ja, war diese Revolution der erste, richtige Schritt dahin oder ein Verfallen in alte Gewohnheiten? Warum nur mussten die Dinge so verdammt kompliziert sein?
In diesem Moment wünschte ich mir wieder bei meinen Eltern zu sein. Einfach das geordnete Leben und die Sicherheit meines Zuhauses zu genießen und mich um jene zu kümmern, denen ich etwas bedeutet hatte. Andererseits war das im Grunde nichts als eine bloße, infantile Gedankenspielerei. Es hätte keine zwei Tage gedauert, bis ich mich dort wieder gelangweilt und mich nach der weiten Welt und den noch viel größeren Weiten des Multiversums gesehnt hätte. Ich war nicht dafür geschaffen sesshaft zu sein. War es hier in Uranor nicht sogar ganz ähnlich? Im Moment mochte alles noch neu und spannend sein, wenn auch auf grauenhafte Weise. Aber ich war auch erst seit relativ kurzer Zeit hier. Hätte ich mich in mein Schicksal und mein neues Leben hier gefügt, wäre all dies nach Wochen oder Monaten ganz bestimmt zur Routine geworden. Die Sitzungen in der Webhalle hätten – ähnlich wie die Portalmaschine in Hyronanin für mein früheres Ich und die durch Elyvenne vermittelte Mentravia für Sandra – sicher ein wenig vom Fernweh abgelenkt. Sie wären mein Methadon gewesen, aber ich fragte mich ehrlich, ob mir das auf Dauer gereicht hätte und konnte diese Frage nicht guten Gewissens mit „Ja“ beantworten.
Vielleicht, dachte ich, war mein Antrieb nicht der Kampf für Gerechtigkeit, sondern der Kampf gegen die Langeweile. Womöglich nutzte ich diese Welt und mit ihr das ganze Multiversum nur dafür aus, um mich besser zu fühlen. Dieser Gedanke erschreckte mich. Natürlich war meine aktuelle Situation eine etwas andere. In Hyronanin hatte meine Sünde darin bestanden alle anzulügen und mich aus dem Staub zu machen, als die Lage unangenehm wurde und in Konor hatte ich nicht einmal versucht die Dinge zu verbessern, sondern sie, ganz im Gegenteil, zu verschlechtern.
Hier und jetzt hingegen wollte ich wirklich und aufrichtig gegen ein Unrecht vorgehen. Doch ein schaler Nachgeschmack blieb trotzdem. Besonders, da ich in letzter Zeit immer häufiger an den Katalog dachte. Ich würde in jedem Fall herausfinden müssen, wo Onyra ihn versteckt hatte. Doch wenn ich ihn wiederbekam – das schwor ich mir – würde ich mich diesmal nicht einfach so aus der Verantwortung stehlen. Jedenfalls nicht, solange unser Plan auch noch die geringste Aussicht auf Erfolg hatte. Ich würde Nojun nicht fallenlassen, wie einst Garwenia und ich würde Uranor nicht als rauchenden Trümmerhaufen zurücklassen, sondern Nojun beim Wiederaufbau helfen, bevor ich erneut dem Ruf der Ferne folgte. Und ich würde auch meine anderen Reisegefährten nicht im Stich lassen. Sandra würde ihren Weg ohnehin fortsetzen, ob nun mit mir oder ohne mich. Aber von Pingo würde ich mich ordentlich verabschieden. Selbst, wenn ich ihn weder mitnehmen noch seine Krankheit heilen konnte, so konnte er ja vielleicht seinen Weg ins wahre Jenseits fortsetzen. Falls dies nicht von selbst geschah, wenn die Webmaschine zerstört wurde, so fand ich vielleicht gemeinsam mit Nojun eine Möglichkeit das zu erreichen. Dasselbe galt für Ominee, sowie Garwenia, Korf und Scavinee, die noch in den Hallen der Prüfung warteten. Sie alle hatten etwas Besseres verdient, als diesen Ort hier und da ich sie alle direkt oder indirekt hierhin gebracht hatte, lag es auch in meiner Verantwortung sie von hier fortzubringen.
Womöglich hatte Nojun recht damit, dass ich wieder Adrian werden musste. Olevan war schwach und folgsam, zweifelnd und pazifistisch und damit niemand, der Veränderungen herbeiführen konnte. Vor allem aber war Olevan eine Rolle, eine Maske, hinter der ich mich erholen und neu sortieren konnte. Doch dahinter, das wusste ich, war ich noch immer Adrian. Auch wenn selbst er nicht meine wahre Identität war, war er doch inzwischen der wesentliche Kern meines Selbst und ihn zu verleugnen brachte nichts. Das hieß jedoch nicht, dass ich jede schlechte Gewohnheit von ihm wieder annehmen musste. Ich musste meinen Antrieb einfach aus Neugier und Sehnsucht ziehen, nicht aus Arroganz und Herrschsucht.
Mit diesem Gedanken gelang es mir, die Unruhe in mir etwas niederzukämpfen und da mir noch etwa dreißig Minuten bis zum Beginn der Stunde der Schwärze blieben, nahm ich erneut ein Bad in dem schimmernden Nichtwasser, bei dem ich ganz bewusst versuchte an nichts zu denken. Vor allem nicht daran woher dieses Wasser stammte und wie es im Geflecht aussehen mochte.

~o~

Kurz darauf stand ich neben Nojun auf der Wolkenstraße, unweit von jenem Ort, an dem die Speisungen stattfanden und blickte in die entgegengesetzte Richtung, aus der sich zwei Gestalten näherten, die an den widerlichen schwarzen Schnüren befestigt waren. Der Himmel über uns war erneut verdunkelt und auch wenn ich diesmal nicht Teil des grauenhaften Rituals war, vernahm ich das Anti-Om, das wie die dröhnende Schwingung einer verfluchten Klangschale in meinem Schädel widerhallte. Die Atmosphäre war friedvoll und andächtig und zugleich krankhaft und bedrohlich. Wie eine verdrehte Meditation, die den Geist schwächte und verwirrte, anstatt ihn zu klären.
Neben mir und Nojun erblickte ich auch Gorun, Herreth, Kollat, Tannvan und Slizza unter den Schaulustigen. Ominee und Ninvinee konnte ich hingegen nirgends entdecken.
Die beiden Verdammten kamen rasch näher – mutmaßlich um dem schmerzhaften Ziehen der schwarzen Nabelschnüre zu entgehen – und so sah ich schnell, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelte, die sich an den Händen hielten. Ein Paar womöglich, dachte ich, oder entsprang diese Geste reiner Verzweiflung?
Beide ließen sie noch einen bravianischen Ursprung erkennen, auch wenn ihre Körper fast vollständig gläsern waren. Lediglich ihre Augen bestanden aus Fleisch und Blut. Sie waren von einem tiefen Grün bei dem Mann, der seine gläsernen Haare zu einem dichten Zopf zusammengebunden hatte und von einem sanften Rot bei der Frau, die ihr Haar kurz trug. In diesen Augen las ich mehr als nur bloße Angst vor dem Unbekannten oder vor einem barbarischen Ritual. Ich sah Abschied.
Das Wissen darum, dass das, was auch immer sie gehabt hatten, das, was sie inmitten des kalten Glanzes von Uranor gewärmt hatte, jetzt endgültig enden würde. Schon bald würden sie durch Laarmaschk ersetzt werden und das wussten sie.
„Die beiden heißen Gornora und Harwenn“, flüsterte Nojun mit belegter Stimme in mein Ohr, „Sie gehörten zu denen, die ich noch als Mitstreiter im Auge gehabt hatte. Anscheinend wären sie die Richtigen gewesen.“
Ich sah mir die anderen Anwesenden genauer an. Slizzas Echsenaugen versprühten aufrichtiges Mitleid, das den kaltblütigen Ruf ihrer tierischen Vettern Lügen straften. Gorweos Mine war zu einer schwer zu deutenden Maske versteinert, hinter der sich alles verbergen konnte. Kollat besaß die Frechheit sich ein breites Grinsen zu erlauben. In puncto Schadenfreude und Sadismus hätte er sich sicher blendend mit On-Grarin verstanden. Herreths Gesicht war da schon neutraler, jedoch glaubte ich auch bei ihr ein ganz schwach angedeutetes Lächeln zu erkennen. Kein Wunder, dachte ich, falls sie tatsächlich ein Laarmaschk war.
Gorun zeigte von allen Webermeistern noch die menschlichste Reaktion. Er zeigte sich verlegen und unangenehm berührt und vermied es die beiden Unglücklichen genauer anzusehen. Stattdessen blickte er unruhig in der Gegend umher, auf den aus Wolken geformten Boden und schließlich in den sternengesprenkelten Himmel. Hatte Gorun Sympathie für die beiden empfunden? Gab es so etwas unter den altgedienten Rilandi überhaupt? Mein eigener Blick folgte Gorun für einen Moment zu dem fremden Firmament. Früher hatte der Anblick dieser unendlich fernen Leuchtkugeln immer meine Sehnsucht geweckt, hatte mir farbenfrohe Bilder von fantastischen und aufregenden Orten in meinen Geist gemalt. Gerade jedoch waren die Sterne nichts weiter als kalte, gleichgültige Punkte im Nichts. Schwache, verdreckte Scheinwerfer, die die Bühne für eine große Ungerechtigkeit erhellten.
Gornora und Harwenn waren nun fast auf gleicher Höhe mit mir und ich hatte Angst davor, dass sie mich ansehen könnten. Dass ihre Augen um eine Hilfe flehen könnten, die ich ihnen nicht geben konnte, ohne alles zu gefährden, was wir planten. Doch sie blickten lediglich einander an und es dauerte nur einige Augenblicke, bis sie vorüber waren und auf den lichtlosen Strudel zustreben, hinter dem ihr Verderben wartete. Sie wehrten sich nicht, begehrten nicht dagegen auf. Dafür hatten sie das hier wohl schon zu oft miterlebt. Sie wussten, dass es kein Entkommen gab.
„Das muss enden“, flüsterte Nojun neben mir und ich nickte.
Während ihre Körper den Strudel fast erreicht hatten und das ungute Brummen sich zu einem fast schon ohrenbetäubenden Lärm gesteigert hatte, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass sie mit ihren gläsernen Leibern immerhin die Hitze nicht so spüren würden wie ich damals, auch wenn das sicher nur ein schwacher Trost war. Plötzlich fühlte ich etwas Kaltes an meiner Hand. Glas. Aber nicht das doch relativ warme und auch leicht nachgiebige Glas von Nojuns Hand, sondern Glas, welches so hart und kalt war, wie ich es kannte.
„Schau nicht hin“, warnte Nojun mich, „aber nimm es vor den Feierlichkeiten zu dir. Bevor du den Lichtwein trinkst.“
Ohne eine Regung zu zeigen umschloss ich die Flasche in meiner Hand und ließ sie in die Tasche meines Rilandi-Gewandes gleiten.
Inzwischen hatte der Strudel das Paar verschluckt und während ich wie hypnotisiert auf den hässlichen Malstrom starrte, aus denen schon bald zwei weitere Laarmaschk entsteigen und die Körper und Eigenheiten von Gornora und Harwenn übernehmen würden, dachte ich wieder daran, wie nah ich diesem Schicksal selbst schon gewesen war und wie nah ich ihm immer noch war.

~o~

Die Stunde der Schwärze war genauso schnell verflogen, wie sie gekommen war, auch wenn mir jede einzelne Sekunde davon Qualen bereitet hatte. Die beiden Laarmaschk, die sich nun als Gornora und Harwenn ausgaben und ihre Identität stolz wie Pfauen umhertrugen, glichen ihren Opfern bis auf ein Detail: Sie hielten sich nicht die Hände, interessierten sich vielmehr nicht die Bohne füreinander. Die Zuneigung zwischen den beiden schienen sie offenbar nicht kopiert zu haben und sich auch nicht die Mühe zu machen, sie zu imitieren. Wenn sie schon immer so sorglos mit solchen Dingen umgegangen waren, wunderte es mich, dass nicht jeder Rilandi genau wusste, wer von ihnen ein Laarmaschk war. Aber vielleicht war dies auch erst seit Kurzem so. Vielleicht spürten die Laarmaschk, dass eine Veränderung nahte, dass alles auf eine Entscheidung hinauslief.
In diesem Zusammenhang beunruhigte es mich auch, dass die beiden mich immer wieder angesehen hatten, fast so als wüssten sie etwas von meinen Plänen. Vielleicht hing das aber auch mit der ungewöhnlich harten Bestrafung zusammen, die ich bei meiner bislang ersten und einzigen Speisung erfahren hatte. Falls diese nicht einfach Zufall war oder der Schändlichkeit von „Blasphemie“ in der Rilandi-Gesellschaft geschuldet war, konnte es durchaus sein, dass die Laarmaschk ein besonderes Interesse an mir hegten. Immerhin war Herreth, die meine Strafe angeordnet hatte, zumindest dem Vernehmen nach eine von ihnen.
Wie viele dieser finsteren Doppelgänger mochte es hier schon geben? Würden sie früher oder später die wahren Herrscher über Uranor sein und war unser Kampf gegen die Rilandi und ihre Praktiken nur der Auftakt zum Kampf gegen eine viel größere Bedrohung?
Wie dem auch sei – Ich war froh, dass das hier auf die ein oder andere Art bald für mich enden würde. Ich wusste nicht, ob ich noch eine weitere Stunde der Schwärze ertragen würde.
Was die Feierlichkeiten betraf, so war das nicht viel anders. So interessant die letzte Nacht unter dem Einfluss des Lichtweins auch gewesen sein mag, so hatte ich absolut keine Lust darauf mich erneut in diese falsche Harmonie zu flüchten. Insofern war ich froh, dass Nojun mir dieses ominöse Mittel besorgt hatte. Da ich es nicht riskieren wollte bei meinem Konsum gesehen zu werden, hatte ich den Tumult nach der Geburt der neuen Laarmaschk genutzt, um es mir rasch einzuverleiben. Dabei hatte es mich eine Menge Beherrschung gekostet, die Substanz nicht augenblicklich hustend auszuwürgen, da sie wirklich extrem bitter schmeckte, aber immerhin wusste ich jetzt, dass ich einen klaren Kopf behalten würde.
Als die Feierlichkeiten begannen, war von Kollat und Herreth erneut nichts zu sehen. Beide schienen eher die Abgeschiedenheit der Räumlichkeiten zu bevorzugen, in denen sie tätig waren. Bei Kollat war das noch gut durch seine Fremdenfeindlichkeit und allgemeine Arschlochhaftigkeit zu erklären. Was Herreth betraf, so tippte ich erst darauf, dass es daran lag, dass sie ein Laarmaschk war, als ich jedoch feststellte, wie fröhlich sich Gornora und Harwenn unters Volk mischten und mit den anderen (nur nicht miteinander) lachten, sprachen und flirteten, verwarf ich diese Theorie wieder.
Während Nojun mit einigen mir weniger gut bekannten Glaswesen zusammensaß und entweder nach neuen Mitstreitern Ausschau hielt oder schlicht keinen Verdacht erregen wollte, saßen ich wieder genau mit der gleichen Runde zusammen, wie schon am letzten Abend. Also mit Ominee, Ninvinee, Tannvan, Gorweo und Slizza.
Auch hier kämpfte ich darum mich nicht verdächtig zu benehmen, und die Anwesenden weder auffällig lange anzustarren, noch ihren Blicken auszuweichen. Das gestaltete sich jedoch nicht so ganz einfach. Während ich bei Slizza, Gorweo und Tannvan wusste, woran ich war, war es bei den beiden ehemaligen Jyllen komplizierter. Denn auch, wenn ich bezüglich Ominee nicht so skeptisch war wie Nojun, so waren dessen Zweifel doch ein Stück weit in mir aufgegangen. Entsprechend fragte ich mich, ob es eine gute Idee gewesen war, sich ihr zu offenbaren und suchte immer wieder in ihrem Gesicht nach Anzeichen, die mir zeigten, ob ich hier eine Feindin oder eine Freundin vor mir hatte. Ninvinee hingegen war zwar kein Teil unserer Verschwörung, aber sie und Ominee waren befreundet, und je nachdem auf welcher Seite Ominee stand, könnte sie eine Verbündete oder eine Gefahr sein. In jeder Kopfdrehung, jedem Blinzeln, jeder leichten Regung der Nackenspitzen versuchte ich einen Hinweis zu finden, aber entweder verstand ich einfach zu wenig von der Mimik der Jyllen oder die beiden Frauen hatten sich zu gut im Griff.
„Eine vergnügliche Speisung“, freute sich Tannvan wie ein adeliger Geck, der über einen besonders prachtvollen Ball sprach, „interessanter noch als deine, Olevan. Ohne dir damit zu Nahe treten zu wollen.“
Der blasierte, unsympathische Glasmann sah mich herausfordernd an und mir war durchaus bewusst, dass er mich zu möglicherweise gefährlichen Worten reizen wollte.
„Meine Speisung gehört nicht zu den Dingen, mit denen ich mich brüste“, antwortete ich möglichst unverfänglich.
„Das ist vielleicht auch besser so“, erwiderte Tannvan, „jeder, den so eine Schande ereilt, sollte sich in Grund und Boden schämen und sich freiwillig von den Wolken stürzen, wenn er auch nur ein bisschen Würde im Leib hat. Davon abgesehen reichte euer unbeholfenes Rumgestolper nicht annähernd an dieses Spektakel heran. Wie die beiden sich angeschmachtet haben, bevor sie ersetzt wurden, hatte fast etwas Poetisches.“
„So wie du dich darüber freust, dass unsere Zahl abnimmt und die der Laarmaschk wächst, könnte man fast meinen, du wärst einer von ihnen“, bemerkte Slizza trocken.
„Ganz im Gegenteil“, widersprach Tannvan entrüstet, „ich verachte diese Kreaturen. Aber noch mehr verachte ich Rilandi, die ihren Aufgaben nicht gerecht werden. Ginge es nach mir, würde man sie von den Wolken herabstoßen wie in den alten Zeiten, aber ich muss zugeben, dass diese Kopien ihren Nutzen haben. Außerdem würde es mir nie in den Sinn kommen die Entscheidungen des Allrichters zu kritisieren und er hält dieses Verfahren nun einmal für angemessen.“
„Das würde ein Laarmaschk womöglich auch sagen“, kommentierte Gorweo.
„Wäre es so, wäre es ein weiser Laarmaschk. Aber das wäre ja auch nicht verwunderlich, wenn es sich um eine Kopie von mir handelt“, antwortete Tannvan lachend.
Nicht zum ersten Mal verspürte ich große Lust Tannvan eine Kerbe ins Gesicht zu prügeln. Aber ich hielt mich bedeckt, was im Übrigen auch für Ominee und Ninvinee galt, die sich insgesamt aus dem Gespräch raushielten und auffällig still waren. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, fragte ich mich, kam aber erneut zu keiner klaren Antwort. Vielleicht hatte es auch gar nichts zu bedeuten.
Tannvan, der sich von allen Anwesenden am liebsten reden hörte, war anzumerken, dass er fieberhaft nach einem neuen Gesprächsthema suchte, aber bevor er eines finden konnte, begann Gorun seine Rede abzuspulen, die vom Wortlaut her fast exakt der glich, die er gestern gehalten hatte, gefolgt von dem rituellen Lied, welches ich diesmal textsicherer aber ohne große Begeisterung mitsang. Offensichtlich bot das Leben in Uranor wirklich nicht sonderlich viel Abwechslung. Zumindest nicht jenseits der Webhalle.
Interessant wurde es erst, als der Lichtwein ausgeschenkt wurde, denn nun würde sich nicht nur zeigen, ob Nojuns Mittel wirksam war, sondern auch, wer zu unserer kleinen Verschwörung dazugehörte.
Ich schätzte, dass Ominee, erneut dafür eingeteilt worden war, die Konsumdisziplin an unserem Tisch zu überwachen, aber sie hatte diesmal keine allzu schwere Aufgabe. Jeder einzelne von uns leerte das von Gorun gereichte Glas ohne zu zögern und so tat auch sie es uns gleich.
Nun hieß es warten, wenn auch nicht allzu lange. Schon bald zeigte sich bei Tannvan, aber auch bei Ninvinee jene Art von entrückter Euphorie, an der ich mich letzte Nacht ebenfalls berauscht hatte. Diesmal hingegen spürte ich nicht das geringste und während Tannvan und Ninvinee begannen miteinander zu tanzen, Gorun diverse, teils sehr schräge Lieder trällerte und viele anderen in ähnliche Verhaltensweisen verfielen, blieben auch Slizza, Gorweo und Ominee erfreulich nüchtern. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Offenbar war es kein Fehler gewesen sich Ominee anzuvertrauen.
Da sich die Masse der vom Lichtwein verführten schon bald zerstreute und wir uns – wie ich hoffte – außerhalb ihrer Hörweite befanden, hob ich zu sprechen an, jedoch brachte mich Ominee zum Verstummen, als sie den Zeigefinger auf ihre Lippen legte. Ich verstand. Im Moment war es noch zu riskant, um zu sprechen. Nur einige Augenblicke später stieß Nojun zu uns und brachte dabei sieben weitere nüchtern wirkende Rilandi mit. Offenbar war es ihm gelungen einige weitere Personen für unsere Sache zu gewinnen. Drei dieser Rilandi – zwei Frauen und ein Mann – waren augenscheinlich Wahrgeborene, was mir sowohl Respekt als auch Skepsis einflößte. Ich hätte eigentlich nicht erwartet, dass jemand, der in diesem System aufgewachsen war, es infrage stellte. Bei den anderen handelte es sich um einen männlichen Bravianer, eine Frau, die vom selben Volk wie Pingo stammen mochte und zwei weibliche Angehörige eines mir unbekannten, jedoch durchaus bemerkenswerten Volkes. Dort, wo das Glas noch nicht die Vorherrschaft übernommen hatte – was im Wesentlichen ihre Gesichter und Teile ihres Oberkörpers waren – war ihre Haut mit rötlichem, schmierig wirkenden Fell bewachsen. Ihre Gesichtszüge hatten dennoch nichts Tierhaftes an sich und wirkten zart, zerbrechlich und fast elfenhaft, auch wenn ihre Augen sehr speziell waren und aus vielen kleinen dunklen Löchern bestanden, hinter denen sich winzige Pupillen bewegten. Fast ließen sie mich an Bilder denken, die ich zum Thema Trypophobie – der Angst vor regelmäßigen Löchern – im Internet gesehen hatte. Ihre Münder waren hingegen zu einem fast künstlichen Lächeln verzerrt, welches fest in ihr Gesicht hineingegraben zu sein schien. Abgerundet wurde dieses bizarre Bild von einer Art gelblichen, schleimig glänzenden Eiersack, den jeder von ihnen am Bauch trug, der mit kleinen weißen Kugeln gefüllt war und von dem von Zeit zu Zeit zuckende Bewegungen ausgingen.
Ich könnte nicht behaupten, dass ich die beiden auf Anhieb sympathisch fand, aber ich brauche wohl nicht zu betonen, dass Taten weit mehr zählten als die äußere Erscheinung, und das sie sich unserer Gruppe angeschlossen hatten, sprach für sie. Zunächst wunderte es mich, dass sie mir bislang weder bei den Sitzungen mit Herreth, noch bei Kollats Unterricht aufgefallen waren, aber dann fiel mir wieder ein, was Nojun mir einmal erklärt hatte. Nämlich, dass es zwei verschiedene Weber- und Unterrichts-Gruppen gab. Unsere Gruppe arbeitete am Vormittag und lernte am Nachmittag und bei der anderen war es umgekehrt. Die beiden mussten zu letzterer Gruppe gehören.
Im Recriondo hingegen mussten mir ihre Anwesenheit schlicht entgangen sein. Womöglich war ich da zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
Als Nojun mich erblickte, nickte er mir zu, auch er sprach jedoch kein Wort. Dann sah er sich ein weiteres Mal im Recriondo um und schien wie ich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass alle außer uns im Sinnestaumel gefangen waren und sich nicht sonderlich für uns interessierten. Schließlich gab sich Nojun einen Ruck und führte uns die Wolkenstraße hinab, in der die Wohnsiedlung lag, zu einem der kleinen Häuser welches schräg gegenüber von meinem eigenen lag. Als wir dort eintraten, wusste ich sofort, dass es sich um Nojuns Wohnung handeln musste und das nicht nur, weil er es war, der uns hierhin geführt hatte. Dabei unterschied sie sich nicht mal großartig von meiner eigenen, wenn man von einem kleinen Tisch mit verschiedenen Flaschen und Schalen absah, in denen sich Flüssigkeiten und Pülverchen verbargen. Der Arbeitsplatz eines Alchemisten oder eines Chemikers, überlegte ich.
„Stammt von dort das Mittel, das die Wirkung des Lichtweins bei uns neutralisiert hat?“, fragte ich Nojun leise, nachdem wir alle in die nun hoffnungslos überfüllte Wohnung eingetreten waren und dieser die Tür geschlossen hatte.
Nojun nickte.
„Beeindruckend“, sagte ich aufrichtig, „und die Webermeister lassen dich hier einfach so forschen?“
Erneut nickte Nojun, „altgedienten Mitgliedern unserer Gemeinschaft wird ein Hobby gestattet, um sie bei Laune zu halten. Dies ist meines. Ich war nicht nur ein Lustknabe, damals in Braviania. Meine Kaste, die Nium-Kaste, hatte mir dies zwar verboten, aber trotzdem hatte ich mich für die Macht der Elemente interessiert und in dieser Richtung geforscht. Hier in Uranor hat niemand etwas gegen diese Betätigung und selbst wenn es anders wäre; über die Privatsphäre in unseren Häusern hatte ich dich ja schon aufgeklärt.“
„Aber wenn es hier so sicher ist, warum sollten wir uns dann zu unserer letzten Besprechung in dieser Schattenwelt treffen?“, warf ich ein.
„Weil das noch immer die beste Lösung ist, wenn man sich zuverlässig vor den Ohren der Webermeister und von jenen schützen will, die an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern wollen“, erklärte Nojun, „jedoch müssen wir uns nicht allein vor ihren Ohren verbergen.“
„Du redest von den Laarmaschk?“, vermutete ich.
„Natürlich tut er das“, sagte eine der mir unbekannten Wahrgeborenen. Sie war hager, mit strengen Gesichtszügen, und hatte ihre gläsernen Haare zu einem Dutt gebunden, „ihre Zahl nimmt immer weiter zu und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie versuchen die Herrschaft in Uranor an sich zu reißen. Ihre Augen und Ohren sind inzwischen überall. Sie sind die größte Bedrohung für unsere uralte Kultur und Lebensweise. Größer sogar als eure lächerliche Revolution.“
Der Frau entging offenbar nicht, dass ich überrascht eine Augenbraue hochzog.
„Ja, du hast richtig gehört, Olevan“, antwortete die Unbekannte, „Ich halte das, was wir tun für eine wichtige Stütze für die Stabilität des Multiversums. Ohne Glauben, ohne spirituellen Halt sind wir alle kaum mehr als Tiere. Und ohne unseren segensreichen Einfluss werden Atheismus, Chaos und wilde, unkontrollierte Kulte grassieren. Das werde ich nicht zulassen.“
Ich sah ein wenig vorwurfsvoll zu Nojun herüber. Er brachte ernsthaft solche Leute in unsere Bewegung aber kritisierte mich wegen Ominee? Wenn es nicht so gefährlich gewesen wäre, hätte ich darüber lachen müssen. Nojun zuckte jedoch lediglich mit den Schultern.
„Deine Einstellung in allen Ehren, …“
„… Ranscha“, stellte sich die Frau vor.
„… Ranscha“, wiederholte ich, „aber wenn du so denkst, was machst du dann hier und warum bist du nicht mit einem der Webermeister hierhergekommen, um uns alle bestrafen zu lassen?“
„Weil dies nur zu mehr Laarmaschk führen würde und das ist das Letzte, was ich, Treva und Fromik wollen“, antwortete sie und zeigte auf die beiden anderen Wahrgeborenen an ihrer Seite, eine kleine Frau mit weichen Gesichtszügen und offenen, langen Haaren und einem Mann mit Kurzhaarschnitt und ordentlich gestutztem Kinn- und Schnurrbart.
„Der Einfluss der Laarmaschk wächst ungehindert. Denn weder der Allrichter noch die Webermeister oder die führenden Vertreter der anderen Sinnpfade wollen etwas dagegen unternehmen. Im Gegenteil: Sie setzen sie immer häufiger als Strafe und Drohung ein und nicht zuletzt sind auch sie bereits unterwandert. Bei Herreth sind wir uns hier ziemlich sicher, aber bei den anderen können wir es auch nicht ausschließen. Wir verachten eure Einstellung und eure Ideale. Aber ihr seid die einzigen, die überhaupt etwas unternehmen wollen, dass den Laarmaschk schadet.“
„Euch ist hoffentlich bewusst, dass wir das System, welches ihr so bewundert, ebenfalls zerstören wollen“, sagte Slizza, die anscheinend nicht viel für Diplomatie übrig hatte.
„Das wissen wir“, antwortete Fromik, „aber was zerstört wurde kann man wieder aufbauen. Die Webmaschine, die Festung, ja sogar das Licht selbst sind verseucht von dieser schrecklichen Plage. Es ist besser sie auszumerzen und so rein und gut wiederaufzubauen wie sie einst waren. Oder sogar besser. Wenn die Laarmaschk bezwungen sind, mag ein neuer Kampf beginnen, doch bis dahin sind unsere Interessen vorerst dieselben.“
„Wer denkt hier noch so?“, fragte ich und sah fast automatisch Ominee an, die jedoch genauso wenig die Hand hob, wie die anderen Anwesenden. Immerhin, dachte ich etwas beruhigt.
„Gut“, sagte Nojun, „nachdem wir nun wissen, woran wir bei Ranscha, Treva und Fromik sind, ist es Zeit, dass sich der Rest von uns ebenfalls vorstellt. Mich kennt ihr ja bereits. Ich bin geborener Bravianer aus der Lumenn-Kaste, diene aber seit nunmehr fünf Jahren unter dem Licht und kann es nicht länger dulden, dass wir mit dem Multiversum spielen wie arrogante Kinder mit ihren Puppen.“
Allgemeines Nicken, außer von den drei wahrgeborenen Rilandi. Das zumindest war zu erwarten gewesen.
„Mein Name ist Slizza“, zischte die Echsenfrau, „Kriegerin und Entdeckerin aus dem Volk der Runar, geboren auf Indrar, einer der vielen Welten, die von den Rilandi gefesselt wurden und bereit diese Fesseln zu durchtrennen.“
Bei diesen Worten zuckten die wahrgeborenen Rilandi kurz zusammen. Sie schienen tatsächlich nicht allzu glücklich mit ihren Verbündeten zu sein. Ich hoffte, dass sich das nicht zum Problem entwickeln würde.
„Ich heiße Olevan“, stellte auch ich mich vor, „ein Mensch, geboren auf der Erde und einst ein Fortgeschrittener, ein Reisender zwischen den Welten. Ich bin noch nicht lange hier, aber ich habe genug gesehen und erlebt, um zu erkennen, dass Uranor nicht Licht und Liebe, sondern Unfreiheit verbreitet. Ich habe selbst häufig genug mit den Schicksalen anderer gespielt, um zu wissen, dass dies ein Irrweg ist. Beenden wir ihn.“
Mit Blick auf Ranscha und die anderen Wahrgeborenen war das sicherlich keine kluge Aussage, andererseits hielt ich es für besser, mich offen zu positionieren. Revolutionen waren nicht die Zeit für falsche Höflichkeit.
Als Nächstes trat Gorweo vor. „Mein Name ist Gorweo“, sagte er, „als Mitglied der Anruni-Kaste, der Forscher-Kaste von Braviania haben mich allein Selbsterhaltung und Neugier dazu getrieben, mich den Rilandi anzuschließen. Doch inzwischen habe ich erkannt, dass soziale Systeme zu komplex sind, als das biologische Entitäten darauf hoffen können durch deren Steuerung ein akzeptables Ergebnis zu erzielen. Deshalb sollten wir dieses Experiment abbrechen.“
Diese wenig emotionale Vorstellung führte nicht eben zu Begeisterungsstürmen, aber zumindest schien Gorweo auf unserer Seite zu sein. Irgendwie.
Nun meldete sich die recht muskulös gebaute Frau aus Rihn zu Wort. „Mein Name lautet Ninga“, sagte sie mit einer strengen, unnachgiebigen Stimme, „und meine Heimat ist Rihn. Auch wenn ich als Aufseherin in den Edelsteinminen gearbeitet habe und nicht in den Archiven, habe ich doch von Anfang an gewusst, was Uranor für ein Ort ist. Dennoch musste ich mich – wie auch Gorweo – anpassen, um zu überleben. Eine andere Wahl hatte ich nicht. Bis jetzt. Lasst uns in diesem Höllenloch aufräumen!“
Die Frau hätte sich in ihrer bestimmenden Art und ihrer kompromisslosen, herrischen Ausstrahlung nicht mehr von Pingo unterscheiden können und ich bezweifelte, dass die beiden sich gut verstehen würden, sollten sie sich je kennenlernen. Aber immerhin war sie klar in ihren Überzeugungen.
Der mir noch unbekannte Bravianer trat vor und noch bevor er den Mund öffnete, konnte ich an Gorweos Gesicht ablesen, dass er ihn wohl nicht sonderlich leiden konnte. Auch Ninga bedachte ihn mit einem wenig liebevollen Blick.
„Der hier is‘ Franno“, sagte er in einem rotzigen, beinah Korf-artigen Tonfall, „bin außer Nium-Kaste, dem Bodensatz vom alten Braviania. Hab lang genug erlebt, wie hohe Tiere auf mir rumtrampelten, dachte es wäre besser, wenn ich das selbst tun kann, aber es is kein Stück besser. Gibt Dinge, die kann man einfach nur in die Luft jagen. Dann isses gut für alle.“
Gorweo machte den Eindruck, als würde er genau das gerne mit Franno machen. Wahrscheinlich bravianischer Standesdünkel. Bei Ninga tippte ich eher darauf, dass die beiden eine gemeinsame Geschichte hatten. Womöglich war er Arbeiter in ihrer Mine gewesen.
„Danke Franno“, sagte Nojun und sah zu Ominee und den beiden seltsamen Fellgestalten hinüber.
Während die beiden fremdartigen Wesen beinah regungslos mit ihren lächelnden Mündern und ihren vielen, nervös umherschweifenden Augen in die Runde starrten, machte Ominee den Eindruck sich am liebsten in der Wand verstecken zu wollen. Dieses schüchterne, zurückgezogene Verhalten passte gar nicht zu der stürmischen, leidenschaftlichen Frau, die ich bisher erlebt hatte.
Und so waren es auch die beiden unbekannten Wesen, die zuerst sprachen, wobei „sprechen“ wohl der falsche Begriff hierfür ist. Zwar erklang plötzlich ein hoher, fast technisch anmutender Ton aus ihrer Richtung, während die beiden ihre Hände ausstreckten und ergriffen, jedoch war dies die einzige Lautäußerung, die sie von sich gaben. Anstelle von Worten sprossen lange knotige Zungen mit einer unschönen Verdickung am Ende aus ihren Mündern. Da ich im ersten Moment von einem Angriff ausging, begab ich mich sofort in eine Verteidigungshaltung, doch als ich die verwirrten Blicke der anderen Rebellen bemerkte, die mich ratlos taxierten, beruhigte ich mich etwas und kurz darauf stellte ich, fest, dass diese Geste einen völlig anderen Sinn hatte, als ich zuerst erwartet hatte. Die Knoten an ihren Zungen fächerten sich sternförmig auf, bevor sie sich weiter krümmten, verdrehten verformten und sich schlussendlich miteinander zu einem Muster verbanden, welches ich eindeutig als ein Wort erkannte. Die aus leicht gelblich schimmerndem, etwas feuchtem Fleisch geformten Buchstaben lasen sich als „Wir“.
„Tronhiire haben keine Stimmbänder im eigentlichen Sinne“, erklärte Nojun lächelnd, „aber sie haben andere Wege gefunden, um zu kommunizieren.“
Offensichtlich dachte ich, und ich konnte mir nur wenige Wege vorstellen, die widerlicher gewesen wären.
Die Zungen der Tronhiire formten sich erneut um und dann noch einmal und so begannen sich ganze Sätze zu ergeben. „Wir sind die Verbindung Zoenhir. Geboren auf Troh im wimmelnden Schoß, nahe der Endschwärze. Dreißig Jahre her. Gestorben am Hunger. Erwacht. Geprüft. Aufgenommen. Teil der Gemeinschaft. Seit zwei Jahren. Am falschen Ort. Für die falsche Sache. Hassen den Allrichter, hassen die Ordnung, hassen das Licht. Zeit zu handeln. Zeit für Freiheit und Chaos.“
Die Botschaft der beiden, die anscheinend eins waren, endete und ihre schreibfähigen Zungen zogen sich in ihre grinsenden Münder zurück.
Ich versuchte diese vollkommen absurde Gruppe hier irgendwie mit meiner Vorstellung einer heroischen Rebellentruppe in Einklang zu bringen, aber es gelang mir nicht.
Nojun blickte die apathische Ominee nun direkt an, deren Gesichtsausdruck sich in den letzten Minuten immer weiter verfinstert hatte. Ihr schienen unsere Mitstreiter genauso wenig zu gefallen wie mir. Erst als Nojun eine auffordernde Geste machte, trat sie vor. „Mein Name ist Ominee“, begann sie zögerlich, „eine der letzten Jyllen von Neu-Arganon und von ganz Konor. Meine Welt wurde zerstört. Meine Liebsten wurden vernichtet und ich … ich … habe hier in Uranor ein neues Zuhause gefunden, doch nun … nun …“
Sie geriet ins Stocken, blickte zu Nojun, der sie aufmunternd anlächelte, zur entschlossenen Slizza und zum distanzierten Gorweo, der Franno noch immer missbilligend ansah. Dann wanderte ihr Blick weiter zur herrisch wirkenden Ninga, der unheimlichen „Verbindung Zoenhir“, den drei wahrgeborenen Rilandi mit ihren eher unerwarteten Ansichten und zuletzt zu mir. Auch ich versuchte mich an einem Lächeln, aber selbst mir kam es aufgesetzt vor. Das alles hier fühlte sich einfach nicht richtig an. Jedenfalls nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Ominee blickte mich stumm an. Eine Sekunde. Zwei. Drei. Dann platzten die Worte aus ihrem Mund hinaus.
„… Nun weiß ich gar nichts mehr“, sagte sie mit Tränen in den Augen, stürmte zur Tür, vorbei am überrumpelten Nojun und schlug die Tür hinter sich zu.
„Ich habe es dir gesagt“, sagten mir Nojuns vorwurfsvolle Blicke.
Ich jedoch antwortete nicht, sondern folgte ihr.

~o~

Als ich Nojuns kleine Wohnung verließ, hüllte mich das Anti-Om, dieser gespenstische Urlaut der Unschöpfung wieder mit ungebrochener Intensität ein. Das verwunderte mich, da er eigentlich mit der Stunde der Schwärze verklungen sein sollte. War er schon letzte Nacht während unserer eigentlich so fröhlichen und unbeschwerten Litaar-geschwängerten Orgie erklungen und ich hatte es lediglich nicht bemerkt oder verschaffte sich die Dunkelheit, die unter dem Licht verborgen lag nun immer mehr Gehör? Ich wusste nicht, welcher Gedanke mich mehr beunruhigte. Ominee jedenfalls war nicht weggelaufen, wie ich es eigentlich befürchtet hatte, sondern stand nur ein paar Meter entfernt regungslos auf den Wolken und blickte hinauf zu den fremden Sternen, während ein leichter Wind ihre Kleidung aufbauschte.
„Ich schaffe das nicht“, sagte sie zu mir, noch bevor ich mich ihr ganz genährt hatte.
„Du glaubst gar nicht, wie oft ich diesen Gedanken schon gehabt hatte“, sagte ich zu ihr, während ich sie umrundete, um ihr direkt in ihr tränenverschmiertes Gesicht sehen zu können, „dennoch stehe ich hier.“
Nun wurden ihre Gesichtszüge hart und ihre Stimme klang alles andere als weinerlich und ich schämte mich für mein pseudoheroisches Machogehabe. Weder war ich ein strahlender Held, noch war Ominee eine hilflose Jungfrau, „es geht nicht um einen Mangel an Willensstärke, du Idiot. Du glaubst gar nicht, wie oft ich an meine Grenzen und darüber hinaus gegangen bin. Wüsste ich, wofür ich kämpfen soll, würde ich es kompromisslos durchziehen. Aber das weiß ich gerade nicht.“
„Warum?“, fragte ich sie offen, „Erkennst du noch immer nicht, wo du dich befindest? Hast du nicht den Schmerz dieses Paares gespürt, welches man den Laarmaschk geopfert hat? Hörst du nicht diesen dunklen Ton, der uns umgibt? Macht er dir keine Angst? Sollte sich so ein Ort des Lichtes anfühlen?“
„Du brauchst mich nicht überzeugen, Olevan“, sagte Ominee, „das hast du längst. Was ich noch an Illusionen gehabt hatte, hast du erfolgreich zerstört. Dieser Ort ist keine Enklave des Lichts, sondern ein Ort der Finsternis. Aber weißt du, was? Ich kenne nichts anderes. Ich habe mein Leben an einem solchen Ort begonnen.“
„Ich würde Neu-Arganon nicht als einen Ort der Finsternis bezeichnen“, wandte ich ein, „jedenfalls nicht bevor ich es dazu gemacht hatte.“
Ominee schüttelte den Kopf und ihre Nackenspitzen spannten sich, „Ganz Konor war eine Hölle, und das es in Neu-Arganon auch ein paar schöne Dinge gab, machte es fast noch schlimmer. Es gab uns etwas, dass wir verlieren konnten. Und wie wir verloren haben, immer und immer wieder. Ich habe unzählige Freunde und Anmella verloren. Ob nun an die Rorak, an unsinnige Gesetze oder an das Ausbrennen. Wir Jyllen waren nicht im Paradies. Wir waren Teil einer gewaltigen Brennstofffabrik, die immer wieder neue Seelen in kurzlebige Leiber stopfte, um die Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten. Weißt du, Olevan, ich glaube langsam nicht mehr, dass es irgendwo im Multiversum einen Ort gibt, der besser ist als ein anderer. Die meisten sind dazu bestimmt ihr Leben lang in derselben Hölle zu brennen. Andern ist es vergönnt sie zu wechseln, doch weder die einen, noch die anderen können sich als glücklich bezeichnen. Wir sind alle zusammen in einem großen Gefängnis mit unendlich vielen Zellen und die Wärter haben die Schlüssel weggeworfen.“
„Scavinee hat all dies nicht halb so zynisch gesehen wie du“, sagte ich, auch wenn ich selbst erlebt hatte, dass die ehemalige Jyllen-Anführerin ihre Meinung inzwischen geändert hatte.
„Scavinee ist tot“, sagte Ominee, „und außerdem bin ich nicht sie.“
„Nun, dass sie tot ist bedeutet an diesem Ort nicht viel, aber das du nicht sie bist steht außer Frage. Du triffst deine eigenen Entscheidungen und deshalb würde ich gern wissen, welche das sein werden. Was wirst du jetzt tun?“, fragte ich, „uns verraten?“
„Was gibt es da schon zu verraten, Olevan?“, erwiderte Ominee, „eure Revolution ist ein Witz und sie ist zum Scheitern verurteilt. Mir wäre es lieber, wenn du das einsehen und dich mit den Gegebenheiten arrangieren würdest. Ich mag dich wirklich und gemeinsam könnten wir diesem Albtraum vielleicht ein paar Glücksmomente abringen. Wir könnten uns im Lichtwein ertränken und unter den Sternen lustwandeln, solange, bis wir uns selbst und den Schmerz vergessen. Das scheint mir der einzige Ausweg zu sein, den es gibt. Aber wenn du lieber den Freiheitskämpfer spielen willst, werde ich dich nicht daran hindern. Darauf gebe ich dir mein Wort. Ich werde nichts tun, um euch zu schaden oder zu helfen. Doch sobald ihr verloren habt und den Laarmaschk übergeben werdet, will ich nicht mit euch in Verbindung gebracht werden. Du kannst also mit mir zurück ins Recriondo gehen und mit mir nach ein paar Gläsern Litaar Ausschau halten, die dort vielleicht noch herumstehen. Inzwischen sollte Nojuns Mittel hoffentlich seine Wirkung verloren haben und wir können den Rest des Abends genießen. Wenn du aber zurück in Nojuns Wohnung gehst, endet unser gemeinsamer Weg hier.“
„Was ist mit deiner Angst vor dem Laarmaschk?“, fragte ich.
„Die habe ich immer noch“, sagte Ominee, „aber ich habe begriffen, dass es mit ihr nicht anders ist, als mit der Angst vor dem Tod. Es gibt nichts, was man gegen sie tun kann, außer sie zu verdrängen und die Zeit, bis es so weit ist, zu genießen.“
Nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem zynischen Lächeln hinzu. „Carpe diem! Sagt man das nicht so in deiner Welt?“
Für einen Augenblick lang sah ich ihr tief in die Augen und bekam fast den Eindruck, dass diese sich in gläserne Lautsprecher verwandeln würden, aus denen mir das Anti-Om um so lauter entgegenschallte.
Dann drehte ich mich wortlos um und ging zurück zu den anderen.

~o~

„Und?“, fragte Nojun als ich zurückkehrte, wobei mich jeder der Anwesenden skeptisch beäugte, „hast du mit ihr geredet?“
„Ja“, sagte ich, „sie hält sich aus dem Konflikt raus, aber sie wird uns auch nicht verraten.“
„Und woher willst du das wissen?“, fragte Slizza.
„Sie hat es mir versprochen“, wiederholte ich und ahnte schon, wie wenig überzeugend das in ihren Ohren klingen musste.
Daraufhin lachte Franno hysterisch auf, „Geh nie über ’ne Brücke aus Worten, sagt man sich in Braviania und ich denk mir, zurecht.“
„Es ist wie es ist“, sagte Gorweo, „um alles abzubrechen ist es zu spät. Wir müssen das jetzt durchziehen. Wie also gehen wir vor?“
Nojun seufzte tief und begann dann unseren Plan zu erklären.
Während er erzählte, studierte ich die Reaktionen auf den Gesichtern der Anwesenden und stellte fest, dass ihre Mimik zwischen Überraschung, Zuversicht und Unglauben wechselte.
„Dieser Plan ist gelinde gesagt heikler, als die Ausbeutung eines ungesicherten Schachtes in einem Erdbebengebiet“, urteilte Ninga, „er hängt von einer solchen Menge von externen Faktoren ab, dass man ihn schon eher als Glücksspiel bezeichnen könnte.“
„Das sehe ich nicht so“, widersprach Ranscha, „zumindest der diesseitige Zugang zur Webmaschine lässt sich leicht sicherstellen. Sowohl ich, als auch Fromik haben derzeit die Ehre zum Wachpersonal zu gehören und wir genießen großes Vertrauen bei den Webermeistern. Selbst bei Herreth‘ Laarmaschk. Neben uns hält nur noch Onvar Wache. Wenn wir ihn ausschalten, haben wir gute Chancen. Übermorgen findet das nächste Mal ein Gemeinschaftsgebet statt. Dann sind außer uns alle Rilandi beschäftigt und berauscht, da der Allrichter alle Betenden mit konzentriertem Licht bestrahlt. Es wird also dauern, bis Alarm geschlagen wird. Für etwa eine Stunde haben wir also relativ freie Bahn.“
„Wenn alle sich zum Gebet einfinden sollen, wird unser Fehlen dann nicht auffallen?“, fragte ich.
„Das wird es“, antwortete Fromik, „deshalb werdet ihr euch auch dort einfinden bis die Zeremonie beginnt und alle sich in Trance befinden. Erst dann könnt ihr loslegen.“
„Wenn dieses Licht so berauschend wirkt, wie sollen wir uns dann von seinem Einfluss befreien?“, fragte ich und wandte mich dann an Nojun, „oder hast du dafür auch einen Trank?“
„Dagegen gibt es keinen Trank“, antwortete Treva an Nojuns Stelle, „gegen die hypnotische Schönheit des Lichts helfen nur Willenskraft. Und die innere Dunkelheit.“
„Ich soll meine innere Dunkelheit erwecken?“, fragte ich ungläubig.
„Exakt“, sagte Ranscha amüsiert, „Dem Schlächter von Konor sollte das doch nicht schwerfallen.“
Das sagte sich so leicht, dachte ich. Doch weder wusste ich, ob ich das wollte, noch was das eigentlich bedeuten sollte. Sollte ich in Gedanken Kinder erdrosseln und Kätzchen schreddern? Ich nahm mir in jedem Fall vor Treva, Ranscha oder auch Nojun danach zu fragen. Fürs Erste jedoch schwieg ich, um die fragile Moral unserer Truppe nicht zu untergraben.
„Schön und gut“, sagte Gorweo, „dieser Teil leuchtet mir ein. Aber wir können die Webmaschine nicht zerstören, ohne sie zuerst im Geflecht zu vernichten. Wie soll dieser Teil ablaufen? Immerhin wird es dort von Laarmaschk wimmeln und sobald der Allrichter von den Vorgängen Wind bekommt, wird er sofort zur Stelle sein, um uns aufzuhalten.“
„Deshalb brauchen wir Leute, die sich mit dem Geflecht auskennen oder zumindest in der Lage wären sich dort zu behaupten“, sagte Nojun, „und zum Glück haben wir die. Slizza kann sich mit ihren hervorragenden kriegerischen und psyonischen Fähigkeiten gegen die Gefahren des Geflechts zur Wehr setzen, Ranscha kennt die Pfade und Tücken der Schattenwelt wie keine Zweite und was die Verbindung Zoenhir betrifft …“
Alle Augen richteten sich auf die unheimlichen Zwillinge, die wieder auf ihre ungewöhnliche Art zu kommunizieren begannen.
„Wir Tronhiire verschlingen Dunkelheit in anderen Wesen. Nagen sie ab. Bringen Überreste nach Troh, zur Arbeit auf den schwärenden Feldern. Laarmaschk bieten viel Nahrung, wenn Licht uns nicht hindert. Wir vertilgen sie. Sammeln. Helfen bei Angriff auf Webmaschine“, sagte die Verbindung Zoenhir.
„Ihr ernährt euch von Dunkelheit?“, fragte ich verwirrt, „dann scheint mir Uranor kein guter Ort für euch zu sein.“
All die kleinen Augen der Verbindung Zoenhir richteten sich auf mich und ich hatte das Gefühl von einer ganzen Horde giftiger Spinnen betrachtet zu werden.
„Nahrung hier nicht nötig“, antworteten sie, „wir wurden geprüft, aufgenommen, angepasst. Tronhiire sind flexibel. Tun alles, um zu überleben. Um weiterzumachen.“
Das kommt mir irgendwie bekannt vor, dachte ich.
„Gut“, sagte Nojun, „falls niemand Einwände hat, sieht die Aufteilung folgendermaßen aus. Slizza, die Verbindung Zoenhir und Ranscha führen den Angriff im Schatten. Der Rest von uns stößt zu Treva und Fromik, sobald das Gebet angefangen hat.“
„Wie kommen wir überhaupt schnell genug von der Halle der Herrschaft zur Webhalle? Wenn wir die Himmelstreppe hinauflaufen dauert das viel zu lange“, wandte Treva ein.
„Lasst das ruhig meine Sorge sein“, sagte Gorweo mysteriös, „ich habe da schon eine Idee.“
„Sind das nicht etwas wenige Leute im Geflecht?“, fragte Ninga.
„Mehr können wir nicht einsetzen“, erklärte Nojun, „auch wenn die Schattenwelt wichtig ist, wird der Hauptteil der Verteidigungsmaßnahmen in der Lichtwelt erfolgen, da nicht jeder Rilandi gut im Geflecht zurechtkommt. Das gilt auch für uns. Von jemandem, der den Gefahren dort nicht standhalten kann, hätten wir nichts. Außerdem hat das Lichtwelt-Team noch weitere Aufgaben.“
„Die Befreiung der Seelen in den Hallen der Prüfung“, ergänzte ich.
„So ist es“, sagte Nojun, „auch dort ist während des Gebets wenig Widerstand zu erwarten. Auf jeder Ebene gibt es dann nur einen Betreuer. Jedoch sind es viele Gefangene. Wenn wir auch nur einen Bruchteil von ihnen ins Hier und jetzt holen und sie wenigstens grob über ihre Situation aufklären wollen, brauchen wir so viele Leute wie möglich.“
„Und dann wartet der Allrichter“, sagte Franno.
Nojun nickte, „das wird natürlich die schwierigste Aufgabe von allen. Niemand weiß, ob man ihn überhaupt töten kann. Zudem wird er sicherlich den schwarzen Malmer zur Hilfe holen.“
„Niemand tötet den Allrichter“, wandte Ranscha entschieden ein, „das wäre ein Sakrileg.“ Die beiden anderen Wahrgeborenen pflichteten ihr nickend bei.
„Aber wir haben keine andere Wahl“, widersprach Slizza, „er wird unsere Revolution sicher nicht gutheißen und er wird sich auch nicht die Zeit nehmen mit uns zu diskutieren.“
„Das ist uns bewusst“, sagte Fromik, „oder zumindest befürchten wir, dass wir ihn vielleicht bekämpfen müssen. Aber wir werden ihn nicht töten, sondern gemeinsam in ein Netz aus Geistfäden einspinnen, sobald er geschwächt ist. Wenn die Unruhen erst vorbei und die Laarmaschk restlos vernichtet sind, wird man sicher mit ihm reden können.“
„Das macht aus einer schwierigen Aufgabe eine beinah unmögliche“, gab Gorweo zu bedenken, „wir brauchen für alle diese Vorhaben in jedem Fall dringend weitere Verbündete.“ Gorweo wandte sich an die drei Wahrgeborenen. „Kennt ihr nicht noch weitere Rilandi, die zumindest so denken wie ihr? Die den Laarmaschk misstrauen?“
„Die gibt es womöglich“, antworte Treva, „aber wir können uns nicht sicher sein. Wenn wir zu früh weitere Rilandi ins Vertrauen ziehen, könnte dies unsere Pläne enthüllen. Vielleicht können wir einige überzeugen die Seiten zu wechseln, wenn der Angriff beginnt. Aber vorher sind uns die Hände gebunden.“
Gorweo wirkte nicht glücklich mit dieser Antwort, aber er erkannte wohl, dass es nichts bringen würde, die drei weiter zu bedrängen.
Eine beklemmende, fast mutlose Stille breitete sich in dem kleinen Raum aus und Nojun, der dies bemerkte, entschied sich, einzuschreiten, bevor sich diese Stimmung noch verschlimmern und jede verbliebene Hoffnung ersticken würde.
„Ihr wisst nun alle, was zu tun ist“, sagte er, „und die Feierlichkeiten dauern nicht ewig. Versucht etwas Schlaf zu finden und seid bereit, wenn es soweit ist. Dass wir über das hier Stillschweigen bewahren müssen, sollte hoffentlich allen hier klar sein.“
Die Anwesenden antworteten mit zustimmenden Gesten und begannen dann nach und nach Nojuns Wohnstätte zu verlassen.
Als schon fast alle gegangen waren, ergriff Slizza meinen Arm. Die Berührung ihrer trockenen Reptilienhaut ließ an genehme Erinnerungen in mir erwachen, die gar nicht zu der komplizierten Lage passen wollten. Sie bewegte ihren Mund ganz nah an mein Ohr und flüsterte, „du musst Ominee beseitigen.“
Nicht nur diese Worte, sondern vor allem der abgeklärte, endgültige Ton, mit dem sie dies sagte, ließ mich erschaudern. Slizza war womöglich das mitfühlendste Wesen, welches ich bislang in Uranor getroffen hatte. Von ihr hätte ich so einen Vorschlag nicht erwartet.
„Bist du verrückt geworden?“, flüsterte ich empört zurück.
„Es gefällt mir auch nicht“, sagte Slizza nun doch etwas emotionaler, „immerhin sind wir befreundet. Aber uns bleibt keine Wahl. Sie weiß über alles Bescheid. Wenn sie uns verrät, ist alle verloren. Und das Wohlergehen und die Freiheit des Multiversums erscheinen mir wichtiger, als ein einzelnes Leben.“
„Sie wird uns nicht verraten“, beharrte ich trotz meiner eigenen Zweifel.
„Sie vielleicht nicht“, sagte Slizza und ihre Reptilienaugen schienen direkt in mich hineinzusehen, „aber was ist mit ihrem Laarmaschk?“
Ihre Worte ließen mich erstarren. An dieses Risiko hatte ich nicht gedacht.
„Denk darüber nach“, sagte Slizza, „aber denk nicht zu lange nach. In dieser Nacht, in der die meisten berauscht sind, ist die Gelegenheit günstig. Morgen früh könnte es bereits zu spät sein. Ominee wohnt im Haus ganz am Ende der Straße, auf der linken Seite.“
Ich antwortete nicht darauf und auch Slizza bohrte nicht weiter und folgte den anderen hinaus in die Nacht.
„Was habt ihr besprochen?“, fragte Nojun mich.
„Slizza hat mich gebeten noch einmal nach Ominee zu sehen“, sagte ich, womit ich immerhin technisch gesehen nicht log.
„Das hätte wohl wenig Sinn“, sagte Nojun, „ich glaube nicht, dass du sie noch umstimmen kannst. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es eine Torheit war, sie einzuweihen.“
„Wo wir gerade bei Torheiten sind“, antwortete ich, „was hast du hier für eine Truppe aufgestellt? Ich meine, die Verbindung Zoenhir wird mir sicher noch in vielen Jahren Albträume bereiten, aber im Vergleich zu diesen drei Wahrgeborenen wirkt sie ja fast noch vertrauenerweckend. Wie sollen wir mit diesen Leuten eine Revolution durchführen.“
„Wir müssen“, sagte Nojun schulterzuckend, „sie sind alles, was wir haben.“

~o~

Ich war nach meinem Aufbruch aus Nojuns Wohnung derart in widerstreitende Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wohin meine Füße mich getragen hatten. Entsprechend erschrocken war ich, als ich realisierte, wo ich mich befand, als ich meine Augen, die bislang beständig auf die Wolken gestarrt hatten, wieder nach vorne richtete. Nämlich weder vor meiner eigenen Wohnung noch im Recriondo. Stattdessen stand ich ganz am Ende der Wolkenstraße in der kleinen Wohnsiedlung und blickte direkt auf die Wohnung von Ominee, die sich optisch kaum von den anderen Gebäuden unterschied. Während sich mein Bewusstsein noch mit der Frage beschäftigt hatte, wie viel Wahrheit in Slizzas Worten steckte, schien mein Unterbewusstsein mir eine Entscheidung aufdrängen zu wollen.
Ich selbst war da aber nach wie vor weniger entschlossen. Selbst Abseits meines moralischen Dilemmas hatte ich keine Ahnung, wie ich einen Mord an Ominee hätte anstellen können. Immerhin war ich unbewaffnet. Allerdings verfügte ich über diese ominösen psychokinetischen Kräfte. Die waren zwar noch kaum erprobt, aber immerhin waren sie vorhanden, was man von Ominees Kräften praktisch nicht behaupten konnte. Gut möglich, dass ich damit ihr Gehirn angreifen, ihren Atem abschnüren oder ihr Herz zum Stillstand bringen konnte, wenn ich mich nur darauf konzentrierte. Womöglich würde ich sie sogar mit ihren eigenen Anmella-Strängen erwürgen können. Das war natürlich riskant, da ich nicht wusste, ob ich überhaupt dazu fähig sein würde meine Kräfte in dieser Weise zu verwenden. Doch selbst wenn nicht, schlief sie gerade womöglich schon und rechnete nicht mit meinem Besuch.
Die Türen in Uranor ließen sich nicht abschließen und wenn ich schnell wäre, könnte ich sie überwältigen. Der Rest wäre einfach, denn jenseits der Wolkenstraße lag ein tiefer Abgrund und Zeugen gab es keine. Wenn ich es nur geschickt genug anstellte …
… was zum Teufel denke ich da, dachte ich plötzlich schockiert und erst jetzt, wo dieser zwanghafte Gedankenstrom abriss, wurde mir klar, dass ich einfach wieder in mein altes Verhaltensmuster zurückgefallen war. Nojun hatte von mir verlangt „Adrian“ wiederzuerwecken und ja, das hatte ich getan, und zwar mit allen Konsequenzen. Ich riss meine Hand, die sich wie von selbst auf die gläserne Türklinke des weißen Gebäudes gelegt hatte, ruckartig zurück und hoffte, dass Ominee meine Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte.
Es war unmöglich zu sagen, wie ich handeln würde, wenn sie mich zur Rede stellen würde. Um ehrlich zu sein, vertraute ich mir selbst im Moment weit weniger als der Verbindung Zoenhir oder Ranscha und ihren Leuten.
Denn „Adrian“ war dafür bekannt, das zu tun, was ihm beim Überleben diente und Ominees Tod wäre ihm wahrscheinlich dienlich.
Während ich mich umdrehte, um endlich in mein Bett zu zurückzukehren, bemerkte ich, wie jene innere Stimme zu mir sprach und auch wenn es wahrscheinlich etwas rein Psychologisches war, wirkte es auf mich doch durchaus real.
„Sie ist eine Massenmörderin“, versuchte mein altes Ich meine Zweifel zu besiegen.
„Das bin ich auch“, gab ich zurück.
„Sie ist eine Verräterin“, versuchte es die Stimme erneut.
„Noch nicht“, antwortete ich gedanklich, „und ich sollte niemanden wegen etwas töten, was er noch nicht getan hat. Erst recht nicht jemanden, den ich liebe.“
„Du liebst viele“, antwortete, „Adrian“ zynisch, „du wirst wieder lieben.“
„Da hast du recht“, dachte ich, „mein Herz ist eine Hure. Aber erst, wenn meine Liebe nicht mal mehr bedeutet, dass man vor meiner Mordlust sicher ist, wird sie wirklich wertlos. Ihr wird nichts geschehen.“
„Das wirst du bereuen“, stellte „Adrian“ fast nüchtern fest.
„Das werde ich wahrscheinlich“, pflichtete ich ihm abgeklärt bei, „aber daran habe ich mich gewöhnt.“
„Du solltest sie zumindest observieren“, riet mein altes Ich mir.
„Das werde ich“, versprach ich und hielt das zumindest im Moment für einen guten Kompromiss. Ich hoffte inbrünstig, dass sich dieses merkwürdige Gespräch wirklich allein in meinen Gedanken abgespielt hatte und niemand – ganz besonders nicht Ominee – mitangehört hatte, wie ich eine Imitation von Gollum zum Besten gab. Noch immer verwirrt und schockiert machte ich mich auf den Weg zurück in mein eigenes Zimmer, um noch ein wenig Schlaf zu finden.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken mich am Bett festzuketten, wie einen Werwolf bei Vollmond. Doch abgesehen davon, dass das lächerlich und mangels Ketten oder Seilen unmöglich gewesen wäre, war das auch nicht nötig. Denn viel effektivere Fesseln legte mir schon kurz darauf ein tiefer, traumloser Schlaf an.

~o~

Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie gelang es mir in Uranor immer nicht zu verschlafen, obwohl es hier weder einen Wecker gab, noch irgendwelche Leute, die einen im Kasernenstil zum Appell riefen. Als ich erwachte, war es etwa halb zehn Uhr morgens. Da ich ungefähr gegen kurz nach Elf im Bett gelandet war, hatte ich also ziemlich lange geschlafen. Dennoch fühlte ich mich nicht gut. Auch wenn ich weder Alkohol noch Lichtwein getrunken hatte, brummte mein Kopf von den Erinnerungen an den gestrigen Abend und den wenig hoffnungsvollen Aussichten für die Zukunft. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre einmal mehr zum Mörder geworden für eine Revolution deren Erfolgsaussichten irgendwo zwischen mikroskopisch und lachhaft lagen. Entsprechend niedergeschlagen und motivationslos stolperte ich ins Bad und versuchte mein Gesicht mit dem Glitzerwasser zu benetzen, was zwar etwas auf der Haut kitzelte, jedoch nicht die gleiche erfrischende Wirkung besaß wie gewöhnliches Wasser. Immerhin aber half es ein wenig dabei meine Motivation wiederzufinden, wobei man hier vielleicht auch eher von Zweckoptimismus sprechen konnte. Ich hatte jetzt ohnehin kaum eine andere Wahl, als diesen Umsturz durchzuziehen und wenn ich selbst nicht daran glaubte, brauchte ich gar nicht erst anzufangen.
Klar, ein wesentlicher Teil von mir wollte sich gerade am liebsten nach Hause verziehen, eins von Papas geschmierten Broten spachteln und sich an seiner Playstation die Birne wegdaddeln, um sich dann hemmungslos in Mamas Armen über die Ungerechtigkeit der Welt auszuheulen. Und vielleicht wäre das auch das Richtige gewesen. So hätte ich immerhin niemandem wehgetan. Der ehrenhafte Heldentod war im Prinzip auch nur ein Propaganda-Relikt aus der historischen Mottenkiste. Jedes Leben war wertvoll. Sogar meins. Doch leider gab es diesen bequemen Ausweg für mich gerade nicht, selbst wenn man einmal ausklammert, dass mir mein Fernweh ihn wahrscheinlich sowieso Zunichtegemacht hätte.
Mein Katalog lag an einem unbekannten Ort und hielt wahrscheinlich ohnehin nur neue Schwierigkeiten für mich bereit. Die Welten wechselten, aber ich selbst war die Konstante, die ich immer mitnahm. Also musste ich mich selbst verändern, wenn ich mein Schicksal erträglicher machen wollte. Ich hatte es mit grenzenlosem Egoismus und totaler Unterwerfung versucht und beides war mir nicht gut bekommen. Vielleicht war das hier meine Gelegenheit einen neuen Weg auszuprobieren und das alle meine Wege nicht nur mit Steinen, sondern mit brodelnder Lava gepflastert waren, sollte mich inzwischen nicht mehr überraschen. Mein Plan war also klar: Das hier durchziehen, Uranor besser hinterlassen, als ich es vorgefunden hatte, ein paar Leuten helfen, die ich in die Scheiße geritten hatte, den Katalog finden und meine Reisen fortsetzen.
Dermaßen geklärt zog ich meine Sachen an und machte mich auf den Weg in die Webhalle. Die tägliche Routine von Uranor begann von neuem.

~o~

Unsere heutige Sitzung in der Webhalle war glücklicherweise nicht ganz so folgenschwer wie die letzten beiden. Wir nahmen ein paar Korrekturen an Geboten und Regeln vor, befriedeten einen religiösen Konflikt auf weit weniger brutale und endgültige Weise, als bei den Mitsch und beeinflussten einen jungen Messias mit etwas zu liberalen Ideen in unserem Sinne. Während die anderen jedoch eifrig Vorschläge erörterten, die von Herreth mal mehr und mal weniger wohlwollend zur Kenntnis genommen wurden, war ich selbst nicht ganz bei der Sache. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab in die Vergangenheit oder in die Zukunft und beide Richtungen schienen mir nicht sonderlich angenehm, doch immer noch angenehmer als die Gegenwart.
Den anderen Beteiligten unserer Verschwörung schien es leichter zu fallen ihre Maskerade aufrechtzuerhalten. Nojun brachte sogar einen Vorschlag, der von Herreth begeistert aufgenommen und letztlich umgesetzt wurde und Slizza und Gorweo machten zumindest einen konzentrierten Eindruck, wobei mir Slizza von Zeit zu Zeit vorwurfsvolle Blicke zuwarf, wahrscheinlich weil Ominee noch immer unter den Lebenden weilte. Glücklicherweise sprach mich Herreth nicht auf meine Unkonzentriertheit und mangelnde Beteiligung an. Wahrscheinlich schob sie es darauf, dass ich gestern zu viel gefeiert hatte und vielleicht hatte ich nach meiner guten Leistung bei unserer letzten Sitzung ein wenig Narrenfreiheit, zumal es mir immerhin gelang, nicht einzuschlafen.
Dass mir das nicht passierte, lag wohl auch daran, dass mich Ominees Anwesenheit zu sehr aufwühlte. Immer wieder schwenkte mein Blick zu der Jyllen, die neben Ninvinee saß und sich genauso wie sie aktiv an unserer Sitzung beteiligte. Ich fragte mich immer wieder, ob sie uns bereits verraten hatte und ob sie meinen gestrigen Besuch vor ihrem Haus bemerkt und wenn ja, welche Schlüsse sie daraus gezogen hatte. Ich erkannte nun, dass mein Vorhaben, sie zu observieren lediglich dazu gedient hatte, meinen inneren Zwiespalt zu befrieden. Hätte ich das ernsthaft vorgehabt, hätte ich gestern Nacht nicht einschlafen dürfen. Doch nun war es ohnehin zu spät, also versuchte ich verzweifelt irgendwelche Rückschlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen, was mir nicht gelang, da sie mich konsequent ignorierte.
Seltsamerweise verletzte mich das noch mehr, als es mich beunruhigte. Wahrscheinlich sollte mich das aber nicht wundern. Denn über den reinen Liebeskummer hinaus war meine Beziehung zu Ominee mir wie die perfekte Gelegenheit erschienen, wenigstens einen winzigen Teil meiner Verbrechen an den Jyllen wiedergutzumachen.
„Du weißt, dass das Schwachsinn ist“, sagte ich in Gedanken zu mir selbst, „du kannst deine Gräueltaten an einer ganzen Spezies nicht ungeschehen machen, nur weil du eine von ihnen fickst!“
„Hast du etwas zu sagen, Olevan?“, fragte Herreth und ein eiskaltes Brennen durchflutete meine Brust, als ich begriff, dass ich die letzten Worte nicht nur gedacht hatte.
Den eher neugierigen als schockierten Gesichtern der anwesenden Rilandi und dem mangelnden Zorn in Herreth‘ Stimme, entnahm ich jedoch, dass ich wohl eher genuschelt, als laut und deutlich gesprochen hatte.
„Nein, Webermeisterin“, antwortete ich, „ich habe nur ein Lied gesungen. Es kam mir einfach in den Sinn. Bitte entschuldigt die Störung.“
„Wenn das so ist, dann hast du die grausigste Singstimme des Multiversums“, höhnte Tannvan.
Alle lachten, inklusive Herreth und sogar ich lachte mit, woraufhin der Vorfall glücklicherweise schnell in Vergessenheit geriet. Zumindest bei den anderen. Ich hingegen fragte mich, ob ich kurz davor stand die Nerven zu verlieren. Oder meinen Verstand.

~o~

Da Nojun und ich beschlossen hatten, dass wir so kurz vor unserer geplanten Aktion nicht riskieren sollten, zufällig belauscht zu werden, verbrachte ich meine Pause vor dem Beginn von Kollats Unterricht vor allem damit, unruhig die Wolkenstraßen auf- und abzugehen und den anderen möglichst aus dem Weg zu gehen. Dabei begegnete ich jedoch den Symbiose-Zwillingen der Verbindung Zoenhir, die einen ähnlich einzelgängerische Freizeitgestaltung zu bevorzugen schienen. Glücklicherweise begannen sie nicht mit ihren widerlichen Zungen zu reden, sondern schenkten mir lediglich einen unheimlichen Blick, bevor sich unsere Wege wieder trennten.
Unter anderen Umständen hätte ich mir jetzt vielleicht die Zeit damit vertrieben, etwas zu Lesen oder zu Essen. Aber Bücher gab es in Uranor nicht und Essen schien hier genauso wenig notwendig oder üblich zu sein, wie in Hyronanin, zumal ich auch keinen Hunger verspürte, sondern lediglich Langeweile.
Und doch war es nicht allein die Langeweile, die mich umtrieb. Es war auch ein wachsendes Gefühl der Bedrohung, welches wie ein feiner Nebel durch mein Gewand und meinen Körper hindurch bis in meine Seele zu kriechen schien. Ich wusste nun schon eine ganze Weile, was sich hinter dem schönen Schein von Uranor verbarg und bei meiner Unterredung mit Nojun im Geflecht hatte ich es sogar mit eigenen Augen gesehen. Doch nun spürte ich es auch hier. All die strahlend weißen Gebäude, die flauschigen Wolken, die beredsamen, scherzenden und flirtenden Rilandi und die schillernden Strukturen aus Glas wirkten hohl und aufgemalt. Ein dünner, alter Vorhang, durch dessen fadenscheiniges Gewebe man bereits die widerliche Fratze erahnen konnte, die dahinter wartete. Das Anti-Om war zwar im Moment kaum zu hören, aber ich spürte es wie ein aufdringliches Kitzeln im Nacken. Etwas würde bald passieren. Würde durchbrechen, ganz unabhängig von unserer Revolution. Ich fragte mich, ob es das Werk der Laarmaschk war, die die Kultur der Rilandi unterwandert, ausgehöhlt und übernommen hatten, wie Viren eine zum Sterben verdammte Zelle, um schon bald deren tote Hülle zu zerbrechen und die Infektion weiterzuverbreiten. Oder ob sich die den Rilandi innewohnende Grausamkeit nur einfach immer deutlicher zeigte.
Ich wusste es nicht. Aber irgendetwas würde passieren und wenn es uns nicht gelang, es in die richtigen Bahnen zu lenken, könnte es in einem Desaster enden. Nicht nur für Uranor.
Meine Wanderungen führten mich weiter als zuvor und so kam ich schließlich an eine Stelle, an der sich ein Strom aus wässrigem Licht, gleich einem Wasserfall aus dem leeren Himmel ergoss und sich in einer Art See sammelte, der je nach Blickwinkel leicht chromatisch schimmerte, insgesamt aber von selten gekannter Klarheit war. Ich trat näher und sah hinein. Was ich sah, widerte mich an. Doch nicht, weil sich mein Antlitz in dem klaren, fremdartigen Wasser spiegelte – über diese Form des Selbsthasses war ich hinaus –, sondern weil es in eine Aura aus goldenem Licht gehüllt war. Einst hätte mich dieses Bild vielleicht amüsiert oder sogar verzückt. Aber dieses Anfangs friedensbringende Licht stieß mich plötzlich nur noch ab. Heute morgen, als ich mich damit erfrischt hatte, hatte ich es noch verdrängen können, aber das war mir nun nicht länger möglich. Das hier war kein Licht der Heilung, Reinigung und Reue, es war das Resultat falscher Hoffnungen, jahrtausendelanger Täuschung und gewissenloser Ausbeutung und wer sich an ihm wärmte, war nicht besser als ein Vampir, der von einem hilflosen Kind trank.
Hier, wo sich so viel davon sammelte und reflektierte, spürte ich das besonders deutlich. Gerade deshalb sah ich ganz genau hin und prägte mir jedes Detail, das ich sah, jede Emotion, die es in mir auslöste genau ein. Ich wollte mich daran erinnern, wogegen ich kämpfte.
Endlich wandte ich mich ab und sah auf die bravianische Uhr an meinem Handgelenk,. Nur noch einundzwanzig Minuten bis Unterrichtsbeginn. Ich ließ den unseligen Wasserfall zurück und rannte.

~o~

Mit rasselndem Atem, aber gerade noch rechtzeitig traf ich im Unterrichtssaal ein und nahm meinen Platz neben Nojun ein. Kollat bedachte mich mit einem missbilligenden Blick, hielt sich aber erst einmal mit schnippischen Bemerkungen zurück. Stattdessen eröffnete er sofort seinen Unterricht.
„Ich hoffe, ihr habt euch nicht allzu viel für den Abend vorgenommen, denn heute werden wir uns besonders viel Zeit für die Unterweisungen nehmen. Der Allrichter ist mit mir zusammen zu der Überzeugung gekommen, dass eure Ausbildung intensiviert werden muss. Deshalb werde ich euch heute nicht nur Wissen über unsere Welt vermitteln und eure kümmerlichen Fähigkeiten, die Fäden zu spinnen erweitern, sondern auch noch eine besondere Exkursion mit euch unternehmen. Doch dazu später mehr. Fürs Erste …“
„Was ist mit der Stunde der Schwärze?“, erklang eine Frage aus der Gruppe der Schüler, „werden wir sie nicht verpassen?“
Für einen Augenblick war ich wirklich überrascht, dass einer der Schüler es wagte von sich aus eine Frage zu stellen und dabei auch noch Kollat zu unterbrechen. Doch als ich feststellte, dass es Tannvan gewesen war, der diese Dreistigkeit besessen hatte, war ich nicht mehr überrascht. Als Wahrgeborener gehörte er zu den Lieblingen von Kollat und das dessen Gesichtsausdruck sich von anfänglichem Zorn schnell zu einem Lächeln wandelte, bestätigte meine Vermutung. „Auf die Stunde der Schwärze müsst und dürft ihr nicht verzichten. Sie ist eine zwar junge, aber für unsere Gemeinschaft ungemein wichtige Tradition. Denn sie hilft den Fehlerhaften dabei zu erkennen, wo ihr Platz ist und führt die Unbelehrbaren einem neuen Nutzen zu. Ihr werdet rechtzeitig zurück sein, um an der Zeremonie teilnehmen zu können.“
„Danke, Webermeister“, sagte Tannvan und nickte mit einem freudigen Lächeln auf dem Gesicht, wie es wahrscheinlich schon viele andere geteilt hatten, die Gefallen daran gefunden hatten einer Hinrichtung oder Folter beiwohnen zu dürfen.
Kollat nickte Tannvan väterlich zu. „Das ist eine gute Gelegenheit, um euch zu erzählen, wie diese Tradition den Weg zu den Rilandi gefunden hat. Es war vor etwa zweihundert Jahren, als …“
So begann Kollat zu erzählen. Er war kein guter Erzähler. Seinen Schilderungen mangelte es bei Weitem an der Wucht einer Mentravia und selbst an der Kunstfertigkeit begabter Autoren aus meiner Welt. Aber er war ein guter Lehrer, zumindest was die bloße Wissensvermittlung betraf. Zumindest weiß ich noch heute genau, was er uns damals gelehrt hatte:
„Eine unbekannte Fügung brachte vor etwa Zweihundert Jahren, was nach uranorischer Zeitrechnung dem Jahr 357.846 entspricht, ein bislang unbekanntes lehmartiges Material nach Uranor. Dieses Material besaß die Fähigkeit, Dinge, mit denen es in Kontakt kam, bis ins Detail hinein abzubilden. Dies erschien den Hirten, die den Stoff bei ihren Patrouillen entdeckten, wie auch den Suchern, die es untersuchten zwar amüsant, aber weder sonderlich nützlich noch spirituell bedeutsam. Doch als das Material dem Allrichter vorgeführt wurde, offenbarte sich, dass es noch weit mehr vermochte. Denn kaum, da er seine Hand daran legte, begann es in einem fremdartigen, dunklen Licht zu erstrahlen und der Klumpen, dem man ihm gebracht hatte, bildete einen Mund aus, um zu sprechen, auf das es alle hören könnten.
Das Wesen, das an diesem Tage zu uns Rilandi sprach, stellte sich als Vertreter einer Rasse vor, die seit Jahrmillionen in der bis dahin unbekannten Zwischenwelt von Uranor existierte und die Entwicklung und die edlen Taten der Rilandi in stiller Ehrfurcht beobachtet hatte, ohne jedoch mit ihnen Kontakt aufnehmen zu können. Zumindest bis zu jenem schicksalhaften Tag.
Der Allrichter zeigte sich erstaunt und neugierig und erkundigte sich nach den Absichten der Unbekannten. Der Botschafter erklärte, dass sein Volk, welches als „Laarmaschk“ bekannt war, allein danach trachtete die Rilandi zu unterstützen und ihnen zu dienen. Und diese wunderbare Substanz ermöglichte es ihnen auf rätselhafte Weise genau dies zu tun.
„Der Diener ist der seligste unter den Frommen“, befand der Allrichter, doch fragte er sich auch, wie ihm ein solch amorpher Klumpen von Nutzen sein sollte.
Der Laarmaschk begegnete diesen Zweifeln, indem er wuchs, seine Form veränderte und nicht nur ein Gesicht, sondern auch Arme und Beine ausbildete.
„Beeindruckend“, sagte der Allrichter, „aber auch ein einziger Diener wird den Rilandi kaum helfen können.“
„Teilt mich!“, verlangte der Laarmaschk und eine Hirtin nahm ihre gläserne Klinge, um den Körper der Gestalt mittendurch zu schneiden. Die beiden Teile klatschten zunächst leblos auf dem Boden, erhoben sich daraufhin jedoch tatsächlich als eigene Kreaturen von der gleichen Größe wie der erste Laarmaschk, jedoch scheinbar mit einem unterschiedlichen Wesen und eigenständigen Stimmen. Offenbar hatte sich ein zweiter Laarmaschk in dieser neuen Hülle niedergelassen.
„Ihr könnt dieses Material so oft vervielfältigen wie ihr wollt“, erklärte dieser, „unserer sind viele und wir alle wollen helfen.“
Und so geschah es. Die Laarmaschk vervielfältigten sich Mithilfe der Rilandi und übernahmen lästige und anstrengende Arbeiten für sie. Sie bauten Gebäude und Hallen, reparierten Gerätschaften und schleppten Lasten oder sogar Rilandi von einem Punkt zum anderen. Einige … experimentierfreudigere Rilandi bauten sie sogar in ihr Liebesspiel ein. Als willige Geschöpfe, die schnell ihre Fähigkeit offenbarten, die äußere Erscheinung von Rilandi oder anderen Wesen anzunehmen, falls diese es verlangten, schienen sie dazu sehr gut geeignet. In der Folge kam es zu regelrechten Orgien und an Barbarei grenzenden, sexuellen Experimenten.
Den Webermeistern gefiel es jedoch nicht, welchen Einfluss die Diener auf ihre Gesellschaft hatten. Den Webern wurde von jeher ein recht hohes Maß an Ausschweifungen zugestanden und auch die Hirten durften sich gelegentlich mit weltlichen Genüssen beschäftigen. Doch der Hedonismus und die Trägheit nahmen inzwischen solche Ausmaße an, dass die Webermeister um die Disziplin und Konzentration ihrer Schützlinge fürchteten. Umso mehr, als eines Tages offenbar wurde, dass sich auch Sucher an diesen Orgien beteiligten, was unter keinen Umständen geduldet werden durfte, lag ihre vornehme Aufgabe doch darin das Licht der Gemeinschaft zuzuführen, wobei jegliche Ablenkung unerwünscht war. So flehten die Meister den Allrichter letztendlich an, die Anwesenheit der Laarmaschk zu unterbinden und dieser versprach mit den mysteriösen Dienern darüber zu reden.
Die Laarmaschk zeigten durchaus Verständnis für die Sorgen des Allrichters. Doch sie wollten ihren Dienst für die Rilandi nicht so einfach aufgeben. Deshalb unterbreiteten sie einen anderen Vorschlag: Sie würden nicht länger als offen sichtbare, willfährige Diener die Moral und Konzentration der Rilandi gefährden, sondern sich künftig unauffällig einfügen, indem sie – mit Zustimmung des Allrichters – jene absorbierten und ersetzten, denen es an Disziplin und Überzeugung mangelte und die dadurch der Gemeinschaft lediglich schadeten. Der Allrichter, wie auch die Weber zeigten sich begeistert von diesem Vorschlag, entschieden sich jedoch dafür, dieses Ritual nicht im Geheimen, sondern ganz offen durchzuführen. Die Gefahr, bei Fehlverhalten von einem Laarmaschk ersetzt zu werden, sollte jedem vor Augen geführt werden. Es sollte den anderen nur verborgen bleiben, wen genau es traf. Damit wurde die Stunde der Schwärze geboren und die Laarmaschk wurden von praktischen Helfern zu einem disziplinierenden Instrument des Schreckens.“
Kollat stellte dies natürlich als etwas durchweg Positives und als einen geschickten Schachzug des Allrichters dar, aber in meinen Augen hatten die schwarzen Figuren spätestens an diesem Tag begonnen das Brett abzuräumen und die gläsernen Figuren zu zerbrechen.
Kollat erzählte an jenem Tag noch mehr. Er stellte uns die Symbole der drei Sinnpfade vor. Für die Weber gab es den mir bekannten Webstuhl, sowie das sogenannte „Fadengeflecht“, eine Art keltischer Knoten, welcher aus losen Kabeln gebildet wurde und welches auch Kollat diesmal an einer Kette um seinen Hals trug. Die Hirten nutzten als Erkennungszeichen einen Hirtenstab, welcher an seinem unteren Ende einen Ankh-ähnlichen Bogen besaß, in dessen Mitte sich ein starrendes Auge befand. Für die Sucher hingegen stand eine Wolke, durch die ein breiter Lichtstrahl bricht. Vieles, was er darüber hinaus erzählte, war mir durch Gespräche mit den anderen Rilandi oder durch die Einführung des Allrichters bereits bekannt. Ohnehin hatte ich nicht den Eindruck, dass Kollat einen durchdachten Unterrichtsplan verfolgte. Zwar konnte er Wissen gut vermitteln, aber er kümmerte sich weder darum, auf welchem Stand seine Schüler waren, noch, ob die Themen, die er anschnitt, sinnvoll aufeinander aufbauten. Er unterrichtete vielmehr das, was ihm gerade in den Sinn kam.
Nachdem dieser theoretische Teil beendet war, verließ Kollat seinen nüchternen Vortragsmodus und wandte sich überraschenderweise direkt an mich. „Olevan?“, sagte er mit seinem gewohnt überheblichen Blick.
„Ja“, antwortete ich.
„Du hast mich ja gestern durchaus überrascht, indem du trotz deiner niederen Geburt in der Lage warst die Fäden zu spinnen. Denkst du, du traust dir das erneut zu?“
„Ja“, sagte ich, um ihm nicht die Genugtuung zu geben, ihm meine eigene Unsicherheit zu offenbaren, „was soll ich tun?“
Kollat antwortete nicht. Stattdessen fasste er sich an die Brust und kurz darauf tat sich Mitten in der Wand hinter ihm eine breite, bislang unsichtbare Tür auf, hinter der vier riesenhafte Versionen der Glaslibellen schwebten, die ich von der Himmelstreppe her kannte. Dabei unterschieden Sie sich von ihren Verwandten nicht nur durch ihre Größe, sondern auch dadurch, dass sie sehr große, leuchtende Stacheln an ihren Hinterleibern trugen und ihre übergroßen Köpfe mit gefährlich aussehenden, scharfen Kiefern ausgestattet waren
„Vernichte sie Mithilfe deiner Kräfte!“, verlangte Kollat und bevor ich so recht realisierte, was hier geschah, stürzten sich die vier gläsernen Tiere auf mich. Mein erster Impuls war wenig heldenhaft und doch rettete ich mir das Leben, indem ich erst wegrannte und mich dann fallen ließ, wodurch die vier Insekten, die sich alle meinen Kopf als erstes Angriffsziel ausgesucht hatten, ins Leere bissen und stachen. Hastig rappelte ich mich auf, nur um mich sofort wieder zur Seite zu rollen, als zwei der Stacheln nur Zentimeter neben meiner Brust in den Boden stachen, in dem sich daraufhin deutliche Risse entstanden. Dieser Bastard, dachte ich, wie konnte er erwarten, dass ich nach nur einer Übungsstunde und ohne Vorbereitung mit diesen Gegnern fertig wurde? Doch ich gab mir gleich selbst die Antwort: Er erwartete dies gar nicht. Er erwartete und hoffte vielmehr, dass ich verreckte.
„Keiner mischt sich ein!“, sagte Kollat zu den anderen Schülern, die ohnehin bereits an die Wände zurückgewichen waren, auch wenn sich die Glasinsekten nicht für sie zu interessieren schienen.
Ich verlegte mich derweil weiterhin aufs Ausweichen und entging einigen weiteren Angriffen knapp, jedoch war mir vollkommen klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich musste irgendwie zurückschlagen und diese „Fäden“, wie alle diese mysteriösen psychokinetischen Fähigkeiten aus irgendeinem Grund nannten, waren die einzige Waffe, die ich hatte.
Also versuchte ich mich erneut auf mein Fernweh zu konzentrieren, so wie ich es gestern schon getan hatte. Auch wenn mir dies in dieser Situation alles andere, als leicht fiel. Als ich mich gerade vor einem gemeinsamen Angriff der Insekten weggeduckt hatte, nutzte ich den kurzen Zeitraum, den sie zum Wenden benötigten, um mich in die richtige Stimmung zu bringen. Diesmal versetzte ich mich in die Lage des jugendlichen Adrian, der sich in seinem Dorf so vollkommen eingesperrt und beschränkt gefühlt hatte, dass ihm jede Sekunde in seinen eigenen vier Wänden beinah wie eine Folter erschienen war und tatsächlich spürte ich dieselbe Energie in mir aufsteigen wie am gestrigen Tag. Doch würde sie reichen? Als die Insekten, die diesmal aus ganz unterschiedlichen Richtungen angriffen, ein weiteres Mal blutdurstig auf mich zu preschten, drückte ich meine Hand auf meine Brust und konzentrierte mich darauf, hastig einen Schutz aus psyonischer Energie um mich herum zu erschaffen. Zu meiner großen Erleichterung stoppte der Flug der Libellen wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Wütend drückten die Tiere gegen die unsichtbare Barriere, die ich um mich errichtet hatte. Das heißt: Für mich war sie nicht länger unsichtbar. Ob es an meiner Notlage lag oder andere Gründe hatte, wusste ich nicht, aber ich sah tatsächlich ein helles, transparentes Geflecht aus Fäden, welches mich wie eine Art Kokon einhüllte. Einige dieser Fäden kamen direkt aus mir selbst und wanden sich aus meiner Brust heraus, direkt zwischen den Fingern meiner gespreizten Hand. Der Großteil jedoch entsprang aus den breiten Fenstern des Übungsraumes.
Jetzt erst verstand ich wirklich, warum die Rilandi von „den Fäden“ sprachen. Von dieser Erfahrung ermuntert, wurde ich mutiger und zog neue Fäden zu mir heran, welche ich erst um die wild schlagenden Flügel der Libellen wickelte, um sie dann mit einem Ruck näher an mich heranzuziehen. Mit einem lauten Kreischen und Klirren rissen die Schwingen von der Glaskreatur ab und ich wusste nicht genau, ob diese Geräusche von dem Geschöpf selbst oder vom Material stammten, aus dem ihr Körper bestand. So oder so empfand ich Mitleid mit dem Wesen, bei dem ich recht sicher war, dass es ohne Kollats Willen nicht so aggressiv gewesen wäre. Aber in dieser Situation hatte ich kaum eine andere Wahl. Ich musste wieder an die Libellen an der Himmelstreppe denken, die mich dort friedlich und zutraulich umkreist hatten. Der flügellose, aber noch immer lebendige Körper fiel hinab und bekam Risse, zerbrach jedoch nicht.
Während die anderen drei Libellen weiter versuchten zu mir durchzudringen, was ihnen dank meines Netzes jedoch nicht gelang, blickte ich herausfordernd zu Kollat, dessen verblüffter und zorniger Gesichtsausdruck mir eine Genugtuung war. Auf den Gesichtern von Slizza, Nojun, Gorweo und sogar Ominee sah ich dieselbe Erleichterung, die ich fühlte. Es war ein unglaublich gutes Gefühl endlich wieder Macht zu besitzen. Nun würde ich mich um die drei verbliebenen Libellen kümmern und Kollats kleines Spiel beenden.
Doch gerade, als ich damit beginnen wollte, hörte ich ein Rascheln wie von Stoff und sah, wie der Raum sich urplötzlich verdunkelte. Schnell bot mein Gehirn mir eine Erklärung an, auch wenn ich kaum noch etwas sehen konnte: Kollat hatte die Fenster mit Vorhängen verdunkelt.
„Nett“, hörte ich Kollats Stimme verächtlich sagen, „aber sich am Licht zu bedienen ist einfach. Mal sehen, ob du dich auch mit deinen eigenen Mitteln behaupten kannst.“
Erschrocken, doch nicht wirklich überrascht sah ich, wie jene Fäden, die aus den Fenstern gekommen waren, verblassten oder zerrissen und lediglich die paar kümmerlichen Fäden zurückblieben, die ich aus mir selbst entnommen hatte. Aus meinem lückenlosen Schutz war mit einem Schlag ein löchriger, nutzloser Lumpen geworden.
Und die Libellen, welche ich bislang erfolgreich auf Abstand gehalten hatte, bemerkten dies ebenfalls. Die gleichermaßen wunderschönen wie erschreckenden Insekten, die neben den leuchtenden Fäden das einzig leuchtende in dem verdunkelten Raum waren, witterten ihre Chance, und während ich mit einem hastigen Sprung etwas Abstand gewann, versuchte ich zu improvisieren, indem ich aus den vereinzelten Fäden eine Art Schild wob, mit dem ich immerhin zwei der Libellen abblocken konnte.
Die Dritte jedoch flog an meinem Schutz vorbei und biss mit ihren kräftige gläsernen Kiefern in meinen rechten Unterschenkel, was nicht nur höllische Schmerzen verursachte, sondern auch meine Bewegungsfreiheit einschränkte.
In einer rein Reflex-getriebenen Handlung hieb ich mit beiden Händen auf die Kreatur ein, was meine Fingerknöchel taub werden ließ, das Insekt jedoch immerhin dazu brachte sich von mir zu lösen, wenn auch leider nicht, ohne sich einen Brocken Fleisch als Andenken mitzunehmen. Ich schrie auf und während die letzten Fäden sich vor meinen Augen auflösten, da meine Konzentration sich verabschiedete, rettete ich meine Haut durch mehrere hastige Rollen und wenig eleganten Schlitter- und Stolperbewegungen, während ich die amüsierten Blicke von Kollat förmlich auf mir spüren konnte.
Auf irgendeine Weise, die mir heute noch schleierhaft erscheint, gelang es mir meine Konzentration wiederzufinden und einige Fäden zu generieren, die ich kurzerhand wie Hundeleinen an den Fluginsekten befestigte, um sie von mir wegzuschleudern. Die Fäden waren jedoch zu dünn und zu wenige und so holte ich mit großer Mühe einige weitere aus mir hervor, um die Fesseln zu verstärken. Es gelang mir irgendwie, aber es waren noch immer sehr wenige. Zu wenige, um damit in die Offensive gehen zu können. Außerdem kostete es Kraft und erforderte eine Konzentration, die sich dank Schmerzen, Panik und Blutverlust nur durch fast übermenschliche Anstrengung aufbieten ließ. Die Frage war nur, wie lange mir das überhaupt noch gelingen würde.
Nicht besonders lange, wie sich kurz darauf zeigte. Eine der Libellen schaffte es sich loszureißen und auch wenn ich sie bald wieder einfing, reichte ihr dieser kurze Augenblick der Freiheit aus, um mich mit ihrem großen Stachel in die linke Schulter zu stechen. Der Schmerz war nicht schön, aber auszuhalten. Was mir hingegen wirklich Probleme bereitete war die Schwäche, die sich nur wenige Sekunden später in mir ausbreitete. Erst vernahm ich ein Rauschen in meinen Ohren, dann ein hohes Fiepen und dann spürte ich, wie meine Knie zu zittern anfingen. Das Biest hat mich vergiftet, begriff ich, während ich auf die Knie sank und hilflos zusah, wie ein Faden nach dem anderen verschwand. Letztlich fielen alle Barrieren und meine Gegner versammelten sich zum Buffet. Meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr, aber ich spürte dennoch die Bisse von drei gläsernen Mäulern, die sich an verschiedenen Stellen meines Körpers gütlich taten. Ich wollte schreien, aber auch das schien mir nicht länger möglich zu sein. Hilflos sah ich zu, wie große Stücke Fleisch aus meinem Körper gerissen wurden und mein Blut mit zunehmender Geschwindigkeit aus mir hinauslief, wie aus einer ausgepressten Orange oder wie ein fahnenflüchtiges Heer, das mich im Stich ließ.
„Stoppen Sie das, Sie bringen ihn um!“, hörte ich eine Stimme rufen, die von Ominee hätte stammen können. Doch sicher war ich mir da nicht, denn kurz darauf sank ich in die Ohnmacht.

~o~

Als ich erwachte, war mir kalt und warm zugleich, meine Haut kribbelte und ich hatte das Gefühl in der Schwerelosigkeit zu schweben. Ein Teil dieser Empfindungen kam mir bekannt vor und als ich mich endlich traute, meine Augen aufzuschlagen, erkannte ich auch warum.
Ich lag – unterhalb der Wasseroberfläche, in einer Wanne aus Lichtwasser. Da dieses Wasser die wunderbare Eigenschaft besaß die Atmung nicht zu behindern, kämpfte ich meinen panikartigen Reflex, hastig auftauchen zu wollen, direkt nieder. Immerhin war ich vergiftet und halb zerfetzt worden und wusste ich nicht, welche Verletzungen ich bei dem Angriff der Libellen sonst noch erlitten hatte und befürchtete sie durch allzu ruckartige Bewegungen nur zu verschlimmern.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Umgebung. Allem Anschein nach befand ich mich in meiner Wohnung. Über mir stand eine Jyllen, deren Gesicht ich durch den Schleier des Wassers nur undeutlich erkennen konnte. Für einen winzigen Moment dachte ich an Scavinee und rechnete damit, dass sie mich nur in diese heilende Wanne gebracht hatte, um meinem regenerierten Körper danach etwas Schreckliches antun zu können. Doch das tat ich schnell als Unsinn ab. Scavinee lag träumend in den Hallen der Prüfung.
„Hallo Ominee“, sagte ich, als ich nun doch vorsichtig auftauchte und das Gesicht der Jyllen erkannte, deren Anmella-Stränge entspannt an ihrem Körper herabhingen, „was machst du hier?“
Ominee lächelte. Ich hatte selten etwas Traurigeres gesehen. „Ich beobachte deine Genesung“, sagte sie, „und was ich sehe, gefällt mir.“
Ich sah an meinem nackten Körper hinab, der zwar nach wie vor etliche Blessuren und Kratzer aufwies, jedoch keine offenen Wunden. Auch fühlte ich mich zwar noch schwach, aber nicht so schwach, wie dies nach einem so starken Blutverlust und einer Vergiftung zu erwarten gewesen wäre. Zudem stellte ich erfreut und erstaunt fest, dass die Stellen, an denen sich die Insekten an meinem Fleisch bedient hatten, sich ebenfalls regeneriert hatten.
Andererseits sollte ich mich wohl nicht darüber wundern. Immerhin hatte Onyra mir sogar Gliedmaßen nachwachsen lassen.
„Das Lichtwasser?“, vermutete ich.
Ominee nickte, „so ist es. Es ist im Grunde nur verflüssigtes Licht und das Licht von Uranor verfügt über starke heilende Eigenschaften. Zumindest, wenn man sich ihm in konzentrierter Form und lange genug in völliger Ruhe aussetzt. Nicht ganz so effektiv wie Jonmella, aber du bist ja auch kein Jyllen und wir sind auch nicht in Konor. Zudem kann es nur Wunden und Vergiftungen heilen und keine Krankheiten besiegen. Glücklicherweise gibt es die in Uranor aber auch nicht.“
So sehr ich meine Heilung begrüßte, ekelte mich diese Vorstellung zugleich auch wieder an. Im Grund lag ich in einem Konzentrat kosmischer Ausbeutung. Den Tränen und dem Schweiß ungezählter Individuen. Sich davon heilen zu lassen, fühlte sich nicht gut an. Es war vielleicht etwas weniger verwerflich, als das Trinken von Gesundheit, aber nicht viel. Dennoch war es nun einmal passiert. Und immerhin strebte ich ja danach, diese spirituelle Melkanlage lahmzulegen.
„Hast du mich hierher gebracht?“, fragte ich Ominee.
Erneut nickte sie.
„Danke“, sagte ich und schämte mich dafür, dass ich auch nur für einen Moment erwogen hatte, ihr das Leben zu nehmen. Kurz wandte ich meinen Blick ab, schon um ihr keinen Rückschluss auf meine Gedanken zu erlauben. Dabei geriet meine Uhr in mein Blickfeld und ich stellte fest, dass es erst siebzehn Uhr Zwölf war.
„Ich dachte, ihr müsstet jetzt mit Kollat im Geflecht sein“, sagte ich, „oder hat er den Unterricht abgebrochen? Wie hast du ihn überhaupt dazu bewogen, mich zu verschonen? Immerhin ist er doch ein eiskalter, rassistischer Idiot.“
Ominee senkte den Blick und tat einen tiefen Atemzug. Die Anspannung war ihr deutlich anzumerken. „Ich habe ihn daran erinnert, dass der Allrichter den Webermeistern verboten hat, zuzulassen, dass ihre Schützlinge in ihrer Obhut sterben. Selbst Vergehen dürfen nicht mit dem Tod, sondern allein durch die Laarmaschk bestraft werden und du hast ja nicht mal eine Regel gebrochen, sondern nur dein Bestes gegeben. Kollat hat sich erst geziert. Doch letztlich hat er die Libellen zurückgerufen und zugestimmt, dass wir dich in eine Lichtwanne legen.“
„So viel Vernunft hätte ich nicht von ihm erwartet“, kommentierte ich.
„Urteile nicht zu früh“, sagte Ominee mit belegter Stimme, „denn dabei hat er es nicht bewenden lassen. Er ließ mich nach deinen Wunden sehen und erlaubte mir, dich mit Slizzas und Nojuns Hilfe hochzuheben. Aber seine Zustimmung war vergiftet.“
„Du sprichst wahre Worte, Ominee“, hat er zu mir gesagt, „das muss ich zugeben. Und zwar in allem, was du sagst. Fehlverhalten darf allein durch die Laarmaschk geahndet werden. Und da du unbefugt meinen Unterricht gestört und meine Autorität infrage gestellt hast, soll genau dies dir auch widerfahren. Für dich ist der Unterricht, wie auch deine Zeit in Uranor zu Ende. Noch heute, zur Stunde der Schwärze, wirst du Teil der Speisung sein. Deiner letzten Speisung. Ein großer Verlust ist es nicht.“
Tränen traten in Ominees Augen und auch in meine. Sie war nicht nur meine Geliebte, sondern auch eine der letzten beiden Vertreterinnen des Volkes, welches ich ausgelöscht habe. Das durfte auf keinen Fall ihr Schicksal sein. Ich setzte mich auf und fuhr ihr mit meiner nassen Hand tröstend über ihr raues Gesicht.
„Das kann dieser Mistkerl unmöglich machen!“, sagte ich wütend, „Hast du dich beim Allrichter beschwert?“
Ominee schüttelte den Kopf, „wie ich dir bereits gesagt habe, kann ich mich als einfache Weberin nicht direkt an ihn wenden. Aber ich habe mit Gorun und Herreth gesprochen. Gorun hatte nur ein paar bedauernde Worte parat und mir ein Glas verfickten Lichtwein angeboten. Ansonsten hat er nichts unternommen. Herreth wirkte zumindest ernsthaft bestürzt und hat für mich mit Wornaara gesprochen. Der Allrichter hat Kollats Unterrichtsmethoden ebenfalls kritisiert, jedoch hat sie bei ihm nur erreicht, dass das Urteil erst morgen vollstreckt werden wird. Ich hab nur noch einen Tag. Einen verdammten Tag, bevor meine Existenz endet.“
„Das reicht uns“, sagte ich entschlossen, „wir schlagen morgen, zur Zeit des gemeinsamen Gebetes zu. Die Details erkläre ich dir später. Falls du nun doch dabei sein möchtest, heißt das.“
„Ich bin dabei“, antwortete Ominee, „ich habe nun nichts mehr zu verlieren. Doch eigentlich hätte ich euch von Anfang an unterstützen sollen. Dieser Ort hier kennt keine Gerechtigkeit. Das ist mir nun endgültig bewusst. Eure Sache mag ziemlich aussichtslos sein, aber sie ist zumindest gerecht. Tut mir leid, dass ich so dumm war.“
„Nicht halb so dumm wie ich“, sagte ich aufrichtig und nahm sie dabei in den Arm, was sie nicht nur zuließ, sondern erwiderte, „Selbst wenn du dich ernsthaft bemühen würdest, könntest du nie auch nur halb so viele Fehler machen wie ich.“
„Da kann ich dir nicht widersprechen“, sagte Ominee lachend.
„Denkst du, ich kann schon wieder hier raus?“, fragte ich, da ich nicht länger als unbedingt nötig in der geraubten Energie anderer baden wollte.
„Ich denke schon“, erwiderte Ominee, „den Rest sollte dein Körper allein schaffen.“
Also stieg ich vorsichtig aus der Wanne heraus, was mit dem ein oder anderen Kribbeln und Ziehen, aber nicht mit allzu heftigen Schmerzen verbunden war, zog mein Gewand an, legte meine Uhr an und setzte mich neben Ominee aufs Bett.
„Was ist mit den anderen?“, fragte ich, „mit Nojun, Slizza und Gorweo?“
„Sie sind noch im Geflecht“, antwortete Ominee, „Kollat hat nicht mal im Traum daran gedacht ihnen zu erlauben mir zu helfen oder den Unterricht zu beenden, auch wenn zumindest Slizza und Nojun darum gebeten haben. Die beiden sind halt wirklich gute Seelen. Vor allem Slizza.“
Ich musste mir ein ironisches Auflachen verkneifen, da ich Ominee ungern eröffnen wollte, dass die von ihr so geschätzte Echsenfrau ihre Ermordung verlangt hatte. Obwohl ich ihrem Wunsch – zum Glück – nicht entsprochen habe, konnte ich Slizza aber noch immer verstehen. Sie hatte versuchen wollen, die Revolution zu schützen und ich wollte nicht, dass sie dafür bestraft wurde oder unnötiger Zwist zwischen uns entstand. Wahrscheinlich wollte ich aber auch meine eigene Rolle in dieser Angelegenheit verschleiern.
Mit dem Egoismus war das so eine Sache. Man konnte versuchen ihn abzulegen, aber es war wie bei diesen nervigen Preisschildern. Man wollte sie mit einem Rutsch abreißen, aber letztlich musste man ewig daran herumreißen, fummeln und Knibbeln, bis sie endlich verschwunden waren. Und selbst dann blieben noch Spuren zurück.
„Du hast mich ganz allein hierher getragen?“, fragte ich durchaus ergriffen und drückte ihr einen Kuss auf die warmen, trockenen Lippen.
„Das habe ich“, antwortete Ominee, „und du bist ganz schön schwer.“
„So schwer bin ich gar nicht“, sagte ich lachend und drückte sie mit meinem Körpergewicht sanft aufs Bett, nur um mir danach an Ominees Gewand zu schaffen zu machen.
„Stopp!“, sagte Ominee energisch, „ich bin gerade wirklich nicht in der Stimmung dafür. Wenn wir das hier hinter uns haben und noch leben, können wir uns gerne besinnungslos vögeln. Aber gerade kann ich nicht abschalten. Nicht nach dem, was gerade passiert ist und was bald passieren wird. Es gibt Leute, die sich angesichts des nahenden Todes entspannt ins Vergnügen stürzen können. Ich gehöre nicht dazu.“
Sofort ließ ich von mir ab und setzte mich wieder hin. „Ich verstehe“, sagte ich, „ich wollte dich nicht bedrängen.“
„Schon gut“, sagte Ominee, „ist ja nichts passiert. Aber weißt du was?“
„Was denn?“, fragte ich.
„Was du da im Unterrichtraum mit den Libellen angestellt hast, war beeindruckend“, lobte Ominee mich.
„Auf mich wirkte es eher wie ein monumentales Versagen“, sagte ich.
„Schwachsinn!“, widersprach Ominee, „du hast dich hervorragend geschlagen. Kein Rilandi – Kollat eingeschlossen – wäre in der Lage gewesen, ohne das Licht mit so vielen Gegner zurechtzukommen. Du solltest scheitern. Möglich, dass einige der Wahrgeborenen oder auch Slizza sich etwas länger gehalten hätten, aber die Hälfte der Klasse wäre schneller am Ende gewesen als du.“
„Danke für die Blumen“, sagte ich ernsthaft geschmeichelt und zugleich peinlich berührt. Ich konnte nicht allzu gut mit Lob umgehen, „auch wenn es mir schwerfällt zu glauben, dass ich irgendein auserwählter oder so etwas bin.“
„Das bist du auch nicht“, sagte Ominee, „Du hast Talent, aber Slizza ist viel begabter als du. Bei ihr wäre ich mir nicht mal ganz sicher, ob sie nicht vielleicht doch eine Chance gegen die Glaslibellen gehabt hätte. Trotzdem bist du gut. Doch das Talent, welches du besitzt, ist nicht dein Verdienst, auch wenn du ganz ordentlichen Gebrauch davon machst. Es gründet sich auf die Stärke deiner Leidenschaft, ganz gleich, ob diese in Hass, Lust, Liebe oder etwas ganz anderem besteht. Aus diesem Grund üben die Sucher ironischerweise auch die geringste Kontrolle über die Fäden aus, da sie diese Leidenschaften in Zaum halten müssen.“
„Das ergibt keinen Sinn“, widersprach ich, „wenn es so wäre, müsstest du als Jyllen extrem talentiert sein. Scavinee hat mir mal erzählt, dass der Lebensfunke der Jyllen besonders heiß brennt, auch wenn er schneller verglüht als bei anderen Völkern.“
„Damit hatte sie auch recht“, stimmte Ominee zu, „theoretisch. Ninvinee ist zum Beispiel auch recht begabt. Aber ich bin innerlich tot.“
Ich öffnete den Mund, um heftig zu widersprechen, aber Ominee kam mir zuvor.
„Lass es mich erklären. Ich bin zwar noch keiner der antriebslosen An-Jyll – dafür bin ich noch zu jung – und ich empfinde wirklich etwas für dich, aber ich sehe keine Zukunft für mich, Olevan. Alle meine Freunde von damals sind tot. Die Welt, die ich kannte, ist zerbrochen und in dieser Neuen bin ich niemals richtig angekommen, selbst wo ich mich noch darum bemüht habe. Ich genieße den Moment so gut es geht und bin lieber glücklich als unglücklich, aber ich habe keine Ziele mehr, keine Sehnsüchte und Utopien. Das ist es, woraus sich die Fäden speisen. Sie sind aus Hoffnung gewonnen und die habe ich nicht mehr. Ich bin ein unbemanntes, verrottetes Boot in der Nacht, welches sich von den Wellen treiben lässt. Mehr nicht.“
„Das klingt wirklich düster“, sagte ich.
„Das ist es nicht“, antwortete Ominee lächelnd, „ich bin nicht lebensmüde. Ich habe fest vor, die letzten Jahre, die mir noch bleiben auszukosten und ich würde mich freuen, wenn wir einen Teil davon noch zusammen erleben könnten.“
Sie streichelte meine Hand und sah mich an. In ihren Augen lagen Melancholie und Vorfreude. Ich schluckte schwer, als mir bewusst wurde, dass ich auch sie letztlich zurücklassen würde. Lediglich Sandra würde an meiner Seite reisen können und mit ihr war es kompliziert. Doch ich konnte das Ominee nicht sagen. Nicht jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand. Und anders als gegenüber Garwenia in Hyronanin brauchte ich auch nicht zu lügen. Es war ohnehin ungewiss, ob wir überlebten und ob ich meinen Katalog je wiederfinden würde und selbst, wenn dem so war, hatte ich mir ja geschworen noch einige Zeit zu bleiben. Ein paar Wochen wenigstens, in denen es noch genügend Gelegenheiten geben würde, um ihr die Wahrheit zu sagen.
„Das wäre schön“, sagte ich aufrichtig und gab ihr einen Kuss, den sie erwiderte.
„Was ist mit Ninvinee“, fragte ich, „wird sie sich uns auch anschließen?“
„Ich habe sie nicht gefragt“, antwortete Ominee.
„Warum nicht?“, fragte ich.
„Es wäre zu riskant“, erklärte Ominee, „anders als ich ist sie zufrieden mit ihrem Leben hier, steht nicht unter Beobachtung und ist ausreichend talentiert mit den Fäden. Wir sind zwar Freunde, aber ich würde nicht darauf vertrauen, dass sie diesen Weg mit mir geht.“
„Dann ist es wohl besser so“, sagte ich und war froh, dass Ominee so umsichtig vorging. Es gab auch so schon genug Variablen in dieser ganzen Sache.
„Doch nun sollte ich dich auf den neuesten Stand bringen, was unsere Pläne betrifft. Das ein oder andere hast du ja verpasst und die Stunde der Schwärze naht erneut.“

~o~

Der Rest der Zeit flog wie ein wirrer Fiebertraum an mir vorbei. Die Stunde der Schwärze, die diesmal ausnahmsweise ohne ein Opfer vorbeizog, da sich außer Ominee niemand eine Strafe verdient zu haben schien. Die Feierlichkeiten danach, denen wir uns erneut durch Nojuns Gegenmittel entzogen, damit wir uns nicht versehentlich verrieten. Die kurzen Gespräche mit Nojun und Slizza, denen ich mitteilte, dass Ominee nun doch wieder an Board war, was beide äußerst skeptisch aufnahmen, aber mangels Alternativen akzeptierten und die Nacht, die ich allein und unruhig verbrachte. Schließlich war der Tag der Entscheidung gekommen. Mein Schlaf war von wirren, dunklen Träumen geplagt gewesen, die sich vor allem um meine vergangenen Reisen gedreht hatten und in denen On-Grarin und Derok eine Gruppe von Cestral wie eine Schafherde zusammenpferchten.
Dabei benutzten sie zwei große Maschinenhunde, die perfekt nach Dank Qua gepasst hätten und teilten sich mit ihnen ein Mahl aus blau schimmernden Fleischstücken, welche sie zuvor aus den bedauernswerten Wesen herausgeschnitten hatten. Entsprechend gerädert und unkonzentriert fühlte ich mich an diesem Morgen und war sehr froh, dass es an diesem heiligen Tag keinen Unterricht und auch keine Sitzungen in der Webhalle geben würde.
Da mir allerdings viel wichtigere Aufgaben bevorstanden und mir noch immer gut fünf Stunden blieben, bis zum allgemeinen Gebet gerufen werden würden, überlegte ich, wie ich mich noch etwas erholen könnte.
An Schlaf war jedoch nicht zu denken und da ich wenig Lust darauf hatte, ein erneutes Bad in dem verderbten Lichtwasser zu nehmen, blieb mir eigentlich nur ein Spaziergang an der frischen Luft. Also zog ich mich an und trat auf die Wolkenstraße hinaus. Zu dieser recht frühen Zeit – es war gerade einmal kurz vor sechs und das Gebet würde erst um elf Uhr beginnen – war dort noch niemand unterwegs und ein frischer, aber nicht zu kalter Wind half wie erhofft dabei meine Gedanken zu klären.
Uranor war zu dieser Stunde ein fast paradiesischer Ort. Das geraubte Licht, welches in den Nachtstunden nicht über diese Welt ausgeschüttet wurde, war noch kaum zu sehen und das verstörende Anti-Om, welches ich in letzter Zeit immer deutlicher wahrgenommen hatte, war kaum zu hören. Dieser täuschend friedvolle Anblick führte natürlich nicht dazu, meine Entschlossenheit zu schwächen. Allerdings überlegte ich, ob diese Gelegenheit nicht nutzen sollte, um schon einmal in den Innenhof der Festung hinabzusteigen. Früher oder später würde ich das ohnehin tun müssen. Deshalb entschied ich mich für den Abstieg und begab mich in das ebenfalls ausgestorbene Recriondo, wo die Himmelstreppe ihren Anfang nahm. Ich warf noch einen letzten Blick zurück auf die Weber-Enklave und setzte dann vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen, die immerhin nicht aus Wolken, sondern aus festem weißen Stein bestanden.
Naturgemäß erforderte der Abstieg weniger körperliche Anstrengung als der Aufstieg, aber als ich das erste Mal den Fehler beging nach unten zu blicken, rutschte mir das Herz in die Hose und kalter Schweiß trat auf meine Stirn, der vom stärker werdenden Höhenwind schnell getrocknet wurde. Meine Knie zitterten und ich war mir fast sicher, jeden Moment auszurutschen und hinabzustürzen. Meine Höhenangst hatte offenbar lediglich geruht und plötzlich gelang es mir nicht mehr auch nur einen weiteren Schritt nach unten zu tun, wo der Abgrund mir sein gieriges Maul entgegenstreckte. Kurz dachte ich darüber nach, wieder umzudrehen, Nojun, Ominee oder Slizza zu wecken und mit einem von ihnen hinunterzugehen, um mich nicht so allein zu fühlen, aber das wäre natürlich mehr als nur albern und kindisch gewesen und hätte mich jedes bisschen Respekt gekostet, den sie vor mir haben mochten.
Dafür kam mir eine andere Idee. Ich konzentrierte mich erneut auf mein Fernweh, was mich immer weniger Mühe kostete, führte meine Hand zur Brust und erschuf aus mir einige Fäden, die ich wie Halteseile an den Treppenstufen befestigte. In der Morgendämmerung konnte ich die Fäden etwas schlechter sehen, als im verdunkelten Übungsraum, aber ich erkannte an einem geisterhaften Flimmern zweifelsfrei, dass sie da waren. Mit jedem Schritt hinab löste ich einige Fäden und machte sie an der nächsten Stufe fest. Auf diese Weise gelang es mir Stück für Stück voranzukommen, ohne mir dabei in die Hose zu scheißen. Zudem war dies auch noch eine wunderbare Übung, um meine frisch erworbenen Fähigkeiten zu trainieren, die ich sicher schon sehr bald wieder benötigen würde.
Nun, wo meine Höhenangst sich von lähmender Panik zu normaler Angst abgeschwächt hatte, hatte ich auch wieder Augen für meine Umgebung. Die mit wunderschönen Pflanzen bewachsene Festung sah von hier oben sogar noch friedlicher aus, als die Wolkensiedlung der Weber und ich fragte mich, warum es im Multiversum nicht überall so sein konnte. Waren all die unzähligen Ungerechtigkeiten, all die kranken und verzerrten Welten, all das Leid und die Finsternis nur Betriebsunfälle, Fehler, die man nur korrigieren musste, um sich endlich zu einem, wenn schon nicht utopischen, so doch zumindest halbwegs harmonischen und aushaltbaren Zustand zu bewegen? Oder waren sie vielmehr ein Feature als ein Bug? Waren alle Wesen – ganz gleich ob Menschen, Rilandi, Jyllen oder Laarmaschk – dazu geschaffen zu leiden? War dieser ewige Wechsel zwischen Liebe und Hass, Krankheit und Heilung, Hoffnung und Verzweiflung, Träumen und Albträumen die Triebfeder, die Energie, die diese Existenzebene überhaupt am Laufen hielt?
Waren wir womöglich nur wie Zacken an den Zahnrädern einer großen Maschine, die sich in festgelegten Bahnen ab- und aufwärts bewegten, mal schneller und mal langsamer, je nachdem wie groß diese Zahnräder waren? Und wenn dem so war, gab es dann ein Außen? Eine Ebene in der dies nicht so war? Vielleicht der wirkliche, erlösende Himmel, der irgendwo jenseits von Uranor liegen mochte und der in einem Licht erstrahlte, welches nicht der Täuschung und Ausbeutung entsprang? Doch selbst, wenn es diesen Ort gab, so fragte ich mich, ob man dort auf Dauer glücklich sein könnte. Als Fortgeschrittener wusste ich nur zu gut, dass wir stets danach strebten neue Orte zu sehen, neue Herausforderungen anzugehen, neue Aufgaben anzupacken und Ziele anzustreben, die ihren Reiz gerade daraus zogen, dass wir sie nie ganz erreichen konnten. Wäre ein Ort, an dem einen alles zur Verfügung stand und jeder Wunsch sofort Wirklichkeit wurde, nicht der zwangsläufige Tod unseres Verstandes und unsere Gefühle? Die letztendlich Auflösung unseres Selbst? Und war das etwas Schlimmes oder sah genau so das wahre Paradies aus? Die Einswerdung in einem gedankenlosen Sein?
Ich erkannte, dass mich diese Überlegungen letzten Endes zu nichts führten. Ob ich nun aus freiem Willen etwas Heldenhaftes unternahm oder nur meine Rolle im ewigen, gleichgültigen Schwung des kosmischen Pendels spielte, war in diesem Moment egal. Ich war an dem Ort, an dem ich sein musste und das, was ich im Begriff war zu tun, fühlte sich für mich richtig an.
Plötzlich sah ich unter mir etwas glitzern und spürte kurz darauf einen Luftzug, als sich erneut ein gläserner Schwarm von Flugkreaturen um mich herum scharrte, so wie es schon bei meinem Aufstieg mit Nojun der Fall gewesen war. Zuerst erschrak ich, als ich wieder die gläsernen Libellen mit ihren riesigen, hervorstehenden Facettenaugen, ihren schillernden Flügeln und ihren schlanken Hinterleibern erblickte. Die Erlebnisse im Trainingsraum waren noch fest in mein Gedächtnis eingebrannt. Gerade aus diesem Grund zwang ich mich dazu einem der vorbeifliegenden Tiere über den Rücken zu streichen. Sofort drehte es sich zu mir um und sah mich nicht nur neugierig an, sondern stupste mich sogar vorsichtig mit seinem gläsernen Kopf an, bevor es wieder seiner Wege zog. Nein, dachte ich, diese Wesen waren nicht boshaft. Wahre Bosheit kam wohl immer erst mit einer bestimmten Form der Intelligenz.
Der Rest des Weges verging fast wie im Flug, denn je näher ich der Festung kam, desto weniger machte mir die Höhe zu schaffen. Zuletzt traute ich mich sogar meine Fäden von den Stufen zu lösen. Dennoch war ich froh, als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Innerhalb der Festung war es genauso still wie über den Wolken. Niemand war zu sehen.
Hier unten empfand ich das Licht weit intensiver. Es berauschte, machte etwas träge und auch wenn ich es nach wie vor innerlich ablehnte, konnte ich mich kaum dagegen wehren, dass es meine Laune hob.
Also entschied ich mich, die unbestreitbare Schönheit der Festung auf mich wirken zu lassen. Auch wenn sich fast immer, wenn ich einen bestimmten Punkt betrachtete, meine Erinnerungen meldeten und mir wie Röntgenstrahlen die Schattenseite all der hübschen Säulen, Bögen und bepflanzten Zinnen offenbarten. Die Hallen der Prüfung, in denen Korf, Scavinee, Garwenia und viele weitere in ihren Albträumen gefangen lagen. Das Tor, hinter dessen blendender Lichtbarriere sich die trennende Lichtmauer und schließlich eine Schlammebene voller Würmer und Käfer erstreckte. Jener Schlamm, in dem ein Heer von Verzweifelten sich nach Einlass verzehrte, während sie von dem schwarzen Malmer und den Hirten verängstigt, geprüft und drangsaliert wurde. Darunter auch Sandra und der bedauernswerte Pingo. Zu schlechter Letzt auch die Sucherkammer, deren genauen Standort ich nicht kannte, in der aber jene Ausbeutung geschah, die von der Webmaschine genutzt, gesteuert und vorbereitet wurde.
Dennoch ließ das allgegenwärtige Licht keine dauerhafte Trübsal zu. Und so geschah es fast zwangsläufig, dass in mir
Erinnerungen an meine Kindheit aufkamen, in denen ich mit den kleinen Rittern in meiner Spielzeugburg und später mit Videospielen harmlose Fantasie-Schlachten geschlagen hatte. Ja, ich konnte mir sogar vorstellen, dass diese Festung hier eine dieser Burgen wäre. Dieser Gedanke war tröstlich, denn in jener Zeit war immer klar gewesen, dass ich auf der richtigen Seite stand und der Feind war immer eindeutig böse und verkommen gewesen. So einfach war da heute leider nicht. Die Laarmaschk mochten böse sein – auch wenn sie vielleicht nur taten, was ihre Natur von ihnen verlangte – und was die Rilandi taten, war klar zu verurteilen. Aber selbst, wenn wir Erfolg hatten, würden viele sterben, die den Tod nicht verdient hatten – nicht nur auf unserer Seite – und in der harten Wirklichkeit war nie klar, was aus einem Umsturz erwuchs.
Revolutionen waren die Joker-Karten der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre möglichen Wirkungen reichten von echten Verbesserungen, bis hin zu ausgewachsenen Katastrophen. Manchmal blieb einem aber keine andere Wahl, als diese Karte zu ziehen.
„Guten Tag, Olevan“, sagte eine Stimme hinter mir, die ich sofort erkannte, auch wenn ich sie länger nicht gehört hatte. Onyra.
„Die Festung ist noch immer ein ganz besonderer Anblick, nicht wahr?“, meinte Onyra, „selbst, wenn man dem Himmel so nah gekommen ist.“
„Das ist sie“, stimmte ich zu und drehte mich zu der Frau um, die mich geprüft und mir Karmon geraubt hatte und in die ich ebenfalls kurzzeitig verschossen gewesen war. Eine Form von Stockholm-Syndrom womöglich, dachte ich nun. Ihre Schönheit war nach wie vor nicht zu leugnen. Aber sie wirkte kälter und härter, als ich sie in Erinnerung hatte. Es lag nicht allein an ihrem gläsernen Körper. Selbst unter den gläsernen Teilen von Nojuns Leib schien stets ein freundliches Licht zu glühen, selbst wenn man es nicht sehen konnte. Onyra hingegen hätte auch aus Eis sein können, „falls du dich fragst, warum ich …“
„Das brauch‘ ich gar nicht zu wissen“, antwortete Onyra unerwartet freundlich, „ein jeder Rilandi hat das Recht die Festung aufzusuchen, wenn ihn keine Pflicht davon abhält. Das gilt umso mehr am Tag des Gebets.“
„Gut zu wissen“, sagte ich, „bist du ebenfalls hier, um die Schönheit der Festung zu bewundern? Oder bist du auf Patrouille?“
Kurz befürchtete ich, dass meine Fragen sie verärgern würden, aber offenbar schien ich als Weber in ihren Augen nun Narrenfreiheit zu besitzen, denn sie zeigte sich nicht nur nicht verärgert, sondern gab mir sogar Antwort.
„Weder noch“, antwortete Onyra, „ich war auf dem Weg zu dir. Insofern hast du mir den Aufstieg erspart.“
Als ich dies hörte, spürte ich, wie meine Handflächen vor Aufregung feucht wurden. Warum sollte Onyra nach mir suchen? Wusste sie etwas? Ich tat mein Bestes, um meine Nervosität zu verbergen und antwortete in möglichst lockerem Ton. „Das trifft sich gut. Den Aufstieg würde ich auch nicht gerade als Vergnügen bezeichnen, auch wenn die Aussicht atemberaubend ist. Doch warum wolltest du mich aufsuchen?“
„Der Allrichter will dich sehen“, antwortete sie nüchtern.
Verdammte Scheiße, dachte ich, offensichtlich hatte der Allrichter doch von unseren Plänen erfahren. Vielleicht waren unsere Wohnquartiere doch nicht so abhörsicher, wie Nojun behauptet hatte. Ich erwog die anderen zu warnen. Aber wie? Ich konnte wohl kaum über die Himmelstreppe fliehen und sie aus ihren Betten holen. Zum einen hätte mich das erst recht in die Scheiße geritten, falls sie bislang lediglich einen vagen Verdacht hegten und zum anderen hätte ich meine Mitstreiter so ebenfalls enttarnt. Eine Flucht durchs Tor kam ebenfalls nicht in Frage. Diesen Gedanken hatte ich ja bereits zur Genüge durchgespielt. Letztlich blieb mir nur eine Möglichkeit. Mich so unverdächtig wie möglich zu verhalten, den Unschuldigen zu mimen und zu hoffen, dass das genügte, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Womöglich wussten sie ja noch gar nicht so viel über unser Vorhaben. Und falls ich ganz viel Glück hatte, ging es um eine ganz andere Angelegenheit. Sollten meine Befürchtungen eintreffen, konnte ich ja immer noch meine Haut so teuer wie möglich verkaufen und ihnen ein paar Fäden in die Fresse donnern. „Weswegen will mich Wornaara denn sehen?“, hakte ich nach.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Onyra, „er gab mir lediglich den Auftrag dich zu ihm zu bringen und das ich keine Fragen stelle, wenn es nicht nötig ist, solltest du ja inzwischen wissen. Das gilt ganz besonders gegenüber dem Allrichter. Eine Frage muss ich dir jedoch stellen: Würdest du mir nun folgen?“
Ich nickte und schloss mich ihr gehorsam an, als wir über den strahlend sauberen, mit religiösen Symbolen verzierten Innenhof schritten. Mit jedem Schritt begann ich mich dabei unwohler zu fühlen, was nicht nur am Ziel unseres kleinen Ausflugs lag. Das letzte Mal, als ich Onyra gefolgt war, hatte mein Weg in einem finsteren Kerker geendet. Ich hoffte inständig, dass dies diesmal anders sein würde.

~o~

„Öffne deine Augen, Olevan“, verlangte die sanfte Stimme des Allrichters und als ich dies tat und den bizarren Kopf mit den vielen Augen sah, befürchtete ich, dass er direkt in meine Seele sehen und all meine Geheimnisse ergründen würde. Dummerweise war das bei einem Volk, welches zumindest in der Lage war, eine Art von Psychokinese einzusetzen, auch nicht vollkommen abwegig. Zornig oder enttäuscht wirkte Wornaara jedenfalls nicht. Aber das musste nichts bedeuten. Zum einen konnte ein Wesen wie er sich sicherlich perfekt verstellen, wenn es nötig war und zum anderen jagte er mir in diesem Moment auch so schon mehr Angst ein, als die Verbindung Zoenhir.
Ich erinnerte mich daran, dass es mir noch immer nicht zustand ihm Fragen zu stellen und hielt brav den Mund in der Hoffnung, dass er von sich aus die Initiative ergreifen würde, auch wenn das meinen Nerven nicht gerade förderlich war. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis seine sphärische, geschlechtslose Stimme erklang.
„Ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund zu mir gerufen“, sagte Wornaara, „du weißt wahrscheinlich worum es geht, oder?“
Mein Herz sank in meine Hose und ich bezweifelte plötzlich, dass meine Fähigkeit, die Fäden zu weben mir gegen den Allrichter irgendetwas bringen würde. Wenn ich das versuchte, würde er wohl bestenfalls in Gelächter ausbrechen. Mir blieb also nur, die Nerven zu behalten.
„Das weiß ich leider nicht, Allrichter“, antwortete ich demütig.
„Das wundert mich, Olevan“, sagte Wornaara nachdem er mich lange und prüfend angesehen hatte „entweder besitzt du eine innere Ruhe und Ausgeglichenheit, von der wir alle noch lernen können oder um dein Gedächtnis ist es nicht sonderlich gut bestellt. Jedenfalls ist das, was Kollat dir angetan hat, nichts, was so leicht in Vergessenheit geraten sollte.“
Was Kollat mir angetan hatte, dachte ich überrascht, mochte das wirklich der Grund sein, aus dem der Allrichter mich gerufen hatte? Ich wagte es kaum zu hoffen.
„Da habt ihr natürlich recht“, antwortete ich, „auch ich habe es nicht vergessen und es hat mich tief getroffen. Immerhin wollte er mein Leben opfern. Doch ich dachte nicht, dass ich das Recht hätte euch damit zu behelligen. Ich ging davon aus, dass das Wort der Webermeister Gesetz ist.“
Die meisten von Wornaaras Augen verdrehten sich plötzlich nach innen, fast so als wolle er in sich hineinschauen. Vielleicht tat er das auch. Denkbar, dass dies seine Art war angestrengt nachzudenken.
„So ist es auch“, bestätige Wornaara, „jedoch bin ich es, der dieses Gesetz erlassen hat und es verbietet den Meistern, leichtfertig und willkürlich Leben und Potenzial zu gefährden. Außerdem schreibt es eine Balance zwischen Strenge und freiem Gedankenfluss vor. Beide Gesetze hat Kollat verletzt und dafür soll er bestraft werden. Heute Abend, zur Stunde der Schwärze, wird er deshalb zum letzten Mal seinem Laarmaschk gegenübertreten. Zusammen mit Ominee. Ich hoffe sehr, dass Kollats Kopie sich als weniger unberechenbar erweist. Doch wie dem auch sei, dir ist Unrecht widerfahren, Olevan. Deshalb wollte ich, dass du von seiner Bestrafung erfährst und ich wollte mich in aller Form bei dir entschuldigen.“
Diese Nachricht löste weniger Erleichterung in mir aus, als man meinen könnte. Eine Entschuldigung vom Allrichter höchstpersönlich war, wie ich vermutete, etwas so Seltenes und Besonderes, dass es wohl jeden anderen Rilandi vor Freude zum Weinen gebracht hätte. Und Kollat war ein Riesenarschloch, das wahrscheinlich fast jede Form von Strafe verdient hätte. Doch unterm Strich blieb nur ein weiterer Laarmaschk, der ihre Kontrolle über Uranor verstärken würde.
„Ominees Eingreifen hat mir das Leben gerettet“, bemerkte ich, in der Hoffnung ihr schreckliches Los auch dann abzuwenden, falls mit unserer Rebellion irgendetwas schieflief.
„Das mag sein“, stimmte Wornaara zu, „und es ist löblich sich um die Gemeinschaft zu sorgen. Aber sie hatte nicht das Recht gehabt, Kollats Unterricht zu kritisieren. Vielmehr hätte sie sich direkt an einen der anderen beiden Webermeister wenden müssen, damit er ihre Beschwerde an mich weiterträgt.“
Was für ein Schwachsinn, dachte ich. Laut jedoch sagte ich, „Wenn sie so gehandelt hätte, wäre es längst zu spät für mich gewesen!“ Dabei konnte ich nicht verhindern, dass eine gewisse Schärfe in meine Stimme einsickerte.
Wornaara entging das nicht. Er wirkte durchaus verärgert und die friedliche, fast meditative Aura, die ihn umgab, wandelte sich zu etwas Bedrohlichem.
„Ich habe die Sinnpfade nicht ohne Grund erschaffen, Olevan“, sagte der Allrichter tadelnd, „Genauso wenig wie unsere Gesetze. Alles muss ineinandergreifen, wie eine gut geölte Maschine. Eine gute Tat macht eine Schlechte nicht ungeschehen, wie die zu schnelle Drehung eines Zahnrads nicht eine zu langsame bei einem anderen kompensiert. Ich ließ dich holen, um mich bei dir zu entschuldigen, nicht um dich meine Ratschlüsse kritisieren zu lassen. Falls du mir sonst nichts zu sagen hast, würde ich dir empfehlen diesen Raum zu verlassen. Meine Geduld ist nicht unerschöpflich.“
Maschinen? Zahnräder? War ich in einem verdammten Außenposten von Dank Qua gelandet? Diese Worte ärgerten mich umso mehr, da ich ja vor kurzem noch ähnliche metaphorische Bilder verwendet hatte. War das ein Zeichen dafür, dass Wornaara in der Lage war in meinen Kopf zu sehen?
Doch ganz gleich, ob dem so war oder nicht: Das Verhalten dieses selbsternannten Allrichters war vollkommen irrational und kindisch. Ich fragte mich, wie ich ihn je für weise hatte halten können. „Weil du verzweifelt warst“, gab mir meine innere Stimme zur Antwort. „Weil du gefangen warst in einem Netz aus Schuld und Selbsthass. So nämlich arbeiten alle Gurus, Meister und Führer. Sie suchen nach den hilflos in ihrem Schicksal Eingesponnenen, nicht, um sie zu heilen, sondern damit sie diese Fäden nutzen können, um sie zu steuern und sie immer fester darin einzuwickeln. Sie führen ein blendendes Lichtspiel vor, um einem die zauberhaften Weiten des Kosmos in Aussicht zu stellen, während sie einem im Wahrheit jegliche Bewegungsfreiheit nehmen. Sie predigen Demut, Gemeinschaft und Selbstlosigkeit während sie ihre herrschsüchtigen Egos zu planetarer Größe aufblasen. Sie sind nicht besser als Mörder, die sich an der Angst ihrer Opfer weiden, die sich in ihren Klingen spiegelt. Nur unehrlicher.“
Wo immer diese Stimme herkam, ob es sich um ein fernes Echo von Karmon handelte, oder um Ratschläge meines Unterbewusstseins – in jedem Fall hatte sie recht. Dennoch konnte mir all das im Moment egal sein. Ich war mit Wornaara fertig und wenn ich Glück hatte, würde der Allrichter schon bald sein Urteil empfangen. Die Hauptsache war, dass er nichts davon ahnte.
„Natürlich, Allrichter“, heuchelte ich Unterwürfigkeit, „es tut mir leid, euch verärgert zu haben. Das habe ich nicht gewollt.“
Wornaara sagte dazu nichts, und so drehte ich mich um und verließ den Saal, der meiner Meinung nach zu einem der unangenehmsten Orte in ganz Uranor gehörte.

~o~

Als ich endlich draußen war, atmete ich auf. Eigentlich war es ja ganz gut gelaufen. So unangenehm diese ganze Geschichte auch war, so hatte sie mir doch zumindest etwas von meiner Wartezeit vertrieben, denn laut meiner bravianischen Uhr, deren ungewohnte Zeitangaben ich inzwischen fast im Schlaf interpretieren konnte, würde es nur noch ungefähr zwei Stunden dauern, bis das gemeinsame Gebet stattfinden würde. Natürlich war das noch immer recht viel Zeit für jemanden, der Langeweile so verabscheute wie ich, gerade wenn ein Ort so wenig Zerstreuungsmöglichkeiten bot, wie der Innenhof der Lichtfestung. Aber wahrscheinlich würden schon bald die anderen zum Gebet eintreffen. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sie eine Verspätung riskieren würden.
„Ich bin wirklich enttäuscht von dir, Verlorener“, hörte ich jemand hinter mir rufen. Es war Onyra. Was wollte sie jetzt von mir und warum nannte sie mich plötzlich so? Als ich mich umdrehte, ahnte ich den Grund. Sie hielt den Hirtenstab in ihrer Hand fest umklammert.
„Ich weiß gar nicht, was du …“, begann ich mich reflexhaft zu verteidigen.
„Spar‘ dir deine Lügen“, sagte Onyra. Ihre gläsernen Augen sprühten vor Zorn, „wir wissen über euren Verrat Bescheid. Der Allrichter hatte dir eine letzte Gelegenheit gegeben ihm alles zu beichten. Hättest du es getan, hättest du dich seiner Güte anvertraut, hätte er dir die Chance gegeben erneut ein Teil der Gemeinschaft zu werden. Nun aber ist es zu spät, Verlorener.“
Ich verschwendete keine Zeit mit Verzweiflung oder Erschrecken, sondern reagierte reflexartig, indem ich Lichtfäden aus der Umgebung und aus mir selbst mobilisierte, sie um Onyras Waffe wickelte, sie ihr mit einem Ruck entriss und sie in meine eigene Hand zog. Ich war Stolz auf diesen Move und die Verblüffung auf Onyras Gesicht ließ mich nur noch stolzer werden.
„Ich glaube DU hast da was verloren“, sagte ich lächelnd, als sich plötzlich die Waffe in meiner Hand wie von selbst regte, sich aus meinem Griff herauswand und mir mit ihrer Spitze direkt in meinen Bauch stach.
„Du bist nicht unfähig, Verlorener“, sagte Onyra nun ihrerseits lächelnd, „aber du bist unwissend. Trotz aller deiner Fragen. Drum will ich dich erleuchten. Der Hirtenstab eines Hirten ist wie ein Teil seines Körpers. Du kannst ihn nicht so einfach von ihm trennen.“
Ich spürte, wie sich von der Einstichstelle Taubheit und Kälte in mir ausbreiteten, wie eine Ölpfütze im Meer.
Ich versuchte die Waffe aus mir herauszuziehen, doch meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr. Einen Atemzug später spürte ich weder den glatten weißen Stein unter mir, noch das Licht auf meiner Haut, dann verschwand Onyras Gesicht vor meinen Augen, die subtilen Düfte der Blumen erreichten nicht länger mein Gehirn und das leise Säuseln des Windes verstummte. Dennoch verlor ich nicht das Bewusstsein. Ich trieb in einem vollkommen isolierten und für jeden Reiz unempfänglichen Gefängnis aus Fleisch. Wie ein Gehirn in einem Tank. Es war genau der Zustand, den Scavinee sich für mich als Folter erdacht hatte. Nur geschah es diesmal wirklich. Ich versuchte darüber nachzudenken, was Onyras Worte bedeuteten. Für mich. Für Uranor. Für die Zukunft von Ominee, Nojun, Slizza, Pingo und all den anderen. Doch es wollte mir nicht gelingen. Da war etwas, was meine Gedanken störte. Jenes finstere Brummen, jenes Anti-Om, erhob sich von irgendwo jenseits der Wirklichkeit, ohne den Umweg über meine nutzlos gewordenen Ohren zu nehmen und machte mir selbst den schwachen Trost komplexerer Gedankengänge unmöglich, womit sich auch dieser Teil von Scavinees Wunsch zumindest teilweise erfüllte.
Dennoch war mein Verstand nicht untätig. Er schuf Bilder von erschreckender Klarheit. Von Leichenstädten, geschwängert von wimmelndem Chaos, an von brackigem Pestwasser umspülten Küsten. Von engen, krummen, endlosen Gängen in lichtvergessenen Dimensionen, nur unterbrochen von obskuren Gruben und Schächten aus denen bizarre Augen hinabglotzten. Nicht auf der Suche nach mir, sondern starr und furchtsam Ausschau haltend nach dem Unnennbaren, das mir folgte. Schließlich folgten vertrautere Bilder von würzigen, lebendigen Wäldern, die vom ölglänzenden Metallkrebs Dank Quas verschlungen wurden, von einem Liebespaar, welches sich mitten in der innigsten Umarmung zuckend aufeinander übergab und einen von schaumigem Blut, und Gewebefetzen verunreinigten Mageninhalt zum Vorschein brachten, während ihnen Haare und Nägel wie Herbstlaub ausfielen. Schließlich auch von einem Schlachtfeld voller Soldaten und Zivilisten, voller Frauen, Männer, Kinder und sogar Tieren, die sich mit vor Feuereifer glühenden Gesichtern rücksichtslos und gnadenlos um ihr Leben brachten und die Leichenberge lieblos zu Barrikaden und Schutzwällen aufschichteten. Dabei sangen sie das Lied erfundener Götter und huldigten in all dem dem finsteren Anti-Om, auf das es ihnen Vater, Mutter, Tochter und Sohn ersetze, deren Blut die durstige Erde bereits getrunken hatte. So ging es immer weiter und weiter und auf gewisse Weise war dies schlimmer als selbst die Albträume, die mir Sahkscha beschert hatte. Denn wo dieser Fluch durch das Licht der Festung gebrochen worden war, handelte es sich hierbei um einen Fluch, dem wohl niemand von uns auf Dauer entrinnen wird. Den Fluch der Existenz.

~o~

Irgendwann jedoch, ohne genau sagen zu können, wie lange diese Folter gedauert hatte, kehrten meine Sinne zurück. Das, was sie meinem um Gnade bettelnden Geist lieferten, erinnerte mich im ersten Augenblick an die Zelle, in die mich Onyra bei meiner Ankunft in der Festung geführt hatte. Jedoch gab es gewaltige Unterschiede. Der Geruch war nicht annähernd so widerlich und abstoßend wie damals. Es roch lediglich nach feuchtem Mauerwerk und Staub. Eben jenes Mauerwerk war aus sauberem, hellen, weißen Stein und die Tür bestand aus einer dicken Schicht milchigen Glases, durch welche ich undeutlich den leeren, nichtssagenden Flur vor meiner Zelle erkennen konnte. Auch war der Boden meines Gefängnisses eben und nicht zerklüftet und es gab sogar eine flache Liege aus weichem Glas, auf der man sich ausruhen konnte. Selbstverständlich erwog ich die Möglichkeit mich erneut in einer Illusion zu befinden. Jedoch entdeckte ich keinen Anhaltspunkt dafür, außer vielleicht, dass die Verletzung durch den Hirtenstab verheilt war, was aber auch andere Gründe haben konnte. Diese Umgebung war nicht schrecklich genug um mich zu quälen und nicht schön genug, um falsche Hoffnungen in mir zu wecken. Also nahm ich – quasi als Arbeitshypothese – erst einmal an, dass ich mich in der stofflichen Realität und nicht in meinem Kopf befand. Offenbar wollte man meinem Laarmaschk kein verkrümmtes, geschwächtes und von üblen Rückenschmerzen gebeugtes Vorbild geben. Denn auch wenn Onyra es nicht explizit ausgesprochen hatte, war mir, nun, da meine klaren Gedanken zurückkehrten, doch bewusst, dass mir bald genau dieses Schicksal bevorstand.
Doch wer hatte uns verraten? Auch wenn Gestalten wie die Verbindung Zoenhir oder die Wahrgeborenen um Ranscha ganz und gar nicht vertrauenswürdig wirkten, musste ich zugeben, dass eine Person besonders nahelag: Ominee. Aber konnte das sein? Immerhin hatte sie nach ihrem Urteil nun doch wirklich nichts mehr zu verlieren und wenn sie uns an den Allrichter verraten hätte, hätte er sie dafür sicherlich verschont. Andererseits konnte ich mir da auch nicht ganz sicher sein. Die Rilandi waren nicht unbedingt gerecht, auch wenn sie gerne so taten. Gut möglich, dass sie zwar auf die Aussetzung ihrer Strafe gehofft hatte, Wornaara und die Webermeister aber der Meinung gewesen waren, dass sie sich allein schon dadurch schuldig gemacht hatte, dass sie sich überhaupt an solchen Plänen beteiligt hatte. Wie hatte es Wornaara formuliert: „Eine gute Tat macht eine Schlechte nicht ungeschehen.“
Abgesehen davon wusste ich ja nicht mal, ob ich den Worten des Allrichters oder auch denen von Ominee trauen konnte. Vielleicht war ihre Fütterung ja längst ausgesetzt worden oder nie wirklich geplant gewesen.
Doch wenn Ominee mich ans Messer liefern wollte, wieso hatte sie mich dann vor Kollat gerettet? Das machte alles keinen Sinn.
„So eine verfluchte Scheiße!“, brüllte ich und trat gegen die Zellentür, die sich davon zwar nicht beeindrucken ließ, aber auch keine Schmerzen an meinen Fuß hervorrief, da sie offenbar weich und flexibel war wie Gummi, „Wieso führt jede meiner Beziehungen zu Frauen in eine Katastrophe?“
„Schon mal darüber nachgedacht, dass es nicht an den Frauen liegt?“, antwortete eine weibliche Stimme, die aus der Zelle rechts von mir zu kommen schien.
„Ominee?“, fragte ich überrascht.
„In Fleisch und Blut“, antwortete die Jyllen.
„Warum bist du hier?“, fragte ich sie.
„Aus demselben Grund wie du“, antwortete Ominee, „weil mich diese Wichser an einen dieser Lehm-Dämonen verfüttern und sichergehen wollen, dass ich nicht fliehe. Sie haben mich mitten auf der Himmelstreppe überfallen und gefangengenommen. Eigentlich hatte ich noch mit dir sprechen wollen, aber als ich dich nicht mehr in deinem Zimmer angetroffen habe, bin ich davon ausgegangen, dass du dich bereits auf den Weg in den Innenhof gemacht hattest. Ich wüsste zu gerne, wer uns verraten hat.“
Du immerhin nicht, dachte ich erleichtert, auch wenn ich mir da nach wie vor nicht ganz sicher war. Dies konnte immer noch eine Scharade sein. Und womöglich war es ja doch eine Illusion. Vielleicht war es auch gar nicht Ominee, sondern lediglich Onyra, die auf diese Weise erfahren wollte, wer noch alles an unserer Verschwörung beteiligt war und wie genau unser Plan aussah. Ich beschloss, lieber vorsichtig zu sein.
„Das wüsste ich auch gerne“, antwortete ich unverbindlich, „fast genau so gerne, wie ich wüsste wie wir hier wieder rauskommen.“
„Gar nicht“, erwiderte Ominee, „glaub mir, ich habe alles versucht. So entwürdigend es ist: Ich habe mir sogar mit meinem Nutrion und meinen Anmella-Strängen am Schlüsselloch zu schaffen gemacht, in der Hoffnung so irgendeinen Mechanismus auslösen zu können. Aber gebracht hat es mir nichts, Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Konstrukteure das hier sehr gut durchdacht haben. Nicht aus jedem Gefängnis gibt es auch einen Ausweg.“
Das Schlüsselloch, dachte ich, und sah mir die feine Öffnung in der Zellentür genauer an. Ich mochte keine Anmella-Stränge haben, aber dafür die Möglichkeit an einen gleichwertigen Ersatz zu kommen. Leider gab es hier drinnen kein wirkliches Licht, auch wenn die Decke aus irgendeinem Grund genügend Helligkeit abstrahlte, um die Einzelheiten der Zelle wahrnehmen zu können. Also bemühte ich mich die Fäden aus meinem Inneren hervorzurufen, was ein wenig Mühe und Konzentration erforderte, mir jedoch schlussendlich gelang. Immerhin fünf Fäden konnte ich aus mir herauszwängen und bewegte sie vorsichtig auf das Schlüsselloch zu.
„Hey, Olevan“, rief Ominee, als ich nicht auf ihre Worte reagierte, „bist du noch da?“
„Ich versuche etwas“, sagte ich knapp während ich die Fäden wie tastende Finger in die Öffnung hineinführte. Dabei bemerkte ich, dass dieser Vergleich gar nicht so übel war. Denn wenn ich mich darauf fokussierte, konnte ich tatsächlich die feinen Rillen und Erhebungen im Inneren des Schlosses spüren, fast so als hätte ich sie mit meinen Fingerkuppen berührt.
„Natürlich“, höhnte Ominee, „wenn mir jemand erklärt, dass es keinen Ausweg gibt, versuche ich auch immer gleich einen zu finden.“
„Das ist so in etwa meine Lebensphilosophie“, erwiderte ich und jubilierte, als ich eine kleine Erhebung fand, die sich mit etwas Druck hinunter pressen ließ. Noch tat sich weiter nichts, aber dennoch hielt ich diese Stelle hinuntergedrückt, während ich mit den anderen Fäden weiter umhertastete
„Die Meinungen und Erfahrungen anderer geringzuschätzen?“, spottete Ominee, „ja, das erklärt Einiges.“
„Hab ich irgendetwas getan, um mir deinen Spott zu verdienen?“, fragte ich, während ich eine Art Rädchen entdeckte, welches ich bis zum Anschlag nach oben drehte, woraufhin es mit einem leisen knacken einrastete. Adrian, der Meisterdieb, dachte ich nicht ohne Stolz, auch wenn die Tür noch immer nicht nachgab.
„Außer all meine Freunde auszulöschen“, begann Ominee zynisch, korrigierte sich dann aber sofort, „nein, hast du nicht, ich habe ja selbst gesagt, dass ich deinem neuen Ich die Taten deines alten Ichs nicht mehr vorhalten will. Es ist nur … es ist die verdammte Angst, vor dem, was uns erwartet, Ok?“
„Das kann ich gut verstehen“, antwortete ich halb abwesend, „ich will genauso wenig ersetzt werden wie du. Und das wird auch nicht passieren.“
Irgendwo muss ein weiterer Teil des Mechanismus sein, dachte ich, während ich weiter angestrengt jeden Millimeter prüfte.
„Woher nimmst du eigentlich deinen Optimismus?“, fragte Ominee.
„Aus der Tatsache, dass ich nach wie vor atme“, antwortete ich und plötzlich fand ich sie. Eine winzige Öffnung, viel zu klein selbst für Ominees schlanke Anmella-Stränge, aber nicht für die Fäden, deren Dicke ich bis zu einem gewissen Grad variieren konnte. Vorsichtig schob ich einen der verbleibenden Geistfäden hinein und hielt den Atem an. Kurz darauf presste ich ihn stoßartig wieder hervor, als die Spitze des Fadens bis zum Anschlag in die Öffnung hineinglitt, eine gewaltige Spannung durch meinen Körper jagte und mich gegen die hinter mir liegende Wand schleuderte.
„Atmest du nun immer noch?“, fragte Ominee mit einer Mischung aus Zynismus und aufrichtiger Sorge.
„Ja“, ächzte ich, während ich mich mühsam wieder aufrappelte. Meine verkrampften Muskeln protestierten etwas, aber dennoch gelang es mir, und was ich sah, entschädigte mich für den Schock und den Schmerz. Die Zellentür war offen.
„Ich habe es geschafft“, sagte ich, „ich habe das Schloss geknackt. Nun hole ich dich raus.“
„Respekt!“, sagte Ominee anerkennend.
Mit einem erleichterten Grinsen schritt ich auf die nun offene Tür zu und … traf auf eine schmerzhaft kribbelnde Barriere, die – wie ich nun aus der Nähe feststellte – aus unzähligen kleinen Fäden gewoben worden war. Ohne es auch nur versucht zu haben, war mir diesmal klar, dass ich mit meinen eigenen bescheidenen Fähigkeiten keine Chance haben würde sie zu beseitigen.
„So ein verdammter Mist!“, fluchte ich.
„Was ist denn nun schon wieder?“, fragte Ominee.
„Die Tür ist zwar offen, aber es gibt eine weitere Barriere, die ich nicht durchbrechen kann. Womöglich war mein Optimismus doch ein wenig fehl am Platz“, erklärte ich seufzend und setzte mich frustriert auf die weiche, gläserne Liege.
„Wenigstens bist du einen Schritt weitergekommen als ich“, sagte Ominee, „meine Resignation hat uns ja auch nicht weitergebracht.“
„Glaubst du, dass sie die anderen ebenfalls geschnappt haben?“, fragte ich getrieben von einer schwachen Hoffnung auf Rettung. Meine bravianische Uhr, die man mir aus irgendeinem Grund nicht weggenommen hatte – wahrscheinlich, damit ich das Verstreichen der Zeit bis zur Speisung beobachten konnte – sagte mir, dass das Gebet erst in einer knappen Dreiviertelstunde stattfinden würde.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Ominee, „sie haben mich nicht zu Mitverschwörern befragt. Aber das müssen sie ja auch nicht. Unsere Laarmaschk werden ihnen das alles ohne Zögern verraten. Da brauchen sie sich gar nicht lange mit Verhören herumplagen. Gut möglich also, dass es die anderen nicht erwischt hat. Anderenfalls wären sie ja auch hier irgendwo in einer der Zellen.“
„Also könnte es theoretisch sein, dass sie die Operation ohne uns starten“, überlegte ich und entschied mich meine Vorsicht gegenüber Ominee gänzlich aufzugeben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Onyra ihre Rolle so gut spielte.
„Vielleicht“, sagte Ominee, „aber ich glaube eher nicht. Wenn sie unser Fehlen bemerken, werden sie ahnen, dass etwas nicht stimmt und das Risiko wohl kaum eingehen.“
„Also sind wir verloren?“, folgerte ich.
„Sieht so aus“, sagte Ominee, „die Hirten behaupten das ja immer gerne von allen, die ihre Gunst verloren haben. Das muss ja einen Grund haben. Und wenn man vorher noch nicht verloren ist, sorgen sie eben selbst dafür.“
„Was ist mit Kollat?“, fragte ich, „der Allrichter sagte mir, dass er ihn ebenfalls zum Laarmaschk machen will. Denkst du, auch er ist irgendwo hier gefangen und belauscht uns?“
„Das glaube ich nicht“, antwortete Ominee, „er war unter jenen, die mich gefangengenommen haben. So wie er gegrinst hat, halte ich es sogar für möglich, dass er unser Gespräch vorletzte Nacht belauscht oder zumindest beobachtet und uns beim Allrichter angeschwärzt hat. Wornaara wird dich belogen haben.“
Für eine ganze Weile schwiegen wir beide und hingen unseren Gedanken nach. Erst als plötzlich eine Woge seltsamer Melancholie in mir aufwallte, sprach ich wieder.
„Ich hätte mich in Konor auf eure Seite schlagen sollen“, sagte ich, „dann wäre all dies womöglich nie passiert.“
„Das hättest du“, sagte Ominee, „denn es wäre das Richtige gewesen. Aber ob es wirklich alles geändert hätte, weiß ich nicht. Du bist kein Gott, Olevan. Und Adrian war es auch nicht. Du kannst nicht allein das Schicksal ganzer Welten bestimmen. Das habe ich dir doch gestern schon klarzumachen versucht. Deine Tat war ein Zusammenspiel passender Umstände gewesen. Selbst mit deiner Hilfe oder der deiner Söldner hätten wir die Rorak nicht unbedingt schlagen können. Wir hatten keinen auf sie geprägten Erreger mit genozidem Potenzial und selbst wenn, hätten wir ihn wahrscheinlich nicht eingesetzt. Doch sogar, wenn wir so verzweifelt und skrupellos gewesen wären, hätten sich die Rorak nicht von uns täuschen lassen. Wärest du nicht mit unserer Arnivel als deiner Gefangenen zurückgekehrt, hätten sie dich wohl eher getötet, als das Risiko einzugehen sich einen Doppelagenten einzufangen. Ohnehin ist es nun einmal geschehen. Wir beide haben unsere Fehler gemacht. Schwere Fehler, von denen ich nicht weiß, ob man sie wieder gutmachen kann.“
„Vielleicht mit unserem Tod“, überlegte ich düster.
„Der Tod kann nichts mehr gut machen“, entgegnete Ominee, „im Gegenteil. Er nimmt einem die Möglichkeit es auch nur zu versuchen. Und selbst, wenn es anders wäre – auf uns wartet nicht der Tod. Du glaubst doch wohl kaum, dass unsere Laarmaschk danach streben würden Dinge zu verbessern.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte ich, „aber das werden wir wohl nie erfahren.“
„Was soll dieses weinerliche Geplärre?“, sagte plötzlich eine sphärische Stimme, die so klang wie eine sehr laute Radioübertragung, die von sehr weit weg abgespielt wurde. Kurz darauf sah ich, wie sich direkt vor mir in der Luft ein grünlich glänzender Spalt auftat, aus dem muffig riechender Nebel quoll. Aus diesem Nebel materialisierte sich ein Gesicht. Moydrurs Gesicht. Das Gesicht des Scyonen, der sich damals in Dank Qua einfach in Luft aufgelöst hatte, „ich bin gekommen, um den Schlächter von Konor aufzusuchen und alles, was ich finde ist ein weinerliches Kind.“
„Moydrur?“, fragte ich ungläubig.
„Wer oder was ist ein Moydrur?“, erkundigte sich Ominee, die ebenfalls ziemlich überrumpelt schien.
„Immerhin dein Gedächtnis ist noch vorhanden, Oberkarzon. Selbst wenn du dein Feuer verloren hast“, stellte Moydrur fest, der sich inzwischen vollständig in meiner Zelle materialisiert hatte und mich skeptisch betrachtete.
„Oberkarzon?“, fragte Ominee, „mit wem redest du da?“
„Ich erkläre es dir gleich“, sagte ich zu Ominee.
„Wie hast du mich gefunden und warum hast du nach mir gesucht?“, frage ich Moydrur.
„Ich habe dir doch bereits in Konor erzählt, dass wir Scyonen in der Lage sind zwischen Welten und Dimensionen zu reisen“, erklärte Moydrur.
„Du hast aber auch erzählt, dass ihr euch den Ort, an dem ihr landet nicht immer aussuchen könnt“, wandte ich ein.
„Das stimmt“, sagte Moydrur, „es hat mich auch einige Versuche gekostet. Aber ich lag immer nur knapp daneben, denn ich habe dich gespürt, Oberkarzon. Ich habe deine Macht von fern erblickt wie ein Leuchtfeuer im Nebel, welches ich in immer engeren Kreisen umflogen habe. Irgendwann jedoch sah ich dieses Leuchtfeuer erlöschen … wobei … nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Ich sah, wie es geteilt wurde.“
„Du musst meine Trennung von Karmon gespürt haben. Dem Kwang-Grong-Symbionten, der einst in mir lebte. Die Rilandi haben ihn aus mir entfernt und ihn vernichtet.“, sagte ich traurig. Nun, wo ich nicht länger ein demütiger Diener des Allrichters war, fühlte ich den Verlust meines alten Freundes wieder umso deutlicher.
„Sie haben ihn nicht vernichtet. Seine Flamme brennt noch immer. Heller als deine, um ehrlich zu sein. Eigentlich habe ich nach ihm gesucht. Aber nun, wo ich bei dir gelandet bin, kannst du mir ja vielleicht doch nützlich sein“, sagte Moydrur.
Karmon lebt? Diese Erkenntnis erfüllte mich mit Hoffnung, aber auch mit Unglauben. „Das ist unmöglich!“, entgegnete ich, „ich habe gespürt, wie Onyra ihn aus mir herausgebrannt hatte. Und selbst, wenn ein Teil von ihm das überstanden haben sollte, so wird er allein nicht lange überleben können. Immerhin ist er ein Symbiont.“
„Ein Symbiont kann einen neuen Wirt finden“, sagte Moydrur höhnisch lächelnd, „du bist nicht das einzige denkende, zweibeinige Fleisch, welches auf Uranor herumstolziert.“
Karmon und ein neuer Wirt? Der Gedanke daran war schlimmer als gewöhnliche Eifersucht. Es war fast so, wie von sich selbst verraten zu werden. Lieber hätte ich seinen Tod akzeptiert. „Du irrst dich!“, entgegnete ich leicht gereizt.
„Wag es nicht meine Talente infrage zu stellen, Oberkarzon“, antwortete Moydrur nicht weniger aufgebracht, „das Gespräch mit dir ist ohnehin ermüdend. Ich überlege ernsthaft, ob ich dich nicht deinem Schicksal überlasse und einen neuen Versuch starte Karmon und seinen neuen Wirt zu finden. Bei meinem Vorhaben brauche ich starke und entschlossene Verbündete. Keine jammernden Schwächlinge.“
„Wie sieht denn nun dieses Vorhaben aus?“, fragte ich so selbstbewusst wie möglich. Wenn Moydrur uns irgendwie helfen könnte zu fliehen, durfte ich ihn nicht einfach gehen lassen.
„Was du denkst du denn, Oberkarzon?“, fragte Moydrur.
Es kostete mich tatsächlich nur einen Augenblick des Nachdenkens um zu erkennen, dass die Antwort auf diese Frage tatsächlich offensichtlich war. „Du willst die Scyonen aus den Fängen der Rilandi befreien.“
„So ist es“, sagte Moydrur nickend, „ich und die anderen hören ihre Schreie seit langem in den Straßen des Zwischenraums. Bislang erschien uns das Risiko einer Rettung zu groß. Zu leicht hätten die Rilandi uns einfangen können. Ihre unwissenden, gläubigen Sklaven machen ohnehin schon überall im Multiversum Jagd auf uns und schicken sie in ihren Tempeln nach Uranor. Aber die Dinge haben sich geändert. Eine neue Dunkelheit wächst in den Himmeln heran und in ihrem Schatten werden die Gläsernen unaufmerksam. Es wird Zeit unsere Schwestern und Brüder aus diesem Gefängnis zu holen, bevor auch sie von den neuen Herren Uranors verschlungen werden.“
„Von den Laarmaschk“, warf ich ein.
Moydrur nickte, „die Rilandi mögen unsere Geschwister wie Tiere an der Leine gehalten haben. Doch wenn die Laarmaschk die alleinige Macht über Uranor erringen, werden sie sie vollständig auslöschen und ihre Fähigkeiten absorbieren. Die Kulte, die dann überall entstehen würden, würden selbst in unseren Augen als finster und zerstörerisch gelten. Blutopfer und dergleichen schrecken uns freilich nicht besonders, aber sie werden sicher auch versuchen sich mittels dieser Religionen zu verbreiten und weitere Identitäten zu stehlen. Selbst die freien Scyonen sind dann nicht mehr sicher. Du siehst also, ich kann meine Zeit nicht weiter mit Plaudern verschwenden. “
„Hiergeblieben, Unterkarzon!“, rief ich im Befehlston, als ich bemerkte, wie Moydrur sich zurück in seinen Dimensionsriss bewegte, „ich habe dir nicht erlaubt zu gehen.“
Moydrur hielt tatsächlich inne, wobei er weder eingeschüchtert, noch wütend wirkte. Eher neugierig.
„Du willst mir Befehle geben?“, fragte er amüsiert.
„Immerhin nennst du mich Oberkarzon“, entgegnete ich, „und als solcher stehe ich über dir.“
„Du warst mein Oberkarzon“, stimmte Moydrur zu, wobei sein Blick etwas Nostalgisches bekam, „und auch wenn ich das nie für möglich gehalten hätte, bin ich dir letzten Endes gerne gefolgt. Aber kein Soldat mit Würde im Leib, sollte einem besiegten, kampfunfähigen Anführer folgen.“
„Ich bin weder besiegt noch kampfunfähig“, sagte ich, „ich habe Kontrolle über das Licht und über die Fäden.“
In der Hoffnung, dass ich es sehen konnte, rief ich diesmal ganze sieben Fäden aus mir hervor, verband sie zu einem starken Strang, wickelte sie um Moydrurs dünnen Leib und zog ihn ein Stück zu mir heran. Er ließ es mit sich geschehen, sprengte meine Fäden dann jedoch ohne Mühe.
„Nett“, sagte er leicht spöttisch, aber zumindest ein wenig beeindruckt, „leider wird das nicht ausreichen, um meine Geschwister zu befreien.“
„Das muss es auch nicht“, antwortete ich, „denn ich bin nicht allein. Meine verbündete Ominee befindet sich in der Zelle neben mir und in der Festung habe ich noch weitere Verbündete. Gemeinsam planen wir die Rilandi zu stürzen und gemeinsam können wir auch die Scyonen befreien.“
Moydrur wirkte nicht überzeugt, „besonders erfolgreich scheint eure Rebellion ja nicht zu verlaufen. Oder hattest du vor, sie von diesen Zellen aus zu lenken?“
„Noch ist nicht alles verloren“, sagte ich, „Nicht, wenn du uns hilfst. Hier ist mein Vorschlag, Unterkarzon. Du bringst in Erfahrung, ob die anderen noch lebendig auf freiem Fuß sind und erzählst ihnen, dass unsere Mission so ablaufen kann wie geplant und das der Allrichter nichts von ihrer Beteiligung weiß. Dann kommst du zurück und holst uns aus dem Kerker. Gemeinsam werden wir dann die Webmaschine zerstören, die Lichtmauer zu Fall bringen, die Ungeprüften aus dem Schlamm zur Hilfe holen und gemeinsam deine Geschwister befreien.“
„Und wenn eure Mitverschwörer tot oder aufgeflogen sind?“, fragte Moydrur.
„Dann suchst du nach Karmon und bittest ihn, uns zu helfen. Denke aber daran, dass du ihn wahrscheinlich besser überzeugen kannst, wenn du ihm erzählst, dass du weißt, wo sich sein ehemaliger Wirt aufhält. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihm nicht egal bin“, antwortete ich und hoffte, dass es sich tatsächlich so verhielt.
„Ich soll dich also als Druckmittel verwenden, um ihn zur Kooperation zu zwingen?“, überlegte Moydrur laut, „keine schlechte Idee, Oberkarzon. Wir machen es so, wie du vorschlägst. Doch wie erkenne ich eure Mitverschwörer?“
Ich beschrieb ihm kurz unsere Verbündeten so detailliert wie ich konnte. Moydrur nickte. Dann zog er sich in die Dimensionsspalte zurück, die sich kurz darauf schloss, so als hätte sie nie existiert.
„Bist du bescheuert?“, fragte Ominee, „warum hast du den Typen nicht überredet uns hier rauszuholen, wenn er tatsächlich dazu in der Lage ist?“
„Das hätte er ohnehin nicht getan“, sagte ich ruhig, „Moydrur ist nicht der Typ, der anderen hilft, wenn er selber nichts davon hat. Aber ohne Verbündete ist unsere Freiheit ohnehin wertlos. Sie würden uns in kürzester Zeit wieder einsperren. Ich will hier genauso raus wie du, sonst hätte ich nicht das Schloss geknackt, aber rational betrachtet, war es sinnlos.“
„Ich hätte ja auch nicht vorgeschlagen, dass wir hier blindlings herausstürmen, aber falls sie uns früher als gedacht zur Speisung schleppen, wäre es mir schon lieber dem entgehen zu können“, wandte Ominee ein.
„Soweit ich weiß, sind die Laarmaschk doch an die Stunde der Schwärze gebunden. Es würde keinen Sinn machen uns früher hier rauszuholen. Wir können also entspannt auf Moydrurs Rückkehr warten“, sagte ich.
„Ich bin mir da nicht so sicher“, sagte Ominee, „früher haben sie auch ohne solche Regeln agiert. Und was Moydrur betrifft: Traust du ihm denn? Nach allem, was ich weiß, sind Scyonen hinterhältige Kinderfresser.“
„Moydrur folgt nur Stärke, wenn er überhaupt folgt. Vertrauen wäre also ein bisschen viel gesagt. Aber er ist kein unberechenbarer Irrer. Während meiner Zeit in Konor war er ein zuverlässiger Söldner mit erstaunlichen Fähigkeiten. Wenn er von unserer Befreiung profitiert, wird er uns auch befreien und ich könnte mir kein Szenario vorstellen, in dem er nicht davon profitieren würde“, antwortete ich.
„Dann hoffen wir, dass auf deine Vorstellungskraft Verlass ist“, gab Ominee unsicher zurück.
„Ich denke schon“, sagte ich mit einem hörbaren Lächeln, „immerhin hat sie mir dabei geholfen quer durchs Multiversum zu reisen.“

~o~

„Wo sind Olevan und Ominee?“, flüsterte Nojun, „hat sie irgendeiner von euch gesehen?“
Er sprach leise und versuchte sich unauffällig zu geben, da sie sich nur Minuten vor Beginn der Gebetsstunde vor der kleinen schwarzen Tür befanden, die den Eingang der „Halle der Herrschaft“ bildete und es entsprechend von Rilandi wimmelte. Zu diesem Anlass waren alle in Festumhänge gehüllt, die das Symbol ihres Sinnpfades trugen. Der größte Teil von ihnen gehörte nicht zu ihrer Verschwörung und sollte lieber nicht allzu viel von ihren Gesprächen mitbekommen. Neben Nojun standen auch Gorweo, Slizza, die Verbindung Zoenhir (Die sich im Wesentlichen aus den Gesprächen heraushielt, da ihre schriftlichen Botschaften ansonsten leicht hätten entdeckt werden können), Franno, Ranscha und Ninga nah beieinander, um sich im Notfall abstimmen zu können. Treva und Fromik waren wie angekündigt nicht vor Ort, weil sie als Wachpersonal für die Webmaschine eingeteilt worden waren.
„Nein“, antwortete Gorweo, „leider nicht. Aber sie sollten sich lieber beeilen. Das Gebet fängt in wenigen Minuten an.“
„Ominee hat sich schon ein paar Mal umentschieden“, erinnerte Slizza, „gut möglich, dass sie schon wieder kalte Füße bekommen hat. Aber Olevan …“
„Sicherlich ist ihm irgendetwas zugestoßen“, vermutete Nojun, „Ominee könnte ihn verraten haben oder der Allrichter ist uns auf andere Weise auf die Schliche gekommen.“
„Wenn das so is‘, sollten wir‘s abblasen“, meinte Franno, „is‘ zu riskant.“
„Schwachsinn!“, erwiderte Ninga verächtlich in Frannos Richtung, „in dem Fall säßen wir alle schon längst hinter Gittern.“
„Vielleicht passiert das ja noch“, überlegte Ranscha, „womöglich wird man unsere Verfehlungen öffentlich anprangern wollen.“
„Wenn das so ist, wäre das erst recht ein Grund loszuschlagen“, schlussfolgerte Slizza, „dann würden wir durch Zurückhaltung auch nichts mehr erreichen.“
„Vielleicht hat ihre Abwesenheit auch einen anderen Grund“, warf Gorweo ein, „und womöglich weiß der Allrichter nicht über uns alle Bescheid. Wenn wir aber etwas Verdächtiges unternehmen, könnte sich das sehr schnell ändern. Sollen wir dieses Risiko wirklich eingehen?“
„Wahrscheinlich nicht“, gab sich Slizza geschlagen, „aber was machen wir dann?“

~o~

Moydrur hatte keine Schwierigkeiten gehabt den auch als „Halle der Herschafft“ bekannten Gebetsraum zu finden, in denen sich die bedauernswerten Lämmer versammelten, die den Aufstand gegen ihre Hirten probten. All diese Lebenssignaturen strahlten so hell, dass sie praktisch nicht zu übersehen waren. Sie waren ein wenig alt für seinen Geschmack, ansonsten hätten sie durchaus seinen Appetit geweckt. Doch von Erwachsenen ernährten sich Scyonen nur im Notfall und vor allem war er nicht hier, um zu Essen, sondern um seine Geschwister zu befreien. Doch auch dabei halfen ihm die Signaturen. Und wenn ein Scyone sich einmal in einem Gebiet verankert hatte, konnte er den Zwischenraum zumindest in der direkten Umgebung recht zuverlässig nutzen und sich problemlos anhand solcher Merkmale orientieren. Allerdings ergab sich für ihn nun ein anderes Problem. Wenn er sich offen zeigte, könnte das für ungewolltes Aufsehen sorgen. Die einzige Möglichkeit, die er hatte, war telepathisch mit den Rebellen Kontakt aufzunehmen. Das ging jedoch nicht mit jedem. Die Scyonen waren keine Telepathen im eigentlichen Sinne. Die Einzigen, denen er eine wortlose Botschaft würde senden können, waren die verfluchten Tronhiire.
Die Tronhiire gehörten zusammen mit den Laarmaschk, den Scyonen und zwei weiteren Völkern zum „dunklen Dorn“ einem uralten informellen Zusammenschluss aus Völkern des Nytram-Nebels, der Anfangs gemeinsame – und für die meisten Bewohner des Multiversums nicht gerade vorteilhafte – Ziele verfolgt hatte, dessen Angehörige sich jedoch schon lange zerstritten hatten. Aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung und Geschichte war es den Völkern dieses Bundes grundsätzlich möglich miteinander zu kommunizieren. Leider teilte Moydrur seine Gedanken fast genauso ungern mit den chaotischen und gefährlichen Tronhiire wie mit den vereinnahmenden und herrschsüchtigen Laarmaschk. Deshalb überlegte er ernsthaft sich nicht an die Vereinbarung mit dem Oberkarzon zu halten. Immerhin könnte er auch direkt zu dem Kwang Grong und dessen neuen Wirt gehen – dessen Präsenz er seltsamerweise gar nicht von dem Symbionten trennen konnte – und mit ihm ein Bündnis schließen. Doch letzten Endes war es immer klüger so viele Lakaien wie möglich für die eigenen Ziele einzuspannen. Man wusste ja nie, welche Figuren auf dem Spielfeld zerbrachen, ehe man sie bewegen konnte. Also schluckte er seinen Stolz hinunter, nährte sich dem Tronhiire so weit wie möglich, ohne den Zwischenraum zu verlassen und ließ seine eigenen Gedanken in dessen Geist einströmen.
„Ich habe eine Botschaft, Tronhiire“, begrüßte er den Zwillingsorganismus, „sie betrifft eure Rebellion. Werdet ihr mir zuhören?“
„Ein Scyone“, antwortete die Verbindung Zoenhir, die selbst ihre Gedanken nur als Text übermittelte. Ohne jede erkennbare Emotion oder Klangfarbe, jedoch nicht so abgehackt wie in der stofflichen Welt, „du riechst köstlich. Weitaus besser, als das niedere Schattengezücht, mit dem sie uns im Geflecht füttern wollen. Und anders als die Laarmaschk, kann ich dich auch aus dieser Ebene heraus verzehren. Die Grenze zum Zwischenraum ist nicht undurchdringlich, wie du weißt. Wie praktisch, dass du hier einfach so frei herumschwebst und nicht in Käfighaltung wie deine Geschwister. Dein Reinkern wartet sicher schon darauf unsere Speicher zu füllen.“
„Ich komme in einer diplomatischen Mission und obwohl mir das Risiko bewusst ist“, übermittelte Moydrur und schaffte es fast, seine Angst aus dieser Botschaft herauszuhalten. Fast. „Sind euch Tronhiire eure Ehre und die Traditionen des dunklen Dorn wirklich so wenig wert?“
„Der dunkle Dorn ist längst tot“, antwortete die Verbindung Zoenhir, „und unsere Ehre kümmert unseren Bauch wenig. Aber auf unsere Neugier kannst du zählen. Also sprich. Sag, was du zu sagen hast und wenn es nützlich ist, kannst du gehen.“
Moydrur überlegte, ob er weiter verhandeln sollte. Ob er Garantien erwirken könnte. Aber diese Garantien wären auch nichts weiter als ein Schild aus Worten, den der Tronhiire brechen könnte wie einen Zweig. Er hatte gewusst, auf was er sich einließ. Besser, er reizte den Tronhiire nicht weiter, hoffte das Beste und hielt sich für das Schlimmste bereit. Notfalls konnte er immer noch versuchen zu fliehen. Die Chancen, dass ihm das hier im Zwischenraum gelang, standen etwa bei sechzig Prozent zu seinen Gunsten.
„Euer Mitverschwörer Adrian, der sich nun ‚Olevan‘ nennt, wurde zusammen mit einer Frau namens Ominee gefangengenommen. Sie haben euch aber weder verraten, noch weiß der Allrichter etwas von eurer Beteiligung. Ich werde ihn und diese Ominee nach unserer Unterredung befreien. Euer Vorhaben kann also stattfinden wie geplant. Falls ihr mich tatsächlich gehen lasst. Falls ihr aber versucht mir zu schaden und ich entkomme, könnte ich mich auch den Laarmaschk offenbaren.“
„Du wagst es, uns zu drohen?“, erwiderte die Verbindung Zoenhir.
„Ich will leben“, sagte Moydrur, „das könnt ihr mir nicht vorwerfen!“
„Dann geh und lebe“, antwortete die Verbindung Zoenhir, „Ich denke, du wirst die anderen Scyonen befreien wollen und wenn sie erst umherfliegen wie aufgescheuchte Hühner, werden wir schon unseren Anteil bekommen.“
Du kannst es gern versuchen, dachte Moydrur ohne seine Gedanken mit dem Tronhiire zu teilen, wir werden vorbereitet sein.
„Danke“, brachte Moydrur mühsam über die Lippen und verschwand dann erleichtert aus der Gegenwart der verhassten Kreatur. Er hatte den gefährlichsten Teil seiner Aufgabe erfüllt.

~o~

Slizza, die der Verbindung Zoenhir räumlich am nächsten stand, hatte zum Glück schnell und unauffällig reagiert, als diese auf ihre unnachahmliche Art zu sprechen begonnen hatte und sie so gut wie möglich von neugierigen Blicken abgeschirmt. Das wurde auch dadurch erleichtert, dass inzwischen die volle Stunde geschlagen hatte und der Allrichter zum Gebet rief, woraufhin die ersten der Anwesenden in die Halle der Herrschaft strömten. Traditionell machten hier die Sucher den Anfang, da ihnen die höchste Nähe zum Licht nachgesagt wurde. Sie waren wahrscheinlich ohnehin keine große Gefahr, denn sie wirkten unsicher und geistig abwesend und schienen sich kaum um das zu kümmern, was um sie herum vorging. Nicht mal aneinander hatten sie irgendein Interesse. Da das wöchentliche Gebet die einzige Gelegenheit war, zu der sie ihren Tempel verließen und sie ansonsten ihre Zeit in stiller Meditation verbrachten, war dies wohl auch nur natürlich. Slizza machten die Sucher Angst. Auch wenn sie unterschiedliche Gesichter besaßen, spürte sie keine Individualität in ihnen. Wie sollte man die auch entwickeln oder sie sich bewahren, wenn man nie redete und seinen Geist in gedankenloser Dissoziation halten musste, um das Licht zu ernten und zu formen.
Tannvan hatte ihr einmal erzählt, dass die Sucher nach einigen Monaten selbst die Fähigkeit zu sprechen verloren. Sie wurden zu reinen Gefäßen des Lichts. Jeder Laarmaschk hatte dann mehr eigenen Charakter. Oft dachte sie daran, dass sie auch eine von ihnen hätte werden können.
Hinzu kam, dass die Sucher nicht nur alle restlos gläsern, sondern auch viel transparenter waren, als die Hirten und Weber. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man außer ihrer Kleidung nichts mehr von ihnen erkennen.
Die drei Suchermeister „Narrnen“, „Traschin“ und „Denorra“ besaßen etwas mehr Individualität, da sie sich gelegentlich mit den anderen Meistern oder dem Allrichter besprachen, doch auch sie wirkten auf Slizza blass und desinteressiert.
Die Hirten, die ihre gläsernen Waffen selbst bei dieser Zeremonie nicht ablegten, waren deutlich wachsamer und aufmerksamer als die Sucher, doch da sie darauf achten mussten, dass diese nicht das Gleichgewicht verloren, beziehungsweise jenen aufhelfen mussten, bei denen dies dennoch geschah, waren sie ebenfalls abgelenkt. Lediglich ihre Hirtenmeister „Onyra“, „Druun“ und „Jontii“ und einige wenige der anderen Hirten kümmerten sich um das, was bei den Webern geschah. Auch wir sind Teil ihrer Herde, dachte Slizza. Der gefährlichere, unabhängigere Teil. Zum Glück waren die Weber aber auch am kommunikativsten und schufen durch angeregte Gespräche und wildes Diskutieren eine ungewollte zusätzliche Ablenkung.
So gelang es Slizza auch den anderen die Botschaft des Tronhiire weiterzureichen. Trotz der Gefangennahme von Adrian und Ominee war es im Großen und Ganzen eine positive Botschaft. Die Revolution konnte beginnen.

~o~

Die Weber betraten direkt nach den Suchern die Halle der Herrschaft, da sie die Voraussetzungen für die Lichternte schufen und es zugleich als Rohstoff nutzen, war ihre Verbindung ebenfalls als recht hoch angesehen. Die Hirten hingegen nutzten das Licht lediglich als Waffe, weswegen sie die Halle zuletzt betraten. Sie nahmen spirituell gesehen die geringste Stellung in der Rilandi-Gesellschaft ein. Trotzdem wirkte sich dies im Alltag kaum aus, denn wer die Waffen besaß und mitentschied wer Teil der Gemeinschaft wurde, den konnte man nicht als Bürger zweiter Klasse behandeln.
Slizza hatte den Ablauf hier schon gefühlt tausendmal gesehen. Doch auch wenn sie die Rilandi-Gesellschaft inzwischen für ein verlogenes und falsches System hielt, konnte sie sich der Wucht der Inszenierung nur schwer entziehen.
Das war kein Wunder, denn die Halle der Herrschaft war auf eben diesen Effekt ausgelegt. Anders als man bei einem solchen Raum erwarten konnte, war er nicht von Licht überstrahlt wie die Empfangshalle des Allrichters, sondern größtenteils dunkel – mit einer Ausnahme. Genau in der Mitte des Raumes gab es eine Runde, etwa zwei Meter im Radius messende Lichtsäule, die durch die Decke eintrat und den Sitz des Allrichters beschien. Einen von steinernen Strahlenkränzen ringförmig eingefassten Thron aus weißem Marmor, der auf einer dünnen, gedrehten und mit tausenden winziger Spiegel versehenen Säule aus Glas ruhte. Der Allrichter selbst, der entspannt auf dem hohen Thron saß, zeigte sich sowohl herrschaftlich als auch demütig. Während seine strenge Mine und seine erhöhte Position unmissverständliche Dominanz ausstrahlten, zeigte er seine Demut dadurch, dass er das Licht, welches in ihm wohnte und mit welchem er fast jeden blenden konnte, nicht zum Einsatz brachte. Allein dem Licht, welches in die Halle fiel, sollte diese Ehre zuteilwerden. Die Dunkelheit, die im Großteil des Raumes herrschte, diente dazu, dessen Bedeutung zu unterstreichen und die vielen Spiegel, die dieses Licht wie winzige Sterne an die Wände reflektierten standen für dessen Allmacht.
Die erste Aufgabe der Rilandi war es nun, ihre angemessenen Plätze und Positionen einzunehmen. Die Sucher standen dabei aufrecht direkt um den Thron des Allrichters herum und blickten würdevoll zu ihm hinauf. Slizza und die anderen Weber nahmen hinter ihnen im Schneidersitz Platz, wodurch sie den Allrichter nicht länger klar erblicken konnten, was jedoch durchaus beabsichtigt war. Die Meister wurden dabei nicht anders behandelt, als die gewöhnlichen Rilandi. Allein die Sinnpfade zählten hier. Slizza achtete sorgsam darauf die Nähe der anderen Rebellen zu suchen, was ihr auch einigermaßen gelang. Sie fand einen Platz zwischen Ranscha und Gorweo. Ranscha wirkte unruhig, beinah ein wenig nervös – womöglich weil sie im Begriff waren Verrat an ihrem verehrten Allrichter zu begehen –, während Gorweo die Ruhe selbst zu sein schien. Dies wiederum könnte daran liegen, dass Gorweo im Gegensatz zu Slizza nicht ins Geflecht gehen würde. Hinter den Webern legten sich nun die Hirten mit dem Rücken auf den Boden und starrten hinauf zum Himmel, während der Allrichter mit seiner Ansprache begann, die eigentlich mehr aus hypnotischen Formeln als aus sinnvollen Sätzen bestand. Es war keine Rede, die er vorbrachte, sondern ein Mantra und die Betonung, der Rhythmus und die sanfte Stimme von Wornaara zählten dabei mehr als das, was er sagte.
„Das Licht ist der Tunnel und wir sind das Licht. Das Strahlen ist größer als alles, was spricht. Das Licht ist ein Bogen und wir sind ein Kreis. Denn jeder ist glänzend und alles ist weiß.“
Ein paar mal sprach er diese Worte allein und Slizza konnte nicht anders, als zur Quelle dieser Stimme aufzusehen, auch wenn sie nichts weiter sah, als ein durch die durchscheinenden Leiber der Sucher gebrochenes und verzerrtes Abbild.
Nachdem die Stimme des Allrichters, die ihren Ohren mit sanften Fingern zu liebkosen schien, die kryptische Formel zum zehnten Mal wiederholt hatte, begann der Kanon.
„Das Licht ist der Tunnel und wir sind das Licht“, sagte der Allrichter.
„Das Strahlen ist größer, als alles was spricht“, antworteten die leisen, nüchternen Stimmen der Sucher, deren Chor hauptsächlich von ihren Meistern getragen wurde. Viele von ihnen summten lediglich den Rhythmus der Silben mit.
„Das Licht ist ein Bogen und wir sind ein Kreis“, riefen die Weber und mit ihnen Slizza lauter und fröhlicher und die Hirten endeten mit einem korrekt betonten und lauten:
„Denn jeder ist glänzend und alles ist weiß!“
Dieses Mantra wiederholte sich kurz darauf und es würde es noch für genau eine Stunde tun.
Slizza spürte bereits, wie ihre eigenen Gedanken zerfaserten. Irgendwo in der Dunkelheit stießen verborgene Düsen würzige, betörende Düfte aus, die ihre Sinne umnebelten und ihren Körper entspannten.
Sie kämpfte darum den Fokus nicht zu verlieren und hoffte, dass dies den anderen leichter fallen würde als ihr. Denn falls sie alle in Trance verfallen würden, wäre ihre Revolution gescheitert, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Ohne es richtig zu bemerken hatte sie ihre Augen geschlossen und als sie sie wieder öffnete, sah sie wie sich die Öffnung in der Decke langsam erweiterte, wodurch sich auch der Lichtkreis um den Allrichter herum vergrößerte. Dieser Kreis hatte inzwischen schon die ersten Sucher erfasst, deren Körper sich bereits in verzückter Trance wiegend bewegten. Dieses Licht war konzentrierter, als das in der Festung. Es war rein und unverdünnt und es würde sie alle große Anstrengung kosten sich davon loszureißen. Dennoch würde es ihnen gelingen müssen. Denn nur, wenn auch die anderen Weber und die Hirten hinter ihnen betäubt wären, würden sie die Halle unbemerkt verlassen können.
Slizza warf einen verstohlenen Seitenblick auf die anderen, was ihr möglich war, da alle anderen Weber und vor allem die Sucher sich voll auf ihr Gebet konzentrierten. Ranscha wirkte nach wie vor nervös und änderte oft die Position ihrer Hände oder beugte den Oberkörper vor oder zurück. Anders als Gorweo, der ihren Blick sofort auffing, schien sie sie jedoch nicht zu beachten. Franno gähnte herzhaft, ohne eine Hand vor den Mund zu nehmen, was Ninga, aber auch Gorweo mit einem verächtlichen Verziehen ihres Gesichtes kommentierten. Die Verbindung Zoenhir machte hingegen einen sehr versunkenen und konzentrierten Eindruck, was im selben Maße für Nojun galt.
Als der Lichtkreis wuchs und schließlich auch Slizza erfasste, fiel es ihr immer schwerer sich mit solchen Dingen zu beschäftigten. Alles, was zählte, waren die Wohlgerüche, die simple Erhabenheit des Chors, die Wärme und der Frieden, den das Licht spendete. Woher es kam, wurde irrelevant. Wer dafür litt, ebenfalls und was sie darüber dachte erst recht. Ja in diesem Moment begann Slizza wie die Sucher zu werden. Glatt geschliffen, charakterlos und urteilslos. In einem letzten Aufbäumen ihres Willens machte sie sich ein aktuelles Bild von ihrer Umgebung. Ranscha hatte ihre nervösen Bewegungen eingestellt, Franno wirkte nicht länger gelangweilt, sondern glückselig und auch Nojun, Gorweo und Ninga hatten endgültig aufgehört, sich für irgendetwas anderes als ihr Gebet zu interessieren. So muss es sein, gab ihr eine innere Stimme ein. Lass alles los, Slizza. Und sie wollte gehorchen, musste gehorchen. Das war ihr klar. Dennoch wandte sie noch einmal den Kopf und sah, dass der Lichtkreis nun fast alle Hirten erfasst hatte. Wir müssen jetzt handeln, sonst ist es zu spät, dachte sie matt. Bevor sie aufhörte zu denken.

~o~

„Ich wusste, dass ich dir vertrauen kann“, sagte ich hustend, als Moydrur zurückkehrte und kurzerhand das Geflecht aus Fäden, welches meine Zelle schützte mit einem grünen Säurenebel zerstörte, der zwar meine Lunge reizte, jedoch erfreulich effektiv war. Zum Glück löste der Nebel sich schon bald danach auf und ich hoffte, dass meine Lunge keinen allzu großen Schaden davon tragen würde.
„Oh, das kannst du nicht“, antwortete Moydrur, „ich folge nur den Mächtigen und meinen eigenen Zielen. An Versprechungen fühle ich mich nicht gebunden und mächtig bist du leider auch nicht mehr sonderlich. Aber unsere Ziele ergänzen sich gut, was dein Glück ist, Oberkarzon.“
Ich beschloss nicht darauf einzugehen. Es hätte zu nichts geführt. „Also halten die anderen an unserem Plan fest?“
„Ja“, sagte Moydrur, „doch wir sollten nun keine Zeit mehr verlieren. Meine Geschwister warten auf ihre Freiheit.“
„Erst musst du Ominee befreien“, verlangte ich.
„Wenn es sein muss“, sagte Moydrur nach kurzem Zögern und tat wie ihm geheißen.
„Danke“, hustete Ominee, deren Lungen ebenfalls durch das Gas gereizt worden waren. Mehr vielleicht als meine, da Moydrur bei ihr zusätzlich noch die Türe wegätzen musste. Dass sie als Jyllen selbst sauren Speichel besaß, machte sie nicht automatisch gegen Säuren immun.
„Jetzt aber raus hier“, verlangte Moydrur und gemeinsam setzten wir uns in Bewegung.
„Kannst du uns nicht auch einfach hier wegteleportieren?“, wollte ich wissen.
„Das wäre möglich“, sagte Moydrur, „jedoch würde es mich Kraft kosten, die ich dringend brauche. Wesen in den Zwischenraum zu bringen, die keinen Bezug dazu besitzen, frisst mehr Energie als selbst die mächtigsten Zauber. Ihr werdet wohl zu Fuß gehen müssen, Oberkarzon.“
„Gut“, sagte ich und schluckte meine Enttäuschung herunter, „dann sollten wir darauf achten nicht den Wachen in die Arme zu laufen.“
„Die meisten sind ohnehin beim Gebet“, meinte Ominee.
„Normalerweise vielleicht“, erwiderte ich, „aber wer weiß, welche Vorkehrungen sie getroffen haben, nun, da sie von unserer Verschwörung wissen. Kannst du die Umgebung vielleicht wenigstens auskundschaften, Moydrur? Immerhin kannst du dich doch praktisch unsichtbar machen, wenn du durch den Zwischenraum reist, oder?“
„Auch das könnte ich“, antwortete Moydrur, „aber ich werde es nicht tun.“
„Was?“, fragte ich überrascht.
„Ich bin nicht dein Werkzeug, Oberkarzon“, sagte Moydrur, „außerdem wird es nicht nötig sein. Keiner von ihnen wird eine Bedrohung für uns sein.“
„Hochmut kommt vor dem Fall“, murmelte ich.
„Ein guter Leitspruch“, bemerkte Moydrur, „für die Schwachen.“

~o~

Es dauerte nicht lange, bis wir der ersten Wache begegneten.
Sie wartete direkt hinter einer Biegung, welche der lange Gang machte, der von den Zellen wegführte. Die Wache, bei der es sich um eine wahrgeborene Rilandi mit langen, gläsernen Haaren handelte, stand mit dem Rücken zu uns, weswegen ich glaubte leichtes Spiel zu haben und fünf Fäden zu einer Art Pfeil verband, den ich so lenkte, dass er durch den Rücken hindurch ihr Herz treffen sollten. Es fühlte sich gut an, endlich mal wieder in die Offensive zu gehen.
„Warte!“, zischte Moydrur noch leise, aber da hatte ich meinen Pfeil bereits auf die Reise geschickt.
Wahrscheinlich hätte mein Angriff sogar Erfolg haben können, aber die Hirtin schien über eine Art siebten Sinn zu verfügen, denn noch bevor sie meine Fäden trafen, wirbelte sie herum, wodurch sie lediglich in ihre Schulter einschlugen und ein kleines Loch in ihren mit einem silbernen Hirtenstab bestickten Umhang rissen. Glas splitterte. Die Frau stöhnte auf und ich zog die Fäden heraus, um sie auf ein neues Ziel zu richten, doch die Wächterin brachte ungeachtet ihrer offensichtlichen Schmerzen ihre Waffe in Stellung und schoss einen weißen Lichtimpuls auf mich ab. Zum Glück war er schlecht gezielt, aber er zwang mich auszuweichen und sorgte dafür, dass ich meine Konzentration und die Kontrolle über die Fäden verlor.
Die Frau ging in die Hocke und gab einen weiteren Schuss auf mich ab, dessen Hitze ich an meinem Hals fühlte, während mein Schweiß verdampfte und die kleinen Härchen auf der Hautoberfläche verschmorten.
Trotzdem schaffte ich es irgendwie mich erneut zu konzentrieren und ließ fünf kleine Fadenpeitschen auf ihren linken Augapfel los, wobei ich indirekt das imitierte, was Kollat mich „gelehrt“ hatte. Doch offenbar hatte die Frau ebenfalls ihre Lektionen gelernt und schuf ein Schild aus sieben eigenen Fäden, die die Meinen nicht nur abblockten, sondern sie regelrecht aus meiner Brust rissen, worauf ich einen kurzen Schmerzensschrei abgab, den ich nur unter größter Anstrengung abdämpfen konnte. „Du hast kein Recht die Fäden mit deinem dreckigen Geist zu spinnen, Verlorener. Deshalb nehme ich sie dir weg“, sagte sie in einer Stimme, die zwar heller war als die von Onyra, aber kein Stückchen weniger unerbittlich.
Ein triumphales Lächeln stahl sich auf das Gesicht der Hirtin und obwohl ich den Energieverlust spürte, den sie mir beigebracht hatte, explodierte eine Wut in mir, wie ich sie ewig nicht gespürt hatte. Da ich nun über keine andere Waffe mehr verfügte, stürmte ich blitzartig auf meine Kontrahentin zu entging der zustoßenden Spitze ihres Hirtenstabs, indem ich mich im Rennen zur Seite beugte, ihr meine Linke gegen die Wange hämmerte und mit meiner rechten Hand auf die Hand einschlug, in der sie ihre Waffe hielt. Glühende Schmerzen schossen durch meine Fingerknöchel, doch immerhin splitterte Glas und sie lockerte ihren Griff. Ich versuchte nun mit beiden Händen ihre Waffe zu umfassen und sie ihr zu entreißen, doch trotz meines Angriffs bemerkte ich, dass die Frau viel stärker war als ich. Langsam drehte sie die Waffe gegen die Anstrengung meiner Muskeln und versuchte sie auf meine Brust zu richten. Dabei spürte ich, dass ich dieses Ringen nicht würde gewinnen können. Ich war schlicht zu schwach dafür. Einmal mehr wünschte ich mir Karmon zurück. Mit ihm zusammen hätte ich die Frau spielend leicht in einen Haufen Glassplitter verwandelt.
„Ich nehme dir deine Verbindung zum Licht, Verlorener“, sagte sie, „das hätte ich gleich tun sollen, nachdem dein Verrat offenbar geworden ist.“
Noch einmal mobilisierte ich all meine Kräfte, um die scharfen Spitzen, die schon fast ihr Ziel erreicht hatten, von meiner Brust fernzuhalten. Wo waren die anderen? Waren sie geflohen? Hatten sie mich im Stich gelassen wie Garwenia und Korf in meiner Illusion? Plötzlich hörte ich ein lautes Knacken an meinem linken Ohr, gefolgt von einem spitzen Schrei aus zwei weiblichen Kehlen.
„Autsch, warum müsst ihr so verdammt hart sein?“, fragte Ominee verärgert und mit einem raschen Seitenblick bemerkte ich, dass die Jyllen den Kopf der Hirtin in etwas verwandelt hatte, was mehr Ähnlichkeit mit einem Haltestellenhäuschen besaß, das man über Nacht mit fünf betrunkenen Rowdys alleingelassen hatte, als mit einem Kopf. Ihre Nase, ihr Mund und ihre Augen bestanden nur noch aus Splittern. Trotzdem hielt die zähe Frau an ihrer Waffe fest.
Jedenfalls so lange, bis Ominee ihre Hände, ihre Anmella-Stränge und sogar ihr Nutrion um das bizarre Schwert schlang und wir es ihr gemeinsam entrissen.
Die geschundene Wächterin erkannte, wann sie einen Kampf verloren hatte, rappelte sich auf und begann den Gang hinunterzurennen.
„Sie entkommt uns!“, rief ich, „sie wird die anderen warnen!“
„Nein!“, sagte Moydrur hinter uns und einen Lidschlag später sah ich, wie der weiße Boden des Gefängnisses sich verflüssigte und in eine schleimige, an Schlamm erinnernde braune Masse verwandelte.
Die Frau versuchte noch über dieses neue Hindernis hinwegzuspringen, doch Moydrur erweiterte die Fallgrube und so fiel sie bäuchlings hinein.
Beeindruckt warf ich einen Blick auf Moydrur, der selbst ziemlich zufrieden mit sich wirkte.
Als ich jedoch zurück zu der Hirtin sah, versuchte sie sich schon wieder aufzurappeln, rutschte aber immer wieder auf dem glitschigen Untergrund aus. Also hob sie stattdessen ihren Kopf und schrie um Hilfe.
„Hunnrann“, rief sie, „die Gefangenen, sie entkommen!“
„Verdammt!“, fluchte Ominee, die sich inzwischen selbst wieder aufgerappelt hatte und die Waffe der Frau in der Hand hielt, ohne so recht zu wissen, wie man sie bediente.
„Hunnrann!“, schrie die Frau erneut, als eine kleine gelbgrüne Wolke sich von Moydrur löste und auf den Kopf der Frau zuflog. „Ich brauche deine …“, brachte sie noch hervor, bevor sie die Wolke erreichte, ihre restlichen Worte in Husten und Würgen untergingen und sie schließlich mit dem zerstörten Gesicht voran in den Schlamm sank, wo sie regungslos liegen blieb.
Plötzlich packte mich ein schlechtes Gewissen. Diese Frau war meine Feindin gewesen, aber solch einen Tod hatte niemand verdient.
„Danke, Moydrur“, sagte ich dennoch zu dem Scyonen, der jedoch keinen allzu fröhlichen Eindruck machte.
„Ihr beiden seid so dumm wie ihr schwach seid“, beschwerte Moydrur sich, „Wenn ihr auf mich gehört und euch rausgehalten hättet, hätten wir sie ohne jedes Aufsehen beseitigen können.“
Ich öffnete den Mund, um dem Scyonen zu widersprechen, aber ich musste mir eingestehen, dass er recht hatte, also schloss ich ihn wieder. Ich hatte dumm gehandelt, und zwar nur um dem Gefühl der Machtlosigkeit entgegenzuwirken, das mich seit dem Verlust von Karmon befallen hatte. Dabei hatte mir mein impulsives Handeln bewiesen, wie zutreffend dieses Gefühl war. In Kollats Unterricht mochte ich mich noch ganz ordentlich geschlagen haben, aber das waren trotz allem Sandkastenbedingungen gewesen. Gegen die Hirten schien ich wirklich nicht viel ausrichten zu können. Letztlich war ich nicht mehr als ein gewöhnlicher, halbwegs durchtrainierter junger Mann und selbst meine Fähigkeiten im Umgang mit den Fäden waren keine Superkraft in einer Welt, in der sie praktisch jeder beherrschte. Immerhin legte ein warmes Glühen, welches sich kurz in meiner Brust bemerkbar machte, die Vermutung nahe, dass der Tod der Hirtin mir meine Fähigkeiten zurückgegeben hatte.
„Ich höre Schritte“, warnte Ominee und als ich etwas genauer lauschte, konnte ich sie ebenfalls hören.
„Das sind zwei Personen, vielleicht auch drei. So viel zur Minimalbesetzung“, sagte ich.
„Das ist kein Problem“, sagte Moydrur ruhig und die sadistische Vorfreude auf dem Gesicht des Scyonen jagte mir frostige Schauer über den ganzen Körper, „Solange ihr euch nur raushaltet.“

~o~

„Ungefähr von hier ist Tewonias Hilferuf gekommen“, sagte Hunnrann zu seinem Hirtenkollegen Lannwenn.
„Das glaube ich auch“, stimmte Lannwenn zu, „es ist gut, dass du mich hereingeholt hast.“
„Natürlich, immerhin bist du mein Vorgesetzter“, erwiderte Hunnrann, „das ihre Rufe verstummten, ist jedenfalls kein gutes Zeichen.“
„Vielleicht wäre es schlauer den Allrichter oder einen der Meister zu informieren!“, schlug Lannwenn vor.
„Die sind gerade alle im Gebet“, wiegelte Hunnrann ab, „wenn wir sie ohne triftigen Grund da rausholen, könnten wir schneller unserem Laarmaschk begegnen als uns lieb ist.“
Lannwenn schwieg.
„Kümmert dich das gar nicht? Bist du vielleicht selbst einer von ihnen?“, fragte Hunnrann argwöhnisch.
Lannwenn schüttelte wild den Kopf, doch so energisch seine Verneinung auch ausfiel, so kam sie für Hunnranns Geschmack doch einen Hauch zu spät, um seine Sorgen zu beruhigen.
„Die Kreatur hat bislang lediglich meine Beine imitiert“, erklärte Lannwenn, „insofern bin ich noch weiter von einer Ersetzung entfernt als du. Und ja, es kümmert mich natürlich. Ich denke lediglich über deine Worte nach und darüber was der Allrichter mit uns tun wird, falls die Gefangenen entkommen und wir ihn nicht einmal gewarnt haben.“
„Das wäre tatsächlich übel“, erwiderte Hunnrann, besorgt.
„Vielleicht mache ich mir aber auch zu viele Gedanken“, überlegte Lannwenn laut, „sie sind uns immerhin nicht entgegengekommen, also müssen sie noch irgendwo hier sein. Sollten wir tatsächlich in Bedrängnis kommen, wird eben einer von uns fliehen und dem Allrichter Bericht erstatten.“
„Falls es demjenigen gelingt“, merkte Hunnrann skeptisch an, während er seinen Hirtenstab fester packte.
Lannwenn lachte laut auf, „das hier sind keine Elitekrieger, sondern einfache Weber“, sagte er kopfschüttelnd, „noch dazu ist die Frau unfähig die Fäden zu kontrollieren und der Mann ist noch grün hinter den Ohren.“
„Immerhin war er der Vernichter eines ganzen Volkes“, entgegnete Hunnrann, „man sollte ihn also besser nicht unterschätzen.“
„Genau, er WAR es. Nach allem, was Onyra erzählt hat, ist er inzwischen schwach und fromm wie ein Lamm“, wiegelte Lannwenn ab.
„Ein Lamm, welches eine Verschwörung gegen den Allrichter geplant hat“, erinnerte Hunnrann, „und das womöglich Tewonia überrumpelt hat.“
„Stimmt“, gab Lannwenn zurück, „aber ein Lamm, das seinem Hirten nicht gehorcht wird am Ende geschlachtet. Und selbst wenn er und die Frau Tewonia überrumpelt haben sollten, so haben sie sie eben überrascht. Wir dagegen sind vorbereitet. Und zu zweit.“
„Vielleicht hast du recht“, gab sich Hunnrann geschlagen, „aber ich kann trotzdem einfach nicht glauben, dass Tewonia sich so leicht überwältigen lässt.“ In seiner Stimme verbanden sich Stolz und eine gewisse Zuneigung.
„Punkt für dich“, sagte Lannwenn und zeigte auf die Frau, die vor ihnen im Gang auftauchte, kaum da sie in Richtung der Zellen abgebogen waren.
Sie sah ziemlich ramponiert aus, ihre Kleidung und ihr ganzer Körper waren mit einer schlammigen Substanz verschmiert und ihr Gesicht machte den Eindruck mit irgendetwas schwerem bearbeitet worden zu sein. Aber zumindest stand sie aufrecht und hielt ihre Waffe weiter umklammert.
„Tewonia!“, sagte Hunnrann zu gleichen Teilen erleichtert und erschüttert, „was ist mit dir geschehen?“
Die Hirtin antwortete nicht, sondern kam langsam auf sie zu. Mit ihrem zerfetzten, dreckigen Gewand und ihrem zersplitterten Körper wirkte sie fast wie ein Geist, zumal ihre Bewegungen nicht nur träge, sondern auch unsicher waren. Trotzdem schloss Hunnrann sie erleichtert in die Arme, als sie ihn und Lannwenn erreicht hatte. Sie stank durchdringend nach Sumpf, was ihm ziemliche Rätsel aufgab.
„Wo sind die Gefangenen?“, fragte Lannwenn deutlich nüchterner, fast schon im Befehlston.
Tewonia löste sich aus Hunnranns Umarmung, trat ein paar Schritte zurück und wies mit dem Kopf auf die Wand am Ende des Ganges, wo tatsächlich zwei zusammengesunkene Körper lehnten.
„Also hast du sie überwunden“, stellte Hunnrann fest, „ich wusste, dass auf deine Fähigkeiten Verlass ist!“
„Warum sind sie nicht in ihren Zellen?“, fragte Lannwenn streng.
„Tot …“, krächzte Tewonia leise und rau aus ihrem kaputten Gesicht hervor. Es klang, als würde jemand versuchen mit einer Handvoll verrosteter Nägel eine Glasplatte zu zerstören.
„Was haben sie dir nur angetan?“, fragte Hunnrann besorgt.
Tewonia antwortete nicht. Stattdessen drehte sie sich träge um und ging auf die leblosen Körper zu. Die beiden anderen Wachen folgten ihr.
Hunnrann kniete sich hin und betrachtete die Gefangenen. Ihre Körper waren offenbar schwarzverkohlt, auch wenn ihre Gesichter, soweit sie noch erkennbar waren, deutliche Ähnlichkeiten zu den Verlorenen aufwiesen, die sie bewachen sollten. „Ich wusste gar nicht, dass unsere Hirtenstäbe zu so etwas in der Lage sind, du musst talentierter sein, als selbst ich dachte“, sagte Hunnrann anerkennend und blickte zu Tewonia auf, die dieses Kompliment vollkommen gleichgültig entgegennahm.
Das verwunderte Hunnrann. Tewonia war sicher nicht eitel, aber für Komplimente war sie für gewöhnlich empfänglich. Selbst, wenn die Gefangenen irgendwas mit ihren Stimmbändern angestellt hatten, hätte er wenigstens mit irgendeiner Art von Reaktion gerechnet.
„Wir hatten strikte Anweisung die beiden am Leben zu lassen“, tadelte Lannwenn, „Nun werden die Laarmaschk sie nicht mehr nutzen können und wir werden nie erfahren, wer vielleicht noch verräterische Gedanken hegt.“
„Was hättest du denn getan?“, fragte Hunnrann in dem unbedingten Wunsch Tewonia zu verteidigen, „dich von ihnen umbringen oder sie entkommen lassen?“
Lannwenn antwortete nicht darauf. „Ich frage mich, wie sie überhaupt aus ihren Zellen herausgekommen sind“, sagte er und ging zu einer der beiden Zellen, deren Türen von innen aufgesprengt worden waren, „sie haben sowohl die Türen, als auch das Fadengitter zerstört. Weder Menschen noch Jyllen sollten zu sowas in der Lage sein. Nicht mal unseren besten Fadenknüpfern könnte das gelingen. Sie müssen Hilfe gehabt haben.“
„Stimmt!“, sagte eine Stimme, die die beiden Hirten noch nie gehört hatten. Sie kam von einem fahlen Gesicht, welches aus einer Art Riss in der Luft hervorragte.
„Ein Scyone!“, rief Hunnrann erschrocken, „was hat das zu bedeuten?“
„Nichts Gutes“, antwortete Lannwenn, der besser über diese Art von Gegner Bescheid wusste, als sein Kollege. Er rannte sofort den Gang hinab, doch es war bereits zu spät.
„Was ist das?“, fragte Hunnrann panisch, während sich die beiden vermeintlichen Leichen in viele kleine schwarze Punkte auflösten. Tausende, winzige, schwarze, geflügelte Punkte, die sich wie ein einziger Organismus auf ihn zubewegten. Hunnrann gab einen Lichtimpuls aus seiner Waffe ab und schaffte es tatsächlich einige der Doweng-Fliegen zurückzuwerfen oder sogar zu vernichten, aber das bedeutete Nichts. Es dauerte nur Lidschläge, bis sich die Plagegeister wie kleine, organische Bohrer durch seine gläserne Haut fraßen, in sein transparentes Fleisch und seine durchsichtigen Organe vordrangen und dort in sekundenschnelle ihre Gelege ablegten, während andere Fliegen sich den Weg in seinen Mund bahnten. Hunnranns nächster Atemzug enthielt fast keine Luft mehr, sondern nur noch wimmelnde Fliegenleiber, aber dennoch starb er nicht den Erstickungstod, sondern wurde praktisch von innen heraus gesprengt, als die Insekten samt ihres frisch geschlüpften Nachwuchses aus ihm hervorbrachen.
Wie gesagt, Lannwenn war schlauer. Er versuchte gar nicht erst, sich zu verteidigen, sondern zog es vor all seine Kraft in seine Flucht zu stecken. Doch auch wenn er wirklich ein beachtliches Tempo entwickelte, konnten doch nur wenige Geschöpfe im Multiversum so schnell rennen wie ein Schwarm Doweng-Sumpffliegen fliegen konnte und Lannwenn gehörte nun einmal nicht dazu.
Die Vorhut der Fliegen stürzte sich auf seinen rechten Unterschenkel und bohrte sich in ihn hinein, und als seine gläsernen Muskeln ein paar Herzschläge später wie zu straff gespannte Gummis zerrissen und er der Länge nach auf den strahlend weißen Boden knallte, war sein Schicksal besiegelt.
„Beeindruckend!“, gestand Ominee, die sich wie ich hinter einer der geöffneten Zellentüren versteckt hatte und nun hervortrat. Dabei brachte sie das Kunststück fertig in ihrer Äußerung Staunen mit Abscheu zu verbinden. Mir erging es nicht anders, als ich den zweiten Hirten kurz darauf in einer Wolke aus Glas und Fliegen auseinander bersten sah, wobei ich meine Augen kurz mit der Hand abschirmte, um keinen der Splitter abzubekommen.
Als ich wieder hinsah, sah ich jedoch, wie sich ein dunkler, grauer Schatten aus den Überresten erhob und wie eine geisterhafte Rauchwolke zur Decke entschwebte. „Siehst du das, Moydrur?“
„Natürlich“, sagte der Scyone arrogant aber besorgt, „das ist ein Laarmaschk.“
Beinah hätte ich reflexartig gefragt, ob Moydrur sich da sicher sei, da ich die Laarmaschk nur als lehmige Gestaltwandler-Kreaturen, nicht aber als geisterhafte Wesen kannte, doch bevor ich mich vor dem Scyonen noch weiter zum Idioten machen konnte, schaltete sich glücklicherweise mein Verstand ein. Es war ja nach allem, was ich wusste, nur logisch, dass diese golemartigen Klumpen von etwas beseelt wurden, was in der Lage war das Geflecht zu beherrschen, andere zu kopieren, die Rilandi zu beeinflussen und wahrscheinlich auch dieses schreckliche Anti-Om zu erzeugen. Außerdem wiesen ja Kollats Erzählungen genau in dieselbe Richtung.
„Er wird den Allrichter warnen, oder?“, fragte ich stattdessen.
Moydrur nickte, „jedoch nur, wenn ich es nicht verhindere. Ich greife mir den Nachahmer. Ihr könnt mit eurer Revolution fortfahren. Doch denkt daran meine Geschwister zu befreien. Davon hängt ab, ob ich bei unserem nächsten Wiedersehen euer Verbündeter bin. Oder euer Richter.“
Mit dieser Drohung verschwand Moydrur erneut im Zwischenraum und Ominee und ich waren wieder allein.

~o~

„Mir ist noch immer nicht wohl dabei, dass wir dieser Kreatur unsere Flucht zu verdanken haben“, sagte Ominee seufzend, während sie mir dabei zusah, wie ich mir die Waffe einer der beiden Hirten aufhob. Die widerlichen Fliegen waren immerhin verschwunden. Entweder hatten sie sich Moydrur angeschlossen oder sie hatten sich in der Kerkeranlage verbreitet, und warteten nun auf eine Gelegenheit, nach draußen zu gelangen oder sich auf ihr nächstes Opfer zu stürzen. Genau konnte ich das nicht sagen, da mich die Ereignisse zu sehr abgelenkt hatten. Die Vorstellung jedenfalls, dass diese angriffslustigen und fruchtbaren Insekten die Lichtfestung überfluteten und erst die Rilandi und dann alle anderen Lebewesen in ganz Uranor noch effektiver zum Platzen brachten als eine Horde Gräber, ließ mich würgen. Ich hoffte sehr, dass der Scyone sie auf die eine oder andere Weise unter Kontrolle hatte.
„Mir auch nicht“, pflichtete ich ihr bei.
„Ich dachte, er sei so etwas wie dein Freund“, sagte Ominee überrascht.
Ich schüttelte den Kopf. „Moydrur hat keine Freunde. Außer unter seinesgleichen vielleicht. Er war ein zuverlässiger Untergebener in Konor. Zumindest nachdem ich ihn von meiner Stärke überzeugt hatte. Jetzt jedoch … nun, jetzt bin ich froh, dass er uns nicht aus purer Verachtung zerquetscht hat. Dir wird nicht entgangen sein, wie wenig er inzwischen für mich übrig hat.“
„Nicht unbedingt. Ich kenne … kannte selbst Jyllen, die einen derart rauen Umgangston miteinander pflegten und sich dennoch eng verbunden waren“, erwiderte Ominee.
„Hier ist es anders“, erwiderte ich, „trotzdem bin ich froh, dass er sich entschieden hat uns zu helfen. Alleine hätten wir das hier wohl nie geschafft. Ich zumindest war nicht sonderlich nützlich.“
„Du kannst nicht gut mit Schwäche umgehen, oder?“, antwortete Ominee.
„Wer kann das schon?“, gab ich zu bedenken.
„Manche müssen lernen damit umzugehen. Auch ich war eine Kriegerin, beinah jeder Jyllen war das gezwungenermaßen, aber es gab genügend Rückschläge und Dinge auf die ich keinen Einfluss hatte“, antwortete Ominee, „nicht jeder von uns erhält die Chance Teil von großen Veränderungen zu sein und das auch noch zu überleben. Die Meisten müssen sich darauf konzentrieren das wenige zu gestalten, was sie beeinflussen können.“
„Sie können zumindest zusammen mit anderen großes erreichen“, merkte ich an.
„Das stimmt“, antwortete Ominee, „gemeinsam geht vieles. Zumindest falls man sich einig wird, was man denn überhaupt erreichen will. Oft genug scheitertet es schon daran. Aber manches geht grundsätzlich nicht. Entweder weil es viel größere Gruppen gibt, die wollen, dass alles bleibt, wie es ist, oder weil die Gesetze des Multiversums es nicht erlauben.“
„Unsere Wirklichkeit ist beschissen programmiert“, beschwerte ich mich.
„Da magst du recht haben“, lachte Ominee auf und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf, „aber so sehr ich solche Gespräche mit dir Schätze – wir sollten dennoch weitergehen. Deiner Uhr nach läuft die Gebetsstunde bereits und die anderen warten sicher schon auf uns. Die Wirklichkeit hat nämlich leider auch keine Pausenfunktion.“
„Du hast recht“, sagte ich nickend, „auch wenn ich gern besser ausgerüstet wäre.“
„Immerhin haben wir die Hirtenstäbe“, erinnerte Ominee.
„Die wir leider nicht bedienen können“, sagte ich niedergeschlagen.
Ominee lächelte. Sie erhob ihre Anmella-Stränge weit über ihren Kopf und ließ ihre Enden wie Schlangenköpfe nach unten weisen, „Sie sind scharf und stabil“, sagte sie, „scharf genug, um Glas zu zersplittern.“ Dann ließ sie die Stränge zusammen mit der Waffe in ihrer Hand nach unten fahren. Hätte dort ein Rilandi gestanden, so wäre ihm das wahrscheinlich nicht gut bekommen.

~o~

Der Weg aus dem Kerker hinaus verlief ohne weitere Zwischenfälle. Weder trafen wir auf weitere Wachen, noch auf hungrige Fliegen und auch die einzige Türe, auf die wir stießen, war unbewacht und ließ sich von innen problemlos öffnen. Die Tür führte dabei nicht – wie ich kurz befürchtete – in einen weiteren Gang oder in ein Treppenhaus, sondern direkt auf den Innenhof der Festung. Auch dort war niemand zu erblicken.
Doch so erfreulich dies aus der Perspektive von flüchtigen Gefangen auch war, so niederschmetternd war es aus anderen Gründen.
„Wo sind die anderen?“, fragte ich, während ich mich ergebnislos in der Festung umsah.
„Vielleicht sind sie bereits zur Webhalle gestürmt“, schlug Ominee vor.
„Ohne uns?“, fragte ich skeptisch und fand den Gedanken fast unerträglich. Nicht nur wegen unserer Mission, sondern weil es beweisen würde, dass wir – das ich – tatsächlich entbehrlich waren.
„Gut möglich, dass Moydrur uns belogen hat“, überlegte Ominee, „Vielleicht hat er den anderen gar nichts erzählt. Oder er hat ihnen berichtet, dass wir tot sind. Womöglich ist ihnen aber auch etwas zugestoßen oder sie vertrauten Moydrurs Ankündigung uns aus dem Gefängnis zu holen schlicht nicht. Wenn wir ganz viel Pech haben, hat der Laarmaschk den Allrichter auch bereits gewarnt und sie lassen niemanden rein oder raus, während sie nach uns suchen.“
So viele Risiken, dachte ich und kam mir vor wie beim russischen Roulette mit acht Kammern und sieben Kugeln. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte ich und fühlte mich zunehmend unwohl in dieser exponierten und von überall einsehbaren, freien Fläche.
„Wir könnten uns selbst zur Webhalle begeben“, schlug Ominee vor, „falls Nojun und die anderen dort auf eigene Faust hingegangen sind, holen wir sie womöglich noch ein. Oder wir warten.“
„Wir warten!“, entschied ich nach kurzem Nachdenken.
„Ach, ist das so?“, antwortete Ominee nur halb im Scherz, „kann mich gar nicht erinnern, dich zum Anführer gewählt zu haben.“
„Bist du denn anderer Meinung?“, erkundigte ich mich.
„Nein, ich denke auch, dass wir lieber noch ein paar Augenblicke abwarten sollten. Ich hasse es aber, wenn man mich bevormundet“, sagte Ominee.
„Tut mir leid“, sagte ich aufrichtig.
„Schon gut“, antworte Ominee, „ich hätte es mir ja denken können. Einmal Arschloch, immer Arschloch.“
Ihr Zwinkern und ein angedeutetes Lächeln nahm ihren Worten die Spitze. Trotzdem lächelte ich nicht zurück. Nicht, weil ich mich beleidigt fühlte, sondern weil ich viel zu angespannt dafür war. Das hier, dachte ich, während mein Blick nervös über die vielen Türen, die Himmelstreppe und die bepflanzten Wehrgänge der Festung glitt, konnte gewaltig in die Hose gehen.

~o~

Slizzas Kopf schwamm in einem lauwarmen Meer. Es war ein Meer so warm und rot wie die von Algen gefärbten Ozeane ihrer Heimat. Auf ihrer Haut spürte sie das kalt-weiße, aber doch so warme Licht ihrer Heimatsonne, welches ihren Organismus auf Touren brachte und ihre Sinne erweckte. Über ihrem Kopf glaubte sie die melodischen Schreie achtflügeliger Nornvögel zu hören, die mit ihren scharfen Augen die Wasseroberfläche durchstießen und nach kleinen Schalentieren und Fischen Ausschau hielten. Ein sanfter, nach süßen Früchten duftender Wind wehte um ihren Kopf und sie spürte die kurze, aber herzliche Umarmung ihrer Kriegermutter, die ihr zu ihrem erfolgreichen Schwimmtraining gratulierte. Alles schien so einfach und friedlich zu sein. Sie dachte nicht an Revolutionen oder Ungerechtigkeit. Sie war nur im Moment. Doch Slizza war im Herzen auch eine Entdeckerin und so schön dieses Meer auch war, so wollte sie dennoch unbedingt wissen, was darunter lag. Vielleicht fand sie dort Fischschwärme, vielleicht gewaltige Korallenriffe oder unterseeische Kreaturen, die ihr Geschmeide oder mächtige Waffen schenken würden. Sie beschloss dem auf den Grund zu gehen. Buchstäblich.
Noch während sie hinabtauchte spürte sie, wie die Hände ihrer unsichtbaren Kriegermutter nach ihr griffen, und sie festhalten wollten. „Bleib hier, Slizza!“, rief ihre Stimme liebevoll, aber bestimmt, doch Slizza ließ sich weder von ihrem gutgemeinten Befehl, noch von ihrem Griff aufhalten.
Geschickt und geschmeidig schlüpfte sie durch ihre Finger und stürzte sich in die Tiefe. Dort, wo die Geheimnisse lagen. Selbst hier unten war das Wasser von leicht roter Farbe, auch wenn diese Färbung längst nicht so intensiv war, wie an der Oberfläche.
Der fehlende Sauerstoff machte ihr wenig Sorgen. Zwar war sie eine Lungenatmerin, aber ihr Körper war in der Lage den Sauerstoff für lange Zeit zu speichern. Lediglich die Kälte würde ihr vielleicht zu schaffen machen. Runar wie sie waren zumindest teilweise kaltblütig und kamen ohne Wärme nur langsam voran.
Sie sah tatsächlich Korallen dort unten – große, farbenfrohe Riffe, lebende Städte aus Kalk und Polypen, die auf Indrar noch weit massiver und beeindruckender waren als auf der Erde. Doch sie sah keine Fische. Die unterseeischen Mikrostädte waren – zumindest hier – ausgestorben.
Slizza wusste, dass das ungewöhnlich war, also schwamm sie neugierig geworden noch etwas tiefer, um sich eines der Riffe aus der Nähe anzusehen. Auch wenn es hier unten bereits ein Stückchen dunkler war, da das Sonnenlicht mit jedem Meter ein wenig an Kraft einbüßte, erkannte Slizza alle Details. Sie sah, wie sich die Münder der Polypen in der Strömung hin und her wiegten oder wie Kampftentakel sich wie von unsichtbarer Hand gesteuert zuckend bewegten und konnte dem Drang nicht widerstehen das raue Gewebe der bunten Blumentiere zu berühren. Sie wusste, dass ihr das eine unschöne Bekanntschaft mit den Nesselzellen der Korallen einbringen konnte, doch Slizza war bereits eine echte Kriegerin – schon ganze dreizehn Jahre alt und ihre Haut war dick und robust – also streckte sie ihren rechten Zeigefinger aus.
Als ihre Hand jedoch das Gewebe der Koralle berührte, fühlte es sich unerwartet weich und nachgiebig an. Einem unbewussten Impuls folgend verstärkte sie ihren Druck etwas und sah erschrocken, wie sich das Gewebe vom Skelett löste, so als wäre es überhaupt nicht daran befestigt. Die Unterseite war widerlich schwarz und grau und das darunterliegende, knochenweiße Kalkskelett wirkte porös und zerbrechlich. Die Koralle war offensichtlich tot. Trotz ihres Bedauerns gegenüber dem Geschöpf versuchte sie es an einigen Stellen und kam zu exakt dem gleichen Ergebnis. Überall fand sie nichts weiter als weiches, totes, nekrotisches Gewebe, welches in hässlichen Fetzen durchs Wasser trieb.
Wie konnte das nur passieren, dachte sie.
Eine finstere Ahnung ergriff von ihr Besitz und mit einem Mal hatte sie genug von ihrem Abenteuer. Von der friedlichen Stimmung war fast nichts mehr übrig.
Plötzlich spürte sie, wie etwas an ihr zog. Sie blickte hinab und erkannte einige hundert Meter unter ihr einen schwarzen Strudel so breit wie eine indrarische Burg, welcher sich träge drehte und dabei einen tiefen, brummenden, hässlichen Ton erzeugte, welcher Slizzas Seele frösteln ließ. Doch nicht nur ihrem Innersten war kalt. Während sie verzweifelt gegen den Sog ankämpfte, bemerkte sie, dass das Wasser plötzlich deutlich an Wärme verloren hatte. Jede ihrer Bewegungen kam ihr träger und schwacher vor, als die vorherige, während rings um sie herum große Stücke des toten Korallengewebes abrissen und in den Strudel gesaugt wurden, dessen Brummen immer durchdringender und einnehmender wurde, während sie am Horizont nun doch einen Fischschwarm bemerkte, der in unglaublichem Tempo auf den finsteren Wirbel zu schwamm. Trotz ihrer Lage stimmte sie der Anblick der zum Tode verdammten Tiere traurig. Als die Fische jedoch kurz darauf an ihr vorbeirauschten, bemerkte sie, dass ihr Mitleid zu spät kam. Das hier waren keine lebendigen Fische mehr, sondern skelettierte oder halb verweste Kadaver, deren tote Körper immer wieder unkoordiniert gegeneinanderstießen. Was sie für einen Schwarm gehalten hatte, war in Wahrheit ein schwimmender Leichenzug gewesen. Selbst unter Wasser nahm sie den abstoßenden Gestank deutlich wahr.
Noch einmal schwoll das Brummen an. Der Strudel bot ihr an, sie in seinem dunklen Schoß zu bergen, versprach ihr den Frieden der Resignation, doch Slizza hörte nicht zu. Noch nicht. Sie war eine Kämpferin.
Als sie ihren Blick trotzig und entschlossen zurück in Richtung Wasseroberfläche wandte, bemerkte sie, dass das Licht, welches von dort oben kam, nicht nur heller geworden, sondern auch näher gekommen war. Es war fast so, als wolle es ihr die Hand reichen, sie aus diesem dunklen Sumpf heraus ans Tageslicht ziehen.
Für einen Moment überlagerte ein trockenes Krachen und Knacken den finsteren Ton, als ein großer Teil der verbunden Kalkskelette von Riff abbrach und wie ein havariertes Schiff dem hypnotischen Malstrom entgegentrieb.
Doch anders als das Riff, schaffte es Slizza, die die Hoffnung spendende Wärme des Lichts vor sich spürte, sich aus dem Sog zu befreien und einige Meter nach oben zu schwimmen. Hier war das Wasser wieder wärmer und ihre Muskeln arbeiteten besser. Mit jeder Schwimmbewegung kam sie der Oberfläche etwas näher, wobei die Temperatur des Wassers zunahm. Inzwischen war es schon fast so warm wie in einem Bad.
Auch wenn sich das bislang noch angenehm anfühlte, beunruhigte der plötzliche Temperaturanstieg Slizza ein wenig und als sie sich ein weiteres mal kräftig mit den Armen nach vorne zog und der Lichtstrahl ihre Haut berührte, verwandelte sich ihre Hoffnung in Grauen. Das vermeintlich freundliche Licht verbrannte ihre Haut wie kochendes Metall, ließ ihre Schuppen platzen und verkohlen und brachte das Wasser in ihren Muskeln zum Sieden. Wie ein Kind, welches auf eine heiße Herdplatte gefasst hatte, sprang sie instinktiv zurück in die Grabeskälte des toten Wassers, die mit ihrer brummenden Stimme nach ihr rief. Sofort begann der Strudel wieder an ihrem Körper zu ziehen und sie begriff, dass es keinen Ausweg für sie gab. Sie hatte nur die Wahl zwischen dem zerstörerischen Licht und der saugenden Dunkelheit. Sie stellte sich vor, dass das Licht dort oben zur Höllenglut geworden war. Dass es ihre Kriegermutter verschlungen hatte, so wie es auch sie selbst fast verzehrt hatte. Dort wollte sie nicht sein. Auf keinen Fall. Also entschied sie sich für das andere Übel und kämpfte nicht länger gegen den Sog an. Der schwarze Strudel riss sie mit sich, zusammen mit zerstörten Korallen und fauligen Fischen, während ihre Muskeln förmlich zu Eis erstarrten. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie sich nun nicht mehr aus dem Griff des Strudels befreien können. Nun, da er gewonnen hatte, nahm der Ton, den der Malstrom ausstieß etwas geradezu Triumphales an. Während sie haltlos auf sein Zentrum zuflog, füllte das Geräusch ihre Ohren, ihre Knochen, ihren Geist. Alles in ihr brummte. Alles vibrierte und alles, was es gab und je geben würde, war der Ton. Der Ton. Der Ton.
„Der Ton“, flüsterte Slizza zu sich selbst und wunderte sich dabei, dass ihre Worte nicht vom Wasser geschluckt wurden und keine Flüssigkeit in ihre Lungen strömte. Über ihr war das Licht, doch es war kein Verbrennendes. Es war das Licht des Gebets, wie sie es schon so viele Male erlebt hatte. Auch war es nicht der erste Traum gewesen, den sie während der Trance geträumt hatte, aber es war der Erste, der so dunkel gewesen war. Und offenbar war nicht alles daran ein Traum gewesen. Der Ton war immer noch da und er klang kein bisschen anders, als in ihrer Traumvision. Das gleiche Geräusch hatte sie schon oft während der Stunde der Schwärze vernommen. Wenn auch nicht ganz so laut und verstörend. Doch so unangenehm der Ton auch war – er vertrieb die berauschende Wirkung des Lichtes und klärte dadurch in gewisser Weise ihren Geist. „Unsere Mission“, flüsterte sie unendlich leise und das Adrenalin, das sie bei dieser Erkenntnis durchströmte, machte sie vollends wach. Sie blickte hinter sich und erkannte, dass das Licht bereits die gesamte Halle der Herrschaft erfasst hatte.
Bald ist es zu spät, begriff sie. Sie sah zu den anderen und stellte fest, dass sie alle tief und fest im Gebet versunken waren, während ihre Lippen die rituellen Worte wiederholten, die fast von dem dunklen Brummen verschluckt wurden. Einzig die Stimme des Allrichters hob sich ein wenig ab. Sie versuchte festzustellen, ob er in ihre Richtung sah, aber durch die Leiber der Sucher hindurch sah sie lediglich einen undeutlichen, hellen Fleck. Ich muss es riskieren, dachte sie, beugte sich zu Nojun herüber, der ihr von allen Anwesenden noch am wenigsten tief in der Trance versunken schien und schlug ihn fest auf seine gläserne Brust, während sie mit ihrer Linken seinen Mund zuhielt. Nojun schlug die Augen auf, in denen für einen Moment Verwirrung und Panik standen. Zu Slizzas Erleichterung wehrte er sich jedoch nicht und nach einigen Augenblicken schien er die Situation auch ohne Worte zu erfassen. Gemeinsam machten sie sich daran die anderen Mitglieder ihrer Gruppe aufzuwecken. Slizza hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.

~o~

„Lass mich in Ruhe, Scyone“, verlangte der Laarmaschk. Die Stimme des Nachahmers war so schrill und unangenehm, dass sie selbst Moydrur anwiderte. Er hörte sie klar und deutlich, da er bereits viel Abstand aufgeholt hatte. Dennoch blieb nicht mehr viel Zeit. Der Laarmaschk hatte die Gebetshalle beinah erreicht. Moydrur konnte es nicht fassen, dass er es so kurz hintereinander direkt mit zwei Völkern des dunklen Dorns zu tun bekam, nachdem er so lange nichts von ihnen gehört oder gesehen hatte. Immerhin würde der Laarmaschk ihn nicht fressen. Er hatte in dieser Hinsicht andere Vorlieben.
„Das kann ich nicht“, sagte Moydrur, während der von matten, bunten, Lichtern und weißem Nebel gefüllte, enge Korridor des Zwischenraums, der die Bilder der gewöhnlichen Welt nur wie durch mattes Glas hindurchliesß, an ihm vorbeiflog. Hier fühlte er sich fast zu Hause. Nicht nur, weil es an seine neblige Heimatwelt erinnerte, „du stehst meinen Plänen im Weg!“
Moydrur bemerkte, wie der Laarmaschk seine Kräfte mobilisierte, um wieder einen Vorsprung zu gewinnen. Doch es war vergeblich. Scyonen waren schneller. Immerhin waren sie so etwas wie die Herren des Zwischenraums, während die Laarmaschk eher im Geflecht Zuhause waren.
Letztlich erkannte auch der Laarmaschk die Situation. Statt weiter stur auf Flucht zu setzen und sich aller Wahrscheinlichkeit nach von Moydrur einfangen zu lassen, drehte er sich zu dem Scyonen um und schlug mit vier breiten, stachelbewehrten, grauen Armen nach ihm, die er kurzerhand aus seiner groben, schemenhaften Gestalt ausbildete.
Diese Arme waren gefährlich. Sie verursachten keine körperlichen Schäden, aber sie konnten die Essenz eines Wesens zerstören oder auch in kleine Stücke zerteilen, die hilflos im Zwischenraum umhertrieben oder sich bestenfalls notdürftig zu einer multiplen Persönlichkeit zusammenfügen ließen. Moydrur entlockte die Attacke dennoch nichts als ein müdes Lächeln. Tänzelnd wich er den Armen aus und wo das nicht ging, krümmte er geringfügig den Raum, um den Angriffen dennoch entgehen zu können.
Im Gegenzug warf er mit einer raschen Handbewegung ein Netz aus dunkelgrünem Nachtschilf, welches sich wie ein Kokon um seinen Kontrahenten legte. Ein Kokon, welches sich immer und immer zusammenziehen würde, bis … nun, bis sein Inhalt in eine Handfläche passte.
„Warte!“, bat der Laarmaschk, dem sofort bewusst wurde, in welcher Lage er sich befand, „sag mir, wie deine Pläne aussehen. Vielleicht kann ich dir helfen, sie umzusetzen!“
„Ist das dein Ernst?“, fragte Moydrur zornig, „Eure frömmelnden Schoßhündchen halten einen Teil meines Volkes wie Sklaven. Was denkst du wohl, was ich zu tun gedenke?“
„Das war mir nicht bewusst“, krächzte der Laarmaschk.
„Natürlich“, höhnte der Scyone, „ihr wisst ganz sicher überhaupt nichts über das Volk, welches ihr unterwandert!“
In seiner Wut beschleunigte Moydrur die Schrumpfung und der Laarmaschk kreischte auf, als das widerstandsfähige Schilf seinen Körper zusammendrückte.
„So ist es aber“, verteidigte der Laarmaschk sich, „jene, die es wissen müssen, wissen es natürlich. Aber ich nicht. Wir haben kein kollektives Wissen, wie ihr Scyonen. Ich habe nur eine sehr grobe Vorstellung von unserer Mission. Ich habe bislang lediglich im Geflecht existiert. Dieser Rilandi war mein erster Spiegel und ich hatte bislang noch nicht genügend Zeit und auch keinen Anlass all seine Erinnerungen zu durchforsten, aber nach dem zu urteilen, was ich mir bereits angesehen habe, weiß auch er nichts über Scyonen in Uranor. Doch ich kann dir dennoch helfen die deinen aus ihrer Knechtschaft zu befreien. Falls du mich gehen lässt. Dem Allrichter werde ich natürlich nichts von eurer Flucht berichten und dem Geistspiegel auch nicht.“
„Das klingt durchaus nach einem bedenkenswerten Vorschlag“, befand Moydrur und er sah in den hellgrünen Augen des schattenhaften Wesens so etwas wie Hoffnung aufglimmen. Für einen Scyonen kam das einer Zielscheibe gleich, „leider vertraue ich dir nicht. Doch selbst, wenn ich es tun würde: Wenn du nichts weißt, bist du für mich nutzlos!“
Nach diesen Worten sog er einen Moment lang genießerisch die ersterbende Hoffnung des Laarmaschk in sich auf. Dann komprimierte er das Nachtschilf-Netz auf die minimale Größe und löschte das wertlose Wesen aus.

~o~

Gemeinsam gelang es Slizza und Nojun in relativ kurzer Zeit die meisten der anderen aufzuwecken und an ihre Mission zu erinnern. Lediglich Ranschas Blick blieb selbst dann noch entrückt auf den Allrichter gerichtet, als Nojun ihr praktisch ins Ohr schrie. Erst ein unsanfter Schlag von Franno, der einen kleinen Teil ihres rechten Oberarms absplittern ließ, brachte sie zur Vernunft. Womöglich lag dies daran, dass sie als Wahrgeborene noch empfänglicher für die Wirkung des Gebetes war. Nachdem sie ihr den Grund für die harte Behandlung erklärte hatten, hatte Ranscha zwar durchaus Verständnis dafür, was jedoch nichts änderte, dass sie ziemlich wütend auf Franno war.
„Hat jemand eine Ahnung, wie viel Zeit uns noch bleibt?“, fragte Nojun in die Runde, erntete aber nur allgemeines Kopfschütteln. Er hatte ohnehin nicht damit gerechnet. Außer Olevan trug in Uranor wohl niemand eine Uhr mit sich herum und auf die innere Uhr war hier nicht unbedingt Verlass.
„Wahrscheinlich nicht viel“, vermutete Slizza, „wir sollten sofort beginnen.“
„Sollten wir nicht lieber abbrechen?“, fragte Ninga, „so eine Aktion zu ohne einen genauen Zeitplan zu starten, wäre Wahnsinn.“
„Darauf zu hoffen, dass wir uns beim nächsten Mal besser beherrschen können, wäre Wahnsinn“, entgegnete Slizza, „du hast doch gesehen, wie grandios wir dabei versagt haben. Außerdem wird es kein nächstes Mal geben, wenn sie Olevan und Ominee heute Abend in Laarmaschk verwandeln und sie ihnen alle verraten. Und genau das wird passieren, wenn wir nicht losschlagen, ganz egal, ob sie bis dahin geflohen sind oder nicht.“
Die anderen sahen dies genauso und so gab sich Ninga schließlich geschlagen.
„In Ordnung“, sagte Ninga, „dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren.“
Ninga machte sich daran aufzustehen, aber Franno schüttelte den Kopf und hielt sie mit seiner kräftigen Hand zurück, wonach er sich demonstrativ auf alle Viere niederließ, um rasch, aber vorsichtig zwischen den anderen Webern und den Hirten hindurch auf den Ausgang zuzukriechen.
Ninga, die verstand, dass dieses lächerlich wirkende Verhalten dazu diente, nicht am Ende doch noch die Aufmerksamkeit des Allrichters auf sich zu ziehen, schloss sich Franno widerwillig an und bald folgten auch Nojun und Gorweo ihrem Beispiel.
Die Verbindung Zoenhir öffnete währenddessen als erste ein Portal zum Geflecht, was Slizza und Ranscha ihr sogleich nachtaten. „Wir sehen uns auf der anderen Seite“, sagte Slizza leise und die anderen Frauen nickten. Dann waren sie aus dem Kreis der Betenden verschwunden.

~o~

Ohne etwas Bestimmtes zu fokussieren, blickte ich hinauf in den Himmel über die Festung, wo sich die bunten Wolkenstraßen erstreckten und man ganz weit oben die Glastierschwärme als winzige Punkte ihre Runden um die Himmelstreppe drehen sehen konnte. Dabei versuchte ich möglichst an nichts zu denken und einfach nur zu sein.
Das war keine Träumerei. Es war vielmehr ein weiterer Versuch auf diese Weise Kontakt zu der Waffe aufzunehmen, die ich der Hirtin abgenommen hatte. Denn eine Stichwaffe zu haben, war vielleicht ganz nett, aber eine Schusswaffe war eindeutig besser. Dabei war es schon ein komisches Gefühl die gleiche Art von Waffe in den Händen zu halten, die Karmon von mir getrennt hatte, auch wenn sie den Kwang Grong – falls Moydrur die Wahrheit sprach – nicht vernichtet hatte.
Dabei lag eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass Karmon einst ebenfalls eine Waffe gewesen war. Doch anders als der Kwang Grong war dieser Hirtenstab nicht intelligent. Es gab keine Möglichkeit mit ihm zu kommunizieren. Ich hatte bereits versucht, die Fäden um den Griff zu wickeln und zwar nicht nur meine eigenen, sondern selbst die, die ich aus dem Licht gewonnen hatte. Aber es tat sich einfach nichts. Die Waffe blieb nichts weiter, als eine bessere Keule mit spitzen Enden.
„Wir können nicht noch länger warten“, sagte Ominee nervös und riss mich damit aus meiner Meditation.
„Nur noch einen Moment“, erwiderte ich noch immer leicht abwesend, „mein Gefühl sagt mir, dass sie bald zu uns stoßen.“
„Viel mehr würde mich interessieren, was deine Uhr sagt“, erwiderte Ominee.
„Fünfunddreißig Uhr vierunddreißig und achtzehn Sekunden“, antwortete ich, wobei mir vollkommen bewusst war, dass es nicht das war, was sie hören wollte.
Als ich Ominees finsteren Blick bemerkte, übersetzte ich die auch ihr unvertraute bravianische Zeitangabe. „Sie sind seit knapp fünfunddreißig Minuten dort drin.“
„Dann können wir das Ganze als gescheitert betrachten“, sagte Ominee fatalistisch, während sie sich mit den Händen durchs Gesicht fuhr „falls sie überhaupt dort drin sind, können wir auf keinen Fall auf sie zählen. Wir sollten durch das Tor hinaustreten und all dem ein Ende setzen, Olevan, bevor die Hirten uns wieder gefangen nehmen können. Wenn man die Festung unbefugt verlässt und keiner der Meister ist, wird man am Tor einfach aufgelöst. Es soll ein vergleichsweise angenehmer Tod sein. Und die anderen würden wir damit auch schützen. Keine Körper, keine Laarmaschk.“
„Auf keinen Fall“, protestierte ich, „ich gebe nicht auf. Woher kommt überhaupt deine plötzliche Verzagtheit? Vorhin im Kerker warst du doch noch so kampflustig.“
„Was du Resignation nennst, ist das Ergebnis logischen Denkens“, sagte Ominee seufzend, „Vorhin hatte ich es auch noch für möglich gehalten, dass die anderen zu uns stoßen werden. Jetzt nicht mehr. Andernfalls wären sie längst erschienen. Aber wenn du dich weiter selbst täuschen willst, gut. Dann lass uns wenigstens zur Himmelstreppe gehen. Ich glaube zwar, dass hier inzwischen die Hölle losgebrochen wäre, wenn sie dort hinaufgegangen wären, aber wenn entgegen jeder Wahrscheinlichkeit doch noch etwas passiert, dann in der Webhalle. Hier unten verschwenden wir definitiv unsere Zeit.“
„In Ordnung“, sagte ich nach kurzem Nachdenken. Womöglich hatte sie zumindest in diesem Punkt recht. Also gab ich meine Versuche mit dem Hirtenstab auf und begab mich aus dem Schutz des Säulenganges auf den Innenhof, um zur Himmelstreppe zu gelangen.
„Warte!“, flüsterte Ominee schräg hinter mir und deutete auf die Tür zu unserer rechten. Sie öffnete sich. Geistesgegenwärtig flüchtete ich mich wieder in den Schutz einer Säule, so wie Ominee es bereits getan hatte und beobachtete von dort aus, wie ein einzelner Hirte auf den Hof trat – seine Waffe im Anschlag – und den Hof aufmerksam beobachtete.
„Meinst du, er verschwindet wieder?“, fragte ich Ominee.
Sie schüttelte den Kopf und tatsächlich drehte sich der Rilandi, bei dem es sich um einen Mann mit krausen, gläsernen, Haaren und Vollbart handelte, zu uns um und ging mehr oder weniger direkt auf die Säulen zu, hinter denen wir standen. Hatte er uns entdeckt oder hatte er nur verdammt gute Instinkte?
Glücklicherweise wählte der Mann jedoch nicht den Weg über die Hofseite, sondern blieb innerhalb des Säulengangs und hielt sich dabei nicht damit auf die einzelnen Säulen zu umrunden.
Ein Hoch auf die Faulheit, dachte ich zugleich erleichtert und belustigt. Doch meine Freude währte nur kurz. Sie verflüchtigte sich gänzlich, als der Mann seinen Hirtenstab gegen eine der Säulen presste und diese in einer gewaltigen Stichflamme aus weißem Licht und mit gut zwei Meter Radius hüllte.
Als die Flamme nach einigen Momenten erlosch, waren sowohl die Säule als auch der Boden unversehrt, jedoch war ich mir relativ sicher, dass dies nicht für Lebewesen gelten würde, die sich im Wirkungskreis dieses Infernos befanden.
Selbst hier, drei Säulen entfernt, spürte ich noch die Hitze. Abwarten und verstecken war also keine Option. Ich wechselte einen raschen Blick mit Ominee und erkannte, dass sie das ähnlich sah.
Die nächste Säule ging in Flammen auf und dann die übernächste, wobei die Gluthitze, die von dem Lichtfeuer ausging, mir diesmal den Schweiß aus den Poren trieb und ich ein schmerzerfülltes Stöhnen unterdrücken musste.
Als der Hirte fast an meiner Säule angekommen war, kam mir eine Idee. Ich blickte zu Ominee und zeigte dann erst auf mich und auf den Innenhof und dann auf sie und den Säulengang. Sie nickte. Dann zählte ich mit den Fingern von drei herunter, stieß mich mit aller Kraft von der Säule ab und rannte ein Stück auf den Hof hinaus, ohne mich nach Ominee umzusehen. Das geschah keinen Moment zu früh, denn die Säule, an der ich noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte, verwandelte sich in diesem Moment in eine lodernde Todesfalle.
„Hey, Glasmännchen!“, rief ich und wedelte wie ein Hampelmann mit den Armen, „mit Feuer spielt man nicht. Hat dir das deine Mutter nie erzählt?“
Der Hirte wurde nicht so wütend, wie ich es mir erhofft hatte, aber immerhin hatte ich seine Aufmerksamkeit.
„Das hier ist kein Spiel, Verlorener“, sagte der Mann überheblich mit einer tiefen, brummenden Stimme, während er seinen Hirtenstab auf mich richtete, „aber wenn es eins wäre, hättest du nun verloren.“
Da ich von Göttern die Schnauze gestrichen voll hatte, betete ich – nach Sitte der Cestral – ersatzweise zu meinem Urselbst, dass Ominee mich nicht im Stich lassen würde.
Der Hirte schoss und ich schloss innerlich mit meiner Existenz ab, als das vernichtende Licht auf mich zuraste. Dann jedoch erkannte ich, dass sein Schuss zu hoch gezielt war und knapp über meinem Kopf schräg hinauf in den Himmel raste.
Dass dies nicht an den mangelnden Zielfähigkeiten des Rilandi gelegen hatte, erkannte ich zweifelsfrei daran, dass der Mann in die Knie gegangen war und sich den schmerzenden Rücken hielt, während Ominee zu einem weiteren Stich ausholte. Sofort rannte ich auf die beiden zu, um Ominee zu helfen.
Das erwies sich auch als nötig, denn bevor Ominee ihre zweite Attacke anbringen konnte, wirbelte der Hirte herum und fegte sie mit einem Fuß von den Beinen, während er seinen Hirtenstab mit voller Wucht gegen den Schädel der Jyllen donnerte. Meine Spiegelneuronen flammten bei diesem Anblick heller auf, als zuvor die Säulen und ich beschleunigte meine Schritte, um zu verhindern, dass dieser Wichser ihr noch mehr Leid antun konnte. Ominee schlitterte ein Stück zurück, blieb benommen liegen und der Hirte hob seine Waffe, um ihr den Rest zu geben, doch da war ich bereits heran und der Wächter sah meinen Angriff aus dem Augenwinkel kommen. Statt sich mit seiner Waffe um seine ohnehin fast besiegte Gegnerin zu kümmern, wirbelte er erneut herum und blockte meinen Schlag ab, wodurch die beiden Waffen donnernd aufeinanderprallten und ein schmerzhaftes Vibrieren durch meinen Arm ging. Der Mann musste wirklich stark sein.
Mein Kontrahent hob seinen Stab, wodurch sich seine Brust mir schutzlos darbot und ich war kurz davor dieser Verlockung nachzugeben und ihm die Spitze meines eigenen Hirtenstabs mit voller Wucht in den gläsernen Leib zu stoßen. Doch zum Glück erinnerte ich mich rechtzeitig daran, dass er keine reine Nahkampfwaffe in den Händen hielt und ließ mich stattdessen auf den Boden sinken, wodurch sein Lichtblitz lediglich die leere Luft durchschlug und quer über den Hof fegte, statt meinen Schädel zu pulverisieren.
Da ich meinem Gegner nun im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen lag, nutzte ich meine Chance etwas auszuprobieren und rammte ihm die Hirtenstabspitze mit aller Wucht zwischen die Beine.
Glassplitter fielen herab und auch wenn der Mann nicht schrie, merkte ich an seiner verkrampften Haltung, dass die Geschlechtsteile von Glasmännern nicht wesentlich schmerzunempfindlicher waren, als bei den Männern anderer Völker.
Ich hatte keine Ahnung, ob das verletzte Organ sich regenerieren würde, aber selbst wenn, hatte ich doch die Vermutung, dass das nicht angenehm sein konnte.
Natürlich ruhte ich mich nicht auf diesen Erfolg aus und führte sofort einen weiteren Schlag gegen sein rechtes Knie, woraufhin weiteres Glas splitterte und der Hirte ein Stück zu Boden sank. Jedoch besaß der Rilandi mehr Selbstdisziplin, als die meisten Menschen. Trotz seiner Verletzungen und Schmerzen führte er seine Waffe mit beiden Händen gegen meinen Rücken, was ich an einem heftigen, spitzen Schmerz bemerkte, der jäh durch meinen Körper schoss.
„Diesmal saugen wir dir die Seele aus, Verlorener. Nicht nur deinen finsteren Symbionten. Du besitzt nichts, was ein Laarmaschk gebrauchen könnte“, brummte der Hirte und ich bemerkte ein Ziehen, welches über rein körperlichen Schmerz hinausging. Dank meiner ersten Prüfung ahnte ich, was nun passieren würde. Ich versuchte mich von seiner Waffe zu befreien, doch der Hirte hielt mich mit seinen Beinen fest.
„Oh doch“, hörte ich Ominee über uns sagen, „er besitzt schlagkräftige Verbündete!“
Ein Regen von Splittern rieselte auf mich herab und statt mich zu fragen, woher genau er stammte, nutzte ich die Gelegenheit, zog meine Arme aus der gelockerten Umklammerung des Mannes, griff mit beiden Händen hinter meinen Rücken und zog die Spitze der Hirtenwaffe mit einem Ruck aus meinem Fleisch. Ich spürte Blut an meiner Haut hinabrinnen und schrie auf, doch immerhin schaffte ich es, nicht so laut zu schreien, dass ich damit die ganze Festung aufweckte. Weitere Splitter regneten auf meine Haut hinab und brachten mir winzige Verletzungen bei, als Ominee einen erneuten Schlag oder Tritt landete. Instinktiv schloss ich die Augen, um nicht mein Augenlicht zu verlieren. Als ich sie wieder öffnete, war der Hirte aufgestanden und dabei, auf die „Hallen der Prüfung“ zu zu rennen. Ominee lag neben mir auf dem Rücken und versuchte sich wieder aufzurappeln. Ihre linke Wange blutete.
„Er entkommt uns!“, warnte ich.
„Schnellmerker“, ächzte Ominee, die inzwischen wieder unsicher auf den Beinen stand.
Ich begann zu rennen, aber nach ein paar Schritten hielt ich inne, da mir bewusst wurde, dass ich den Hirten nie und nimmer einholen würde, zumal die Schmerzen in meinem Rücken mir das Vorankommen nicht eben erleichterten. Mir blieb nur eine Chance: Ich streckte meinen Hirtenstab vor mich, zielte auf den Penner und legte meine ganze Verachtung für ihn und seine Leute in einen imaginären Schuss. „Verrecke, du Drecksack, für all das, was du getan hast!“, rief ich mit zornesrotem Gesicht. Und der Schuss blieb nicht imaginär, sondern wurde sehr real, als sich ein heller, fußballgroßer Energieblitz aus der Waffe löste und den Mann nur wenige Meter vor der Tür in den Rücken traf. Erneut flogen ein paar Glassplitter umher und er fiel der Länge nach hin. Ich erwog, einen weiteren Schuss abzugeben, entschied mich dann jedoch dagegen. Nicht aus rationalen Überlegungen, sondern einzig und allein, weil ich den Wichser leiden sehen wollte. Ich vergaß meine eigenen Schmerzen, rannte so schnell wie schon lange nicht mehr und donnerte ihm meinen Fuß direkt in den verletzten Rücken, als er versuchte aufzustehen. Doch das reichte mir nicht. Mit beide Händen ergriff ich meine Waffe wie einen Speer und stieß ihn mit aller Wucht in seine Wunde, aus der sofort eine klare, wässrige Flüssigkeit hervor schwappte. Offenbar floss in Rilandi-Körpern doch so etwas wie Blut. Man musste nur tief genug schürfen. Der Mann hustete und stöhnte und ein finsteres Lächeln wuchs auf meinen Lippen. Zorn und Rachegelüste flossen wie ein frisch aufgetaner Quell in meine Schläge, mit denen ich seinen Rücken weiter verwüstete und beschädigte.
„Ich hasse dich, du Tyrann!“, rief ich und schuf einen breiten Riss in seinem Körper, „du verfluchter Seelenvampir, du arroganter Parasit im Fleisch des Kosmos. Fahr zur Hölle! Zur Richtigen! Und empfange deine Strafe! Leide. Leide! LEIDE!“
„Bitte! Gnade!“, erdreistete sich der Kerl zu winseln. Doch seine Worte prallten an mir ab. Ich dachte an die Stunde der Schwärze, an die verklärten, lichtweinsaufenden Gesichter, an die vielen Opfer des schwarzen Malmers, an die mitleidlosen Augen und gnadenlosen Prüfungen und an all die psychischen Qualen, die Hunderten mehr oder weniger Unschuldigen angetan worden waren. Aber ich dachte auch an das, was man mir, mir ganz persönlich angetan hatte. Und so beantwortete ich seine Bitte um Gnade damit, dass ich seine Wunden mit raschen Schlägen vergrößerte und systematisch seinen Unterkörper von seinem Oberkörper trennte. Als er dann noch immer nicht still lag und er weiter flehte und schluchzte, bearbeitete ich schließlich seinen Schädel, bis er nichts weiter als eine vollkommen deformierte, halb pulverisierte Maße aus Glas und wässrigem Blut war.
Erst dann interessierte ich mich wieder für meine Umgebung und blickte mich um. Ich sah in Ominees Gesicht, die das ganze mit offenem Mund und aufgestellten Nackenspitzen beobachtet hatte. Unsere Blicke trafen sich und meiner schien ihr alles zu verraten, was sie wissen musste.
„Adrian ist zurück, habe ich recht?“, sagte sie tonlos.
Erst wollte ich das leugnen, aber als ich auf das Massaker sah, welches ich angerichtet hatte, erkannte ich, wie lächerlich das wäre. „Ja“, erwiderte ich in dem Wissen, was das für sie, was das für uns bedeutete, „vielleicht war er nie fort.“
Es war unmöglich zu sagen, ob zu diesem Zeitpunkt bereits Mordpläne hinter Ominees rauer Stirn wuchsen, aber wenn es so war, so kamen sie nicht zur Umsetzung. Denn in eben diesem Moment sprang die Tür zur „Halle der Herrschaft“ auf. Ich hob sofort meine Waffe, als mehrere Personen aus der geöffneten Tür auf uns zu preschten. Wäre mein Adrenalinpegel zu diesem Zeitpunkt auch nur eine Winzigkeit höher gewesen, hätte ich sicher sofort das Feuer eröffnet. Doch meine Wut war größtenteils verraucht und offenbar war diese Wut oder vielmehr der urteilende, richtende Geist aus dem sie entsprang der Schlüssel zum Gebrauch der Waffe. Ich war jedoch sehr froh, mich nun wieder unter Kontrolle zu haben, denn auf diese Weise blieben Ninga, Nojun, Gorweo und Franno unverletzt.
„Hey, alles gut, wir sind’s nur“, rief Nojun beruhigend, als er uns erreichte.
„Gar nichts ist gut“, sagte Ninga atemlos und blickte im Vorbeilaufen auf den zerstörten Hirten, „da drin herrscht völliges Chaos. Dein kleines Massaker hier, hat unsere ganze Mission gefährdet. Viele der Hirten haben deine Schreie gehört und sind außer sich. Es ist unser Glück, der Allrichter und die meisten der anderen Rilandi noch in Trance gefangen sind. Aber das bleibt nicht mehr lange so.“
„Wir müssen zur Treppe!“, bekräftigte Franno, „die Webmaschine erreichen.“
„Hat das jetzt überhaupt noch einen Sinn?“, fragte Ominee, die nun mit mir und den anderen auf die Himmelstreppe zu rannte.
„Ja“, sagte Nojun, „Sie wissen nicht genau, was wir planen. Wir haben immer noch eine Chance.“
„Bis zur Webhalle dauert es auf diese Weise viel zu lange“, antwortete ich mit zusammengebissenen Zähnen, da mir die Schmerzen in meinem Rücken immer noch zusetzten, „selbst, wenn wir hinaufrennen. Das sind unzählige Stufen. Und nach allem, was ich weiß, können die Meister schneller dort rauf gelangen, wenn sie wollen. Das schaffen wir nie im Leben!“
„Ich habe doch gesagt, dass ich dafür eine Lösung habe“, erinnerte Gorweo, als wir am Fuß der Himmelstreppe angekommen waren. Dann hob er seinen Kopf zum Himmel und streckte seine Hände aus.
„Zum Beten ist jetzt der falsche Zeitpunkt“, kommentierte Ninga.
„Er betet nicht“, stellte ich fest, „er spinnt die Fäden.“ Früher wäre mir das wohl nie aufgefallen, doch nun, wo mein Auge für diese Dinge geschult war, bemerkte ich, wie Gorweo zehn Fäden weit hinauf in den Himmel schickte. Warum er das tat, begriff ich jedoch nicht.
„Was immer er da macht, er soll‘ es lieber fix machen“, warnte Franno, „die Hirten sin‘ im Anmarsch.“
Als ich mich umdrehte, sah ich wie sich die ersten der Hirtenkrieger aus dem Eingang quetschten und Aufstellung bezogen.
Ich wollte meine Waffe zum Einsatz bringen, aber Nojun hielt mich zurück. „Das sind viel zu viele. Und wir geben ein viel zu gutes Ziel ab. Lass uns lieber einen Schutz weben. Das bringt mehr.“
Widerwillig nickte ich. Ein Teil von mir hatte durchaus Lust darauf noch ein wenig Rilandi-Blut zu vergießen, aber die Vernunft überwog.
Während Gorweo noch immer sein rätselhaftes Vorhaben verfolgte und die Hirten ihre Waffen in Anschlag brachten, formten Nojun, Franno, Ninga und ich ein möglich dichtes Abwehrnetz aus allem, was wir an Licht mobilisieren konnten.
„Das reicht nicht, der Schild hat noch immer eine Lücke“, stellte Nojun fest, „Gorweo, wir brauchen deine Hilfe!“
Doch Gorweo reagierte nicht. Er war voll auf sein Vorhaben konzentriert.
„Wo ist die Lücke?“, fragte Ominee, die auch Schwierigkeiten damit hatte, die Fäden anderer zu erkennen.
Nojun zeigte auf die entsprechende Stelle, „Dort. Aber ohne Fäden kannst du leider nichts ausrichten“
„Ich habe meine eigenen Fäden“, sagte Ominee und brachte ihre Anmella-Stränge in Stellung.
„Gute Idee!“, sagte ich anerkennend, „aber viel zu gefährlich! Halt deinen Körper lieber da raus. Du könntest dich sonst verletzen. Wir schaffen das auch so irgendwie. “
Ominee sah mich direkt an. Ihr Blick war kalt wie Eis und machte mir unmissverständlich klar, wie wenig sie auf mein Lob und mein Urteil gab. Sie ließ ihre Stränge, wo sie waren.
Kurz darauf wurde unser Schutz auf die Probe gestellt. „Feuer!“, rief einer der Hirtenmeister am anderen Ende des Hofes und rund zwanzig Lichtbälle klatschten wie Katapultgeschosse auf uns ein. Die meisten schlugen wirkungslos in unsere Verteidigung ein. Eine streifte Nojun am Arm und verformte sein gläsernes Fleisch. Drei Geschosse jedoch trafen Ominee wie befürchtet an ihren Anmella-Strängen. Sie schrie. Es roch nach verbranntem Fleisch.
„Es tut mir so leid“, flüsterte ich und legte ihr meine Hand auf die Schulter, die sie schroff abschüttelte. „Sei still, Schlächter!“, zischte sie.
Inzwischen waren noch mehr Rilandi auf den Hof geströmt. Zu den Hirten waren auch noch Weber und einige Sucher gekommen. Wie ein einziges Heer setzten sie sich in Bewegung. Doch noch verzichteten sie darauf uns mit ihrer geballten Macht anzugreifen. Lediglich vereinzelte Schüsse flogen in unsere Richtung. Die meisten davon trafen uns nicht oder klatschten wirkungslos in unseren Schild. Wahrscheinlich wollte sie uns dadurch nur in der Deckung halten.
„Warum schießen sie uns nicht einfach über den Haufen?“, fragte Ninga verwundert, „Sie könnten uns alle in Asche verwandeln, wenn sie wollten.“
„Ich denke, sie wollen uns lebend“, vermutete Nojun, „wegen der Laarmaschk.“
„Dem letzten Hirten, dem wir begegnet sind, war das herzlich egal“, widersprach ich.
„Einzelne Hitzköpfe gibt es immer. Aber die Meister und vor allem der Allrichter könnten das anders sehen“, meinte Nojun schulterzuckend.
„Wir sollten uns hier verpissen!“, verlangte Franno, „das wär‘ immer noch besser, als sich hier abknall‘n oder in den Knast stecken zu lassen!“
Plötzlich fegte ein frischer Wind durch meine Haare und ich hörte vielfältige, verwirrende Geräusche, welche ich nach einigen Momenten als Flügelschläge interpretierte. Ich hob den Kopf und sah ein knappes Dutzend riesiger Libellen, Vögel, Flugechsen und fledermausartige Geschöpfe, die von Gorweo wie Luftballons oder Flugdrachen an seinen Fäden nach unten gezogen worden. Jede von ihnen war zumindest theoretisch groß genug, um als Reittier zu dienen.
Ihnen folgten viele ihrer kleineren Verwandten.
„Fantastisch!“, sagte ich zu Gorweo, „unsere eigenen Fahrstühle.“
Gorweo grinste. „Sie taugen immerhin mehr als die meisten Zweibeiner in dieser Festung“, sagte er und stieg auf eines der gläsernen Vogelgeschöpfe mit dichtem Gefieder und spitzem, dreieckigen Kopf. Als Gorweo aufstieg, plusterte der Vogel kurz sein Gefieder auf, versuchte aber nicht ihn abzuwerfen.
Ominee, die die Ankunft der Flugwesen ebenfalls bemerkt hatte, stieg auf eine breit gebaute, vierflügelige Echse mit einem großen Maul voller scharfer Zähne, die sie erst warnend anfauchte, sie jedoch schließlich ebenfalls aufsteigen ließ, nachdem Gorweo ihr ein paar leise Worte zugeflüstert hatte.
Mit der überlegenen Ruhe unserer Kontrahenten war es nun jedoch vorbei, als sie begriffen, dass wir dabei waren zu fliehen.
„Feuer!“, brüllte ein anderer der Hirtenmeister. Aus dem geordneten Marschieren wurde ein wildes Rennen, während eine erneute, konzentrierte Salve von Schüssen auf uns niederging. Unser bereits schwächer gewordener Schild löste sich vollkommen auf, und auch wenn wir den Geschossen durch wilde Ausweichmanöver entgingen, schlugen manche der Lichtblitze in den Pulk der landenden Flugwesen ein. Einer Libelle wurden noch im Landeanflug drei ihrer Flügel zerstört, wodurch sie unkontrolliert auf dem Boden aufschlug. Eine große, einäugige Flugechse wurde voll getroffen und zerschmolz zu einem unförmigen Klumpen. Einige der kleineren Tiere verdampften regelrecht, während die meisten von ihnen von dem Angriff aufgescheucht worden, sich jedoch statt zu fliehen wütend auf die Aggressoren zubewegten, die ihre Artgenossen getötet und verletzt hatten. Hunderte kleiner und winziger fliegender Insekten, Reptilien, Säugetiere und Vögel stürzten sich auf die Rilandi, störten ihre Konzentration und verlangsamten ihr Fortkommen.
Ich registrierte das durchaus mit Befriedigung, doch mir war natürlich klar, dass dies nur einen kurzen Aufschub bewirken würde. All die Hirten, Weber und Sucher würden sich nicht von ein paar gläsernen Tieren aufhalten lassen. Der nächste Angriff würde kommen und er würde wahrscheinlich unser Ende bedeuten.
Trotzdem bemühte ich mich nun – genau wie Ninga, Nojun und Franno – selbst um ein Reittier. Lieber hoch in der Luft sterben, wenn es schon unausweichlich war, dachte ich. Auf einem gläsernen Wesen durch den mit schillernden Wolken bedeckten Himmel einer fremden Welt gleiten, während sich unter mir eine imposante Festung erstreckte, um dann als gleißende Lichtkugel hinabzustürzen, so als wäre ich ein gefallener Stern. Das wäre ein Tod, der eines Fortgeschrittenen würdig wäre.
Ich entdeckte einige riesige Libelle, deren Facettenaugen mich neugierig betrachteten und die noch keinen Reiter gefunden hatte. Im Gegensatz zu ihrer Artgenossin waren ihre Flügel noch allesamt intakt.
Für einen Moment rutschte mir das Herz in die Hose, als ich mich dem Wesen näherte, welches noch immer ruhig auf dem Boden ausharrte, obwohl es nicht mehr an Gorweos „Leine“ gekettet war. Als ich das Tier mit der Hand sanft an seinem pfeildünnen Leib berührte, flatterte es kurz mit den Flügeln und wandte mir seinen großen Kopf zu, griff mich aber nicht an. Also fasste ich mir ein Herz und stieg auf den Rücken der Libelle, direkt hinter dem Flügelansatz, woraufhin sich die Kreatur sofort ein kleines Stück in die Lüfte erhob. Von ihrem Rücken aus beobachtete ich ein tragisches Feuerwerk.
Die kleineren Glaswesen zerplatzten nach und nach in kurzen, hellen Explosionen unter dem mitleidlosen Sperrfeuer der Hirtenstäbe. Die wenigen Überlebenden zogen sich in Panik zurück, wobei die Meisten von ihnen noch auf ihrer Flucht zum Platzen gebracht wurden.
Nun sind wir an der Reihe, dachte ich, während ich mich nach meinen Gefährten umsah.
Nojun hatte eines der Flughundwesen bestiegen und befand sich etwa auf gleicher Höhe mit mir. Franno saß auf einem großen, geflügelten Glaskäfer und Ninga hatte auf einem recht zerbrechlich wirkenden, zarten Vogel ohne sichtbare Augen Platz genommen. Beide befanden sie sich noch am Boden.
Gorweo und Ominee hatten sich hingen bereits ein ganzes Stück weit in die Lüfte erhoben, doch auch das würde ihnen wahrscheinlich nicht viel helfen.
Unter uns, auf dem Innenhof, zerbarst der letzte Glasvogel in einer schillernden Lichtwolke und ich rechnete mit einem vernichtenden Bombardement, doch was ich stattdessen sah, raubte mir den Atem.

~o~

Slizza hatte beinah das Gefühl nahtlos in ihre albtraumhafte Vision aus der Halle der Herrschaft zurückzukehren und mitten in den finsteren Strudel einzutauchen. Es war nicht das erste Mal, dass sie das Geflecht besuchte, doch die wenigen Male, die sie mit Kollat hier gewesen waren, war es eher wie eine geführte Urlaubsreise gewesen, selbst wenn niemand, der bei Verstand war an einem solchen Ort Urlaub gemacht hätte. Hier und jetzt aber gab es keinen Kollat, der ihnen – so unsympathisch er auch war – eine gewisse Sicherheit versprochen hätte und es gab auch keine vergleichsweise harmlose und kontrollierte Umgebung, keine Zuflucht in zwar gruseligen, aber relativ sicheren, da von Kollat ausgewählten Gebäuden.
Sie waren mitten in der Wildnis des Geflechts. Das bedeutete flirrende Luft, ein mal rot glühender und mal schwarz-körniger, wüstenartiger Sandboden über den gelegentlich dünne Nebelschwaden ihre kränklichen Finger ausstreckten. Kleine Hügel und schroffe Berge aus Schatten und schwarzem Gestein und ein bedrohlicher Himmel aus mal grauen und mal schwarzen, ölig glänzenden Wolkengebirgen von denen von Zeit zu Zeit aschiger, trockener Regen herabrieselte, der die Atemwege reizte, selbst wenn Körperlichkeit im Geflecht nicht denselben Gesetzen unterlag, wie in der gewöhnlichen Welt.
Gelegentlich regnete es aber auch sphärische, streng geometrische Objekte, deren Berührung zu ungewollten Teleportationen in entlegenste und nicht immer lebensfreundliche Gebiete oder zu grässlichen Deformationen führen konnten, die es einem unmöglich machten außerhalb des Geflechts zu existieren. Inmitten dieser unerfreulichen Landschaft wanderten die Ausgezehrten, verzweifelten Seelen verbrauchter Rilandi und zu lang geprüfter „Träumer“ und verschiedene, selten freundliche Wesen wie Dronaxxe und Raaahl, die oft in den Ritzen, Löchern und Nischen des Geflechtes wohnten und die ihren Teil von der potenziellen Beute beanspruchten, die sich freiwillig oder unfreiwillig an diesen Ort begab oder sie als Gefäße für ihren Nachwuchs erwählten.
Zum Teil war das Geflecht, welches sich nicht nur in Uranor, sondern auch in andere Teile des Multiversums erstreckte, dabei ein verzerrtes Abbild der stofflichen Welt, doch es gab auch eine Menge Abweichungen.
Lediglich an spirituell bedeutsamen und häufig frequentierten Orten ließ sich eine erkennbare Ähnlichkeit ausmachen. Selbstverständlich war die Halle der Herrschaft ein solcher Ort. Doch war ihr Geflecht-Gegenstück eine zerbrochene Ruine ohne Dach, in deren trostlosen Überresten die blassen, betenden Abbilder der Rilandi lagen, saßen und standen. Lediglich der Allrichter stach deutlicher hervor. Seine Macht strahlte durch beide Welten, auch wenn seine Aufmerksamkeit glücklicherweise dem Licht galt. Im Moment noch zumindest.
„Es fällt mir immer wieder schwer zu glauben, dass sie uns nicht sehen können“, sagte Slizza zu Ranscha, die zu ihrer Rechten stand, während die beiden Teile der Verbindung Zoenhir sich links von ihr materialisiert hatten.
„Fremdgeborenen fällt es sehr oft schwer zu glauben“, antwortete Ranscha verächtlich. Anscheinend wollte sie keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie nicht sonderlich viel von ihrer Begleiterin hielt.
Slizza ignorierte diese Spitze. Zu den ersten Lektionen der Kriegerinnen-Ausbildung in ihrer Heimat hatte gehört zu lernen, sich nicht von Worten verletzen zu lassen. „Der Geist muss noch besser geschützt sein, als der Körper“ hatte ihre Kriegermutter stets gesagt.
„Was meinst du?“, fragte sie die Wahrgeborene stattdessen, „Wie lange haben wir noch, bis er unsere Anwesenheit bemerkt?“. Sie zeigte auf den tief in sich versunkenen Allrichter.
„Vielleicht noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten
in Normalzeit, würde ich schätzen. Da die Zeit im Geflecht ein wenig anders abläuft, haben wir wahrscheinlich noch eine gute halbe Stunde. Wir sollten also nicht zu lange hier verweilen.“
Slizza nickte und kletterte über die brüchige, schwarze Wand der Geflechtversion der Gebetshalle, wobei sie sich bemühte, sich nicht an den scharfen Kanten zu schneiden. Eine Tür besaß diese Version der „Halle der Herrschaft“ nicht. Ranscha und die Verbindung Zoenhir taten es ihr gleich. Das Fortkommen wurde ihnen dabei dadurch erschwert, dass die Luft im Geflecht eine besondere Konsistenz besaß. Sie war nicht so dick wie Wasser und für die meisten Lungen durchaus atembar, aber sie bot etwas mehr Widerstand, als gewöhnliche Luft. Bei Sprüngen immerhin hatte dies den Vorteil, dass eine Landung ähnlich weich ausfiel wie auf einem Planeten oder Mond mit geringerer Schwerkraft, nur dass diese Sprünge durch den Luftwiderstand nicht so hoch ausfallen konnten. Dies kam ihnen dennoch zugute, als sie die letzten Höhenmeter des schroffen Felsvorsprungs, auf welchem das Gegenstück der Halle der Herrschaft ruhte, durch einen Sprung überwanden, um so den gefährlichen Kanten und Spitzen des dunklen Gesteins zu entgehen.
Federnd landeten sie auf dem staubigen Boden.
„Hast jemand von euch eine Ahnung, wie wir von hier aus am schnellsten zur Webmaschine gelangen?“, fragte Slizza.
Sie sah zur Verbindung Zoenhir deren unheimlicher Mund keine Antwort hervorbrachte und dann zu Ranscha, die diesmal auf Spott verzichtete.
„Die Details der Umgebung sind bei jedem Besuch etwas anders, aber in jedem Fall sind wir gut beraten uns tiefer zu begeben.“
„Tiefer, nicht höher?“, fragte Slizza überrascht.
„Die Webmaschine speist sich an diesem Ort von Dunkelheit, so wie sie in jenseits davon vom Licht profitiert. Und diese Dunkelheit nimmt mit der Tiefe zu. Deshalb ist sie dort zu finden.“
„Da“, sagte Ranscha und zeigte auf eine Schlucht, deren Umrisse sich etwa einen Kilometer entfernt in den wabernden Nebeln abzeichneten, „das sollte der Weg sein.“

~o~

„Wir hätten diese Plage überhaupt nicht in unserer Mitte dulden dürfen“, sagte die Hirtenmeisterin Jontii verächtlich, während sie mit einem Stab den Körper einer geflügelten Glasechse verdampfen ließ, „nicht nur, dass dieses Geschmeiß die Frechheit besitzt uns anzugreifen. Nun helfen sie den Verlorenen auch dabei zu entkommen.“
„Wir brauchen die Tiere für den Unterricht“, erinnerte Kollat, „und die Verräter werden uns trotzdem nicht entkommen.“
„So ist es“, sagte der stämmige Hirtenmeister Druun finster und hob seinen Hirtenstab, „das Licht wird jede Spur von ihnen für immer hinweg strahlen.“
„Wir brauchen sie lebend“, mahnte Herreth streng, „sie alle sollen zu Laarmaschk werden. So will es der Allrichter und so wird es geschehen.“
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Onyra, „nun, wo sie in der Luft sind, können wir sie nicht kampfunfähig machen. Allein der Sturz würde sie töten.“
„Wir haben eine Menge Weber“, sagte Herreth hintergründig lächelnd, „lasst sie weben.“
Mit diesen Worten ließ sie ganze fünfzig Fäden aus ihrer Brust in den Himmel emporschießen. Kollat und auch Gorun, der ruhig und konzentriert neben ihr stand, taten es ihr gleich und nach und nach begannen auch die einfachen Weber ihren Beitrag zu leisten.

~o~

Vor meinen Augen entfaltete sich eine gewaltige Struktur aus Fäden, welche sich wie ein wild wucherndes Geschwür in den Himmel schraubte und dabei immer mehr an Masse zunahm. „Seht ihr das?“, fragte ich die anderen, die sich inzwischen allesamt in der Luft befanden. Obwohl ich sehr laut gesprochen hatte, war ich mir nicht sicher, ob irgendjemand mich gehört hatte, da ein steifer Wind durch unsere Gesichter fegte. Aber einige der anderen sah ich nicken und Nojun, der mir am nächsten war, hörte ich auch antworten. „Ich sehe es. Sie weben ein Netz“, erklärte er, „sie wollen uns tatsächlich lebend fangen.“
„Das klingt doch gut“, meinte ich Ningas Stimme durch den Wind zu vernehmen.
„Klar“, stimmte Ominee zu, „wenn man Wert darauf legt ein Laarmaschk zu werden.“
„Wir müssen schneller fliegen!“, rief ich, da ich auf dieses Schicksal auch wenig Lust hatte. Währenddessen betastete ich die Wunde in meinem Rücken. Sie war noch fühlbar, aber nicht so tief, wie zunächst angenommen und die Blutung hatte aufgehört. Entweder hatte das Licht dabei geholfen sie verheilen zu lassen, oder es lag daran, dass der Hirte mir mit jenem Angriff in erster Linie nicht körperlich hatte schaden wollen.
„Nette Idee“, hörte ich Franno brüllen, „aber ich glaub‘, die Viecher hier ha‘m ihr eigenes Tempo.“
Damit hatte er leider recht. Ich jedenfalls hatte keine Ahnung, wie ich meine gemächlich dahinflatternde Libelle dazu hätte bewegen können an Tempo zuzulegen. Meine Hollywood-Kenntnisse übers Reiten hätten mir nahegelegt ihr die Füße in die Flanken zu schlagen oder dergleichen, doch mein gesunder Menschenverstand warnte mich eindringlich, dass solch ein Manöver eher dazu führen könnte, dass mich mein Reittier verärgert abwarf.
Lediglich Gorweo schien den Bogen raus zu haben. Sein Vogel schwebte bereits ein ganzes Stück über uns.
Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel einen Faden auf mich zukommen. Zunächst dachte ich erschrocken, dass er von dem Netz stammen würde, welches unsere Feinde unter uns webten, doch dann stellte ich erleichtert fest, dass der Faden direkt von Gorweo kam. Wie ein Kabel, welches in die Buchse eines elektronischen Gerätes eingesteckt wurde, nahm der Faden Verbindung mit dem Körper meiner Libelle auf.
Unmittelbar darauf spürte ich einen kräftigen Ruck, mein Kopf wurde schmerzhaft auf meine Brust geworfen und wenn ich mich nicht mit allen Vieren an dem Insekt festgeklammert hätte, wäre ich nun sicher doch abgerutscht. So aber wurde ich mitsamt des Tieres kraftvoll in die Höhe gezogen. Gorweo zieht uns mit sich, erkannte ich jubilierend, wie bei einem Abschleppwagen.
Anfangs reagierten unsere Reittiere recht träge und widerwillig auf diese unfreiwillige Beschleunigung, doch letztlich gaben sie sich geschlagen und nahmen von selbst Tempo auf.
Das Netz aus Geistfäden, welches unsere Verfolger woben, fiel immer weiter hinter uns zurück, während die schillernden Wolken über uns beständig näher kamen.
Wir schaffen es, dachte ich vorsichtig hoffend.

~o~

Der Weg zur Schlucht führte durch eine Reihe kleiner Häuser, die sich hier wie zu einem Art Dörfchen zusammengerottet hatten. Dabei war deren Bauart sehr unterschiedlich. Mal waren es glatte Kuppelbauten fast ohne jeden Winkel, mal eckige, geometrische Gebilde aus scheinbar willkürlich aufeinandergestapelten Quadern und mal verspielte Häuschen mit Spitzdach und stuckverzierten Giebeln. Manche waren fast eingefallen, andere sahen wie frisch gebaut aus und wieder andere befanden sich in einem Zwischenstadium.
Zumeist hatten Slizzas geführte Besuche im Geflecht in einem solchen Gebäude begonnen und oft auch dort geendet. Es waren grauenhafte Orte, manchmal sogar noch unangenehmer als die Wildnis des Geflechts, wenn auch nicht immer so gefährlich.
Halb liefen und halb schwammen sie durch die zähflüssige Luft, während das Dörfchen immer näher kam.
„Meint ihr, wir können es umgehen?“, fragte Slizza nervös. Sie wollte die Gegenwart dieser Gebäude, die ein Unterschlupf für alles Mögliche sein konnten – im besten Fall für ausgezehrte Seelen in schlimmsten für Laarmaschk und andere gefährliche Kreaturen – nach Möglichkeit meiden.
Durch ein schrilles Fiepen wurde sie darauf aufmerksam, dass die Verbindung Zoenhir ihre Kommunikationswerkzeuge zu einer Antwort formte.
„Keine Zeit“, schrieb sie, „Umweg würde zu lange dauern.“
„Sie hat recht“, stimmte Ranscha zu, „außerdem glaube ich, dass es besser ist, wenn wir notfalls einen Unterschlupf hätten. Sieh dir den Himmel an. Das sieht nach Regen aus und wahrscheinlich wird er nicht nur aus Staub und Asche bestehen.“
Slizza blickte nach oben, wo ein träges Zittern durch die bedrohlichen Wolken ging, so als würde man Wackelpudding in Schwingung versetzen. Gleichzeitig schien sich die Farbe der Wolken zu verdunkeln und von einem hellen Grauton in ein tiefes, schmutziges Anthrazit zu verändern.
„Womöglich hast du recht“, gestand Slizza ein.
„Um das zu wissen, brauche ich dein Urteil nicht“, erwiderte Ranscha arrogant.
Slizza schüttelte den Kopf. Wie konnte man sich nur so unausstehlich verhalten. „Gehst du mit allen deinen Verbündeten so um?“
„Nein“, erwiderte Ranscha, „nur mit unbeholfenen Fremdgeborenen ohne Erfahrung.“
„Na wunderbar, ich frage mich, warum …“, begann Slizza.
„Behalte deine Fragen für dich“, unterbrach Ranscha sie, „Ich werde mir diese Konversation lieber ersparen und vorangehen, um etwaige Bedrohungen im Blick zu behalten und zu sehen, ob sich etwas im Schutz der Häuser verbirgt. Immerhin kenne ich mich von uns allem mit Abstand am besten im Geflecht aus“, fügte sie hochnäsig hinzu und legte an Tempo zu, wobei sie ihre Bewegungsabläufe so geschickt steuerte, dass sie sich beinah mit normaler Geschwindigkeit in der ungewöhnlichen Luft bewegen konnte. Slizza und die Verbindung Zoenhir blieben zurück, wenn auch nicht so weit, dass sie Ranscha aus dem Blick verloren.
Plötzlich bekam es Slizza mit der Angst zu tun. Sie hasste diese fremde Welt, deren Gesetzte sie nur zu einem Bruchteil kannte und zu einem noch geringeren Anteil verstand. Nervös blickte sie zu den Tronhiire, deren Anblick ihr kaum weniger Unwohlsein bereitete. Doch immerhin schienen sie mit ihr kommunizieren zu wollen, ohne sie dabei in einer Tour zu beleidigen.
„Sie ist sich ihrer Selbst zu sicher. Kennt nicht den Wert von Gemeinsamkeit. Kooperation. Ergänzung“, sagte die Verbindung Zoenhir.
„Das stimmt“, antwortete Slizza, „eine Armee ist mehr als die Summe ihrer Krieger und ich denke, das gilt auch für eine Gruppe wie unsere.“
„Weisheit. Verständnis. Einsichten. Du könntest dich in unserer Heimat wohlfühlen“, meinten die Tronhiire.
Irgendwie bezweifelte Slizza das.
„Solange es dort nicht ist wie hier“, antwortete sie.
„Nein“, gab die Verbindung zurück, „wilder, erregender, undurchschaubarer. Ein schillernder Quell von Tiefe und Chaos.“
„Klingt entzückend“, sagte Slizza diplomatisch, fand aber, dass ihr das Geflecht schon wild und undurchschaubar genug war.
Die beiden bewegten sich weiter auf das Dorf zu, welches Ranscha inzwischen erreicht hatte und dort wie ein Schatten von Gebäude zu Gebäude huschte.
Slizza und auch die Tronhiire sahen sich dabei immer wieder gründlich um, damit sie keine der vielfältigen Gefahren dieses Ortes von Hinten oder von den Seiten überraschen konnte. Ab und zu sah Slizza für Sekunden die schwachen Abbilder von Rilandi aufblitzen, die irgendwelchen Alltagstätigkeiten nachgingen und von denen sie die wenigsten kannte. Zuerst erschreckte sie das. Dann jedoch erinnerte sie sich wieder an Kollats Lektion hierzu. Es waren lediglich harmlose Echos aus naher und ferner Vergangenheit, die sich hierhin verirrt hatten. Doch nicht alles, was sie beobachte, war so harmlos. Manchmal glaubte sie in kleinen Höhlen und Spalten oder im Schutz der wenigen, verkrüppelten Pflanzen, die hier und da auf der steppenhaften Ebene sprossen, eine Bewegung auszumachen. Und manchmal hörte sie Kampflaute, gefolgt von schmatzenden Geräuschen, die darauf hindeuteten, dass ein Jäger einen anderen zur Beute gemacht hatte, aber keines der Wesen näherte sich ihnen so weit, dass es zu einer Bedrohung wurde.
Trotz ihres eher mittelmäßigen Wissens über das Geflecht, ahnte Slizza, woher dies rührte. Diese Geschöpfe waren kleiner als sie und im Geflecht galt das Gesetz der Größe. Was groß war, war zumeist auch gefährlicher.
Diese Kreaturen ahnten in ihrer geistigen Beschränktheit nicht, dass sie ihnen zumindest in hoher Zahl durchaus zu einer ernsthaften Bedrohung werden könnten. Slizza hoffte, dass sie so schnell nicht auf die intelligenteren Exemplare treffen würden.
Endlich erreichten auch sie das Dorf und auch wenn Slizza zunächst froh war, nicht mehr so auf dem Präsentierteller zu stehen, verwandelte sich ihr Sicherheitsgefühl schon bald in Abscheu, was vor allem an dem lag, was sich im Inneren der Häuser abspielte. Viele der Gebäude besaßen keine Fenster und wenn, dann waren sie oft verschmiert und blind. Aber manchmal waren die Fenster sauber genug, um ins Innere spähen zu können und was Slizza darin erblickte, gefiel ihr zumeist gar nicht. Neben staubigen, tristen Räumen mit deprimierender Einrichtung, flackernden Erinnerungsbildern glotzenden, entleerten Seelen erhaschte sie gelegentlich auch einen kurzen Blick auf Kreaturen, die einmal Rilandi oder andere intelligente Humanoide gewesen sein mochten, was sich aber nur selten mit Sicherheit sagen ließ. Manchmal waren die Hälse dieser Geschöpfe dicker als ihre Köpfe und übersät mit wulstigen, jedoch nie krankhaft aussehenden Beulen. Ein anderes Mal wuchsen kleine, verkrümmte Hände aus ihren Augen, oder sie besaßen Köpfe die schräg und plattgewalzt wie ein Diskus waren oder aufgebrochen und ausgefranst wie ein geköpftes, ausgesaugtes Ei. Bei wieder anderen lagen die Blutgefäße außerhalb des Körpers und umspannten sie wie ein geschwollenes Spinnennetz, durch welches dickflüssiges Blut rauschte und gelegentlich waren diese Wesen auch kaum mehr als ein mit schiefen Zähnen bestückter Kiefer, aus dem eine Reihe plumper, geschwollener Zungen hingen, die unkontrolliert zuckten wie sterbende Tintenfische. Manche von ihnen standen stumpf im Raum herum, andere liefen unruhig auf und ab wie Geister, die an eine Eisenkette gefesselt waren.
„Sind das …“, flüsterte sie zur Verbindung Zoenhir.
„… Verformte“, ergänzte diese, „sollten dich nicht sehen. Oft dumm. Oder blind. Aber nicht immer. Dafür immer wütend. Immer gefährlich.“
„Ich verstehe“, sagte Slizza und fühlte trotz allem Mitleid mit diesen Wesen. Sie hatte von den Verformten gehört, aber sie zu sehen, war noch einmal etwas ganz anderes. Erschrocken dachte sie daran, dass sie eine der Kreaturen – die mit den Händen in den Augen – direkt angeblickt hatte. Sie hatte sich nicht bewegt und wahrscheinlich war sie blind gewesen, doch genau konnte sie das natürlich nicht sagen. Mehr Sorgen bereitete ihr ohnehin der unruhige, sich immer weiter verdunkelnde Himmel. Sie wollte kein Teil dieser so furchterregenden wie bedauernswerten Gemeinschaft werden.
„Sieh, Slizza“, signalisierte die Verbindung plötzlich und zeigte dabei auf Ranscha, die einige dutzend Meter vor ihnen stehen geblieben war, sich zu ihnen umdrehte und ihnen mit einer Geste bedeutete näherzukommen.
„Ach, die Königin des Geflechts braucht unsere Hilfe“, flüsterte Slizza sarkastisch.
„Sieht ganz so aus“, antworteten die Tronhiire.
„Dann schauen wir mal, was für dieses seltene Wunder verantwortlich ist“, sagte Slizza.
~0~

„Sie entkommen uns doch!“, stellte Onyra fest, „wir brauchen die Hilfe des Allrichters.“
„Wornaara kann uns leider nicht unterstützen“, antwortete Herreth, „er befindet sich noch immer in Trance.“
„Wir können sie auch ohne Wornaara vernichten“, erinnerte Druun, „Schüsse sind schneller als Fäden. Wir brauchen ihre Fähigkeiten nicht unbedingt. Wir haben eine Menge hervorragender Weber, worin du mir sicherlich zustimmen wirst, und wer alles an ihrer Verschwörung beteiligt ist, zeigt sich doch gerade. Wir müssen keine Laarmaschk aus ihnen erzeugen, um die Wahrheit zu erfahren.“
„Es ist nicht an dir das zu entscheiden“, sagte Herreth streng, „das ist allein Sache des Allrichters. Und es ist sein Wille, sie festzusetzen.“
Druun sah die Weberin herausfordernd an, „was soll dieser Ton? Ich bin genauso ein Meister wie du. Dafür verlange ich Respekt. “
„Respekt muss man sich verdienen“, erwiderte Herreth arrogant.
„Wir müssen uns auf unsere vereinten Kräfte verlassen“, mahnte Kollat, um den fruchtlosen Streit zu unterbinden, „die Hirten und sogar die Sucher müssen sich den Webern anschließen. Gemeinsam können wir ein Netz weben, aus dem es kein Entkommen gibt.“
„Du weißt, dass die Sinnpfade rein gehalten werden sollen“, widersprach Jontii, „das wäre nicht im Sinne des Allrichters.“
„Das wäre die Flucht der Verlorenen auch nicht“, entgegnete Herreth, „Ich halte das für einen guten Vorschlag. Druun, du bindest die Hirten in den Webkreis ein. Ich werde mit den Suchermeistern reden.“
„Aber …“, wollte Druun widersprechen.
„Veranlasse es!“, unterbrach ihn Herreth barsch, wobei ihre Stimme eine Lautstärke und Durchsetzungskraft gewann, wie sie niemand bislang bei der Weberin erlebt hatte. Niemand widersprach ihr und selbst Druun, der für einen Moment zu sehen geglaubt hatte, dass sich Herreth Augen schwarz verfärbten, beeilte sich, ihrem Wunsch zu entsprechen.
~0~

Als sie Ranscha erreichten, kniete diese hinter einem unförmigen Haus, welches aus zahllosen mit dämonisch anmutenden Reliefs verzierten Steinquadern bestand, und wirkte sehr beunruhigt. Ein widerlicher Gestank nach verbranntem Horn, eitrigen Eingeweiden und verrottendem Gewebe lag in der Luft.
„Alles in Ordnung?“, fragte Slizza.
„Natürlich nicht, wenn es so wäre, müsste ich mich nicht hier verstecken“, gab Ranscha blasiert zurück.
„Statt mich anzupampen könntest du uns auch sagen, was los ist. Das wäre sicher zielführender“, schoss Slizza zurück, der diese Behandlung langsam reichte, ganz egal was ihre Kriegermutter dazu sagen würde.
Ranscha blickte sie empört an, ließ sich letztlich jedoch dazu herab Slizzas Wunsch zu entsprechen. „Hinter diesem Haus versteckt sich ein Krawen. Noch dazu ein kalbender.“
„Was ist ein Krawen“, fragte ich.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, entfuhr es Ranscha.
Slizza warf ihr einen finsteren Blick zu, doch bevor ihr Streit eskalieren konnte, übernahm die Verbindung Zoenhir die Erklärung.
„Krawen sind heimisch im Geflecht. Effiziente Räuber. Dicke Beine. Kräftige Kiefer. Giftiger Stachel im Maul. Großer Hunger. Werden weich und dick, wenn sie kalben. Blähen sich auf. Fleisch entzündet sich. Tod kommt und Leben entsteht. Zwanzig bis dreißig Junge. Fressen sich gegenseitig. Wachsen. Zwei überleben. Werden neues Krawen-Paar.“
„Hübsch. Nicht nur morbide, sondern auch inzestuös“, stellte Slizza fest, „aber wenn die Mutter stirbt und die Jungen mit sich selbst beschäftigt sind, wo liegt dann für uns das Problem?“, fragte Slizza, „sollten wir nicht einfach schnell an ihnen vorbeilaufen, solange es noch geht?“
„Das würde nichts bringen“, bequemte sich nun auch Ranscha endlich zu einer Erklärung, „Sie haben uns längst gewittert und die beiden Überlebenden werden uns verfolgen. Notfalls bis zur Webmaschine. Und das wollen wir nicht. Sie sind dann fast so kräftig wie ihre Mutter. Und beweglicher.“
„Und wie töten wir sie?“, fragte Slizza.
„Mit unseren Fäden natürlich“, erklärte Ranscha, „die Schädel der Kleinen sind noch verwundbar. Sie müssen wir durchbohren. Aber das allein reicht nicht. Solange die Brut ihren sterbenden Körper nicht verlassen hat, hält die Krawen-Mutter am Leben fest. Wir müssen auch ihr Herz zerstören. Ansonsten gebiert sie weiteren Nachwuchs.“
„Ich verstehe“, sagte Slizza.
„Wir werden sehen, ob es so ist“, erwiderte Ranscha, „du kümmerst dich um das Herz, während die Tronhiire und ich uns die Jungen vornehmen. Ein wehrloses Organ zu durchbohren sollte selbst dir gelingen.“
„Ich bin eine erfahrene Kriegerin“, protestierte Slizza.
„Im Geflecht bist du eine blutige Anfängerin. Und deshalb treffe ich die Entscheidungen.“
Mit diesen Worten stürmte Ranscha einfach los, wobei ihr die Verbindung Zoenhir sofort folgte. Slizza blieb kaum eine andere Möglichkeit, als es ihnen gleichzutun.

~0~

Als Slizza den Krawen das erste Mal erblickte, musste sie würgen. Das Wesen war genauso widerlich wie Ranscha und die Verbindung Zoenhir es beschrieben hatten. Das Tier, welches einen breiten, leicht stierartigen Kopf mit großen, vorstehenden Augen, breiten Nüstern und scharfen Zähnen, sowie einen dünnen, langen, verhornten Schwanz besaß, sah in seiner Körpermitte aus, als wäre es geschmolzen. Ein dampfender, stinkender Organsumpf in dem träge ein geädertes Herz pochte, welches von einer Reihe kleiner Eier umgeben wurde. Rund um die Mutter standen kleinere, aber intakte Versionen ihrer Selbst, die zum Teil miteinander rangen oder sich mit blutverschmierten Mündern am Fleisch ihrer Geschwister gütlich taten. Sechs von ihnen waren ein wenig größer als die anderen. Slizza vermutete, dass aus ihren Reihen das neue Krawen-Paar hervorgehen würde.
Slizza mochte sich ekeln, aber Angst hatte sie nicht. Nun, wo sie einen Feind direkt vor sich sah, der immerhin nicht über übernatürliche Fähigkeiten verfügte, war sie ganz in ihrem Element. Die Tiere in ihrer Heimatwelt mochten nicht so hässlich und abstoßend sein, aber einige waren ähnlich gefährlich und da Slizza nicht nur Kriegerin, sondern auch Jägerin gewesen war, traute sie sich durchaus zu hiermit fertig zu werden. Sie hatte sich einen kleinen Speer aus sieben Fäden geschaffen, der ihr als Ersatz für jene Waffe diente, mit denen sie vertraut war. Sie blickte kurz zu Ranscha, die sich eine kürzere, etwa dolchlange Waffe geschaffen hatte, die jedoch nur aus fünf Fäden bestand. Die beiden Teile der Verbindung Zoenhir hingegen brachten es zusammen sogar nur auf vier Fäden, die sie nicht verbunden hatten, sondern einzeln in die Höhe hielten. Das kann nicht funktionieren, dachte Slizza.
Dennoch stürzte sie sich entschlossen auf das Herz. Sie konnte noch immer in den eigentlichen Kampf eingreifen, wenn diese Aufgabe erledigt war.
Da die Bewegungsgeschwindigkeit im Geflecht dank des höheren Luftwiderstands niedriger war, fühlte sich alles etwas wie in Zeitlupe an, etwa so, als wären die Bewegungen auf ihre halbe Geschwindigkeit reduziert. So sah sie genau wie einige der miteinander kämpfenden Jungen ihr ihre Aufmerksamkeit zuwandten und mit geöffnetem Maul zum Sprung ansetzten. Da sie sich jedoch nicht schneller bewegte als sie, musste Slizza ihre Entscheidungen genauso rasch treffen wie in der normalen Welt. So entschied sie sich zwei der kleineren Krawen-Jungen auszuweichen und führte gleichzeitig einen wuchtigen Schlag gegen einen der größeren, der nicht nur seinen Schädel durchbohrte, sondern ihn auch so hart gegen einen weiteren seiner Geschwister prallen ließ, dass dessen ausgestreckter Giftdorn ins Leere ging. Slizza juckte es in den Fingern die Jungen niederzumachen, aber auch wenn sie Ranscha nicht sonderlich sympathisch fand, beschloss sie ihren Befehlen dennoch zu folgen. Immerhin wusste die Wahrgeborene ja tatsächlich mehr über diese Geschöpfe als sie. Slizza stürmte weiter nach vorne, entging mühelos dem Angriff eines weiteren kleinen Krawen-Jungen und kam schließlich bei der Mutter an.
Als sie sich dem Organhaufen mit dem ungeschützten Herz näherte, gab diese einen lauten, tiefen Schrei von sich und aus einem der unbestimmbaren Organe stieg ein grünlicher Nebel auf, der Slizza zum Husten brachte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Dadurch hätte sie beinah den Dorn nicht bemerkt, der aus dem riesenhaften Maul der Mutter heraus auf sie zuschoss. Erst in letzter Sekunde warnten sie ihre Kriegerinneninstinkte und sie ließ sich kurzerhand fallen, um dem Angriff zu entgehen. Der scharfe Dorn kam ihr trotzdem so nah, dass er ihre Kleidung zerriss und eine Kratzspur auf ihrer schuppigen Haut hinterließ. Sie hoffte, dass die Verletzung nicht ausreichen würde, um das Gift in ihre Blutbahn gelangen zu lassen.
Slizza begriff, dass sie schnell sein musste. Sie rappelte sich auf, stieß sich mit aller Kraft ab und stürzte mit ihrem Speer auf das Herz zu, dessen zähes Fleisch sie etwa bis zur Hälfte durchbohrte. Diesmal war der Schrei des Krawen schriller und leidender. Trotzdem wusste sie, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht hatte. Noch schlug das Herz und verlor nicht einmal nennenswert viel Blut. Eine Ahnung ließ sie herumwirbeln und zwei der Krawen-Jungen mit ihrem Speer davon schleudern, die sich andernfalls in ihre Schulter verbissen hätten. Einem dritten trat sie auf den Kopf und zerbrach dessen Schädel. Dabei sah sie auch, dass der Dorn erneut auf sie zu zuckte. Diesmal entschied sie sich für einen Sprung, schaffte es damit dem Angriff zu entgehen und trieb ihren Fädenspeer in die bereits geschaffene Wunde. Diesmal wurde sie mit einer wahren Blutfontäne belohnt. Die Krawen-Mutter brüllte und tobte, dann lag sie still.
Statt ihren Triumph zu genießen, wandte Slizza sich sofort den anderen zu um und wusste nicht, ob sie besorgt oder amüsiert sein sollte.

~0~

„Wie gehen wir vor, wenn wir oben sind?“, fragte ich an Nojun gerichtet, während die Stufen nur so an uns vorbeiflogen. Trotz des Tempos war die Verständigung nun leichter geworden, da sich der Wind etwas gelegt hatte.
„Wie wir es geplant hatten“, antwortete Nojun, „wir stürmen die Webhalle und Treva und Fromik helfen uns dabei die verbleibende Wache auszuschalten. Sobald Slizza, Ranscha und die Verbindung Zoenhir aus dem Geflecht zu uns stoßen, beginnen wir damit die Maschine zu zerstören.“
„Und was, wenn sie es nicht schaffen?“, fragte Ominee.
„Dann werden wir uns entweder von den Wolken stürzen oder im Kampf fallen“, sagte Nojun entschlossen, „so werde ich jedenfalls handeln, da ich auf keinen Fall ein Laarmaschk werden oder den Zorn des Allrichters erleben will. Doch bevor wir solche verzweifelten Maßnahmen ergreifen, sollten wir die Webhalle so lang wie möglich halten, für den Fall, dass das zweite Team doch noch zu uns stößt.“
„Bald werden wir es wissen“, rief Gorweo, der inzwischen nur noch wenige Meter über uns schwebte, „wir haben unser Ziel schon beinah erreicht.“
Das stimmte. Es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern, bis wir im Recriondo ankommen und die Wolkenstraßen betreten würden, um – hoffentlich – den Anfang vom Ende der Unterdrückung durch die Rilandi und die Laarmaschk einzuleiten.
Kurz darauf landete Gorweo seinen Vogel beinah mustergültig auf den Wolken, stieg ab und blickte sich um wie ein Seefahrer, der neues Land entdeckt hatte.
„Lass dein Viech da verschwinden“, verlangte Franno vom Rücken seines Käfers, „sons‘ können wir nich‘ landen.“
Da hatte er recht. Die Kuppel des Recriondo, die jenseits des Treppenabsatzes begann, schränkte die Manövriermöglichkeiten erheblich ein und die dort vorhandenen Liegen, Sessel und Tische machten eine Landung praktisch unmöglich, auch wenn glücklicherweise niemand anwesend war, der uns einen unfreundlichen Empfang bereitete. Trotzdem würden unsere Reittiere nacheinander landen müssen.
„In Ordnung“, sagte Gorweo endlich und ging auf seinen Vogel zu, um ihn zum Abflug zu ermutigen. Sanft legte er seine Hand auf seinen Rücken und schien ihm irgendetwas ins Ohr zu flüstern.
„Vorsicht!“, rief Ominee plötzlich und ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie eine regelrechte Wand aus Geistfäden an uns vorbeiraste. „Weg hier!“, versuchte ich meine Libelle, die bisher geduldig im Schwebeflug auf eine Landemöglichkeit gewartet hatte, dazu zu bringen sich in Bewegung zu setzen und tatsächlich schien das Tier mich oder zumindest die Situation zu verstehen und schlug kräftig mit den Flügeln, um an den Fäden vorbeizugelangen. Aber es war zu spät.
Kaum, da wir wenige Meter geflogen waren, änderten die Fäden ihre Richtung und verbanden sich zu einem engmaschigen Netz, aus dem es kein Entkommen gab.
Mein Tier prallte so hart dagegen, dass ich fast von seinem Rücken geglitten wäre. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, beinah so, als ob wir am höchsten Punkt einer Achterbahn angekommen wären und nun auf die Abfahrt warteten. Kurz darauf kam sie. Meine Organe wurden ordentlich durcheinander gewirbelt und ein heftiger Schwindel packte mich, als das fast unsichtbare Netz mich und die anderen mit sich nach unten riss. Franno fluchte irgendetwas auf Bravianisch, Nojun keuchte hörbar.
„Gorweo, deine Fäden!“, warnte Ominee erstaunlich gefasst und noch im Fallen sah ich, wie der in der Kommunikation mit seinem Glastier versunkene Gorweo an den von ihm selbst gesponnenen Fäden wie eine Marionette von der Plattform gezogen wurde.

~0~

Seltsamerweise fühlte ich mich an den Tag erinnert, als ich zum ersten Mal auf einem Free-Fall-Tower mitgefahren war. Auch wenn mein tiefer Sturz in Dank Qua meiner jetzigen Situation was Dramatik und Fallhöhe betraf um einiges näher kam, so gab es doch eine deutliche Gemeinsamkeit mit dem Fahrgeschäft: Damals wie heute war es kein wirklich freier, sondern ein kontrollierter Fall, über den jedoch nicht ICH die Kontrolle hatte, sondern jemand anders und ich würde abwarten müssen, was mich am Ende erwartete. Das heißt: Natürlich versuchte ich zu entkommen, indem ich meine neu erworbenen Zugang zu dem Hirtenstab nutzte – am dafür offenbar nötigen verurteilenden Zorn mangelte es mir schließlich nicht. Doch auch wenn es mir ein paar mal gelang ein Loch in das Netz zu brennen, nahmen binnen kürzester Zeit neue Fäden den Platz der Zerstörten ein, sodass ich mich letztlich in mein Schicksal ergab.
Vielleicht würde sich am Boden noch die Gelegenheit zum Kampf ergeben, doch so sicher war ich mir da nicht. Tief in mir wuchs erneut jenes bohrende Gefühl von Nutzlosigkeit, welches sich kurzzeitig gelegt hatte, als ich den Zugang zu dem Hirtenstab erschlossen und den Hirten in einen Haufen gläsernen Matsch verwandelt hatte. Nun kam jedoch auch wieder Schuld dazu und die Angst jene Fehler zu wiederholen, die mich erst hierher gebracht hatten. War ich tatsächlich wieder Adrian, fragte ich mich, und wenn ja, welcher? Der gelangweilte Jugendliche aus dem Kuhdorf? Der naive Globetrotter aus den Anfangstagen meiner Reisen? Der blutrünstige Schlächter aus Konor oder eine andere Version meines halb gestohlenen und halb konstruierten Selbst? Ich konnte mir diese Frage nicht beantworten und fühlte mich deswegen schlechter, als wegen der schier ausweglosen Situation in der ich mich befand. Trotzdem war meine Lage und die der anderen im Vergleich zu der von Gorweo geradezu beneidenswert. Denn während ich auf dem Rücken meiner zwar ziemlich verwirrten und hilflosen, aber noch lebendigen Libelle einen gewissen Halt genoss und sich Phasen des Sturzes mit solchen des Fluges abwechselten, taumelte der bedauernswerte Bravianer nur von den selbst gewobenen Fäden gehalten im wieder auffrischenden Wind umher und wirkte zunehmend desorientiert und abwesend.
„Nimm meine Hand!“, bot ihm Ominee an, als er einmal in ihre Richtung pendelte und tatsächlich schaffte es der halb bewusstlose Gorweo ihre Rechte zu ergreifen. Ominee versuchte ihn mit auf den Rücken ihres Tieres zu ziehen, doch das Netz war unerbittlich und verhinderte nicht nur, dass einer von uns hinaus-, sondern auch, dass der Stürzende hineingelangte. Trotzdem hielt sie ihn so lange wie möglich fest, bis ihre Hände bei einer erneuten Turbulenz getrennt wurden und Gorweo wieder hilflos in der Luft hing. Entweder wollten die Rilandi sein Leben doch nicht bewahren, oder sie wussten nicht, dass sich einer von uns außerhalb ihres Netzes befand.
Auch sein Glasvogel kam Gorweo diesmal nicht zur Hilfe. Wahrscheinlich war er durch das Auftauchen des Netzes verscheucht worden.
Schließlich kam es, wie es kommen musste. Das von Angst und G-Kräften gelähmte Bewusstsein Gorweos schwand vollständig und mit seiner Ohnmacht lösten sich die Fäden auf, die seinen Sturz bislang zumindest etwas verlangsamt hatten. Ungebremst stürzte er in die Tiefe.
„Nein!“, rief Ominee bestürzt.
„Vielleicht fangen die Hirten seinen Sturz am Boden ab“, bot Franno eine schwache Hoffnung an.
„Nicht aus dieser Höhe“, widersprach Nojun niedergeschlagen, „sie werden voll darauf konzentriert sein unser Gefängnis aufrechtzuerhalten. Wenn sie es bemerken, wird es zu spät sein.“
„Er wird sowieso Laarmaschk-Futter werden“, sagte Ninga mitleidlos.
„Wie wir alle“, stimmte ich düster zu.
Inzwischen hatten wir schon mehr als die halbe Strecke hinter uns gebracht und trotz meiner fatalistischen Worte dachte ich fieberhaft darüber nach, wie uns eine erneute Flucht gelingen könnte, doch dann wurde ich mir wieder meiner verfahrenen Situation bewusst. Aus Uranor gab es keine Fluchtmöglichkeit. Jedenfalls nicht auf gewöhnlichen Wegen. Wenn Ominee die Wahrheit gesprochen hatte, würde mich schon das Tor in meine Bestandteile auflösen und jenseits davon lagen ohnehin nichts weiter als Schlamm und der hungrige, unerbittliche Malmer. Ohne den Katalog – über dessen Verbleib ich nicht das Geringste wusste – gab es an diesem Ort für uns nur Sieg oder Auslöschung und gerade steuerten wir eindeutig auf Letzteres zu.

~0~

„Was wir hier tun, widerspricht allen Traditionen. Ich schäme mich dafür“, sagte die Suchermeisterin Denorra mit ihrer rauen, brüchigen Stimme, die deren seltene Verwendung verriet. Dabei war Denorra noch als jene Suchermeisterin bekannt, die sich am häufigsten zu Wort meldete.
„Mir geht es ähnlich“, pflichtete ihr Druun bei, wobei er nicht verhindern konnte einen unwillkürlichen Blick über seine Schulter zu werfen, um erleichtert festzustellen, dass Herreth nicht zu ihnen herübersah, „aber immerhin scheint es zu funktionieren.“ Druun zeigte auf die Verlorenen, die sich hoch oben am Himmel befanden und nun langsam zu ihnen hinabgezogen wurden.
„Ja“, krächzte Denorra, „das Netz ist effektiv. Für den Moment. Aber ich frage mich, ob sich unsere Gemeinschaft nicht darin verfangen wird. Das Multiversum verlässt sich auf unsere spirituelle Führung. Wir sind der Schutzwall vor dem absoluten Chaos. Wenn erst die Reinheit der Sinnpfade beschmutzt ist, weiß ich nicht, ob wir das noch gewährleisten können. Und da ist noch etwas …“
Denorras Blick wanderte zu Herreth, die noch immer voll auf das Netz und die Gefangenen konzentriert war.
„Die Laarmaschk“, sagte Druun tonlos.
Denorra nickte, „es gibt zu viele von ihnen. Keiner weiß genau wie viele. Und Herreth … spürst du nicht ihren Einfluss? Etwas stimmt schon lange nicht mehr mit Uranor. Ihr anderen bekommt es vielleicht nicht mit, aber das Licht der Gläubigen lässt sich immer schwerer ernten, Druun. Hörst du nicht auch dieses Brummen, welches einst nur zur Stunde der Schwärze erklang? “
„Ich höre es“, stimmte Druun zu, „wir haben einige Dinge mit dem Allrichter zu besprechen, wenn das hier vorbei ist. Ich hoffe, er wird uns zuhören. Zunächst aber müssen wir die Verlorenen überwältigen und zurück in ihre Zellen bringen.“
Denorra nickte halbherzig, doch ihre Augen blickten in die Ferne, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. „Noch mehr Laarmaschk“, flüsterte sie, „ich frage mich, wo die größere Bedrohung für unsere Gemeinschaft sitzt. In diesem Netz dort oben oder jenseits davon.“
Plötzlich spürte Druun eine Bewegung hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er eine Frau verdächtig hastig davonschreiten. Er kannte diese Frau. Es war eine fremdgeborene Weberin vom ausgestorbenen Volk der Jyllen. Ihr Name lautete „Ninvinee“ und so wie es aussah, war sie auf dem Weg zu ihrer Meisterin.
Sie hat alles gehört, dachte Druun und obwohl er mit Denorra weder eine Verschwörung gegen den Allrichter geplant, noch sonst etwas wirklich Verbotenes gesagt hatte, hatte er mit einem Mal das Gefühl, dass seine Körpersäfte zäher durch seine Adern rannen als zuvor. Er sah zu Denorra, die sich nun wieder seelenruhig auf ihre Aufgabe konzentrierte. Entweder hatte sie nicht bekommen, dass sie belauscht worden waren, oder sie hatte es schlicht verdrängt. Gerade wünschte sich Druun wirklich die Selbstbeherrschung und Konzentration eines Suchers zu besitzen und seine Sorgen verdrängen zu können. Doch selbst einem Hirtenmeister gelang dies nur im Kampf und während einer Prüfung. Onyra etwa machte zwar oft den Eindruck über den Dingen zu schweben, doch Druun wusste als ihr ehemaliger Mitschüler, dass viel davon Fassade war. Meditation war nicht die Stärke der Hirten.
„Was ist das?“, fragte eine Stimme, die einem einfachen Hirten gehörte. Turgal, falls sich Druun nicht täuschte. Druun wandte seinen Blick von Denorra ab und sah ebenfalls wieder zum Netz. Seine Augen weiteten sich, als er bemerkte, dass sich nur wenige dutzend Meter über ihren Köpfen ein breiter Riss in der Luft aufgetan hatte, aus dem grünlicher Nebel entwich. Aus diesem Nebel entstieg eine Gestalt.
„Ein Scyone!“, schrie einer der Weber unweit von Druun, „aber das ist unmöglich. Sie alle sollten in der Webhalle sein. Wie ist er entkommen?“
„Er muss von außerhalb gekommen sein“, flüsterte Druun halblaut zu sich selbst. Erst jetzt sah er, dass der Riss, aus dem sich die Kreatur herausschob, das gemeinschaftlich erschaffene Netz unterbrochen hatte. Die Verlorenen waren frei.
„Vernichtet den Scyonen!“, verlangte Onyra, doch Herreth widersprach ihr sofort. „Nein, hört nicht auf sie!“, brüllte sie herrisch, „Baut das Netz wieder auf. Das hat Priorität. Die Verlorenen dürfen nicht entkommen.“
Auch wenn er zu weit entfernt von den beiden Meisterinnen stand, um ihre Mimik zu lesen, spürte Druun die Spannung, die in der Luft lag und die sich jeden Moment in einem offenen Konflikt entladen konnte. Onyra hatte als Hirtenmeisterin die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt, wenn es um die Bekämpfung von Feinden und um die Bestrafung von Abtrünnigen ging. Dass eine Webermeisterin sich in diese Dinge einmischte, war ein Novum und ein offener Affront.
Das sollte eigentlich auch den einfachen Rilandi klar sein, doch die Wirklichkeit sah komplizierter aus. Die meisten Rilandi warteten ab, wie sich der Machtkampf entwickeln würde. Ein kleiner Teil der Hirten begann vereinzelte Lichtblitze auf den Scyonen abzufeuern, die dieser jedoch wie lästige Fliegen beiseite wischte, indem er ihr Licht in kleinen, kurzerhand heraufbeschworenen Halbkugeln aus Schlamm erstickte. Viele Weber schlugen sich auf Herreth Seite und sponnen hastig ein neues Geflecht, in der Hoffnung die noch unorganisierten Flüchtigen aus der Luft zu holen, bevor sie sich wieder gefangen hatten und über alle Berge sein würden. Sobald ihre Fäden jedoch auch nur annähernd in die Reichweite des Scyonen gerieten, wurden sie von scharfen Rädern aus geschliffenem Eisenschilf durchtrennt, die der verhasste Sumpfmagier aus seinen Handflächen schleuderte. Als der Scyone sich dann auch noch einige der Fäden griff und eine hellblaue Flüssigkeit in diese hineinleitete, entschieden sich die restlichen Rilandi dafür, den Plan mit dem Netz aufzugeben. Diese Flüssigkeit entpuppte sich nämlich als aggressive Säure, die die Körper jener Rilandi zersetzte, die die betroffenen Fäden erschaffen hatten. Ein Risiko, das keiner von ihnen auf sich nehmen wollte.
Mit vereinten Kräften begannen sie nun den gefährlichen Gegner unter Feuer zu nehmen, wobei die unbewaffneten Weber und Hirten ihre Fäden wie blitzartig zustechende Nadeln gegen den Scyonen ausschickten, um längeren Kontakt zu vermeiden. Onyra hatte den Machtkampf für sich entschieden. Vorerst.

~0~

„Du musst Slizza zur Hilfe rufen“, formten die Zungen der Verbindung Zoenhir, der es schon seit einiger Zeit mehr schlecht als recht gelang die Krawen-Jungen auf Abstand zu halten. Dabei hatte bereits den ein oder anderen Stich oder Biss abbekommen.
Tronhiire waren recht widerstandsfähig gegen Gifte und Verletzungen, aber die Bewegungen der Verbindung wurden dennoch immer langsamer.
„Nein“, sagte Ranscha stur, „ich schaffe das alleine!“
Die Rilandi hatte bislang nur oberflächliche Kratzer und Absplitterungen an ihrer Glashaut davongetragen, aber sobald eines der Jungen mit seinem Dorn bis in den weicheren Teil ihres Körpers vordringen würde, wäre ihr Leben wahrscheinlich beendet. Und lange konnte das nicht mehr dauern. Denn inzwischen wurden sie von dem Krawen-Nachwuchs regelrecht eingekesselt, was noch dadurch verschlimmert wurde, dass sie erst einen der Jungen getötet hatten, der auf das Konto der Verbindung Zoenhir ging.
Schließlich kam es, wie es kommen musste. Einer der kräftigeren Jungkrawen sprang frontal und mit ausgestrecktem Dorn auf Ranscha zu, die ihren Dolch gerade dazu verwenden musste einen der kleineren Gegner abzuwehren und suchte sich dabei eine bereits verletzte Stelle an Raschas linken Oberschenkel aus. Ranscha registrierte dies noch, konnte aber nichts mehr dagegen tun. In ebendiesem bohrte sich Slizzas Fädenspeer direkt durch den Schädel des Tieres, welches reglos zu Boden glitt. Sofort zog Slizza ihn wieder heraus und versenkte ihn im Kopf eines anderen Jungkrawen. Die Aufmerksamkeit der anderen Jungtiere wandte sich daraufhin von Ranscha und der Verbindung Zoenhir ab, die die Gelegenheit nutzten, ihrerseits in die Offensive zu gehen. Am Ende lagen sechsundzwanzig Krawen tot zu ihren Füßen. Zwanzig davon hatte Slizza erlegt.
Die Echsenfrau streckte der erschöpften, auf dem Boden sitzenden Wahrgeborenen ihre Hand entgegen, die diese nach kurzem Zögern ergriff. Slizza sagte nichts. Sie sah Ranscha einfach nur an. Schließlich gab sich die Rilandi geschlagen.
„Du magst nicht die Schlaueste sein“, versuchte sie sich an einer Art Kompliment, „aber deine Muskeln sind zu gebrauchen.“
„Danke“, entgegnete Slizza knapp und schluckte ihre Empörung herunter. Taten zählten mehr als Worte und das sie zweifelsfrei spürte, dass sie die hochnäsige Rilandi mit ihren Kampfkünsten beschämt hatte, genügte ihr.
„Vielen Dank für unsere Rettung!“, formte die Verbindung Zoenhir, die offenbar eine weitaus bessere Kinderstube genossen hatte.
„Es war mir eine Freude“, sagte sie zu den Tronhiire und stellte fest, dass sie begann die unheimlichen Wesen irgendwie zu mögen. Sie würde es nach wie vor gerne vermeiden mit den Tronhiire alleine in einem dunklen Raum zu sein, aber immerhin gab es an deren Benehmen bislang nichts auszusetzen.
„Dann weiter zur Schlucht!“, sagte Slizza.
„Ich glaube eher nicht“, erwiderte Ranscha und zeigte auf den Himmel, von dem bereits die ersten kleinen Pyramiden und Quader herabschwebten, „wir müssen uns einen Unterstand suchen.“
„Verdammt!“, fluchte Slizza, „dabei läuft uns die Zeit davon. Jeden Moment könnte der Allrichter beginnen nach uns zu suchen, falls er uns nicht schon auf den Fersen ist.“
„Wenn wir hier draußen bleiben wird er uns auch finden“, meinte Ranscha, „jedoch wird er sich dann nicht mehr die Mühe machen müssen uns zu bestrafen.“
Slizza nickte und gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Unterschlupf und blickten dafür wann immer möglich verstohlen durch die Fenster. Die fensterlosen Gebäude mieden sie von vorneherein. Währenddessen versuchten sie dem geometrischen Regen auszuweichen, was ihnen vorerst noch gelang, da die Formen klein und vereinzelt herabregneten. Doch allen war bewusst, dass dies nicht so bleiben würde.
Unglücklicherweise schien praktisch jedes Gebäude in ihrer Nähe schon von einem oder mehreren Verformten bewohnt zu sein. Einmal glaubte Slizza ein leeres Gebäude entdeckt zu haben und wollte gerade hineingehen, als die Verbindung Zoenhir sie zurückhielt. „Hier drin wohnen Laarmaschk“, warnte sie, „das spüre ich.“
Enttäuscht verzichtete Slizza darauf einzutreten. Der seltsame Regen fiel immer dichter und es wurde langsam praktisch unmöglich nicht damit in Kontakt zu kommen, also intensivierten sie ihre Suche und gaben jeden Versuch auf in Deckung zu bleiben oder leise zu sein.
„Hier drin ist niemand“, signalisierten ihnen die Tronhiire endlich bei einem kuppelförmigen Bau mit runden, bunt verzierten Fenstern. Angesichts einer Reihe gewaltiger Heptaeder und Oktaeder, die sich anschickten langsam aber bedrohlich auf sie herabzuschweben, stellte Slizza diese Worte nicht infrage, sondern öffneten die ebenfalls kreisrunde Tür und stürzte hinein. Die anderen folgten ihr.
Im Inneren des Gebäudes war es kahl und leer. Lediglich eine kleine, kreisrunde und insektenzernagte Matratze gab es in dem staubigen Raum, auch wenn Flecken auf dem Boden darauf hinwiesen, dass es hier einmal weitere Möbel gegeben hatte. An der Decke brannte ein schwaches, ringförmiges, gelbliches Licht in einer messingfarbenen Halterung. Ansonsten war der Raum tatsächlich leer. Die drei setzten sich auf die Matratze, aus der sofort einige hässliche, aber immerhin harmlose Käfer krochen, woraufhin zumindest Slizza sich entschied lieber aufzustehen. Der Rest blieb sitzen.
Slizza ging zum Fenster und sah hinaus. Dort draußen war der Objektregen so dicht geworden, dass es kein Entkommen mehr gab. Würfel, Kugeln, Hendekaeder, Pentakaeder, Dekaeder und viele weitere Formen regneten hinab. Jedes Wesen, welches sich noch keinen Unterschlupf gesucht hatte, würde sich nun unweigerlich verformen oder an einen fremden Winkel des Multiversums geschleudert werden.
„Wenn dieser Regen nicht bald aufhört, bekommen wir ernsthafte Schwierigkeiten“, sagte Slizza nachdenklich, „ich hoffe, die anderen haben mehr Erfolg als wir.“
„Zumindest auf Treva und Fromik ist Verlass“, erwiderte Ranscha, „was die anderen betrifft, so kann man nur zum Licht beten, dass sie nicht versagen. Immerhin sind es Fremdgeborene.“
„Warum bist du eigentlich bei dieser Revolution dabei?“, fragte Slizza, „immerhin scheinst du Kollats Verachtung für alle nicht-gebürtigen Rilandi ja zu teilen und ich kann mir irgendwie schwer vorstellen, dass du für irgendein anderes Wesen Mitleid empfindest.“
„Da irrst du dich“, sagte Ranscha ungewohnt sanft, „ich finde zwar, dass Fremdgeborene nichts in den Reihen der Rilandi zu suchen haben, aber ich bin eine Dienerin des Lichts und als solche will ich dazu beitragen Harmonie und Sinn im Multiversum zu verbreiten. Die anderen Völker sind wie Kinder, die wir lenken müssen, damit sie keinen Unsinn anstellen oder sich verloren fühlen. Dazu gibt es keine Alternative. Im Moment jedoch geschieht dies oft mit der Peitsche und wir beteiligen metaphorisch gesehen Mörder und Päderasten an der Kindererziehung. Das muss aufhören und neben die Peitsche muss etwas mehr Liebe treten. Deswegen und NUR deswegen helfe ich euch.“
Plötzlich bewegte sich der Türknauf.
Slizza fuhr erschrocken herum und auch Ranscha und die Tronhiire wandten sich der Tür zu und machten ihre Waffen bereit. Kurz darauf schwang die Tür schon auf und zeigte die trostlose Gestalt einer verzehrten Seele, die müde in den Raum hereinschwebte und dann leicht und schwerelos wie ein gasgefüllter Ballon zur Decke aufstieg.
Slizza entspannte sich. Aus Angst und Abscheu wurde Mitgefühl.
„Mit Licht hat das, was ihr Rilandi tut, wenig zu tun. Andernfalls würden eure Prüfungen nicht solches Leid verursachen.“
„WIR Rilandi?“, fragte Ranscha, „zählst du dich nun nicht mehr dazu? Etwa weil du endlich erkennst, dass du dieser Ehre nicht würdig bist oder weil du dich aus der Verantwortung stehlen willst?“
„Ich stehle mich nicht aus der Verantwortung“, erwiderte Slizza, „ich habe dieses Unrechtssystem lange genug gestützt und gerade deshalb brenne ich darauf es zu überwinden. Da du das nicht willst, stellt sich die Frage, wie du das da umgehen willst.“
Sie zeigte auf die bedauernswerte Seele, die glotzend an der Decke schwebte.
„Wir werden uns etwas überlegen, wenn es so weit ist“, antwortete Ranscha ausweichend.
Slizza lachte, „so stellt man sich also seiner Verantwortung.“
„Ich habe keine Lust das mit dir zu diskutieren“, antwortete Ranscha und verfiel in Schweigen. Stille breitete sich in dem Gebäude aus.
Nach einiger Zeit machte die Verbindung Zoenhir durch jenes charakteristische, hohe Geräusch, das ihren Worten immer vorausging klar, dass sie etwas sagen wollte.
„Eigenartig“, überlegte sie, „Warum taucht die Seele gerade jetzt auf?“
„Irgendwann muss sie eben auftauchen“, meinte Ranscha desinteressiert, „das Geflecht ist voll von ihnen.“ Dann starrte sie wieder aus dem Fenster. Das Thema war ihr sichtlich unangenehm. Slizza sagte nichts dazu. Sie konnte sich gerade geistig mit nichts anderem befassen als damit, wann dieser verfluchte Regen endlich enden würde.
Die Tronhiire ließen die erbärmliche Kreatur dennoch nicht aus den Augen, obwohl sie regungslos und passiv blieb.
„Es klart auf“, sagte Slizza schließlich erleichtert, „Jetzt nichts wie raus hier!“
Ohne ein weiteres Wort verließen die drei ihre Zuflucht und ließen die verzehrte Seele zurück.
Als sie jedoch die Tür geschlossen hatten und sich einige Meter von dem Haus entfernt hatten, kehrte Leben in die scheinbar passive Kreatur an der Decke ein. Ihre glotzenden Augen bildeten sich zurück, sie wurde größer und dunkler und bildete Tentakel aus Schatten aus, während sie herabschwebte und sich zur Tür begab.
Hätte Ranscha dem Argwohn der Verbindung Zoenhir mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie sich vielleicht erinnert, dass manche der mächtigeren Laarmaschk im Geflecht eine besondere Fähigkeit besaßen: Sie konnten ihre Gestalt auch ohne Körper nach Belieben ändern und ihre wahre Identität selbst vor Tronhiire verschleiern.

~0~

„Kann ich mit dir reden?“, fragte Herreth versöhnlich.
„Ich führe einen Kampf, wie du siehst“, knurrte Onyra angespannt, während sie mit ihrem Hirtenstab versuchte eine Lücke in der Verteidigung des Scyonen zu finden, „und nein, ich habe keine Zeit, um mit dir Handarbeiten zu verrichten.“
„Das Netz funktioniert in diesem Fall nicht mehr. Das habe ich begriffen“, antwortete Herreth einsichtig, „aber wir können nicht warten, bis wir den Scyonen niedergerungen haben. Diese Verlorenen wollen nicht ohne Grund hinauf zu den Wolkenstraßen. Sie planen etwas und ich will nicht, dass es ihnen gelingt. Bis dieser Sumpfhexer im Staub liegt, könnte es aber schon zu spät sein. Er erscheint mir sehr ausdauernd. Weit ausdauernder als ein gewöhnlicher Vertreter ihrer Art.“
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, ging Moydrur in die Offensive und schuf einen etwa zehn mal zehn Meter breiten Miniatursumpf auf dem Innenhof, in dem gleich mehrere Rilandi zu versinken begannen. Selbst Onyra und Herreth befanden sich nur knapp außerhalb des Wirkungsbereiches.
„Was schlägst du also vor?“, wollte Onyra wissen, ohne ihren Blick von Moydrur und ihren qualvoll sterbenden Untergebenen abzuwenden.
„Ich, Druun, Kollat, Narrnen, Traschin, Denorra, Jontii und Gorun folgen ihnen über den goldenen Weg, während du den Angriff auf den Sumpfmagier fortsetzt“, erklärte Herreth ihren Plan.
„Das wird unsere Kampfkraft schwächen“, widersprach Onyra.
„Ihr seid Hunderte“, erwiderte Herreth herausfordernd, „werdet ihr wirklich nicht mit einem einzigen Gegner fertig?“
Onyra rang mit sich, doch schließlich nickte sie. „Von mir aus. Geh und bestrafe die Verlorenen.“
„Genau das werde ich tun“, sagte Herreth und entfernte sich von Onyra. Sie würde wie angekündigt die anderen Meister um sich scharen. Zunächst aber plante sie, die Hirtenmeisterin auf ihre eigene Art zu unterstützen, da sie nicht glaubte, dass sie den Scyonen ohne ihre Hilfe würde bezwingen können. Sie sah hinauf in den Himmel, damit niemand sah, wie sich ihre gläsernen Augen erst milchig weiß und dann schwarz verfärbten und flüsterte einen Befehl in den Zwischenraum hinein: „Noonhasch, Kling abior, Dranqweng!“
Rings um sie begannen viele der Rilandi zu schreien, weil Moydrur einen feinen Säureregen auf sie herabregnen ließ. Herreth jedoch lächelte. Sie freute sich auf das, was kommen würde.

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„Wir sind frei!“, rief Nojun freudig überrascht, auch wenn sein Reittier, welches bis zu diesem Moment noch mit seinen Flügeln im Netz gehangen hatte, bedrohlich taumelte.
„Offensichtlich“, sagte Ominee, deren Flugechse sich etwas ruhiger verhielt, „doch warum?“
„Das könnte was mit der Show da zu tun haben“, vermutete Franno vom Rücken seines Glaskäfers und zeigte nach unten, wo sich eine Art Dimensionsspalt aufgetan hatte.
„Moydrur“, stellte ich fest, „der Kerl scheint uns wirklich liebgewonnen zu haben. Er muss die Fäden zerschnitten haben. So wie er auch die Schutzvorrichtung in unseren Zellen durchbrochen hatte.“
„Wer ist Moydrur?“, fragte Ninga und auch Franno sah mich verwirrt an, während Nojun verächtlich das Gesicht verzog.
„Eine Art … alter Bekannter. Den Rest erkläre ich euch noch. Sobald wir Zeit dafür haben“, antwortete ich.
„Zeit ist das richtige Stichwort“, sagte Nojun, „wir sollten keine mehr verlieren, da dein scyonischer Bekannter schon bald pulverisiert sein wird.“
„Moydrur beherrscht so einige Tricks“, versuchte ich Nojun zu beruhigen, während ich Moydrur fasziniert dabei zusah, wie er die Angriffe der Rilandi mit seinen beachtlichen Fähigkeiten abblockte. Dabei konnte ich nicht verhindern Neid und Wehmut zu empfinden. Auch ich war einmal so mächtig gewesen. Dank Karmon.
„Die Meister leider auch“, erwiderte Nojun besorgt.
„Is‘ ja schön und gut“, warf Franno ein, „aber die Tierchen lassen sich von uns nicht ordentlich lenken. Gorweo hatte das irgendwie hinbekommen, aber nun liegt er als Scherbenhaufen auf‘m Pflaster. So kommen wir nicht weg.“
„Vielleicht können wir sie doch lenken“, überlegte ich laut, während ich an die Hilfsmittel dachte, die ich bei meinem letzten Abstieg von der Himmelstreppe benutzt hatte, „wir könnten uns mit unseren Fäden an der Treppe hochhangeln.“
„Das wäre kaum schneller, als sich zu Fuß dort hochzukämpfen“, widersprach Ninga.
„Jetzt übertreibst du aber“, meinte Nojun, „außerdem haben wir wahrscheinlich keine Alternative.“
„Ihr vergesst, dass ich keine Fäden erzeugen kann“, erinnerte Ominee und sah mich vorwurfsvoll an. Ich konnte es ihr wohl nicht verübeln, aber dennoch tat dieser Blick weh.
„Du kannst dich mit deinen Anmella-Strängen an meiner Libelle festhalten“, schlug ich vor.
„Tolle Idee“, sagte Ominee sarkastisch und hob ihre versengten Anmella-Stränge, „wir können ja deine Hände mal ein paar Minuten in siedendes Öl halten und schauen, wie gut du dich dann noch irgendwo festhalten kannst.“
„Dann verwende eben dein Nutrion“, schlug ich vor da ich es nicht für klug hielt zu erwähnen, dass ich ihr davon abgeraten hatte sich an unserem Schild zu beteiligen.
„Das wäre entwürdigend“, entgegnete Ominee.
„Nicht so entwürdigend, wie in einer Zelle auf die Speisung zu warten“, kommentierte Nojun während wir das Aufblitzen verpuffender Hirtenstab-Geschosse sahen und vom Boden her die Schreie verletzter oder sterbender Rilandi hörten.
„Von mir aus“, sagte Ominee widerwillig und wickelte ihr Ernährungsorgan fest um den Hinterleib der Glaslibelle.
„Gut“, sagte ich und zielte mit einigen Fäden auf eine der Treppenstufen über mir, „dann los!“

~0~

Moydrur fühlte sich ausgelaugt. Er hatte wirklich eine Menge jungen, frischen Lebenssaft getrunken, bevor er aus seiner Heimat aufgebrochen war und sogar viele seiner Geschwister hatten sich geopfert und ihm ihre Kraft und ihr Leben zur Verfügung gestellt, um ihn für diese Aufgabe zu wappnen, weil er als derjenige galt, der am beste geeignet schien all diese geliehene Macht zu tragen und deshalb als Annfäet auserwählt wurde. Nicht nur für seine Geschwister, sondern auch für ihn selbst hatte die Erschaffung eines Annfäet Folgen gehabt, da sie Moydrurs Lebensdauer halbieren würde.
Eine Menge Opfer also, die erbracht worden waren und die nicht umsonst gewesen sein sollen. Dennoch konnte Moydrur nicht ewig so weiter machen. Erst recht nicht, wo die Geschosse seiner Feinde nun wie ein Platzregen auf ihn niedergingen. Sie abzuwehren kostete ihn eine Menge Kraft, auch wenn es auf seine Feinde vielleicht nicht so wirkte.
Er hoffe nur, dass der Oberkarzon und seine Verbündeten diese Chance nutzen würden. Es war schlimm genug, dass er für diese schwachen Kreaturen den Kopf hinhielt, aber er durfte seine Schwestern und Brüder nicht vergessen. Sie waren seine Familie, eine Gemeinschaft die mehr zählte als Macht, Würde oder Lebenskraft und für die er alles tun würde.
Plötzlich schrie Moydrur auf. Einige der Rilandi hatten sich an ihm vorbeigeschlichen und ihn an einer Stelle getroffen, an der er keinen Schutz aufgebaut hatte. Das verfluchte Licht brannte wie klebriges Feuer in seinem Körper und es kostete ihn höchste Willenskraft nicht die Konzentration zu verlieren. Hastig verlagerte er seinen Schutz, spürte aber, wie er dabei noch weiter an Kraft verlor.
Ich muss mich bald zurückziehen, dachte er, ansonsten gehe ich hier Zugrunde. Vorher würde er aber noch etwas probieren, was er seit seiner Zeit in Konor nicht mehr angewendet hatte. Der Scyone kicherte in sich hinein. Das würde den Gläsernen überhaupt nicht gefallen.

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„Wir haben ihn getroffen!“, triumphierte Onyra. Normalerweise waren solche Gefühlsausbrüche nicht ihr Stil, aber gerade konnte sie diesen Erfolg wirklich gebrauchen. Nicht nur der ungewöhnlich mächtige Scyone und die verräterischen Verlorenen, sondern auch das unverschämte, anmaßende Verhalten von Herreth hatten ihre Nerven ziemlich strapaziert.
„Gebt ihm den Rest!“, befahl sie, „sucht weitere Schwachstellen, wechselt eure Positionen. Wir werden ihn vernichten.“
Die Rilandi gehorchten ihrem Befehl – so wie es sein sollte – und Onyra gewann etwas von ihrer gewohnten Gelassenheit zurück. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie siegen würden. Sicher, sie hatten schmerzliche Verluste erlitten, aber der Scyone würde sie dennoch nicht niederringen können und sobald er erst beseitigt war, würde sie zu den anderen Meistern stoßen, um die Verlorenen zu bestrafen. Damit meinte sie aber keine Gefangenschaft. Sie glaubte nicht daran, dass der Allrichter wirklich befohlen hätte diese Verräter nach ihrer Flucht und noch dazu mitten in einem Kampf erneut in Gewahrsam zu nehmen. Einem Wesen wie ihm wäre das Ausmaß der Bedrohung und die Dringlichkeit der Lage ganz sicher bewusst gewesen. Wahrscheinlich war dies nur ein fixer Gedanke in Herreth Kopf. Einem Laarmaschk wie ihr wäre es durchaus zuzutrauen die geistige Abwesenheit von Wornaara für ihre eigenen Zwecke ausschlachten zu wollen. Aber Onyra würde das nicht zulassen. Es würde für die Verlorenen keine weitere Gelegenheit zur Flucht geben, keine zeitaufwändige Folter und auch sonst keine Sperenzchen. Nur einen schnellen, glatten, sauberen Tod.
Plötzlich kribbelte die Luft in Onyras Nacken und nur ihren guten Reflexen hatte sie es zu verdanken, dass sie sich rechtzeitig wegducken konnte, um einem Lichtblitz zu entgehen, der andernfalls direkt in ihren Kopf geknallt wäre.
Onyra warf sich auf den Boden, wodurch sie einem weiteren Schuss und einigen Fäden entging, die versucht hatten nach ihr zu greifen.
„Was fällt dir ein!?“, fragte sie verwirrt und erzürnt, während sie aufsah und in die hasserfüllten Augen eines ihrer eigenen Leute sah, der zu einem weiteren Angriff ansetzte. Sie kam ihm zuvor und beförderte mit einem gezielten Schuss seine Waffe aus der Hand, wobei sie nicht vermeiden konnte diese Hand in einen Haufen Glassplitter zu verwandeln. Sie ließ ihren Blick über den Innenhof wandern und stellte fest, dass dieser Vorfall kein Einzelfall war. Überall entbrannten erbitterte Kämpfe zwischen Hirten, Weber und Suchern, da sich einige von ihnen sich plötzlich gegen die eigenen Leute wandten.
„Der Scyone“, realisierte Onyra wütend, während sie einigen weiteren Schüssen auswich und einen Streifschuss am rechten Unterarm abbekam. „Rückzug!“, rief sie, da ihr keine andere Möglichkeit einfiel, um diesen Kampf zu gewinnen, ohne einen Großteil ihrer eigenen Truppen zu verlieren, „in die Halle der Herrschaft. Dort sind wir sicher und können uns neu formieren.“
Jene Rilandi, die noch bei Verstand waren, ließen sich das nicht zweimal sagen und rannten gemeinsam mit ihr auf den Eingang der Gebetshalle zu.

~0~

Erschöpft aber durchaus mit sich zufrieden sah Moydrur auf die sich gegenseitig bekämpfenden Truppen der Rilandi hinab. Sein Einfluss auf die Glaswesen würde auch ohne sein Zutun noch eine Weile bestehen bleiben. Nun konnte er endlich einige Zeit ruhen und neue Kraft gewinnen, bevor er Adrian und den anderen wieder zur Hilfe kam. In seinem jetzigen Zustand wäre er ohnehin niemandem eine Hilfe.
Mit einem einfachen Gedanken versetze er sich zurück in die beruhigende Stille des Zwischenraums. Es ist schwer einem Menschen oder auch jedem anderen Wesen das Gefühl zu beschreiben, welches Moydrur in diesem Moment überkam. Am ehesten ließ es sich noch als eine Mischung aus einem warmen, entspannenden Bad, dem Biss in eine köstliche Speise, der Umarmung einer Mutter und einer oder eines Geliebten und der Heimkehr nach einer langen, gefährlichen Reise vergleichen. Denn auch wenn Scyosch der Heimatplanet der Scyonen war, auf dem sie auch ihre Beute in tödlichen Irrgärten fingen und ins Verberben lockten, fühlten sie sich nur im Zwischenraum so richtig zu Hause. Unter diesen Vorzeichen lässt es sich vielleicht auch verstehen, dass der erschöpfte Moydrur einfach genießerisch die Augen schloss, sich durch die schillernd-nebelige Stille treiben ließ und die große Zahl der Laarmaschk, die sich aus allen Richtungen um ihn scharten, erst bemerkte, als es fast schon zu spät war. Als er es jedoch bemerkte, versuchte er sich geistesgegenwärtig zurück in den Normalraum zu teleportieren.
Dummerweise glückte ihm das nicht. „Wir haben ein Fangfeld um den ganzen Abschnitt gelegt“, sagte ein besonders großes und hässliches Exemplar, welches wohl so etwas wie der Anführer dieser Gruppe war, „es gibt für dich kein Entkommen, Scyone! Du hattest deinen Spaß, nun werden wir unseren haben.“

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„Schneller!“, trieb Herreth die anderen Weber-, Hirten- und Suchermeister an, als wären sie nicht weiter als eine Schafherde. Für Herreth waren sie das.
„Wir rennen schon so schnell wir können“, keuchte Gorun, wobei glitzernder Schweiß aus seinen gläsernen Poren tropfte.
„Du bist lediglich verweichlicht von den ganzen schönen Reden und dem köstlichen Lichtwein“, urteilte Herreth, was ihr einen bösen Blick von Gorun und verhaltenes Gelächter von Jontii und Kollat einbrachte. Die anderen schwiegen.
Als sie die Himmelstreppe endlich erreichten, erkannte sie, dass die Verräter schon fast wieder an ihrem Ziel angekommen waren. Indem sie beide Hände an den Außenseiten zusammenlegte und sie dann zu beiden Seiten wegführte, als würde sie einen Vorhang öffnen, schuf sie jene Abkürzung, die nur den Meistern zur Verfügung stand und die als „der goldene Pfad“ bekannt war. Sie bestand aus einer Art parallelen Treppe, die wie reinstes Gold glänzte und nur vierzig bequeme Stufen hoch war und dabei doch dieselbe Strecke überwand wie die eigentliche Himmelstreppe. Ihr Vorsprung würde den Flüchtigen nichts nützen.
Während sie mit den anderen den goldenen Pfad hoch eilte, dachte Herreth an den überraschend aufgetauchten Scyonen. Inzwischen musste er von ihren Verbündeten ausgelöscht worden sein. Ein wenig bedauerte Herreth das. Er war ihren Absichten durchaus dienlich gewesen, da er viele Rilandi vernichtet hatte. Allerdings war er leider auch viel zu unberechenbar und wie jeder Laarmaschk hasste Herreth Dinge, die sich nicht kontrollieren ließen.

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Moydrur verspürte keine Angst, als etwa ein Dutzend Laarmaschk gleichzeitig mit ihren Schattenarmen nach ihm schlugen. Alles, was er fühlte, war Zorn. Eine unbändige Wut, die ihm mehr Kraft und Wendigkeit verlieh, als selbst er für möglich gehalten hätte. „Dnatriks!“, schrie er den versammelten, jene Schmähung entgegen, die in der gemeinsamen Sprache der Völker des „Dunklen Dorn“ nur für die schlimmsten Versager und Verräter reserviert war und setzte sich in Bewegung.
Die Lücke, die er zwischen den schattenhaften Leibern ausmachte, und die sie in ihrer selbstgerechten Siegesgewissheit nicht vernünftig geschlossen hatten, war nicht groß und er konnte nicht verhindern, dass ihn die gefährlichen grauen Arme ein paar Mal trafen und winzige Teile seines Wesens und seiner wertvollen Macht einfach absplittern ließen, doch immerhin gelang es ihm zwischen den Laarmaschk hindurchzuschlüpfen.
„Dnatriks!“, rief er noch einmal, während er um sein Leben flog und die Nachahmer sich auf seine Fersen hefteten.

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„Wir haben es geschafft“, frohlockte Nojun, als auch sein Flughund gelandet war und sich nun eilig in die Lüfte emporhob, wie es alle anderen unfreiwilligen Reittiere vor ihm getan hatten. Die Tiere hatten offenbar genug davon, auf diese Weise missbraucht zu werden, denn anders als für Gorweo, der einen besonderen Draht zu den Geschöpfen gehabt hatte, hatten sie für ihre anderen Reiter nicht viel übrig gehabt. Den Rückweg würden wir wahrscheinlich zu Fuß bewältigen müssen.
„Wir sind oben, das stimmt“, pflichtete ich Nojun etwas weniger enthusiastisch bei, während ich meine Füße prüfend über den wolkigen Untergrund bewegte. Selbst die wenigen Stunden jenseits dieses Ortes hatten schon ausgereicht, um meine alten Ängste wieder zu wecken, „aber das Schwierigste kommt erst noch.“
„Wo bleibt denn dein Optimismus, ADRIAN?“, ätzte Ominee, während sie mit ihren Fingern ungeduldig über den Griff ihres Hirtenstabes strich, „man kann doch ALLES schaffen, wenn man nur will, oder nicht?“. In ihren Augen lagen noch immer Hass und Enttäuschung, aber da war auch noch mehr. Ein mörderischer Denkprozess, der sich wahrscheinlich weniger mit dem „Ob“, als mit dem „Wann“ beschäftigte. Ich konnte mich wohl nicht beschweren. Immerhin war ich noch gestern Nacht verdammt nah dran gewesen Ominees Leben zu beenden.
Franno und Ninga sahen uns etwas verwirrt an, lediglich Nojun schien zu ahnen, was sich hier abspielte. „Keine Zeit für Wortgeplänkel“, mahnte er, „wir müssen zur Webhalle.“
„Du hast recht!“, sagte ich und zwang mich den Blick von Ominee abzuwenden. Sie würde sicher nicht mein Leben fordern, solange wir noch gegen die Rilandi und die Laarmaschk kämpfen mussten. Zumindest hoffte ich das.
Dann rannten wir gemeinsam los.

~0~

„Was für ein verweichlichter Ort“, sagte Jontii, nachdem sie die letzte Stufe des goldenen Pfades bewältigt hatte und nun vor der Kuppel des Recriondo stand.
„Ein scharfer Geist braucht Raum zur Entfaltung“, sagte Gorun, der sich persönlich angegriffen fühlte, „eine atmende Waffe wie du versteht das natürlich nicht.“
„Meine Waffe ist schärfer als dein Geist“, erwiderte Jontii drohend, „das kann ich dir gerne beweisen.“
„Gewalt ist wohl alles, was euch Hirten einfällt, oder?“, erwiderte Gorun, „das liegt wahrscheinlich daran, dass du nicht in der Lage bist irgendetwas zu erschaffen.“
„Was erschaffst du schon, Gorun?“, höhnte Jontii, „du bist doch nichts als ein besserer Barkeeper.“
„Seid still!“, verlangte Herreth, „oder ich spendiere euch einen Flug hinab in den Schlamm. Ich frage mich, ob der Malmer Gefallen daran finden würde sich in Ungnade gefallene Rilandi-Meister einzuverleiben.“
Nicht nur die gescholtenen, sondern vor allem auch Druun und Denorra wechselten einen besorgten Blick.
„Wo sind die Verlorenen hin?“, fragte Kollat ernst, „ich kann sie nirgends entdecken.“
„Sie müssen schneller gereist sein, als wir angenommen hatten“, gab Herreth zu, „aber das ist kein Problem. Ich habe so eine Ahnung, wo sie hinwollen.“

~0~

„Irgendetwas ist nicht in Ordnung“, sagte Onvar zu seinen Wächterkollegen während er sich in der Webhalle umsah. Die Scyonen ruhten sicher in ihrem Gefängnis innerhalb der gläsernen Decke. Die jüngeren von ihnen schrien noch gelegentlich, versuchten sich vergeblich an magischen Fähigkeiten, welche durch ihr Gefängnis gedämpft wurden oder warfen sich prüfend gegen das dicke Spezialglas, aber die meisten hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Die Maschine stand unbenutzt, aber intakt hinter ihm und die Tür war so fest verschlossen wie eh und je, und dennoch … „Spürt ihr das nicht auch?“, fügte er hinzu.
„Leider nicht“, wiegelte Fromik ab, „womöglich ist das einfach nur der Wachdienst. Wenn der Geist eines Webers lange nicht beschäftigt wird, neigt er manchmal dazu sich Dinge einzubilden. Glaub mir, das habe ich auch schon erlebt.“
„Das weiß ich!“, entgegnete Onvar schroff, „das ist ja nicht mein erster Wachdienst, wie du sehr wohl weißt. Aber das hier ist etwas anderes.“
„Vielleicht ist es dieses Brummen, welches die Laarmaschk erzeugen“, schlug Treva vor, „ich habe selbst den Eindruck, dass es in letzter Zeit immer lauter erklingt. Das kann einem schon an den Nerven nagen.“
„Das könnte es sein“, überlegte Onvar laut, wobei seine Stimme verriet, dass er auch das nicht als Erklärung für seine Unruhe in Erwägung zog. Doch was sollte es sonst sein? Eigentlich war der Wachdienst mehr eine Übung des Geistes, als eine wirkliche Notwendigkeit. Der letzte Vorfall, bei dem ein paar übermütige Jung-Rilandi, die es geschafft hatten sich am helllichten Tag Lichtwein zu besorgen, in die Webhalle eingebrochen waren, um dort nach Lust und Laune mit der Webmaschine herumzuspielen und ganze Völker ins Chaos zu stürzen was dann erst mühsam repariert werden musste. Das war fast ein Jahrhundert her und die Täter waren dafür grausamen bestraft worden. Doch selbst, wenn sich so etwas noch einmal wiederholen sollte, traute sich Onvar, der zu den besten Fadenspinnern unter den Webern gehörte, durchaus zu mit ein paar berauschten Kindsköpfen fertig zu werden. Noch dazu waren sie hier zu dritt. Trotzdem konnte er das ungute Gefühl nicht abschütteln.
„Bald sollte das Gebet vorbei sein, mein Freund“, beruhigte Fromik ihn, „und kurz danach werden erst die Meister und dann die anderen Weber wieder hier sein. Dann gehören auch deine Sorgen der Vergangenheit an.“
„Da hast du wohl recht“, sagte Onvar, der vor seinen Freunden nicht als Feigling dastehen wollte. Innerlich jedoch hielt seine Anspannung an.

~0~

„Wieso funktioniert das nicht?“, fragte Franno, der wie gewohnt an der markierten Stelle versucht hatte, den Übergang in die Webhalle zu erreichen, jedoch auf einen unsichtbaren Widerstand gestoßen war.
„Die Tür ist verschlossen. Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme“, erklärte Nojun.
„Das fällt dir aber früh ein“, beschwerte sich Ominee, „wie wollen wir denn jetzt hineingelangen?“
„Mithilfe von Treva und Fromik“, erklärte Nojun, „wir haben ein Zeichen vereinbart. Wir müssen zweimal gegen die unsichtbare Türe klopfen. Dann lassen sie uns ein.“
„Wieso wusste ich davon nichts?“, fragte ich empört.
„Ich … ich muss vergessen haben es zu erwähnen“, erwiderte Nojun verlegen.“
„Mir gefällt es gar nicht, dass wir uns auf diese Wahrgeborenen verlassen müssen“, sagte Ninga säuerlich.
„Mir auch nicht“, stimmte ich ihr zu, „aber jetzt ist es ohnehin zu spät. Franno, wo du jetzt schon da stehst, kannst du auch das Zeichen machen.“
„Ok, Chef“, sagte der grobschlächtige Bravianer und klopfte gegen die unsichtbare Tür.

~0~

„Was ist das für ein Geräusch?“, fragte Onvar erschrocken. Hatte er also doch recht gehabt?
„Womöglich Herreth?“, vermutete Treva und begab sich zu Onvar.
„Eine Meisterin würde nicht anklopfen“, widersprach Onvar kopfschüttelnd, „sie würde einfach die Tür öffnen. Außerdem wäre es für ihre Rückkehr noch zu früh.“
„Ich werde nachsehen“, sagte Fromik entschlossen und ging auf die Tür zu, „falls es ein Eindringling ist, wird er es bereuen.“
„Was machst du da?“, fragte Onvar, als Fromik sich mit seiner Hand an der Türverriegelung zu schaffen machte.
„Nachsehen, wer dort ist“, erklärte Fromik seelenruhig.
„Damit würdest du die Arbeit des Einbrechers machen!“, empörte sich Onvar.
„Im Gegenteil“, widersprach Fromik, „ich verhindere, dass er es sich anders überlegen und fliehen. Wir drei werden mit jedem Eindringling fertig.“
„Das mag sein“, stimmte Onvar zu, „dennoch ist es uns verboten diese Tür zu öffnen, ehe die anderen vom Gebet zurückkehren. Ich bestehe darauf, dass sie verschlossen bleibt!“ Onvar beließ es nicht bei seinen Worten, sondern ging auf die Türe zu, um Fromik daran zu hindern, sie zu öffnen.
„Es tut mir leid“, sagte Treva mit Tränen in den Augen und schlang sechs dünne, aber kräftige Fäden um den Hals des Wächters, der daraufhin Mitten in der Bewegung erstarrte.
„Was … warum? Treva! Fromik!“, röchelte er, „wie könnt ihr nur …“
Onvar zappelte, zitterte, rang um Luft und versuchte eigene Fäden zu erzeugen, aber es gelang ihm nicht die nötige Konzentration aufzubringen und als Fromik Treva mit seinen Kräften dabei unterstütze das Leben aus dem Wächter zu pressen, war dessen Widerstand endgültig gebrochen.
„Es ist eine Schande“, sagte Fromik niedergeschlagen, als er auf den leblosen Körper des Freundes hinabsah, „und das alles, um ein paar ehrlosen Fremdgeborenen zu helfen unsere Traditionen zu untergraben.“
„Wir tun es nicht für sie“, erinnerte Treva, „und wir werden nicht zulassen, dass sie unserer Traditionen zerstören. Aus der Asche wird etwas Neues entstehen.“
Fromik nickte. Dann öffnete er die Tür.

~0~

„Diese Treppe hinabzusteigen würde viel zu lange dauern“, sagte Slizza als sie auf die gewaltige schwarze Treppe starrte, die sich als Geflecht-Gegenstück zur Himmelstreppe tief in die gigantische Schlucht hinein erstreckte.
„Da sind wir ausnahmsweise einer Meinung“, pflichtete ihr Ranscha bei, „deswegen werden wir springen.“
„Springen?“, fragte Slizza überrascht, „ist es dafür nicht ein wenig zu tief?“
„Nein“, sagte Ranscha, „der Luftwiderstand ist hier groß genug, um unseren Fall zu bremsen. Außerdem haben wir unsere Fäden.“
Noch bevor Slizza etwas darauf erwidern konnte, sprang Ranscha neben der Treppe in den gähnen Abgrund. Für einen Augenblick ertappte sie sich dabei sich zu wünschen, dass die Rilandi einfach auf dem Boden zerplatzte, aber dann schämte sie sich sofort dafür. Trotz allem hatten sie im Moment dasselbe Ziel. Sie blickte in das Tal und konnte von Glück sagen, dass man ihr ihre angeborene Höhenangst in einem harten, gnadenlosen Desensibilisierungstraining abgewöhnt hatte, auch wenn sie grundsätzlich noch immer bezweifelte, dass es das wert gewesen war. Slizza wechselte einen kurzen Blick mit den Tronhiire. Dann sprangen sie Ranscha hinterher.

~0~

Sie landeten weich, was nicht allein an der zähen Luft und ihren Geistesfäden, sondern vor allem an den weichen, klebrigen, dunkelgrauen Fäden lag, die sich auf dem Boden ausgebreitet hatten und die auch an den Wänden wuchsen und zur Geflecht-Version der Webmaschine führten. Auch wenn diese Maschine anders als ihr Gegenstück im lichten Uranor nicht nur dreimal so groß, sondern zudem ein hässliches, dunkles, asymmetrisches Ding war, das mehr Ähnlichkeit mit einem Krebsgeschwür, als mit einer Maschine besaß, erkannte man die Verwandtschaft an den gläsernen, gebogenen Röhren, die in ihrem Leib steckten. Denn in ihnen glomm ein helles goldenes Licht. Weniger vertraut waren die gequälten, ausgezehrten Seelen und die vereinzelten Verformten, die wie Kirschen in einer Torte in dem schwammigen Material steckten, aus dem die Maschine bestand.
„Das … so sollte es nicht sein“, sagte Ranscha schockiert, „die Maschine hier sollte nur ein winziger Anker im Geflecht sein. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Kein monströses Massengrab.“
„Sie breitet sich aus“, meinte Slizza, die nicht minder angewidert war, „und sie scheinen einen Weg gefunden zu haben, selbst aus den Verdammten noch etwas Kraft herauszupressen. So etwas ist zu erwarten, wenn man sich mit der Dunkelheit einlässt.“
Die Maschine war natürlich nicht unbewacht. Fünf Laarmaschk schwebten in ihrer grauen Schattenform vor und über ihr und sahen die Neuankömmlinge böse an.
„Immerhin weniger Gegner als ich erwartet hätte“, sagte Slizza und machte ihre Waffe bereit. Als sich die Laarmaschk auf sie zubewegten, begab sich Slizza in Angriffsposition.
„Nein“, warnte die Verbindung Zoenhir, „sie zu berühren ist gefährlich. Überlasst sie lieber mir.“
Slizza nickte und zog sich zurück. Auch Ranscha hielt sich raus. Stattdessen preschte die Verbindung Zoenhir nach vorne und in den hasserfüllten Augen der Laarmaschk zeigte sich Angst, als die Tronhiire ihre Münder zu wahrhaft beeindruckender Größe entfalteten und zu einem einzigen, gewaltigen Maul verbanden. Unter „gewaltig“ ist hier eine Kieferspannweite und Höhe von gut vier Metern zu verstehen. Drei der Laarmaschk verschwanden sofort mit einem schlürfenden Geräusch im Maul der Tronhiire, zwei weitere fielen einem zweiten Biss zum Opfer.
Slizza klappte ihrerseits der Unterkiefer herunter. Sie hatte gewusst, dass die Tronhiire mitgekommen waren, weil sie sich von Dunkelheit ernährten. Aber sie hatte etwas Subtileres erwartet. Das Absaugen von spiritueller Energie womöglich. Aber das hier? Nie im Leben.
Die Verbindung Zoenhir kaute, lutschte und schluckte. Kurz darauf glänzte einige weitere perlweiße Kugeln in den durchscheinenden Eiersäcken. Die Tronhiire sahen die beiden anderen Frauen mit einem zufriedenen Grinsen an. Slizza hoffte, dass sie dieses Wesen niemals verärgern würde. Sie war sich ziemlich sicher, dass sich auch in ihr selbst genügend Dunkelheit fand, um appetitlich für es zu sein.
Immerhin war der Weg zur Maschine nun frei.
„Wie zerstören wir sie?“, fragte Slizza.
„Wir müssen alle Röhren zerbrechen und die Energie darin freisetzen“, erklärte Ranscha, „lasst uns beginnen.“
Noch während sie das sagte, schoss sie alle ihre Fäden gegen das Glas, doch es zeigte sich lediglich ein kleiner Riss. Sie schlug mit der Faust dagegen, bewirkte jedoch noch weniger.
„Leichter gesagt als getan, was?“, kommentierte Slizza, versuchte ihr Glück bei einer anderen Röhre, richtete jedoch nur wenig mehr aus.
„So dauert das viel zu lange. Gibt es keinen schnelleren Weg?“, überlegte Slizza, sah sich um und entdeckte einige lose, dunkle Steine, die ein paar Meter von ihnen entfernt lagen.
Sie hörte, dass die Verbindung Zoenhir etwas sagen wollte und sah zu ihr herüber.
„Bekommen Gesellschaft. Laarmaschk. Viele“, schrieben die Tronhiire in die Luft.
Slizza blickte nach Oben und erstarrte. Der ohnehin dämmrige Himmel des Geflechtes war verdunkelt von Laarmaschk. Es mussten Hunderte sein. Tausende womöglich.
„Verfluchte Scheiße!“, brüllte Slizza, „das müssen alle Laarmaschk im gesamten Geflecht von Uranor sein. Die können wir niemals besiegen. Ich schätze, nicht mal du hast so viel Hunger oder?“
„Nein“, antwortete die Verbindung Zoenhir und deutete auf ihre prall gefüllten Eiersäcke, „Zu viele zu sammeln. Mein Tod. Muss bald nach Troh. Entleeren.“
„Du wirst aber zumindest noch einige von ihnen aufhalten müssen“, sagte Slizza und hechtete nach den Steinen, während sich der Schwarm aus Laarmaschk ins Tal hinabsenkte.

~0~

„Ist es bereits erledigt?“, stellte ich eine eigentlich überflüssige Frage, als wir die Webhalle betraten und ich neben Treva und Fromik die Leiche des dritten Wächters liegen sah.
„Ja“, giftete Fromik bitter, „ES ist erledigt. Nur, dass ‚ES‘ ein Mann ist, den wir lange kannten und der uns vertraut hatte.“
„Das tut mir leid“, sagte ich überrumpelt.
„Das tut es nicht“, erwiderte Treva, „und selbst wenn doch, so ist es irrelevant. Wir wissen, dass ihr uns für Monster und euch selbst für moralisch überlegen haltet. Also sparen wir uns diese Heuchelei und tun einfach, was getan werden muss.“
Ich nickte wortlos.
„Sollen wir das Ding jetzt kaputt hauen?“, fragte Franno.
„Nein!“, widersprach Nojun, „erst wenn die Maschine im Geflecht zerstört ist. Wenn wir es vorher versuchen, wird das in einer Katastrophe enden.“
„Woran erkennen wir denn, dass Slizza, Ranscha und die Verbindung Zoenhir Erfolg hatten?“, fragte Ominee.
„In das goldene Licht in den Leitungen werden sich schwarze Schlieren mischen“, erklärte Fromik.
„Dann bleibt uns jetzt also nichts anderes übrig, als abzuwarten?“, fragte Ninga.
„So ist es“, sagte Treva, „jedenfalls so lange man uns hier in Ruhe lässt. Wie ist die Lage in der Festung? Weiß schon jemand Bescheid?“
„Unsere Rebellion ist inzwischen jedem bekannt, wenn auch hoffentlich noch nicht unsere genauen Pläne. Man hat Ominee und mich gefangengenommen, doch wir konnten fliehen und soweit wir wissen ist uns niemand gefolgt. Ohnehin sind sie beschäftigt, da dort unten wilde Kämpfe toben“, gab ich ihnen eine vereinfachte und unvollständige Zusammenfassung.
„Kämpfe?“, fragte Fromik skeptisch, „gegen wen?“
„Gegen einen Scyonen“, erklärte Ominee.
Fromik sah nach oben zur vollkommen intakten Gefängnisdecke.
„Nicht von hier“, erläuterte ich, „er kommt aus der Heimatwelt der Scyonen und ist unser Verbündeter. Und sehr mächtig.“
„Ihr arbeitet mit Scyonen zusammen?“, empörte sich Treva, „mit Nebelsaugern und Kinderfressern?“
„Das tun wir nicht …“, bemühte sich Nojun um Deeskalation, „wir …“
„Warum wäre das so schlimm?“, fiel ich ihm ins Wort, „ihr habt mit den Gesundern zusammengearbeitet und mit den Laarmaschk. Was ist daran besser?“
„Letzteres ist der Grund, warum wir unsere Ideale verraten und uns dieser lächerlichen Rebellion angeschlossen haben“, polterte Treva, „wer sich den Dunklen hingibt hat unseren Zorn zu fürchten!“
Die Drohung, die in ihren Worten mitschwang, hing wie schwerer, öliger Rauch in der Luft als plötzlich die Tür explodierte.

~0~

Herreth liebte solche Auftritte. Für ihren Spiegel hatte dies ihres Wissens nach nicht gegolten. Die alte Herreth war eine bescheidene und nüchterne Frau ohne jeden Sinn für Dramatik gewesen. Doch sie war lange Vergangenheit. Viele Laarmaschk übernahmen sofort oder mit der Zeit bestimmte Eigenheiten, Einstellungen oder Verhaltensweisen ihres Vorbilds. Doch Herreth war stets bemüht gewesen ihren Geist rein zu halten. Das Leben und die Gedanken ihrer Rilandi-Vorgängerin trug sie lediglich als eine notwendige Maske und als nützliche Ressource. Und so genoss sie es die Splitter der Tür umherfliegen zu sehen, hinter der sie so lange eingesperrt gewesen war, um zusammen mit diesen einfältigen Webern noch einfältigere Kreaturen zu manipulieren. Es war nicht so, dass diese Sitzungen in jeder Hinsicht eine Qual gewesen waren. Die Kleingeistigkeit der Rilandi war enervierend gewesen und die Anwesenheit der Scyonen fast noch schlimmer. Die Manipulation intelligenter Wesen lag hingegen quasi in ihrer Natur, aber die Art, wie es geschah, missfiel ihr genauso sehr, wie das erzeugte Resultat. Warum Hoffnung zu Licht weben, wenn man aus Angst und Verzweiflung köstliche Finsternis gewinnen könnte?
Als sich der Staub der Explosion legte, stellte Herreth zufrieden fest, dass ihre Widersacher allesamt zu Boden geschleudert worden waren. Der Zustand der Webmaschine gefiel ihr hingegen weniger. Zwar war sie nach wie vor unbeschädigt, aber in ihren Leitungen befand sich lediglich reines, goldenes Licht. Das machte Herreth wütend. Entweder hatte sie die Mordlust ihrer eigenen Leute unter- oder die Fähigkeiten der Rebellen, die ins Geflecht eingedrungen waren überschätzt. Sicherheitshalber sandte sie eine kurze mentale Botschaft ins Geflecht. Dann fokussierte sie ihre Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt. Dort gab es Blutwerk zu verrichten.

~0~

„Hier, fang“, rief sie Ranscha noch im Lauf zu, als sie sich zwei der größten Steine gegriffen hatte, von denen sie Ranscha eine zuwarf. Die Rilandi fing den etwa faustgroßen Brocken auf und hieb damit sofort auf eine der Röhren ein. Ein großer, breiter Riss entstand. Dann noch ein Schlag. Die Röhre platze und gab goldenes Licht frei. Ein Zittern ging durch die amorphe Masse der Maschine und ein leises Wimmern und Seufzen erhob sich aus den Kehlen der Deformierten und der ausgezehrten Seelen.
„Es funktioniert!“, freute sich Slizza trotz des allgegenwärtigen Leids. Aber noch waren neun Röhren übrig und die Laarmaschk waren fast heran. Da kam ihr eine Idee. Dieses Licht. Es war hoch konzentriert. Vielleicht könnte sie damit …
„Ranscha! Zerstöre die anderen Röhren! Wir geben dir Deckung“, sagte sie, ließ ihren Stein wieder fallen, zapfte stattdessen die entweichende Energie ab und lenkte sie in das größte und dichteste Netz aus Lichtfäden, dass man wohl je in Uranor und ganz sicher im Geflecht gesehen hatte. Das gesamte Heer der Laarmaschk prallte dagegen und verging zwar nicht, aber gelangte auch nicht hindurch. Die Verbindung Zoenhir hatten ihre widerlichen Mäuler geöffnet und warteten als letzte Verteidigungslinie auf die Wand aus grauen Leibern, schwarzen, kleinen Augen und gefährlichen Gliedmaßen. Die Laarmaschk rannten erneut gegen die Barriere an und Slizza spürte wie ihr Schutz nachließ. Eine weitere Röhre platze und gab ihr neue Energie, aber zugleich hatte sich die Zahl der Laarmaschk erhöht. Sie waren nun nicht nur vorne und an den Seiten, sondern auch über ihr.
Die Nachahmer schlugen mit ihren vielfachen Klauen unablässig gegen den Fadenschild und brachten ihn fast zum Zusammenbrechen. Binnen weniger Augenblicke würde er nachgeben und bislang hatte Ranscha noch keine weitere Röhre zerstört. Dann stürmten weitere Laarmaschk heran, suchten sich die wenigen verbleibenden Lücken zwischen ihren Artgenossen und warfen sich ebenfalls gegen das Hindernis. Der Schild verschwand. Vollkommen schutzlos standen sie nun der hundertfachen Übermacht gegenüber.
Die Verbindung Zoenhir verschluckte einige wenige der Angreifer und verdaute sie zu weißen Perlen, aber der Rest flog einfach an ihr vorbei und direkt auf Slizza und Ranscha zu. In diesem Moment platzte die dritte Röhre, aber Slizza gelang es nicht den Schild erneut aufzubauen. Stattdessen formte sie ihren Speer und wehrte damit einige Laarmaschk-Tentakel ab, doch das war nur ein letztes Aufbäumen vor dem sicheren Untergang. Die drei würden in der dunklen Flut ertrinken. Bevor sie jedoch überrannt wurden, fegte eine Welle aus Licht über sie und ihre Gegner hinweg, die noch weit heller war als das Licht, welches in den Röhren pulsierte. Sie hörte die Laarmaschk aufschreien, als sie entweder verdampften oder sich zurückzogen, wobei der größte Teil von ihnen die Flucht wählte. Als das Licht schwächer wurde, sah sie in das ehrfurchtgebietende, strenge Gesicht von Wornaara.

~0~

Die Explosion schleuderte mich mehrere Meter weit zurück, direkt gegen die Webmaschine. Zwar brachte mir das einige Prellungen und blaue Flecke ein, aber es sorgte auch dafür, dass mir die umherfliegenden Splitter lediglich kleinere Verletzungen zufügten.
Ich blinzelte den Staub weg und sah Herreth vor mir.
Ihr Gesicht erinnerte mich wieder an sterbende und versklavte Völker über deren grauenhaftes Schicksal mit akademischer Gleichgültigkeit entschieden wurde. Der Zorn, den dies in mir auslöste, war mir Munition genug. Ich hob meinen Stab. Und schoss.

~0~

„Takk Doohl!“, fluchte Herreth dunkel, als das Geschoss ihr linkes Bein streifte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass einer ihrer Feinde so schnell wieder kampfbereit sein würde.
Die anderen Meister schienen von den finsteren Worten, die nicht nur aus der Laarmaschk-Sprache stammten, sondern auch mit einer ganz und gar nicht rilandihaften, gutturalen Stimme ausgesprochen worden waren, irritiert zu sein.
„Worauf wartet ihr!“, blaffte Herreth, „greift sie an!“
Herreth versuchte ihrerseits Fäden für den Angriff zu erschaffen, doch ihre gestohlenen Fähigkeiten versagten ihr den Dienst. Herreth wusste auch, warum dies so war: In ihrem Zorn gelang es ihr nicht mehr richtig ihre Maskerade aufrechtzuerhalten und sich auf die Schwingung eines Rilandi einzustellen. Egal, dachte sie und stürmte mit beachtlicher Geschwindigkeit auf ihre Kontrahenten zu. Ihr Körper wäre ihr Waffe genug.

~0~

„Was ist mit Herreth los?“, flüsterte Druun an Denorra gewandt.
„Du weißt, dass das nicht Herreth ist“, krächzte Denorra, „in ihr ist nichts als Dunkelheit. Das spüre ich jetzt deutlich.“
„Dann sind die Gerüchte wahr? Sie ist ein Laarmaschk?“, folgerte Druun.
„Ich fürchte ja“, wisperte Denorra, „und offensichtlich haben die Laarmaschk genug davon zu dienen.“
„Trotzdem müssen wir sie unterstützten“, sagte Druun, „sie ist noch immer eine Meisterin.“
„Wir müssen die Maschine beschützen“, widersprach Denorra, „das ist alles, was zählt!“

~0~

Verdammt, dachte ich, als ich bemerkte, dass ich die Webermeisterin offenbar nicht richtig getroffen hatte und sie nun ungeachtet ihrer Verletzung wie ein wütender Stier auf mich zustürmte. Immerhin hatte mir ein rascher Seitenblick gezeigt, dass Ominee, Franno, Nojun, Ninga und Treva offenbar noch bei Bewusstsein waren und sich langsam wieder aufrappelten. Lediglich Fromik lag noch immer reglos auf dem Boden. Ich erwog, einen weiteren Schuss abzugeben, doch angesichts des mörderischen Tempos, welches Herreth vorlegte, entschied ich mich für eine andere Taktik. Ich hielt den Stab gesenkt und plante ihn erst in Kampfposition zu bringen, kurz bevor Herreth mich erreicht haben würde. Auf diese Weise würde ihre eigene Bewegungsenergie ihr die Waffe in den Leib treiben. So eine ähnliche Taktik hatte ich bereits in diversen Fantasy- und Mittelalter-Filmen beobachtet. Vielleicht würde sie auch hier funktionieren. Und wer weiß, womöglich hätte sie auch funktioniert, wenn Herreth mir nur Nahe genug gekommen wäre. Leider jedoch holte sie bereits aus etwa fünf Metern Entfernung zu einem Schlag aus. Was absurd klingt, sah in Wahrheit vor allem widerlich aus. Der recht zarte, gläserne Körper der Webermeisterin verkrümmte sich erst unnatürlich, blähte sich dann wie ein von Faulgasen gefüllter Kadaver auf – wobei graugelbe, lehmig glänzende Stellen zwischen dem Glas sichtbar wurden. Herreth verlagerte ihre Körpermasse in ihren rechten Arm, der sich in ein muskulöses, bizarres, mehrgelenkiges Etwas veränderte, welches mich mit ungeheurer Wucht am Kopf erwischte.
Schwindel und Benommenheit ließen mich beinah das Bewusstsein verlieren, aber Schmerzen und Übelkeit verhinderten vorerst, dass es dazu kam. Dann hatte mich das Herreth-Wesen erreicht und hielt mich mit beiden Händen grob gepackt. Schon dieser Griff fügte mir ernsthafte Quetschungen zu und ich spürte, dass Herreth lediglich einen Bruchteil ihrer Kraft verwendete.
„Bedauerlich, dass es hierzu kommen muss“, sagte Herreth, „Fortgeschrittene sind selten geworden.“
„Ich bin kein Fortgeschrittener mehr“, nuschelte ich.
Meine Lippen waren geschwollen. Ich schmeckte Blut. Zwei meiner Schneidezähne fühlten sich locker an.
„Doch das bist du“, brummte das Herreth-Ding, dessen Züge ebenfalls nicht mehr denen der Webermeisterin entsprachen. Ihr Gesicht wirkte ungeordnet und wie … aufgeplatzt … wie ein überdehnter Ballon, „du kannst deinen Katalog weggeben, aber der Ruf der Ferne bleibt dennoch in dir. Es gibt nur eine Möglichkeit ihn zum Schweigen zu bringen.“
Sie legte eine dreifingrige Hand um meinen Hals, die sich zugleich hart und schleimig anfühlte. Ihr Atem roch nach feuchtem Lehm.
Ich versuchte mich loszureißen, aber sie hielt mich mühelos an Ort und Stelle fest, während ich um mich herum Schüsse, Rufe und Schreie vernahm. Immerhin führten die anderen den Kampf weiter. Vielleicht hatten sie ja auch ohne mich Erfolg. In einer letzten, verzweifelten Anstrengung versuchte mich meine hilflose Wut in den Hirtenstab zu kanalisieren, der sich zumindest in der Nähe von Herreth Bauch befand. Ich spürte in meinen Fingern, wie sich kribbelnd Energie in der Waffe aufbaute. Doch Herreth setzte meinen Hoffnungen auf Gegenwehr ein jähes Ende, indem sie meinen Stab mit ihrer linken Hand wie einen dünnen Stock zerbrach und dann mit ihrer rechten den Druck um meine Kehle verstärkte. Trotzdem versuchte ich nach wie vor mich aus ihrem unbarmherzigen Griff zu herauszuwinden. Ich wollte nicht sterben. Nicht jetzt und nicht hier. Wohin auch immer mein seltsamer Weg mich führen würde – ich wollte sein Ende sehen.
„Was für ein Überlebenswille“, sagte Herreth nicht ohne Anerkennung, „Ich bedauere den Laarmaschk, der für dich bestimmt war. Doch letzten Endes müssen wir alle Opfer bringen.“
Das Atmen war mir unmöglich geworden und der Sauerstoffmangel ließ meinen Schwindel kurz darauf in Ohnmacht umschlagen.

~0~

Moydrur kämpfte um Orientierung. Die Attacken der Laarmaschk hatten Spuren bei ihm hinterlassen und Erschöpfung und Stress taten ihr Übriges. In diesem Moment hatte er mehr mit den gedankenlosen, wilden Parasiten gemein, die die Scyonen einst gewesen waren. Seine höheren geistigen Funktionen waren zwar nicht gänzlich verloren – noch nicht – aber für den Moment konnte er mit ihnen nicht viel anfangen, da sie nicht in der Lage waren aus den verwirrenden visuellen und akustischen Reizen des Zwischenraums irgendein Plan zu destillieren. Nur ein einziges Leuchtfeuer erhob sich aus dem Wirbel aus lebenden grauen Schatten und geisterhaften Strukturen. Ein fernes, aber starkes Fanal, welches ihn auf ursprünglicher, subintellektueller Ebene ansprach und anzog. Gemeinschaft. Familie. Heimat. In Form der eingekerkerten Seelen seines vertrauten Halbkollektivs. Dort – das war Moydrurs einziger bewusster Gedanke – musste er hin.

~0~

Aus der Tatsache, dass ich wieder erwachte, schloss ich naheliegenderweise, dass es Herreth nicht gelungen war mich zu überwältigen. Wie ist das möglich, fragte ich mich benommen, während ich vorsichtig die Augen öffnete und mich erhob. Die Geräusche und Bilder, die mir meine Sinne lieferten, machten mir zweifelsfrei bewusst, dass der Kampf nach wie vor andauerte und lieferten mir zumindest einen Hinweis für die Beantwortung meiner ursprünglichen Frage. Franno, dessen rohe körperliche Kraft größer zu sein schien, als ich zunächst angenommen hatte, drosch mit seinen fleischigen Fäusten auf die überrumpelte und nun wieder vergleichsweise normal aussehende Herreth ein, unterstützt von Ominee, die offenbar ebenfalls gelernt hatte den Hirtenstab zu verwenden und die Frannos Bemühungen auf diese Weise unterstützte. Fromik lieferte sich ein Fäden-Duell mit Kollat, während Nojun den Schüssen der beiden Hirtenmeister nur dadurch entging, dass er die Webmaschine als Deckung nutzte, was vielleicht nicht besonders mutig, aber durchaus clever war, da keiner der Meister sie würde zerstören wollen. Ninga brachte die Suchermeisterin mit wütenden Tritten und wilden Schlägen ihrer wie Peitschen verwendeten Fäden in Bedrängnis. Deren männliche Kollegen hingegen, hatten die gerade wieder erwachte Treva mit ihren Fäden in die Luft gehoben und waren nun dabei ihr mit dünnen, aber sehr hellen Lichtstrahlen, die direkt aus ihren Händen entsprangen, die Augen auszubrennen.
Offenbar hatte ich das Glück gehabt, dass man mich nach Herreth‘ Attacke für tot gehalten hatte. Lange würde das nicht so bleiben. Doch was nun? Ein Blick auf die Webmaschine verriet mir, dass das Licht darin noch immer rein golden war. Unser zweites Team war entweder gescheitert oder benötigte länger als gedacht.
Eine innere Stimme sagte mir, dass letzteres der Fall war. Aber das beruhigte mich nur unwesentlich. Selbst, wenn Slizza und die anderen auch nur ein paar Minuten zu lange bräuchten, konnte es bereits zu spät sein. Die beiden Suchermeister waren mit der armen Treva fertig, die als brüllende und kampfunfähige Ruine auf dem Boden lag. Nun stürzten sie sich auf Ninga, die es unmöglich allein mit drei Gegnern würde aufnehmen können. Und auch für Franno sah es nicht sonderlich gut aus, da sich Herreth von ihrer anfänglichen Überraschung zu erholen schien und ihrerseits begann ihn mit ihren Fäusten zu treffen.
Die Schüsse, die Ominee abgab, stellten für Herreth nur ein geringfügiges Ärgernis dar, zumal die Jyllen nur auf jene Teile ihres Körpers zielen konnte, die nicht von Frannos massiger Gestalt verdeckt wurden.
Wir verlieren, erkannte ich und dachte unwillkürlich an Karmon, der laut Moydrur noch immer irgendwo dort draußen sein sollte, sowie an Sandra, Pingo und natürlich Moydrur selbst. Kurz stellte ich mir irrerweise vor, wie sie in diesem Moment durch die Tür eilen und uns helfen würden. Doch das war natürlich reine Tagträumerei. Selbst, wenn die beiden noch leben sollten, so waren sie nicht hier uns der Scyone hatte wahrscheinlich andere Sorgen. Also fasste ich einen naheliegenderen Plan ins Auge, der jedoch unangenehme Konsequenzen mit sich bringen würde. Einige Sekunden haderte ich noch mit mir.
Es muss sein, entschied ich schließlich, wir brauchen mehr Zeit. Allerdings brauchte ich für meinen Plan eine intakte Waffe und um an die zu kommen, gab es hier drin nur drei Möglichkeiten. Da ich jedoch Ominee wohl kaum davon würde überzeugen können mir ihre zu überlassen – ehrlich gesagt war ich mir nicht mal sicher, ob sie mir bei unserem momentanen Verhältnis ein benutztes Taschentuch überlassen hätte – musste ich einen der beiden Hirtenmeister entwaffnen. Aber wie?
Als ich einen Blick auf den panisch ausweichenden Nojun warf, der noch immer „Katz-und-Maus“ mit den Hirtenmeistern spielte, kam mir eine Idee.
Mit einigen großen, schnellen Schritten und einem schlitternden Ausweichmanöver, welches mich knapp der Attacke eines der beiden Hirtenmeister entgehen ließ, flüchtete ich mich hinter die Webmaschine. „Den Göttern sei Dank, du bist am Leben“, begrüßte mich Nojun erleichtert, während er sich vor einem weiteren Angriff wegduckte.
„Mit Göttern hat das wohl wenig zu tun“, antwortete ich, das es mir an diesem Ort tatsächlich etwas merkwürdig vorkam mein Heil in irgendeiner Religion zu suchen. „Eher mit dem Einsatz von Franno und Ominee.“
Nojun sah mich schuldbewusst an. „Tut mir leid“, sagte er, „ich … ich hätte dir gerne geholfen, aber ich bin kein guter Kämpfer.“
„Schon in Ordnung“, sagte ich lächelnd, „ich verstehe das. Ich war auch schon mal besser in Form. Aber das ist jetzt egal. Wichtig ist, dass wir irgendetwas tun. Lange halten die anderen das nicht mehr durch.“
Eine weitere Lichtkugel schlug knapp über unseren Köpfen ein und wir beide warfen uns auf den Boden.
„Schön und gut“, ächzte Nojun, „aber WAS wollen wir tun?“
„Ich habe einen Plan, aber dazu brauche ich eine Waffe“, erklärte ich.
Ein Schrei erklang, der der Tonlage nach von Franno stammen musste. Wie es schien, war Herreth auf dem besten Weg den ungleichen Ringkampf für sich zu entscheiden.
„Wie sieht denn dein Plan aus?“, fragte Nojun.
Plötzlich wurde es zumindest in unserer direkten Umgebung auffallend still. Die beiden Hirten hatten das Feuer eingestellt. Jedoch glaubte ich keine Sekunde, dass dies eine Kapitulation bedeutete.
„Es dauert zu lange das zu erklären“, sagte ich zu Nojun, „aber du würdest mir sehr helfen, wenn du sie ablenkst. Vielleicht könntest du versuchen über die Maschine zu klettern.“
„Damit mache ich mich zur Zielscheibe …“, protestierte Nojun, „… Moment, das ist genau, was du willst oder?“
Leise aber hörbare Schritte zu unserer linken und zu unserer Rechten kündeten davon, dass die beiden Hirten endlich auf den Gedanken gekommen waren uns einzukreisen.
„Wir haben keine Zeit darüber zu diskutieren. Vertrau mir!“
Hätte ich diesen Satz von jemandem wie mir gehört, hätte ich ihm wahrscheinlich mit Wucht eins in die Fresse gegeben, aber Nojun war netter und naiver als ihm guttat.
„In Ordnung“, sagte er seufzend, sprang in die Höhe, hielt sich am Rahmen der Maschine fest und zog seinen sehnigen Körper hinauf.
„Trefft mich, wenn ihr könnt!“, höhnte er, während er wie ein Eroberer auf der Webmaschine stand und sich Mühe gab sich nichts von der Angst anmerken zu lassen, die zweifellos in ihm toben musste.

~0~

Druun rang mit sich. Er hatte keine Liebe für diese Rebellen übrig, aber was aus Herreth geworden war, machte ihm Angst. Er fragte sich, wie viele Laarmaschk inzwischen in den Reihen der Rilandi weilten. Selbst wenn die Verlorenen planten, der Webmaschine Schaden zuzufügen, waren die Laarmaschk wahrscheinlich die größere Bedrohung. Druun stellte sich vor, was passieren würde, wenn Kreaturen wie Herreth die Kontrolle über Uranor übernahmen und allein dieser Gedanke ließ ihn erschaudern. Die Rilandi mochten manchmal harte Entscheidungen zum Wohle des Multiversums treffen, aber den Laarmaschk, die offenbar weit mehr als nur willige Diener waren, traute er es zu mehr Chaos und Leid zu verursachen, als es selbst Atheismus und unkontrollierte Religionsausbreitung vermocht hätten. Dennoch würde er es nicht wagen die Seiten zu wechseln und sich offen auf die Seite der Verlorenen zu stellen.
Nein, er musste dem Allrichter hiervon berichten. Er blickte hinüber zu einem der rebellischen Weber, der ein in seinen Augen lächerliches Manöver versuchte. Druun war klar, dass dies nur dazu dienen sollte, dem anderen Fremdgeborenen, der beinah von Herreth getötet worden war die Gelegenheit für einen Angriff zu geben. Druun hätte das verhindern können. Doch das war nicht in seinem Interesse. Je länger dieser Kampf hier dauerte, desto mehr Zeit würde er haben, um den Allrichter zu warnen. Druun verlor keine Zeit mehr und rannte auf die Tür zu.

~0~

Ich hatte erst den Hirtenmeister auf der linken Seite attackieren wollen, doch mein Gehör hatte mir gerade noch rechtzeitig mitgeteilt, dass dessen Schritte sich entfernten anstatt näherzukommen, also ging ich rechtsherum.
Mir war bewusst, dass sich der Hirtenmeister nicht lange von diesem improvisierten und dilettantisch ausgeführten Ablenkungsmanöver würde narren lassen.
Aber seine Instinkte waren sicherlich darauf geschult, sich nach neuen Bedrohungen umzusehen und dieser kurze Moment, in dem das geschah, würde hoffentlich als Ablenkung genügen.
Der Blick des Rilandi war jedenfalls noch auf Nojun gerichtet, als ich auf ihn zuraste und schließlich meine Hände um seinen Hirtenstab legte. Dennoch hätte das vielleicht nicht ausgereicht, denn der Griff des Meisters um seine Waffe war wirklich fest. Aber Nojun tat noch mehr, als wir abgesprochen hatten. In einem waghalsigen Manöver sprang er direkt auf den Hirtenmeister zu.
„Vorsicht, Nojun!“, rief ich, als ich erkannte, dass dieser ihm die grausamen Spitzen seines Hirtenstabes mit geschulten Reflexen entgegenstreckte, ähnlich wie ich es vorhin mit Herreth geplant hatte, doch da war es schon zu spät. Die scharfe Waffe bohrte sich zwar nicht durch Nojuns Herz, aber zumindest in seinen Unterbauch, während der Hirtenmeister triumphal aufjauchzte und begann das tödliche Licht in Nojuns Körper zu pumpen. Nicht mit mir, du Drecksack, dachte ich und trat dem Mann, der meine Anwesenheit noch nicht bemerkt oder vergessen zu haben schien mit aller Wucht in die Kniekehle. Aus dem Triumphgeheul wurde ein Schmerzenslaut und ich nutzte die Gelegenheit, um ihm die Waffe zu entreißen, sie grob aus Nojuns Bauch zu ziehen und sie dem Hirten durch den Rücken bis in die Brust zu stoßen, wo ich an ihm vollendete, was der Meister bei Nojun begonnen hatte und ihn so lange mit Licht vollpumpte, bis er in einer wunderschönen Explosion aus Helligkeit und wässrigem Glasblut zerplatzte.
Eben jenes Blut strömte leider auch aus Nojun hervor, doch als ich kurzerhand ebenfalls auf die Maschine kletterte um ihm irgendwie zu helfen – auch wenn ich keinen Schimmer hatte, wie – entschied ich mich, dass das warten musste. Unsere Lage war katastrophal. Der zweite Hirtenmeister hatte zwar überraschend den Rückzug aus der Webhalle angetreten, aber Fromik lag dafür bewusstlos – oder tot – auf dem Boden. In ihm steckten noch immer die Fäden, die Kollat durch sein Fleisch getrieben hatte. Während die Sucher Ninga offenbar das Gehirn gegrillt hatten, hatten sie es bei Treva dabei belassen ihr das Augenlicht zu nehmen. Orientierungslos, wimmernd und schwer traumatisiert kroch die Rilandi auf dem Boden umher, während das heiße Glas ihrer geschmolzenen Augen auf den Boden tropfte. Franno, dem die inzwischen wieder hässlich deformierte Herreth Arme und Beine mit bloßen Händen ausgerissen hatte, schien ebenfalls noch zu leben, wenn man sein Schluchzen und Schreien als Anhaltspunkte dafür betrachtete, jedoch würde er sicher nicht mehr kämpfen können. Lediglich Ominee stemmte sich noch tapfer gegen unsere Niederlage, indem sie in ungeheurer Frequenz Schuss um Schuss aus ihrer Waffe abfeuerte und sowohl Herreth als auch die anderen Meister davon abhielt ihr zu nahezukommen. Ihr Zorn – auf die Hirten, auf mich, auf die Welt im Allgemeinen – musste gigantisch sein. Doch es war aussichtslos. Diese Rebellion und mit ihr unsere Leben würden binnen Sekunden vorbei sein. Es sei denn … ich blickte hinauf zur Decke der Halle und hob den erbeuteten Hirtenstab. Ja, dachte ich, es war Zeit ein Versprechen einzulösen und ein anderes zu brechen.

~0~

Es brauchte lediglich einen kurzen Blickwechsel zwischen Gorun und Denorra um ihnen beiden klarzumachen, dass ihnen dieselben Gedanken durch den Kopf ging. Die Suchermeisterin, die gerade noch dabei geholfen hatte Treva zu verstümmeln, ließ ihre Kollegen im Stich und schloss zu Druun auf. Die Blicke der anderen Suchermeister folgten ihr wortlos.
„Wo wollt ihr hin?“, fragte der deutlich eloquentere Gorun. „Zum Allrichter“, erklärte Druun atemlos während sie vor der Türschwelle noch einmal kurz anhielten, „ich denke du weißt warum.“
Goruns Gesichtsausdruck gab ihm die Antwort. Auch er hatte mitbekommen, was aus Herreth geworden war.
„Was ist mit den Rebellen?“, fragte er dennoch.
„Um einen besiegten Gegner in den Staub zu treten, sollten acht Füße ausreichen“, sagte Treva. Dann traten sie durch die Tür und verschwanden nach draußen.

~0~

Bereits der erste Schuss schlug so wuchtig wie ein Tanker gegen einen Eisberg, gegen die Decke der Webhalle und schuf ein breites Netz aus Rissen in dem gläsernen Gefängnis. Feine Glassplitter regneten hinab.
„Nein“, brüllte Herreth rau, „um des Lichtes willen, Nein! Haltet ihn auf!“
Ihre Stimme war bei diesen Worten so monströs und düster, dass es geradezu grotesk war.
Mir gelang ein weiterer schlecht gezielter Schuss, der die Glasbarriere an einer anderen Stelle schwächte, sie aber nicht vergrößerte. Dann gehorchten die verbliebenen Meister und beschossen mich mit einer Kaskade von Fäden, denen ich durch einen Sprung von der Maschine entging, die mich jedoch wie zielsuchende Raketen verfolgten. Ich schlug Haken, duckte mich weg, suchte Hindernisse als Deckung und wechselte die Richtung, was mir zwar dabei half, den Angriffen zu entgehen, jedoch auch verhinderte, dass ich dem Gefängnis der Scyonen einen weiteren Schlag versetzen konnte.
Glücklicherweise hatte Ominee begriffen, was ich vorhatte und gab selbst einige Schüsse auf das Glas ab, die die Risse und Sprünge weiter vertieften und verbreiterten. Ich jubilierte innerlich bei dem knackenden, knirschenden Geräusch, welches daraufhin erklang, doch meine Freude versiegte, als ich registrierte, dass Ominee Herreth‘ Aufmerksamkeit geweckt hatte. Hatte die Laarmaschk-Frau die Angriffe der Jyllen bislang noch halbwegs ignoriert, war ihr Zorn nun endgültig geweckt. Diesen Angriff wird sie nicht überstehen, realisierte ich und es gab ganz sicher in einer der Trilliarden Zeitlinien, die aus jedem einzelnen Moment entsprangen wie Äste und Zweige aus einem Baum, sehr viele, in denen ich mich einen Scheiß um Ominee geschert hätte. So wie ich erst vor wenigen Augenblicken Nojuns Leben für etwas in Gefahr gebracht hatte, was ich ihm versprochen hatte nicht zu tun. Doch in dieser war es anders.
Mit einem Hechtsprung aus dem vollen Lauf heraus, flog ich auf die Jyllen zu, schloss sie in meine Arme und schlitterte mit ihr zusammen über den von gläsernem und gewöhnlichem Blut verschmiertem Boden außerhalb von Herreth‘ Reichweite, wobei die auf dem Boden liegenden Glassplitter schmerzhaft in unsere Haut stachen.
Herreth, die ihr eigenes Bewegungsmoment nicht mehr stoppen konnte, knallte mit voller Wucht in die Wand, jedoch bohrten sich zuvor die Fäden der anderen Meister direkt in ihr Fleisch hinein. Lehmiges Blut tropfte aus ihren Wunden und sie brüllte vor Zorn, während Ominee und ich uns zunickten und unsere Waffen hoben.
„Jetzt!“, sagte sie und gemeinsam konzentrierten wir unsere Lichtgeschosse auf den größten Riss.
Die Geschosse schlugen ein, die Decke zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Knacken und die ersten der Scyonen verließen das Gefängnis in dem sie schon so lange eingesperrt gewesen waren. Ein durchdringender Geruch nach Sumpf und feuchter Erde eilte ihnen voraus.

~0~

Moydrur spürte seine Brüder, sah sie um sich wie das Versprechen einer tröstenden Umarmung, doch er konnte sie nicht erreichen. Die unselige Barriere, welche die Laarmaschk um den Zwischenraum errichtet hatten, verhinderte dies. Selbst wenn er mit all seiner verbliebenen Macht und Wildheit dagegen ankämpfte, dehnte sie sich lediglich wie eine flexible Membran, ohne jedoch zu reißen.
Seine Schwester und Brüder hingegen, konnten nicht zu ihm gelangen, da sie in der stofflichen Ebene eingesperrt waren. Frustriert und verzweifelt drehte er sich zu den nahenden Laarmaschk, die wie eine graue, lebendige Wand auf ihn zurasten. Er hatte sich auf seiner Flucht einen gewissen Vorsprung erarbeitet. Aber das brachte ihm jetzt nichts. Er war müde, kraftlos und verbraucht und wollte – konnte – nicht mehr fliehen. Selbst der Weg in Schande zurück nach Scyosch war ihm verwehrt. Wenn er schon sterben musste, dann hier, in der Nähe der anderen. Denn der wahre Schrecken war nicht der Tod, sondern die Einsamkeit.
Plötzlich hörte er – gedämpft wie durch feuchte Watte – ein Knacken, welches unglaublich laut sein musste, da er es bis hinein in den Zwischenraum vernahm. Ein Irrlicht der Hoffnung glimmte in Moydrur auf und wurde zu einem strahlenden Fehlfeuer als er sah, wie ein Teil seiner nun befreiten Geschwister die Barriere zum Zwischenraum durchbrach.
Moydrur weinte vor Freude. Und kurz darauf weinten auch die Laarmaschk, als dutzende wütender Scyonen sie mit ihren magischen Attacken eindeckten.
Die Nachahmer entschieden sich zur Flucht. Aus den Jägern wurden die Gejagten.

~0~

Mehr und mehr Scyonen brachen aus ihren Gefängnissen aus. Manchen gelang es ihre brüchig gewordenen Zellen von innen aufzubrechen, andere bekamen Hilfe von ihren Geschwistern.
Die Webhalle hatte sich inzwischen in einen regelrechten Hort des Chaos verwandelt. Der Zorn und die Rachegelüste der jahrhundertelang missbrauchten Kreaturen war regelrecht mit den Händen zu greifen und lag wie ein bitterer Geschmack auf meiner Zunge. Während einige Scyonen sofort durch Dimensionsrisse entschwanden – womöglich um ihre Heimatwelt oder den Zwischenraum aufzusuchen – entschied sich die Mehrheit von ihnen für blinde Rache.
Einige von ihnen stürzten sich dabei auf die anwesenden Meister, beschossen sie mit tödlichen Projektilen aus Eisenschilf, beißenden Säurewolken oder kleinen Schwärmen aus Doweng-Fliegen. Manche verließen die Webhalle, um ihre Rache in jeden Winkel von Uranor zu tragen. Andere wiederum tobten sich an dem Gebäude selbst aus, zersplitterten den Fußboden mit glitschigen, armdicken Schlingpflanzen, schufen Sumpflöcher im Boden und zerstörten Stühle und andere Teile der Einrichtung. Vor allem jedoch hatten diese Scyonen es auf die Webmaschine abgesehen.
„Was hast du getan, du Irrer!?“, fragte Herreth an mich gerichtet, wobei der Vorwurf des Nachahmers wirkungslos an mir abprallte. Ich ließ mich nicht zu einer Antwort herab.
„Schützt die Maschine!“, verlangte Herreth von den verbliebenen drei Meistern, während sie ihren Körper zu neuen Dimensionen der Unförmigkeit aufblies, um das wertvolle Gerät vor dem Zugriff der Scyonen zu bewahren. Anders als bei ihrem Gegenstück im Geflecht, war die Zerstörung dieser Maschine ganz und gar nicht in ihrem Sinne, „verteidigt den Kern unserer Gemeinschaft!“
Die Meister jedoch hatten genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.
Lediglich Kollat gelang es, ein schützendes Netz um die Maschine zu legen, das jedoch schnell von Dornenranken und Eisenschilfpfeilen zerschlagen wurde, die an Herreth vorbei oder durch sie hindurch auf die Maschine zuflogen. Der Rahmen, das Interface und die Leitungen bekamen einige Kratzer und Beulen, aber sie hielten. Sie machen unsere Arbeit, dachte ich. Doch vorerst blieb die Maschine unzerstörbar. Noch immer glitzerte lediglich goldenes Licht in ihr. Ich fragte mich, was aus Slizza, Ranscha und der Verbindung Zoenhir geworden war, und was wir tun sollten, wenn sie tot wären.
Für uns interessierten sich die Scyonen bislang immerhin noch nicht. Vielleicht hielten sie uns ihre Befreiung zugute, aber ich befürchtete, dass diese Tat uns lediglich etwas weiter hinten auf ihrer Todesliste rangieren ließ.
„Wir müssen dringend raus hier!“, sagte Ominee, die den gleichen Gedanken zu haben schien.
„Das ist zu riskant!“, widersprach ich, „wir müssen erst wissen, ob die Webmaschine tatsächlich zerstört wird. Das können wir nicht einfach dem Zufall und den Scyonen überlassen. Außerdem können wir die anderen nicht zurücklassen.“
„Das hätte ich auch nicht vorgehabt“, antwortete Ominee. „Also gut“, sagte sie nach kurzem Nachdenken, „wir sehen nach den Verwundeten und harren hier noch eine Weile aus. Aber sobald die Scyonen uns auf der Abschussliste haben machen wir die Biege, Ok?“
Ich nickte und setzte mich in Bewegung, um nach Nojun zu sehen, der immer noch blutend auf der Maschine lag.
„Warte!“, hielt Ominee mich auf und ich drehte mich noch einmal zu ihr um.
„Ja?“
„Danke für meine Rettung“, sagte sie, „vielleicht verschiebe ich deine Hinrichtung noch ein wenig.“
Ihrer Stimme war unmöglich zu entnehmen, inwieweit das eine ernstgemeinte Aussage und inwieweit es schwarzer Humor war.
Ihre Dankbarkeit zumindest schien echt zu sein, also lächelte ich gequält, nickte ihr zu und machte mich auf den Weg zu Nojun.

~0~

Der ehemalige Bravianer sah alles andere als gut aus. Die Blutung war nicht mehr so heftig wie am Anfang, doch noch immer tropfte gläserne Flüssigkeit aus seiner Bauchwunde. Trotzdem war er bei Bewusstsein und sah mich aus schmerzverschleierten Augen vorwurfsvoll an. „Du hast mir versprochen, die Scyonen nicht auf Uranor loszulassen!“, stöhnte er schwach, „sind deine Versprechen gar nichts wert?“
Seine Worte verletzten mich. Vor allem, weil er recht hatte. „Ich hatte keine andere Wahl gehabt“, sagte ich lahm, während ich meine Arme unter seinen schlanken Körper schob. Er war leichter, als ich erwartet hatte.
„Das ist das Mantra des Bösen“, sagte Nojun hustend.
„Dann hab ich ein besseres für dich“, erwiderte ich, „es lautet: Ich bleibe am Leben.“
„Ich bin nicht so gut im Lügen wie du“, antwortete Nojun schwach. Feuchtigkeit glänzte auf seine Stirn. Seine Augen waren blass und milchig.
„Dann sorg dafür, dass es keine Lüge wird“, antwortete ich.
„Warum sollte ich überhaupt weitermachen wollen?“, fragte Nojun, „das hier hat nicht mit dem zu tun, was ich wollte. Uranor versinkt in Dunkelheit und Chaos.“
„Das Chaos ist nicht das Ende“, sagte ich, „es ist der Anfang. Es kommt nur darauf an es zu lenken. Und darin bin ich gut.“

~0~

„Was ist mit den anderen?“, fragte ich Ominee an deren Seite lediglich die geblendete Treva stand. Auf dem Weg zu ihr hatten wir uns des Öfteren unter vorbei schwebenden Scyonen wegducken müssen, aber immerhin waren wir nicht von Herreth und den anderen Meistern aufgehalten worden. Einer der Suchermeister hatte bereits tot am Boden gelegen, zwei weitere Meister waren geflohen und die vier verbliebenen waren in erbitterte Kämpfe mit den Scyonen verwickelt. Das galt auch für Herreth, die zwar ihrerseits schon einige der Sumpfmagier niedergerungen hatte, aber auch weit davon entfernt war einen leichten Stand gegen die nach wie vor erdrückende Überzahl zu haben.
„Fromik ist tot und Franno auch“, antwortete Ominee niedergeschlagen.
„Wir wahrscheinlich auch bald“, meinte Treva, die sich wenigstens wieder etwas gefangen hatte, „den Scyonen ist nicht zu trauen, du hättest sie niemals freilassen dürfen.“
„Ihr hättet sie gar nicht erst einsperren dürfen“, konterte ich, „und wenn ich nicht getan hätte, was ich getan habe, hätte Herreth uns alle getötet.“
„Dafür wird es jetzt noch mehr Todesopfer geben“, antwortete Treva.
„Nicht ein Hundertstel von denen, die eure Kultur zu verantworten hat“, hielt ich ihr entgegen, „aber das ist nicht die passende Zeit, um zu streiten.“
„Nein“, sagte einer von drei Scyonen, die plötzlich vor uns auftauchten grinsend, „es ist die passende Zeit, um zu sterben!“

~0~

Sie werden mich überrennen, erkannte Herreth. Sie hatte schon ein halbes Dutzend der lästigen Scyonen in Stücke gerissen, die allesamt nicht ein Bruchteil der Macht besaßen, die der Scyone im Innenhof ins Feld geführt hatte. Aber es war wie bei stechenden Insekten oder kleinen Raubfischen: Allein waren sie höchstens lästig, aber in größeren Gruppen konnten sie durchaus zum Tod führen. Herreth regenerative Kräfte waren nicht unbegrenzt. Das Material, aus dem ihr Körper bestand, war zwar zäh und flexibel, aber jede Erneuerung und Umformung zehrte an seiner Substanz.
Die Fliegen und Parasiten, die ätzenden Stoffe und aggressiven Pflanzen, die ihre Feinde in sie getrieben hatten, hatten ihre Spuren hinterlassen. Um sie herum lagen unzählige kleine Lehmstücke, die nie wieder Teil ihres Körpers werden würden. Die schwächlichen Rilandi-Meister waren ihr dabei keine Hilfe. Ihre letzten Endes noch viel zerbrechlicheren Körper und ihre schwachen Offensivfähigkeiten waren den Scyonen in keinster Weise gewachsen. Sie vermutete sogar, dass die Sumpfhexer sie lediglich am Leben ließen, um sie zu quälen und zu demütigen. Nein, dachte Herreth, hier gibt es für mich nichts mehr zu gewinnen.
Einzig die Webmaschine hielt sie noch hier. Ihr Verlust in dieser Ebene wäre hinderlich für ihre Pläne und die des Geistspiegels. Ihr Gegenstück im Geflecht hingegen sollte zerstört werden. Sie hatten es so lange manipuliert und modifiziert, dass dessen Zerstörung ihnen ermöglichen würde ihre Macht auf ganz Uranor und alle abhängigen Welten auszuweiten. Das würde nicht automatisch geschehen, aber es würde ihnen ein Werkzeug an die Hand geben, um genau das zu erreichen. Dummerweise besaß auch die Geflecht-Version der Maschine eine Verbindung zum Licht und so war es den Laarmaschk als Wesen der Dunkelheit nicht möglich sie aus dem Geflecht heraus zu zerstören. Nur Besucher von außerhalb konnten das. Deshalb hatten sie diese Rebellion gebraucht.
Doch selbst, wenn es den Scyonen oder den Rebellen am Ende gelänge, die diesseitige Version der Maschine zu zerstören, war das zwar schlimm, aber nicht fatal. Die benötigte Dunkelheit war dann ein für alle Mal in diese Ebene eingesickert und konnte von ihnen nach Belieben genutzt werden. Der Rest war im Grunde nur Ingenieurskunst und Fleiß. Unter der Oberfläche Uranors warteten noch eine Menge Artefakte und Technologien darauf von ihnen geborgen zu werden. Sie würden eine Möglichkeit finden die, Maschine von neuem zu erschaffen und wenn möglich einige Rilandi oder Ungeprüfte fangen, die für sie die Drecksarbeit machen könnten.
Dafür war es aber dringend erforderlich, dass sie in diesem Kampf die Oberhand behielten. Zum Glück hatte Herreth schon eine genaue Vorstellung davon, wie das zu erreichen war. In einer beinah explosionsartigen Vorwärtsbewegung preschte sie vor, kämpfte sich durch die überraschten Scyonen und machte sich auf den Weg nach draußen.

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Es folgte keine spektakuläre Attacke. Keine Säurewolken, Fliegen oder tödliche Pflanzen. Nein, der Tod, den die Scyonen uns zugedacht hatten, war stiller, aber nicht weniger unausweichlich. „Wir haben euch befreit!“, brachte ich noch hervor, dann war meine Lunge von einem Moment auf den anderen nicht mehr dazu in der Lage Sauerstoff aufzunehmen. Auch wenn es mehr eine Ahnung war, als eine klare, körperliche Empfindung, so hatte ich doch den Eindruck, dass dicker, kalter Schlamm meine Atemwege verstopfen würde.
„Das wissen wir“, antwortete der unbekannte Scyone sanft, während ich genau wie auch Ominee, Nojun und Treva vergeblich um Atem rang, „und dafür wir sind euch dankbar. Deshalb gewähren wir euch die Gnade des Do-Rääm, des nassen Schlafs. Den Tod hingegen habt ihr dennoch verdient, denn ihr seid vom Volk unserer Unterdrücker. Gebt euch dem Unvermeidlichen hin und wandert stets sicher im Nebel.“
Nasser Schlaf, dachte ich, was für eine irreführende Bezeichnung. In Wahrheit war mein Todeskampf alles andere als friedlich. Ich versuchte zu husten, zu würgen, zu kotzen, irgendwie den unerträglichen Fremdkörper aus meiner Lunge zu bekommen, der verhinderte, dass der lebensrettende Sauerstoff in meinen Kreislauf und mein Gehirn gelangte. Ich meinte bereits zu spüren, wie mein Bewusstsein dahinschwand, wie sich mein Blut mit Kohlendioxid anreicherte und meine Gehirnzellen abstarben.
„Hört auf!“, brüllte eine Stimme, von der ich zwar gehofft, aber niemals erwartet hätte sie jetzt zu hören.
Vor meinem vom Sauerstoffmangel unscharf gewordenem Blickfeld öffnete sich ein Dimensionsspalt und ein geschwächt und müde wirkender Moydrur trat heraus.
„Warum, Annfäet?“, wollte der Scyone wissen, während ich mich fragte wie viel Zeit mir noch blieb, bis ich das Bewusstsein verlieren würde.
„Zumindest einer von ihnen war ein Weggefährte von mir und hat mir gut gedient“, erklärte Moydrur, „und ohne ihn und seine Begleiter wären wir noch immer die Haustiere der Rilandi.“
„Er ist selbst ein Rilandi!“, keifte der andere.
„Nicht wirklich“, widersprach Moydrur, „er will nur überleben. Wie wir alle. Und ich denke, wir sollten ihm diesen Wunsch gewähren.“
„Wir schulden diesen Sklavenhaltern gar nichts“, sagte eine der anderen Scyonen, die ich dem Klang ihrer Stimme nach für eine Frau hielt. Zumindest glaubte ich mich daran zu erinnern, denn zu diesem Zeitpunkt waren meine Sinne bereits sehr unzuverlässig geworden.
„Aber mir, eurem Bruder“, sagte Moydrur, „ich war in der Tat euer Annfäet, das Gefäß der Vielen. Und ich verlange, dass wir uns unserem wahren Feind stellen. Den Laarmaschk und jenen, die uns gequält und ausgenutzt haben. Lasst uns endlich nach dort draußen zu unseren Geschwistern gehen und diesen Schandfleck einer Festung aus dem Multiversum herausbrennen. Wir waren lange genug eingesperrt. Diese hier können wir ihrem eigenen Kampf überlassen. Es ist nicht unserer, aber er wird uns nützen. Sollen sie ihn führen.“
„Wie du wünschst, Annfäet“, lenkte die Scyonin ein und kurz darauf, als ich schon dachte, dass sie gleich platzen würden, waren meine Lungen wieder frei und ich sog so gierig Luft ein, dass ich mich beinah daran verschluckte. Aus dem Husten und Keuchen hinter mir folgerte ich, dass es den anderen genau so ging. Sofort begannen die verbliebenen Scyonen die Webhalle zu verlassen.
An den verkrampften Gesichtern der drei verbliebenen Rilandi-Meister erkannte ich jedoch, dass sie uns ein Abschiedsgeschenk dagelassen hatten. Bald würden wir hier keinem Gegner mehr gegenüberstehen, denn auch Herreth hatte sich verzogen. Einerseits sollte ich erleichtert darüber sein, andererseits war es bei einem Wesen wie Herreth immer besser zu wissen, wo es sich befand. Aber zumindest waren wir vorerst außer Lebensgefahr. Das hieß … „Moydrur?“, sagte ich zu dem Scyonen, der schon fast zur Tür hinaus war.
„Ja?“, sagte er.
„Ich wollte mich bedanken. Für alles“, sagte ich.
Moydrur lachte verächtlich, „Bedanke dich lieber bei dir selbst, Oberkarzon. Du hast es geschafft wieder so interessant für mich zu werden, dass mir dein Tod nicht gleichgültig wäre. Aber du willst dich nicht nur bedanken, oder? Ich erkenne es, wenn jemand etwas begehrt. Also, was ist es?“
„Kannst du Nojun heilen?“, fragte ich geradeheraus und wies mit dem Kopf auf den Rilandi, der fast nicht mehr bei Bewusstsein war.
„Das kann ich“, sagte Nojun, „ich habe viel von meiner Macht verloren, doch das Leben eines Gläsernen zu retten vermag ich noch. Gegen eine entsprechende Gegenleistung natürlich. Deine Freunde sind nicht interessant genug, um sie einfach so zu retten.“
„Was verlangst du?“, wollte ich wissen.
„Deine Dienste als Söldner in einem Kampf meiner Wahl“, erklärte Moydrur, „ich habe lang genug deine Kriege ausgefochten und deinen Zwecken gedient, Oberkarzon. Es wird Zeit, dass du einmal mir hilfst.“
„Ich würde dem nicht zustimmen!“, warnte Ominee, „er ist ein Kindermörder. Wer weiß in was für einen finsteren Konflikt er dich hineinzieht.“
„Ich kann Nojun auch nicht sterben lassen“, antwortete ich, „und wenn ihm niemand von euch helfen kann …“
„So etwas vermag nur ein Hirtenmeister, der Allrichter oder ein Lichtbad“, erklärte Treva.
Ich sah Moydrur tief in die Augen, mit der Absicht, dort ein verräterisches Blinzeln oder einen anderen Hinweis darauf zu entdecken, dass er mich in eine ganz offensichtliche Falle lockte. Doch da war nichts und ich musste zugeben, dass seine Bedingungen nicht unfair klangen. Er hatte sich bereits mehrfach für mich in Gefahr gebracht und mein Leben gerettet. Vielleicht wurde es wirklich Zeit, dafür, dass ich mich revanchierte.
„Was für ein Kampf wird das sein?“, fragte ich dennoch.
„Einer, den noch nicht einmal ich jetzt kommen sehe, aber der ganz bestimmt kommen wird. Mein Leben ist reich an Konflikten, musst du wissen“, erwiderte der Scyone.
„In Ordnung“, stimmte ich schweren Herzens zu.
„Dann ist es besiegelt“, sagte Moydrur zufrieden und machte sich an die Arbeit. Er beugte sich herab und ließ grünliches Licht von seinen Handflächen auf die tiefe Wunde des Rilandi abstrahlen. Kurz darauf schlug Nojun die Augen auf und sah uns so erfrischt an, als hätte er lediglich ausgiebig geruht.

~0~

„Allrichter?“, wunderte Slizza sich, da sie ganz bestimmt nicht damit gerechnet hatte Hilfe von Wornaara zu erwarten. Zunächst hatte sie angenommen, dass er dies lediglich getan hatte, um sie selbst bestrafen zu können, doch da das nicht geschah, wurde aus der natürlichen Ehrfurcht vor dem halb göttlichen Wesen schnell Trotz, „danke, dass ihr uns gerettet habt. Aber all dem hier muss ein Ende bereitet werden. Ihr werdet uns nicht daran hindern, die Webmaschine zu zerstören!“
„Das will ich gar nicht“, antworte Wornaaras sphärische Stimme, „ich will euch dabei helfen.“
„Was?“, fragte Slizza entgeistert.
„Ich wusste es, ihr seid auf unserer Seite, oh Großartiger!“, sagte Ranscha, die das Gespräch mitangehört hatte unter Freudentränen.
„Aber warum?“, fragte Slizza, „ihr habt unsere Revolution bekämpft, Olevan und Ominee eingekerkert und wolltet sie den Laarmaschk zum Fraß vorwerfen wie es unter eurer Herrschaft bereits mit Unzähligen passiert ist. Warum nun dieser Sinneswandel?“
Obwohl sie das Erscheinen des Allrichters und sein Verhalten verblüffte, stellte sich die Kriegerin in Slizza auch die Frage, wohin die Laarmaschk verschwunden waren. Natürlich, Wornaaras Angriff war mächtig gewesen, aber ihre Überzahl war auch erdrückend gewesen und sie hatten diese Maschine doch sicher nicht über viele Jahre in ein wucherndes Krebsgeschwür der Finsternis verwandelt, um sie dann praktisch kampflos aufzugeben. Dennoch war der Himmel über der Schlucht wie leergefegt.
„Ich war blind“, antwortete Wornaara traurig, „ich habe mich in unserer vermeintlichen Großartigkeit und Unfehlbarkeit gesuhlt und so lange ins Licht geblickt, dass ich die Schatten hinter mir nicht mehr bemerkt habe. Dieser Besuch im Geflecht hat mir das gezeigt. Ich wollte euch für eure Anmaßung bestrafen als ich hier ankam. Ich wollte euch, meine verlorenen Kinder, auslöschen oder Schlimmeres. Aber ich bin seit Jahrhunderten nicht mehr im Geflecht gewesen. Ich hatte vergessen, wie verderbt dieser Ort ist und wie finster und verkommen die Laarmaschk, falls ich es überhaupt je hatte wahrhaben wollen. Sie waren nützlich und hilfreich gewesen und deshalb habe ich mich damals auf sie eingelassen, aber sie waren niemals Freunde des Lichtes gewesen.
Mein Besuch hier und die Allgegenwart dieser Finsternis hatte mich ins Grübeln gebracht. Ins Zweifeln. Ins Fragen sogar. Ich habe mir selbst Fragen gestellt und erkannte, dass nicht alle Fragen von Übel sind. Dieses Dogma, diese Regel hatte ich nur aufgestellt, um meine eigenen Sünden zu verschleiern. Weder ich noch ihr solltet sie erkennen können. Doch nun habe ich die Schleier gelüftet und habe mich gefragt, warum ihr euch gegen mich gewendet habt und letztlich habe ich verstanden, dass es gute Gründe dafür gab.
Nun, wo ich vor diesem Monument des Verrats, vor dieser Keimzelle der Dunkelheit stehe, die die Laarmaschk nutzen, um ihre Bosheit zu verbreiten und ihre Macht auszubauen, erkenne ich die Wahrheit. Nicht ihr wart die Verräter am Licht, sondern sie und letzten Endes auch ich.“
„Eure Worte machen all die Verbrechen, die ihr zu verantworten habt, auch nicht wieder gut“, sagte Slizza streng, woraufhin sie sich von Ranscha einen tadelnden Blick einfing.
„Vielleicht nicht“, antwortete Wornaara, „aber vielleicht kann ich mit meinen Taten mehr bewirken.“
Mit diesen Worten wandte er sich der Maschine zu. Und beschoss sie mit einem einzigen, konzentrierten Lichtstrahl. Das schmierige, dunkle Gewebe und alle in ihm gefangenen löste sich auf, die letzten Röhren zerplatzten und das Licht, so wie auch die freigewordene Dunkelheit schossen in zwei gewaltigen Säulen hinauf in den grauen Himmel des Geflechts. Ranscha, Slizza und die Verbindung Zoenhir sahen staunend zu.

~0~

„Was ist passiert?“, fragte Nojun verwirrt.
„Du wurdest geheilt“, sagte ich, froh darüber, dass keine weitere Leiche eines Freundes meinen Weg pflasterte.
„Wer hat mich geheilt?“, fragte Nojun.
Ich blickte unwillkürlich zu Moydrur, aber der Scyone war verschwunden. Wahrscheinlich war das auch besser so.
„Darüber reden wir später“, sagte ich und warf dabei einen Blick auf die sterbenden Meister, um mich von dem gerade geschlossenen Pakt abzulenken. Die beiden Suchermeister waren bereits tot, aber Kollat schien noch immer am Leben zu hängen und lehnte würgend und keuchend an der Maschine.
„Hartnäckiger Bastard“, flüsterte ich zu mir selbst. Als ich ihn erreichte, präsentierte ich ihm ein sadistisches Grinsen und stellte zufrieden fest, dass in seinen Augen noch Erkennen lag.
„Eigentlich sollte ich dein Leiden beenden“, sprach ich leise in sein Ohr, „aber ich denke, du würdest die Hilfe eines Fremdgeborenen nicht wollen.“
Dann spuckte ich ihm ins Gesicht und überließ ihn seinem aussichtslosen Todeskampf. Die anderen betrachteten mich dabei nicht gerade begeistert, verzichteten aber auf einen Kommentar.
„Seht, die Webmaschine!“, rief Ominee und sowohl Nojuns, als auch mein Blick richteten sich auf das Welten-beeinflussende Gerät, in dem sich nun endlich schwarzes Licht mit goldenem mischte. Das war jedoch nicht die einzige Veränderung. Die Maschine wirkte plötzlich wie phasenverschoben, so als stünde ihr eigener Geist hinter ihr und würde versuchen ihren Platz einzunehmen. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr strengte es meine Augen an, so als würden sie Bilder erfassen müssen für deren Verarbeitung sie nicht gemacht waren. Außerdem schien sich das Anti-Om, welches ich zuletzt in der ganzen Festung immer lauter vernommen hatte, plötzlich ausschließlich auf die Maschine zu konzentrieren, ja geradewegs davon auszugehen, so als wäre sie kein futuristischer Webstuhl, sondern ein riesiger Subwoofer.
Der unangenehme Ton wurde so laut, dass er meine Schädelknochen zum Vibrieren und meine Zähne zum Klappern brachte.
Doch so beängstigend die Veränderung auch war, so sehr freute ich mich auch darüber. Endlich würde das Multiversum frei von der Beeinflussung durch die Rilandi sei und weder sie, noch die Laarmaschk würden noch einmal ihre überheblichen Finger in das Schicksal und den Glauben fremder Leute stecken können. Ich fragte mich, ob all die Religionskonflikte in meiner Heimatwelt dann auch enden würden. Wie viel davon war unsere eigene Schuld und inwieweit waren die Rilandi dafür verantwortlich? Ich hoffte, dass ich es irgendwann erfahren würde.
„Wie zerstören wir sie nun?“, fragte ich in die Runde, „einfach mit unseren Waffen drauf halten?“
„Soweit ich weiß, sollte das genügen“, erwiderte Ominee und hob ihren Hirtenstab.
„Nein!“, widersprach die blinde Treva energisch.
„Du hattest zugestimmt uns bei der Zerstörung der Maschine zu unterstützen“, erinnerte Ominee.
„Das werde ich auch“, sagte Treva, wenn auch wenig begeistert „aber es gibt eine bessere Methode dafür, als einfach alles in die Luft zu jagen. Wenn wir das tun, würde das womöglich zu noch mehr Leid und Chaos führen. Das ist meine Heimat, Nojun. Ich werde alles dafür tun, dass sie am Ende nicht vollkommen in Trümmern liegt.“
„Ich will auch nicht, dass das passiert“, stimmte ihr Nojun zu, der fasziniert auf die Maschine starrte, um die nun auch noch ein dunkles, nebelhaftes Licht pulsierte „es hat schon genug Zerstörung gegeben.“
„In Ordnung, Treva“, sagte ich, „zeig uns, wie deine Alternative aussieht.“
Treva nickte und ging langsam und unsicher auf die Maschine zu, wobei Nojun ihren Arm ergriff und darauf achtete, dass sie nirgendwo anstieß.
„Von hier aus komme ich allein klar“, sagte Treva, als sie die Maschine erreicht hatte.
„Wo sind wohl Slizza, Ranscha und die Verbindung Zoenhir?“, fragte Ominee, „da es ihnen gelungen ist, die Maschine im Geflecht zu zerstören, sollten sie doch eigentlich zu uns zurückkehren.“
„Vielleicht sind sie zusammen mit der Maschine untergegangen“, vermutete ich düster und der Gedanke, dass die zwar kriegerische, aber im Grunde gutherzige Slizza an diesem Ort verloren gegangen oder gestorben sein könnte, schmerzte. Ich hatte sie wirklich gemocht, nicht zuletzt, da sie sich oft für mich eingesetzt hatte.
„Nein, nicht Slizza!“, meinte Ominee mit belegter Stimme, „das würde ich nicht ertragen.“
Ich konnte mich nicht gegen das Bedürfnis wehren, meinen Arm um sie zu legen. Sie ließ es geschehen. Anscheinend brauchte sie gerade dringend Trost. Notfalls auch von mir.
„Was machst du da?“, fragte Ominee an Treva gerichtet, die sich vor dem Terminal positioniert hatte, mit dem die Webmaschine gesteuert wurde.
„Es gibt ein Programm, das die kontrollierte Selbstzerstörung der Maschine einleitet“, behauptete Treva, „das will ich aktivieren.“
„Ohne Augen?“, fragte Nojun skeptisch.
„Ich kenne die Menüführung in- und auswendig“, antwortete Treva, „dafür brauche ich nichts zu sehen.“
„Beeindruckend“, sagte ich und ging ein Stück auf Treva zu, um sehen zu können, was sie dort tat, „aber so eine Funktion müsste doch zumindest einen Passwortschutz haben.“
„Das kann schon sein“, sagte Treva, „aber es ist zumindest einen Versuch wert.“
Fasziniert sah ich ihr dabei zu, wie sie zielsicher ihre gläsernen Finger über das Display bewegte. Sie schien tatsächlich zu wissen, was sie da tat. Nach einiger Zeit zeichnete sich jedoch Enttäuschung in Trevas konzentrierten Gesichtszügen ab. „Verdammt!“, fluchte sie.
„Was ist?“, fragte Nojun.
„Olevan hat recht“, antwortete sie niedergeschlagen, „diese Funktion ist tatsächlich gesperrt. Ich komme nicht ran.“
„Soll ich dir helfen?“, bot sich Ominee an, „ich kenne mich selber ein wenig mit dem Terminal aus. Vielleicht hast du versehentlich das falsche Menü geöffnet. Ich könnte nachsehen, ob …“
„Schweig still!“, herrschte Treva Ominee an, „ich habe euch gesagt, dass mir das Gerät vertraut ist. Wagt es nicht meine Kompetenz infrage zu stellen.“
„Ist ja schon gut“, erwiderte Ominee beleidigt.
„Also müssen wir das jetzt auf die gute alte Art erledigen?“, folgerte ich.
Treva nickte.
„Gut“, sagte Nojun auch wenn seine Stimme wenig Begeisterung ausdrückte, „dann tretet zurück. Schauen wir mal, was passiert.“
Sobald alle weit genug von der Maschine entfernt waren, feuerten Ominee und ich fast synchron unsere Schüsse auf das Zentrum der Rilandi-Herrschaft ab und das Gerät, welches vor seiner Veränderung noch mühelos dem konstanten Beschuss der Scyonen getrotzt hatte, reagierte sofort darauf. Glas splitterte, Kabel rissen und die dunklen und hellgoldenen Energien im Inneren traten hervor, wo sie – kaum in Kontakt mit der Luft – eine Kettenreaktion aus kleine Explosionen hervorriefen, die das Gerät weiter in Mitleidenschaft zogen und sich wie eine Welle über dessen Oberfläche bewegten. Als sie das Terminal erreichten, wurde noch einmal die Hologramm-Einheit aktiv und spulte in schneller Folge bruchstückhafte Bilder von fremden Planeten ab, die fortan vergeblich auf ein Zeichen ihrer Götter warten würden. Ich hoffte, dass wir das Richtige getan hatten. Das wäre eine angenehme Abwechslung für meine Biographie.
Ominee beobachtete dies genauso fasziniert wie ich. Treva hingegen schien einen kleinen Tod zu sterben, als sie sah, wie die Maschine ihrem Ende entgegenging und auch Nojun wirkte betrübt. Offenbar machte er sich mehr Sorgen um seine neue Heimat, als ich erwartet hatte.
„Wornaaras Hand birgt jede Welt, so warm und tröstend wiegt er sie, wen kaum ein Sinn am Hoffen hält, erblüht in seiner Harmonie“, sang sie leise ein so deplatziertes wie schönes Loblied auf den Allrichter, dem all dies sicher ganz und gar nicht gefallen würde.
Schließlich endeten die kleinen Explosionen und die Webmaschine stand schwarz und ausgebrannt wie eine verkohlte Leiche vor uns. Es gab kein großes, explosives Finale, sondern lediglich ein stilles, trauriges Sterben. Wie für die meisten Lebewesen auch. Selbst das Anti-Om war wieder zu einem diffusen Hintergrundrauschen geworden.
„Das ging ja nochmal glimpflich ab“, seufzte Nojun, „Jetzt nichts wie raus hier!“
In Trevas geschmolzenen Augen glitzerte eine Träne und ich fragte mich, warum sie um Fromik nicht auf diese Weise getrauert hatte. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg und griff mit derselben Bewegung in ihren Umhang, wo ich für einen winzigen Moment etwas Metallisches aufblitzen sah, was zuvor noch nicht dort gewesen war.
„Was hast du da?“, fragte ich und der Gesichtsausdruck mit dem Treva mich daraufhin bedachte, ließ sich eigentlich nur als „ertappt“ beschreiben.
Bevor ich jedoch nachhaken konnte, ging eine heftige Erschütterung durch den Raum. Weitere Stücke der beschädigten Decke fielen herunter und selbst der Boden bekam lange, breite Risse.
„Was passiert hier?“, fragte Nojun alarmiert.
„Ich habe euch gewarnt“, sagte Treva nur.
„Raus, sofort raus!“, rief ich und die anderen ließen sich das nicht zweimal sagen.

~0~

draußen sah es jedoch kein Stück besser aus. Das „Erdbeben“, wenn man hier über den Wolken überhaupt davon sprechen konnte, beschränkte sich nicht allein auf die Webhalle, sondern setzte sich auch hier ungebrochen fort. Die Wolkenstraßen wackelten, als würden sie von einem Riesen geschüttelt und in der Ferne sah ich sogar das Recriondo zusammenbrechen.
„Das übersteigt meine schlimmsten Befürchtungen“, kommentierte Treva, „Die Himmel stürzen ein. Sie können offenbar ohne das Licht der Maschine ihre Struktur nicht bewahren.“
Sofort war meine Höhenangst zurück. Was, wenn die Wolken plötzlich ganz normale Wolken wurden und wir unkontrolliert zur Erde stürzen würden?
„Wir müssen zur Himmelstreppe!“, rief Ominee.
„Falls es die überhaupt noch gibt“, antwortete ich skeptisch.
„Das wäre ohnehin zu riskant“, sagte Nojun, „selbst, wenn sie noch steht, könnte sie auch noch zerbrechen, nachdem wir sie betreten haben. Was ist mit den Glastieren? Gibt es vielleicht doch irgendeine Möglichkeit sie zu rufen?“
„Ohne Gorweo nicht“, sagte Ominee, „mir ist jedenfalls sonst niemand bekannt, der sie auf diese Weise kontrollieren kann, selbst wenn sie hier irgendwo in der Nähe wären, was sie augenscheinlich nicht sind, oder beherrschst du dieses Kunststück, Treva?“
Treva schüttelte den Kopf.
„Was dann?“, fragte ich ratlos.
„Wir sollten besser lernen zu fliegen“, meinte Ominee.
In diesem Moment sah irgendwo in der Ferne, hoch über uns eine grelle, blendend weiße, zylinderförmige Explosion. „Die Sucherkammer!“, sagte Treva entsetzt. Dann fegte eine Schockwelle über uns hinweg, die uns beinah das Gleichgewicht verlieren ließ und ein gewaltiges, ohrenbetäubendes Krachen und Splittern erklang.
Für einen Augenblick war alles still. Dann spürte ich, wie meine Organe nach oben gezogen wurden und hielt mich – buchstäblich an den Wolken fest, während ein großer Teil von ihnen mit uns auf die Erde stürzte.

~0~

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich nichts mit dieser Rebellion zu tun habe!“, schrie die junge Weberin, die – die Arme auf den Rücken gebunden – vor Onyra auf dem Boden kniete und von zwei weiteren Hirten festgehalten wurde, „du musst mir glauben!“
„Ich glaube nur an das Licht und die Macht des Allrichters!“, antwortete Onyra, „und ich WEISS, dass alle Rebellen aus den Reihen von euch Webern kommen. Noch dazu ist eine von ihnen auch eine Freundin von dir, wie man mir berichtet hat und obendrein vom selben Volk wie du. Also gestehe, Fremdgeborene und erspare uns dieses Theater!“
„Ich habe nichts zu gestehen“, beharrte die Weberin, die auf den Namen Ninvinee hörte, „das Ominee eine Verräterin ist, habe ich nie auch nur geahnt. Ich habe dem Licht stets treu gedient!“
„Nun gut“, sagte Onyra mitleidlos, „Mein Hirtenstab wird die Wahrheit offenbaren!“
„Nein, Bitte!“, flehte Ninvinee, aber das hätte sie sich sparen können, denn ihr Flehen stieß bei Onyra auf taube Ohren. Sie hatte schon einige ganze Reihe von Webern verhört, seit sie sich hierher zurückgezogen hatten. Bislang noch ohne Ergebnis. Aber da der Allrichter noch immer nicht aus seiner Trance erwacht war, schien ihr das immer noch besser, als einfach nur still abzuwarten. Diesmal hatte sie außerdem das starke Gefühl, der Wahrheit auf der Spur zu sein.
Onyra setzte der Frau ihren Hirtenstab auf die Brust, aber kurz bevor sie zustechen konnte, schlangen sich die dünnen Tentakel, welche die Jyllen am Körper trug, um die Waffe und versuchten sie zurückzuhalten, was ihr dank der Kraft, die sie in ihrer Panik entwickelte, auch gelang.
„Zerstört diese unreinen Auswüchse ihrer minderwertigen Geburt!“, verlangte sie wütend von ihren Untergebenen, „was sich meinem Willen und damit dem Willen des Allrichters widersetzt, muss vergehen!“
„Nein!“, brüllte Ninvinee unter Tränen, „ich bin dem Allrichter treu, ich verachte meine Geburt. Ich bin keine Jyllen mehr. Ich bin nichts weiter als eine Rilandi. Eine Rilandi!“
Plötzlich erklang ein lautes Rumpeln und die Tür zur Halle der Herrschaft wölbte sich leicht nach innen.
„Sie brechen durch, Onyra“, sagte eine großgewachsene Hirtin mit langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren, „und wenn das passiert, werden wir jeden Kämpfer hier drin gebrauchen können, wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf.“
Onyra sah abwechselnd Ninvinee und die Hirten namens „Myra“ an, die für sie eine Art inoffizielle Unteroffizierin und Beraterin war, der sie großes Vertrauen entgegenbrachte.
„Macht sie los“, entschied sie schließlich, „ich verhöre sie nach dem Kampf weiter. Aber stellt sie und die anderen Weber in die erste Reihe. So können sie uns nicht in den Rücken fallen und die Verräter sterben als erste, während die Getreuen die Chance haben an vorderster Front für unsere Gemeinschaft zu streiten.“

~0~

„Was … was ist hier los?“, wunderte sich Druun, als er zusammen mit Denorra den goldenen Pfad verließ und wieder den Hof betrat, wo eine sich wie toll benehmende Meute aus Rilandi versuchte in die Halle der Herrschaft einzubrechen, wobei viele von ihnen wie die Tiere übereinander kletterten, sich gegenseitig wegstießen und stumpf mit ihren Waffen, Fäusten und Füßen auf die Tür einschlugen.
„Der Zauber des Scyonen“, erinnerte ihn Denorra krächzend, „hast du das schon vergessen?“
„Nein“, log Druun, dem dies tatsächlich entfallen war, „ich wundere mich nur, dass seine Wirkung so lange anhält. So kommen wir niemals bis zum Allrichter. Wir müssen sie irgendwie zur Vernunft bringen, aber wie? Ich könnte ihren Geist mit meinem Hirtenstab klären, aber Mitten in diesem Getümmel ist das kaum möglich und es würde auch zu viel Zeit kosten.“
„Zum Glück hast du eine Suchermeisterin an deiner Seite“, sagte Denorra, dann hob sie ihre beiden fast transparenten Hände wie einen Kelch zum Himmel empor und zog sie dann ruckartig wieder zu sich. Druun fragte sich kurz, was Denorra damit bezweckte, dann spürte er etwas Feuchtes an seiner Stirn und bald darauf ergoss sich ein sanfter, aber ergiebiger Regen aus Licht auf den gesamten Innenhof, der fast augenblicklich seine Wirkung entfaltete, als die tobenden Rilandi sich beruhigten und friedlich und entspannt in den Himmel sahen, von wo die geistige Heilung auf sie herabregnete.
„Mir war nicht bewusst, dass ihr über diese Fähigkeit verfügt“, sagte Druun erstaunt.
„Wir prahlen auch nicht damit“, sagte Denorra, „wir tun lediglich, was nötig ist, wenn es nötig ist.“
Denorra ging nun unbekümmert auf die Menge zu und Druun folgte ihr. Als sie sie erreicht hatten, hatte der heilende Regen aufgehört und der Verstand war in die Gesichter der Rilandi zurückgekehrt, die noch immer etwas verwirrt, aber respektvoll zu den beiden Meistern aufsahen und ihnen gehorsam eine Gasse bildeten. Fragen stellte keiner von ihnen. Nicht einmal die Weber. Sie schienen lediglich dankbar, vom Fluch des Scyonen befreit worden zu sein.

~0~

„Es hat aufgehört“, kommentierte Myra die abrupt einsetzende Stille.
„Sicher nur die Ruhe vor dem Sturm“, vermutete Onyra, „sie suchen gewiss nach einem neuen Weg, um ins Innere zu gelangen.“
Plötzlich klopfte es an der Tür. Es war nicht das laute Krachen eines Rammbocks, sondern das höfliche, zivilisierte Klopfen, von jemanden, der Einlass begehrte, ihn jedoch nicht erzwingen wollte.
„Wir sind es, Druun und Denorra“, erklang eine Stimme, die eindeutig nach der des Hirtenmeisters klang, „Denorra hat den Zauber des Scyonen gebrochen. Ihr könnt uns einlassen.“
„Sollen wir ihnen öffnen?“, fragte Myra.
„Nein“, sagte Onyra, „das kann ein weiterer Trick des Scyonen sein. Vielleicht sind die beiden auch unter seinen Einfluss geraten und wollen uns auf diese Weise dazu bringen sie einzulassen.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach Myra, „so komplex ist dieser Zauber nicht. Die Betroffenen haben bislang nicht gesprochen, sondern nur blind gewütet. Außerdem hatte die Kraft des Scyonen bereits deutlich nachgelassen. Habt ihr nicht bemerkt, wie erschöpft er schon vor dieser letzten Attacke gewirkt hatte? Ich glaube nicht, dass er noch in der Lage wäre, uns auf diese Weise zu täuschen.“
„Druun spricht die Wahrheit“, krächzte die Suchermeisterin von jenseits der Tür, „lasst uns herein. Wir haben wichtige Neuigkeiten für euch und für den Allrichter.“
Onyra blickte sich nachdenklich um. Die meisten Weber nickten zustimmend, was ihr gleichgültig war, jedoch schienen auch viele Hirten den Worten von Druun und Denorra zu trauen. Onyra war niemand, der sich leicht umstimmen ließ, aber in diesem Fall schien es ihr klug, eine Ausnahme zu machen.
„Öffnet die Tür“, befahl sie.

~0~

Onyra fühlte sich nicht wohl dabei die anderen Rilandi in die Halle einzulassen. Sie mochten augenscheinlich wieder bei Verstand sein, aber dennoch konnte jeder von ihnen – ganz besonders die Weber – Teil der Verschwörung gegen den Allrichter sein.
Was Druun und Denorra ihr berichtet hatten, trug noch zusätzlich dazu bei, ihre Paranoia zu nähren. Wenn nun nicht nur Rebellen, sondern auch ungehorsame Laarmaschk in ihren Reihen lauerten, war auf praktisch nichts mehr Verlass. Aber am allerschlimmsten war die Neuigkeit, dass die Webmaschine in Gefahr war.
„Ihr hättet die Maschine mit eurem Leben verteidigen müssen, statt sie den Rebellen zum Fraß vorzuwerfen“, empörte sich Onyra, „Sie ist das Zentrum unserer Gemeinschaft!“
„Dann hätte euch niemand vor dem Verrat der Laarmaschk warnen können“, verteidigte sich Druun.
„Was bringt mir das?“, erwiderte Onyra, „wenn die Webmaschine fällt ist alles andere gleichgültig!“
„Sie wird nicht fallen“, meinte Denorra, „Sie war noch intakt, als wir die Webhalle verließen. Und so wird es bleiben. Wie ihr wisst kann sie in dieser Ebene nicht so einfach zerstört werden.“
„Und wer sagt uns, dass diese Rebellen keine Agenten im Geflecht haben?“, antwortete Onyra, „die Weber Slizza, Ranscha, sowie die Verbindung Zoenhir haben das Gebet ebenfalls verlassen und waren nicht unter den Verlorenen auf der Treppe.“
„Ich bitte euch“, gab Druun zurück, „ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ein paar Verlorene an diesem Ort auch nur lange genug überleben könnten, um in Sichtweite der Maschine zu kommen.“
Für Onyra klang das alles nach Wunschdenken und Ausflüchten. Am liebsten hätte sie Druun und Denorra befohlen sofort die Webmaschine zu sichern, aber sie waren Meister wie sie, weswegen sie ihnen einen gewissen Respekt schuldete und sie nicht nach Belieben herumkommandieren konnte. Dies würde auch gegen den Geist jener Traditionen verstoßen, die Onyra so wichtig waren.
„Myra?“, rief sie ihre Beraterin.
„Ja, Onyra?“, erwiderte diese.
„Stell einen Trupp zusammen und führe ihn in die Webhalle.“
„Aber Meisterin, es würde Ewigkeiten dauern dort hochzugelangen. Außer natürlich ihr würdet uns den goldenen Pfad hinaufführen und …“
„Nein“, widersprach Onyra, „Dieser Pfad ist seit Anbeginn unserer Welt allein den Meistern und dem Allrichter vorbehalten. Ich werde dieses eherne Gesetz nicht brechen. Du hast deine Befehle. Befolge sie!“
„Wie ihr wünscht, Hirtenmeisterin!“, antwortete Myra.
Natürlich hatte Myra vollkommen recht mit ihren Einwänden, aber Onyra würde die Säulen ihrer Welt nicht einreißen, gerade dann, wenn sie ohnehin dabei war ins Wanken zu geraten. Da sie nun nichts weiter tun konnte, als abzuwarten und einem möglichen Angriff der Rebellen zu begegnen, konnte sie sich genauso gut mit Druun und Denorra besprechen.
„Dass die Gerüchte über Herreth wahr sind, betrübt mich“, versuchte Onyra den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, „ich habe sie immer für eine kompetente Webermeisterin gehalten, die ihren Laden im Griff hatte.“
„Das ist sie auch gewesen“, pflichtete ihr Druun bei, „doch jenem Ding, das ihre Gestalt angenommen hat, können wir nicht länger trauen.“
„Wem können wir überhaupt noch trauen?“, fragte Onyra, „jeder in diesem Raum könnte uns hintergehen, sei es, weil er ein Verlorener oder ein Laarmaschk ist.“
„Die Verlorenen sind unser geringstes Problem“, sagte Druun, „wir sollten uns vor allem auf die Laarmaschk konzentrieren. Sie sind wahrscheinlich nicht nur zahlreicher, sondern auch weitaus mächtiger. Vielleicht könnten wir sogar erwägen einen Waffenstillstand mit den Verlorenen zu schließen, bis die …“
„Niemals“, widersprach Onyra, „alle Verräter müssen sterben! Wenn wir faule Kompromisse machen, gerät die spirituelle Balance des gesamten Multiversums aus dem Gleichgewicht. Wir schaffen das auch ohne die Hilfe fehlgeleiteter Frevler.“
„Natürlich“, stimmte Myra zu, „aber in einem hat Druun recht: Die Laarmaschk sind gefährlicher als die Rebellen. Wir hätten ihnen nie vertrauen dürfen. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, sie zu enttarnen.“
„Es gibt eine Möglichkeit“, dröhnte eine ungeschlechtliche aber mächtige Stimme durch die Gebetshalle, „ich kann das Licht der Offenbarung einsetzen. Dieses Ritual ist kräftezehrend, aber durchführbar.“
„Allrichter, ihr seid zurück?“, fragte Onyra voller Ehrfurcht, als ihr Gesicht sich genau wie die Gesichter aller anderen Anwesenden auf Wornaara richteten. Ihre Züge entgleisten jedoch, als sie neben dem Allrichter auch Slizza, Ranscha und die Verbindung Zoenhir erblickte.
„So ist es“, antwortete der Allrichter ruhig.
„Aber was machen diese Verräter bei euch?“, wunderte sich Onyra, „hättet ihr sie nicht bestrafen sollen? Oder habt ihr sie zu diesem Zweck hierher gebracht?“
„Es sind keine Verräter, sondern Diener des Lichts“, widersprach Wornaara.
„Aber … aber sie sind geflohen … genau wie die anderen Rebellen“, stammelte Onyra, „wir dachten, sie wollten euch töten oder der Webmaschine Schaden zufügen.“
„Oh, das wollten sie“, sagte Wornaara. Auf seinem Gesicht lag ein amüsiertes Glitzern, „zumindest letzteres. Und ich habe ihnen dabei geholfen.“
Nicht nur Onyra starrte ihn mit offenem Mund an.
„Wir haben die Maschine einst im Geflecht verankert, um sie vor Angriffen zu schützen und ihre Wirkung zu verstärken. Aber die Laarmaschk haben sie zu einer Monstrosität gemacht, einem Geschwür, welches sie mit bedauernswerten Seelen und ihrer verderbten Dunkelheit gefüttert haben. Eine Tatsache, die wir zu lange ignoriert haben. Wir mussten dieses Geschwür entfernen. Wir Rilandi standen stets für das Licht und so ist es nach wie vor, aber wir haben zu viele Zugeständnisse an die Dunkelheit gemacht. Und zu oft unseren geraden Pfad verlassen. Es muss sich einiges ändern. Das Aufbegehren der Verlorenen hat mir das bewusst gemacht und dafür gebührt ihnen mein Dank!“
„Ihr klingt selbst wie ein Verlorener!“, polterte Onyra, „diese Verräter haben euren Verstand vergiftet. Ihr habt euren Glauben an unsere Sache verloren!“
„Das wagst du mir zu unterstellen?“, fragte Wornaara.
„Das und noch einiges mehr. Ihr beschmutzt unsere Traditionen und unsere Lebensweise. Wisst ihr was, ‚Allrichter‘? Ich denke, ihr seid gar nicht Wornaara. Ihr seid ein Laarmaschk oder eine andere Monströsität, die das Geflecht ausgespuckt hat, um uns irrezuleiten. Vielleicht auch eine Handpuppe der Verlorenen, mehr aber auch nicht. Ich weiß nicht, was mit dem wahren Wornaara geschehen ist, aber das werde ich noch herausfinden. Und bis dahin werde ich das einzig Richtige tun und euch den Gehorsam verweigern. Wer fest im Glauben ist, möge mir folgen.“
Nach kurzem Zögern erhoben sich tatsächlich einige der Anwesenden, vor allem aus den Reihen der Hirten. Jedoch waren es gerade einmal zwanzig Personen.
„Ihr bleibt hier!“, verlangte der Allrichter, „auch ihr müsst euch dem Ritual unterziehen!“
„Ich unterziehe mich nicht dem Urteil eines Heuchlers“, sagte Onyra, „genauso wenig wie die Aufrechten, die mir folgen. Wagt es nicht eure Hexenkunst an mir anzuwenden!“
„Ich kann euch mühelos vernichten“, drohte Wornaara während Onyra und die anderen weiter ungerührt auf den Ausgang zuschritten.
„Dann versucht es doch, Dämon!“, sagte Onyra und drehte sich noch einmal zum Allrichter um, „wir werden nicht von unserem Weg abweichen!“
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein zur Wache im Hof abgestellter männlicher Hirte stürmte aufgeregt herein. „Wir werden angegriffen!“, rief er atemlos.

~0~

Kollom schob die schwere, steinerne Marmorplatte zur Seite, die den geheimen Treppenaufgang versiegelte und kletterte nach oben. Die anderen folgten ihm nach und nach, wobei der tierhafte Autemga den Abschluss bildete. Ohne die Kraftverstärker aus seinem Manifestor, die er sich in die eigentlich recht dünnen Arme gejagt hatte, wäre es Kollom wohl nicht gelungen die Platte zu bewegen. Karmon hätte es sicherlich auch so gekonnt und auch für Autemga wäre das bestimmt ein Leichtes gewesen, aber Kollom wollte ihnen um keinen Preis den Vortritt lassen.
„Wenn ich gewusst hätte, dass hier oben niemand ist, hätte ich auch ohne Sie hier rauf kommen können“, sagte Kollom. Er ließ dabei nicht eindeutig erkennen, ob seine Äußerung scherzhaft gemeint war oder nicht. Wahrscheinlich traf beides zu einem gewissen Grad zu.
„Investitionsrisiko“, antworte Sandra trocken.
„Sie denken schon genau wie eine Deovani“, lobte Kollom lächelnd.
„Sollte das je der Fall sein“, sagte Sandra zu Karmon, „bitte ich dich hiermit darum mich zu erwürgen. Ok, Großer?“ Karmon nickte zwar schwach, aber Sandra las in seinen fremdartigen Augen auch Schmerz, fast so als gäbe es für ihn kaum etwas Schlimmeres als ihr Schaden zuzufügen. Lächerlich, dachte sie kurz darauf, dieser Mistkerl hat meinen Katalog in seiner Gewalt. Wenn ihm etwas an mir läge, würde er wohl kaum wollen, dass ich in diesem Drecksloch gefangen bleibe.
„Was genau ist das für ein Ort?“, fragte Jarma während sie die Umgebung genauer inspizierte. Sie befanden sich in etwa fünf Meter breiten Gang mit circa vier Meter hoher Decke. Jeweils zu ihrer Rechten und Linken gab es massiv erscheinende Türen aus weiß gefärbtem Metall. Die rechte Tür war mit einer Zeichnung versehen, auf der fünf unterschiedlich große, glitzernde, diamantähnliche Steine abgebildet waren. Die linke Tür besaß keine Kennzeichnung, war dafür jedoch zusätzlich mit mehreren Ketten gesichert. In den Boden war einige Meter vor ihnen eine weitere Falltür eingelassen, die jedoch nicht versteckt war, sondern sich deutlich hervorhob und die zudem mit einem sechszehnzackigen Stern markiert war.
Weiter vorne mündete der Gang in einen etwas breiteren Raum an dessen Wänden sich zu beiden Seiten mehrstöckige Käfige mit weißen Metallrahmen und Gitterstäben aus Milchglas stapelten, in denen sich gleichermaßen gläserne Wesen bewegten, deren genaue Gestalt sich von hier aus nicht bestimmen ließ.
„Die Halle der Geheimnisse“, antwortete Pingo.
„Woher weißt du das?“, fragte Sandra überrascht.
„Aus den Archiven“, antwortete Pingo.
„Warum wusstest du dann nicht von Anfang an, welcher Weg uns nach hier oben führt und was uns sonst in der Festung erwarten würde?“, hakte Sandra nach.
„Es ist … ich weiß nicht alles. Die Archive sind einfach zu groß für meinen kleinen Kopf. Aber das hier habe ich schon einmal gesehen, vor langer Zeit“, erwiderte Pingo verlegen.
„Trotzdem würde es doch Sinn machen sich über ein Gebiet, mit dem man sich ohnehin beschäftigt, auch genauer zu informieren, oder etwa nicht?“, gab Jarma zu bedenken.
„Schon“, gab Pingo zu, „aber so funktioniert das nicht. Wir recherchieren – neben unseren Fachgebieten und dem absoluten Grundwissen – nur das, was wir wissen müssen, um die Fragen unserer Besucher zu beantworten. Zwar hatten wir nach Feierabend immer noch eine halbe Stunde zur Verfügung, in denen wir nach eigenem Gutdünken in den Archiven wühlen durften, aber auch das reicht nicht einmal annähernd aus, um alles zu erfahren, was einen interessiert. Selbst die Inhaber der höchsten Ränge, die vollen, zeitlich unbegrenzten Zugang haben, wissen nur einen Bruchteil von dem, was es zu Wissen gibt.“
„Weißt du denn wenigstens, was in diesen Käfigen ist?“, fragte Sandra.
Pingo schüttelte den Kopf.
„Das zumindest lässt sich herausfinden“, sagte Karmon.
„Geringere Geschöpfe“, knurrte Autemga schnüffelnd, „schwach, gebrochen, entmutigt. Kaum eine Bedrohung. Aber vielleicht könnten sie uns stärken.“
„Auch wenn wir alle sicher großen Hunger auf das rohe Fleisch unbekannter Tierarten haben, sollten wir uns mit ihnen später beschäftigen“, wandte Kollom ein, „mich interessiert viel mehr, was hinter diesen Türen zu finden ist.“
„Könnte das womöglich mit den Edelsteinen zu tun haben, die darauf abgebildet sind“, fragte Pingo spitz.
„Vielleicht“, gab Kollom offen zu, „aber die unmarkierte Tür interessiert mich sogar noch mehr. Die wertvollsten Dinge werden oft nicht als solche gekennzeichnet.“
„Ist das hier ein Gefängnis?“, fragte Karmon an Pingo gewandt.
„Soweit ich weiß, nicht“, antwortete Pingo etwas verwirrt.
„Dann werden wir Adrian wohl auch nicht hier finden“, sagte Karmon, „und das ist letztlich das Einzige …“
„… was Sie interessiert“, beendete Kollom seinen Satz, „ja, das wissen wir inzwischen. Aber diese Türen zu öffnen, dauert sicher nicht lange und falls auch nur die geringste Chance besteht, dass ihr Freund sich doch hier befindet, wollen Sie doch sicher nicht das Risiko eingehen ihn zu verpassen, oder?“
Karmon nickte widerwillig.
„Doch wie öffnen wir die Türen?“, fragte Jarma, ich sehe nicht einmal ein Schloss oder dergleichen.
„Diesem Körper kann praktisch nichts widerstehen“, schnaubte Autemga.
„Nein!“, widersprach Karmon, „wenn wir rohe Gewalt anwenden, schrecken wir die gesamte Festung auf. Selbst, wenn hier gerade niemand ist, spüre ich trotzdem, dass wir nicht alleine sind. Geht es dir nicht auch so?“
Autemga hob seine Schnauze schnüffelnd in die Luft. „Vielleicht“, stimmte er Karmon zu, „aber ich habe keine Angst vor den Besitzern dieses Ortes. Einige mögen mächtig sein, aber das bin ich auch und es hungert mich nach neuen Erfahrungen.“
„Die wirst du früh genug machen können“, antwortete Karmon, „doch jetzt brauchen wir subtilere Lösungen.“
„Die habe ich womöglich“, sagte Kollom, machte sich an seinem Manifestor zu schaffen und zauberte ein Gerät hervor, welches an eine Mischung aus Saugnapf und einem Temperaturregler für einen übergroßen Backofen erinnerte. Eine flache Scheibe von etwa dreißig Zentimeter Durchmesser mit einer griffartigen Erhebung in der Mitte. Er setzte das Gerät auf die Tür und sofort begannen kleine Blitze über das Metall zu tanzen, die schließlich auch die Ketten umhüllten, welche hell aufglühten. Kurz gab die Tür ein leises, ächzendes Geräusch von sich. Sonst passierte jedoch nichts.
„Sehr eindrucksvoll“, kommentierte Sandra sarkastisch.
„Die Tür muss über eine besondere Sicherung verfügen“, befand Kollom, „vielleicht sollten wir es doch zunächst bei der anderen versuchen.“
Er zog das Gerät ab, welches dabei ein schmatzendes Geräusch von sich gab und ging damit zur gegenüberliegenden Tür.
„Was ist?“, fragte Jarma, der aufgefallen war, dass Pingos Blick starr auf die ferne Ausgangstür geheftet war, „hast du Angst, dass wir Besuch bekommen?“
„Ja“, nickte Pingo, „ich bin nun mal kein Krieger.“
„Ich auch nicht, Gelehrter“, sagte Jarma freundlich, „aber dafür sind hier genügend furchterregende Gestalten an unserer Seite. Wenn wir es zwischen denen aushalten, sollte uns eigentlich nichts mehr schrecken. Außerdem hast du dich in Shaktas Höhle gut geschlagen.“
„Gut geschlagen?“, erwiderte Pingo skeptisch, „ich wurde niedergetrampelt!“
„Aber du hattest den Mut, es zu versuchen“, sagte Jarma.
„Danke fürs Aufmuntern“, erwiderte Pingo aufrichtig, „aber leider bin ich zu intelligent, um mich von solchen Motivationssprüchen in Sicherheit wiegen zu lassen. Mut führt häufig genug in den Tod.“
Jarma lachte kurz auf, „ich hasse solche Sprüche auch, aber so lange man noch den Atem hat, um sich darüber lustig zu machen, haben sie durchaus einen Punkt.“
„Es funktioniert“, sagte Kollom begeistert, als die Tür plötzlich mit einem leisen Klacken einen Spalt weit aufging.
Helles Licht flutete ihnen entgegen. So hell, dass nicht nur Kollom, der über keine Lider verfügte, seine Augen mit der Hand abschirmen musste. Dennoch war der Deovani der Erste, der eintrat, gefolgt von Sandra, Jarma und Pingo, sowie Autemga und Karmon, wobei letzterer sich tief hinunterbeugen musste, um durch die Tür zu passen. Da die Decke des Raumes jedoch bedeutend höher war als sein Eingang, konnte er seinen Kopf nach dem Eintreten wieder aufrichten.
„Ich sehe überhaupt nichts“, beschwerte sich Sandra, „dieses Licht überstrahlt alles. Es ist fast schlimmer, als direkt in die Sonne zu sehen.“
„Wahrscheinlich ist es für unsere Netzhaut und unsere Sehnerven auch ähnlich schädlich“, vermutete Jarma.
„Womöglich ein zusätzlicher Schutzmechanismus“, mutmaßte Pingo, „wahrscheinlich können nur Rilandi diese Lichtintensität ertragen.“
„Das kriegen wir hin“, sagte Kollom. Er tastete mit seiner rechten Hand blind nach seinem Manifestor und öffnete ihn, während er mit der Linken weiterhin seine Augen vor dem Licht abschirmte. Es dauerte einige Momente, dann jedoch war ein schwirrendes Geräusch wie von Rotoren zu hören und kurz darauf ein mehrfaches, metallisches Klacken. Augenblicklich wurde der gesamte Raum stockdunkel.
„Darker-Drohnen“, erklärte Kollom, „sie machen Lichtquellen ausfindig und schirmen sie zuverlässig ab.“
„Auch ein Produkt Ihrer Firma?“, fragte Karmon.
„Ursprünglich nicht. Es stammt von Umbrana Enterprises, aber dieses Unternehmen haben wir schon vor Jahren geschluckt.“ Ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme mit.
„Das ist nur leider auch nicht gerade besser“, meinte Sandra, „sehen können wir so immer noch nichts.“
„Nur Geduld“, antwortete Kollom, „natürlich sind sie regelbar.“
Wieder fummelte Kollom an seinem Koffer herum und schließlich kehrte ein schwächere, angenehmere Beleuchtung in den Raum zurück und enthüllte, was sich darin befand. Ähnlich wie in dem Raum mit den eingesperrten Tieren gab es auch hier eine Reihe gut gefüllter Regal aus weißem Metall, die jedoch nicht vergittert und auch nicht von Lebewesen „bewohnt“ waren. Stattdessen gab es hier Schmuckstücke, Edelsteine, Bücher, exotische Waffen verschiedenster Bauart, kleine Maschinen und Apparate von unklarer Funktion, ungewöhnliche Talismane aus Knochen und Hölzern, Uniformen, Fläschchen mit unterschiedlichen Flüssigkeiten und kleine Kästchen aus Metall, Kunststoff, Holz, Stein und anderen Materialien.
„Das sieht hier aus wie in einer Asservatenkammer“, meinte Sandra, deren früherer Fernsehkonsum ihr diese Assoziation praktisch aufnötigte.
„Was ist eine Asservatenkammer?“, fragte Jarma.
„Ein Ort, an dem die Gesetzeshüter von Sandras Heimatwelt Gegenstände aufbewahren, deren Besitz oder Transport gegen die dortigen Gesetze verstößt“, antwortete Pingo an ihrer Stelle.
„Hey, ich kann für mich selbst sprechen“, protestierte Sandra.
„Tschuldigung“, sagte Pingo zerknirscht.
„Der Vergleich ist vielleicht gar nicht so unpassend“, meinte Jarma, „nach allem, was ich weiß, sind die Rilandi religiöse Fanatiker. Gut möglich, dass sie bestimmte Gegenstände nicht in ihrer Festung dulden, sie aber gleichzeitig für zu wertvoll halten, um sie zu vernichten.“
„Wenn das die persönlichen Gegenstände ihrer Rekruten sind, bedeutet das nicht, dass auch Adrians …“, Sandra brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie damit die anderen auf sehr gefährlich Gedanken brachte, aber wie sie kurz darauf feststellte, war es bereits zu spät für solche Überlegungen.
„Genau so ist es“, sagte Karmon und hielt Adrians Katalog demonstrativ in die Höhe, bevor er ihn in seinem Inneren verbarg.
Sandra fluchte und ihre Augen folgten seinen Bewegungen voller Begehren. Jarma hingegen hatte sich abgewandt und war voll auf jenen Bereich konzentriert, in dem die medizinischen Utensilien gelagert wurden.
„Willst du ihm seinen Katalog jetzt auch noch wegnehmen, nachdem du schon meinen gestohlen hast?“, ätzte Sandra.
Karmon schüttelte verletzt den Kopf, „Nein, im Gegenteil. Ich werde ihn ihm zurückgeben. Genau wie auch dir, wenn all dies überstanden ist. Darauf hast du mein Wort!“
„Natürlich“, sagte Sandra und brachte so viel Verachtung und Misstrauen in diesem einen Wort unter, dass Karmon zusammenzuckte.
„Wir sollten lieber mal schauen, ob wir sonst etwas Nützliches hier finden, bevor sich Kollom alles eingesteckt hat“, bemerkte Pingo und tatsächlich hatte der Deovani diverse Behälter manifestiert, in die er alle irgendwie wertvoll oder nützlich wirkenden Gegenstände praktisch mit beiden Händen hineinschaufelte.
„Hör sofort damit auf“, knurrte Karmon, „wenn überhaupt, gehört das hier uns allen!“
„Wenn kein anderslautender Vertrag geschlossen wurde, gehören nach deovanischem Recht alle diese Gegenstände demjenigen, der sie sich nimmt“, widersprach Kollom.
„Außer man nimmt ihm vorher die Hände, mit denen er sie sich nehmen könnte“, drohte Karmon.
„Soll ich diesen Mann, fressen?“, schlug Autemga vor.
„Das wäre zumindest bedenkenswert“, überlegte Karmon.
„Ich dachte, er wäre ein Teil von dir“, erinnerte ihn Pingo, der von zu zarter Natur war, um der Vorstellung eines zerfetzten Kollom etwas abgewinnen zu können.
„Dann wäre er ein noch größerer Teil“, knurrte Autemga.
„Schon gut, schon gut“, sagte Kollom entnervt, „allerdings möchte ich daran erinnern, dass es Teil unserer Abmachung war, dass Sie mir dabei helfen, einige Dinge aus dieser Festung zu holen. Davon abgesehen verfüge nur ich über die nötige Infrastruktur für den Transport.“
„Ich würde sagen ‚einige Dinge‘ hast du dir bereits gekrallt“, sagte Sandra.
„Es geht ja auch nicht darum, Ihnen Ihre Beute wegzunehmen“, versuchte es Pingo diplomatisch, „es geht lediglich darum zu schauen, was uns dabei helfen könnte Adrian zu befreien und diese Festung wieder lebend zu verlassen.“
Kollom nickte widerwillig, verstaute die bereits gefüllten Kisten in seinem Manifestor und schloss ihn.
„Eine Kristallkarrekt aus Rihn“, sagte Pingo begeistert, als er einen Blick auf eine der wenigen Waffen warf, die Kolloms Gier bislang entgangen waren und hob ein gekrümmtes, grob gearbeitetes Rohr aus Bergkristall mit einem offenbar aus Onyx gefertigten Abzug auf, „ich bin zwar nicht der beste Schütze, aber hiermit kenne ich mich einigermaßen aus.“
„Ich halte das für keine gute Idee“, warnte Kollom, „wer weiß, wie lange sie hier liegen und in welchem Zustand diese Waffen sind. Womöglich bergen sie unkalkulierbare Risiken.“
„Zum Beispiel das Risiko, dass wir dich damit verletzen können, anders als mit deinen Spielzeugpistolen“, erwiderte Sandra grinsend und griff nach einer Gräberkanone aus Konor. Als ihre Hände das raue, schwarze Metall umschlossen floss eine Träne der Rührung an ihrem Gesicht hinab.
Kollom schwieg.
„Was ist mit dir, Jarma“, fragte Sandra, während sie selig lächelnd mit dem Finger über die schwere Waffe streichelte, „willst du nicht auch eine Waffe?“
Karmon und dieses Biest fragte sie gar nicht erst.
„Jarma?“, wiederholte Sandra, nachdem die Gesunderin noch immer nicht reagierte.
„Nein“, sagte Jarma zornig, die konzentriert in einem etwa schuhkartongroßen Kästchen aus weißem Metall wühlte, „ich glaube, ich töte sie lieber mit bloßen Händen.“
„Was ist los?“, fragte Sandra.
„Ich habe das Amorphium gefunden und Shaktas DNA“, antwortete Jarma.
„Ist das nicht genau das, was du wolltest?“, fragte Pingo verwirrt.
„Schon“, sagte Jarma, „aber sie haben daran herumgepfuscht.“
„Woran erkennst du das?“, fragte Sandra.
„Es ist jeweils nicht dieselbe Menge, die sie mir gestohlen haben. Außerdem sind an dem Amorphium Schnittspuren zu erkennen. Da es bei Raumtemperatur und ohne spezielle verflüssigende Zusätze einen Feststoff bildet, lässt sich das zweifelsfrei erkennen.“
„War es nicht zu erwarten, dass sie ihre Beute auch benutzen werden?“, fragte Kollom, an dessen Gesicht sich ablesen ließ, dass er sich ärgerte diese Dinge nicht vor Jarma entdeckt zu haben. Wahrscheinlich hätte es dann noch mehr Schnittspuren an dem Amorphium gegeben, außer natürlich er hätte sich alles eingesteckt.
„Natürlich war das zu erwarten“, stimmte Jarma zu, während sie die Komponenten vorsichtig in ihre schwarze Arzttasche gleiten ließ, welche Sie vor ihrem Aufbruch aus Shaktas Höhle mitgenommen hatte, „trotzdem werde ich nicht zulassen, dass sie weiter mit meinen Forschungsergebnissen und schon gar nicht mit den Genen meiner Freundin herumexperimentieren. Und was die Waffe betrifft …“
Jarma zog ein besonders großes, glänzendes Skalpell hervor.
„… Die habe ich bereits.“
Sie betrachtete das Skalpell im gedämpften Licht des Raumes. „Ich will ihr Blut sehen“, fügte sie hinzu, „aus nächster Nähe!“
„Das ist eine Sprache, die ich gut verstehen kann, Mutter“, knurrte Autemga freudig.
Jarma sah irritiert zu Autemga als sie diese Bezeichnung hörte. Sie hatte sich nie als die Mutter dieses Wesens gesehen und hoffte sehr, dass sie die Kreatur nicht wirklich als solche betrachtete.
„Hört ihr das?“, fragte Karmon ungewohnt leise, fast flüsternd, als er ein zunächst leises, aber dann schnell lauter werdendes Klacken und Rumpeln vernahm.
„Ja“, antwortete Sandra, „jemand versucht die Tür zu öffnen. Die, die wir nicht öffnen konnten.“
Im gleichen Atemzug drückte Sandra die Tür des Raumes, in dem sie sich befanden schnell, aber möglichst geräuschlos zu.
„Was machst du da?“, fragte Autemga verärgert, aber immerhin flüsternd, was bei einem Wesen wie ihm grotesk wirkte, „so sehen wir nicht, mit wem wir uns messen können.“
„So sehen sie uns aber auch nicht“, sagte Sandra, „und das ist im Moment am wichtigsten.“
„Das ist feige“, tadelte sie Autemga.
„Trotzdem hat sie recht“, sprang ihr Karmon bei, „wir können uns keine unnötigen Scharmützel leisten.“
Die Tür sprang mit einem lauten Schleifen auf und kurz darauf erklangen die Schritte von einem, zwei, drei und schließlich immer mehr Personen.
„Das wäre mehr als nur ein kleines Scharmützel“, befand Pingo, während die Schritte nicht abrissen, „das müssen Hunderte sein.“
„Um so mehr Nahrung für mich“, schnurrte Autemga leise, jedoch konnte man selbst ihm eine gewisse Unsicherheit entnehmen. Die zufällig in Jarmas Labor entstandene Kreatur war wild, aber nicht dumm.
„Wir sollten auf keinen Fall dort rausgehen, bevor sie fort sind“, sagte Jarma, „im Gegenteil: Wir sollten darauf hoffen, dass sie uns hier drin nicht entdecken.“
„Hältst du das denn für möglich?“, fragte Pingo ängstlich.
„Im Multiversum ist alles möglich“, sagte Jarma ernst, „deshalb sollte man auch mit allem rechnen.“
Als sich daraufhin ernsthafte Angst auf Pingos Gesicht zeigte, drückte Jarma beruhigend seine Hand und hob mit der anderen ihr Skalpell. Pingo war klar, was diese Geste bedeuten sollte: Ich passe auf dich auf, Gelehrter. Pingo bedankte sich mit einem steinernen Lächeln.
„Mir wäre trotzdem wohler, wenn wir sie sehen könnten“, sagte Sandra, „es ist nie gut, seinen Feind nicht zu kennen.“
„Langsam sollte ich wirklich eine Service-Pauschale nehmen“, sagte Kollom seufzend, während er seinen Manifestor öffnete und vier kleine, graue Kunststoffwürfel herausnahm und damit auf die Tür zuging.
„Warum helfen Sie uns dann, obwohl Sie keine bekommen?“, fragte Jarma.
„Das ist eine sehr gute Frage“, erwiderte Kollom, während er sich daran machte die Quadrate an den vier Ecken der Türe zu befestigen, „die Antwort darauf ist, dass auch mein Überleben auf dem Spiel steht. Da sind gewisse Investitionen durchaus sinnvoll.“
Als Kollom den letzten Würfel angebracht hatte, spannte sich zwischen den vier Gegenständen ein Gitter aus feinen, weißen Linien auf, welches sich erst zu einer Fläche verdichtete und dann … die Tür verschwinden ließ.
„Widerlich“, sagte Sandra angeekelt als sie den Strom aus unförmigen Leibern erblickte, der sich wie ein Tausendfüßler aus der gegenüberliegenden Türöffnung schob. Diese Wesen hatten keine wirklichen Gesichter, sondern nur grob gestaltete Köpfe mit schwarzen Augenlöchern. Diese ruhten auf einem birnenförmigen Rumpf, welcher nicht in Beinen endete, sondern in einer amorphen, stets in Bewegung befindlichen Masse, auf der sich die Kreaturen wie auf Panzerketten fortbewegten.
Pingo stolperte erst ein Stück zurück, berührte dann jedoch prüfend die scheinbar leere Luft und stellte erleichtert fest, dass sich nach wie vor dickes Metall zwischen ihnen und diesen Wesen befand.
„Sie können uns nicht sehen, oder?“, fragte er, auch wenn sein Verstand die Antwort eigentlich schon wusste.
„Nein“, flüsterte Kollom.
„Was sind das für Kreaturen?“, fragte Karmon, der noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte.
„Ich weiß es nicht genau“, erwiderte Jarma eher wütend als verängstigt, „Aber ich weiß nun, was sie mit meinem Amorphium angestellt haben.“

~0~

„Die Laarmaschk!“, flutete die ungeschlechtliche Stimme des Allrichters durch den Raum, als er die lehmartigen Geschöpfe erblickte.
„Das ist unmöglich“, sagte Druun erschrocken, „wir haben ihnen niemals so viele Körper zur Verfügung gestellt.“
„Herreth und ihre Helfer müssen mehr von ihnen hergestellt haben, als uns bewusst war“, vermutete Denorra.
„Willst du dich nun immer noch von mir abwenden?“, fragte Wornaara in Onyras Richtung.
Onyra sagte nichts, dafür stürmte sie hinaus, um den anrückenden Laarmaschk zu begegnen. Das war dem Allrichter Antwort genug.
„Nun ist es an euch“, rief Wornaara den anderen Anwesenden zu, „beseitigen wir gemeinsam diese Bedrohung für das Licht. Denn bei allen Fehlern, die unsere Gemeinschaft haben mag – eine Herrschaft des Schattens wäre viel Schlimmer. Lasst sie uns mit vereinten Kräften zurückdrängen!“
„Und achtet gut auf euren Nebenmann“, sagte Slizza, doch ihre geflüsterte Warnung verhallte ungehört, während die versammelten Rilandi entschlossen aus der Halle stürmten.

~0~

Mit einigen geschickt platzierten Schüssen gelang es Onyra drei der Laarmaschk noch im ersten Ansturm auszuschalten. Dass ihr das gelang, lag vor allem daran, dass sie sich schon lange mit den fremdartigen Kreaturen beschäftigt hatte. Zwar hatte sie damals nie die Entscheidungen des Allrichters und damit auch nicht die Loyalität der Laarmaschk infrage gestellt, jedoch wollte sie von ausnahmslos jeder Kreatur wissen, wie sie zu töten war. Das hielt sie für ihre Pflicht als Hirtenmeisterin. Deshalb hatte sie einige Studien im Verborgenen durchgeführt und wusste dadurch, dass es darauf ankam die Kreaturen genau in ihrer Körpermitte zu treffen. Kurz oberhalb des Punktes, an dem bei den meisten Humanoiden der Bauchnabel lag.
Dort lag der Anker für ihr Bewusstsein und der Motor ihrer unfertigen Körper. Immer, wenn sie nicht vollständig ihre Zielgestalt übernommen hatten, konnte man sie dort verletzen. Andernfalls ließen sie sich auf dieselbe Weise töten wie ihre Zielspezies. Nur meist schwerer.
Dass sie dieses Wissen besaß, hatte sie nie jemandem verraten, denn das hätte zu unangenehmen Fragen darüber geführt, wie sie es erlangt hatte. Zum Glück lernten die Hirten in ihrem Gefolge schnell. Als sie sahen, wie die Kreaturen durch Onyras Angriffe zerplatzten und die lehmartige Substanz, aus der sie gemacht worden waren, überall verteilten, stellten sie sich ebenfalls auf diese Taktik ein. Ob die Weber, Sucher und die abtrünnigen Hirten darauf kommen würden, war ihr relativ egal. Immerhin folgten sie dem falschen Allrichter und stellten sich gemeinsam mit ihm gegen ihre Traditionen. Sollten sie dafür ruhig den verdienten Tod empfangen.
Ihre eigenen Leute jedenfalls schlugen schnell eine Schneise in die Reihen der Kreaturen, die keine Waffen besaßen, sondern sich lediglich auf ihre dehnbaren Gliedmaßen verließen, die sie wie Peitschen oder Hämmer umherwirbeln ließen.
Onyras Herz schlug schneller vor Freude. Dieser Kampf würde schon in Kürze beendet sein. Dann würde sie sich um die Rebellen und um den falschen Allrichter kümmern.
„Niemand kann dem Licht widerstehen!“, brüllte sie mit erhobenem Hirtenstab während mit jedem einzelnen Schuss lehmiger Matsch wie Blut gegen ihren Körper klatschte und blasse Schatten ihre zerstörten Gefäße verließen.
Ihre Gefolgsleute stimmten in ihren Ruf ein.

~0~

Mit Entsetzen sah Slizza dabei zu, wie immer mehr unförmige Laarmaschk aus der „Halle der Geheimnisse“ hervorströmten.
„Ich hätte nie gedacht, dass diese Revolution am Ende darauf hinausläuft Seite an Seite mit denen zu kämpfen, die wir eigentlich entmachten wollten“, sagte Slizza nachdenklich.
Ein hohes, piepsendes Geräusch zeigte, dass die Verbindung Zoenhir eine Antwort formte. Slizza drehte ihren Kopf.
„Wundere dich nicht“, sagten die Tronhiire, „Wir, die wir vom Schatten leben, kämpfen nun an einem Ort des geraubten Lichts gegen die Räuber im Schatten. Das Leben ist ein Würfel in der Hand eines Dämons.“
„Es war vorherbestimmt“, sagte nun auch Ranscha, „der Allrichter ist nicht das Monster, für das ihr ihn hieltet und sein einziger Fehler war der Pakt mit den Laarmaschk. Alles andere Schlechte, was passiert ist, resultierte allein daraus. Deshalb müssen wir diese Kreaturen vernichten. Für einen sauberen Neuanfang.“
Slizza war sich da nicht so sicher. Natürlich wollte sie die Laarmaschk ebenfalls vernichten, aber sie glaubte nicht, dass allein sie es gewesen waren, die die Rilandi auf den falschen Weg geführt hatten. Vielleicht hatten sie die Dinge schlimmer gemacht. Aber die Bevormundung anderer, die Hybris über den Glauben von Wesen bestimmen zu wollen, vor denen sie sich nie rechtfertigen mussten, die Praxis, Energie und Komfort aus blindem Vertrauen und falscher Hoffnung zu ziehen, all das war schon vor den Laarmaschk tief in der Rilandi-Kultur verankert gewesen.
Und nicht zuletzt hatten sie alle – leider lange genug auch sie selbst – schweigend oder sogar jubelnd dem Ritual der Stunde der Schwärze beigewohnt. Allen voran die Meister und der Allrichter höchstpersönlich.
Nein, dachte Slizza, Wornaara war kein gütiger Herrscher, der irgendwann der Verlockung der Dunkelheit erlag. Er war und blieb der Parasitenkönig eines Parasitenvolkes.
Doch wenn ein Raubtier mit gefletschten Zähnen vor einem stand, waren Parasiten erst einmal zweitrangig. Dann kam es vor allem darauf an, um sein Leben zu kämpfen.
Just in diesem Moment trafen die Laarmaschk auf die Reihen der Rilandi. Onyra, die mit ihren Abtrünnigen schon vorangestürmt war, konnte Slizza bereits nicht mehr ausfindig machen.
Mithilfe des Lichts, welches noch immer hell und stark auf die Festung herabschien und ihren eigenen Kräften, formte sie sich einen Speer der weit stabiler war, als jener im Geflecht. Dennoch hätte sie gerade viel für eine gewöhnliche, greifbare Waffe aus ihrer Heimatwelt gegeben.
„Eine wahre Kriegerin kämpft mit dem, was sie hat“, hörte sie ihre Kriegermutter in Gedanken rufen und rief sich innerlich zur Ordnung.
„Jammern hilft nicht, Slizza“, flüsterte sie sich selbst zu und zielte mit ihrer fast unsichtbaren Waffe auf den ersten Laarmaschk, den sie erreichen konnte. Dabei fokussierte sie sich auf seinen Kopf, da dort nun mal die meisten Wesen verwundbar waren. Der Speer glitt mühelos durch die weiche Körpermasse des Wesens, doch seine gefährlichen Arme griffen ungerührt weiter nach ihr und nur dadurch, dass Slizzas schnelle Reflexe und starke Muskeln sie mit einem Rückwärtssprung so weit nach hinten katapultierten, dass sie einen hinter ihr stehenden Rilandi fast umwarf, entging sie zumindest teilweise der Attacke.
Einer der Arme packte jedoch ihre Schulter und hielt sie ungeachtet der Tatsache fest, dass ihre improvisierte Waffe tief im Kopf der Kreatur und sogar in dessen pechschwarzen Knopfaugen steckte. Sie versuchte sich loszureißen, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen packte sie nun auch noch die andere Hand und auch ihre Versuche ihre Fäden aus dem Kopf des Laarmaschk herauszuziehen, um sich damit wenigstens etwas zu schützen, blieben insofern erfolglos, als es unerwartet mühselig war sich aus dem teigigen Fleisch zu befreien. Es war fast so, als würde der Laarmaschk ihre Fäden mit seinem durchbohrten Körper festhalten. Gleichzeitig zogen die Arme sie mit einer beeindruckenden Kraft auf sich zu und damit immer näher an den hässlichen Kopf heran. Slizza hatte zwar erst eine Speisung miterleben müssen, aber sie ahnte dennoch, worauf das hinauslief.
So weit kam es jedoch nicht, da plötzlich von beiden Seiten eine Reihe kräftiger Fäden den Arm des Wesens so gründlich durchschlugen, dass er abgetrennt wurde. Die abgeschlagenen Hände klatschten nutzlos auf den Boden. Zwar machten sie sich sofort daran zu ihrem Besitzer zurückzukehren, aber immerhin war Slizza frei und es gelang ihr sogar ihre Waffe aus dem Laarmaschk herauszuziehen.
Sie sah sich um und erkannte, dass sie ihre Rettung Ranscha und der Verbindung Zoenhir zu verdanken hatte.
„Danke!“, sagte sie knapp, während sie überlegte, wie sie dem Laarmaschk beikommen konnten, solange die Kreatur noch im wörtlichen Sinne damit beschäftigt war sich zu sammeln.
So ziemlich jedes Geschöpf verfügte über eine Schwachstelle und auch bei den Laarmaschk musste das so sein, denn wenn sie unbesiegbar wären, hätten sie die lange Täuschung der Rilandi nicht nötig gehabt. Aber wenn ihr Schwachpunkt nicht in ihr Kopf lag, wo lag er dann? In der Brust? Dort befand sich bei vielen Lebewesen das Herz, aber längst nicht bei allen und wenn sie sich diesbezüglich irrte, könnte das fatal sein.
Im Moment war dieser Laarmaschk noch der Einzige in ihrer direkten Umgebung, aber die anderen Rilandi, die sich wie sie im Kampf befanden, schienen ähnlich ratlos zu sein und einige hatten schon üble Verletzungen durch die Hand der Kreaturen erlitten. Oder Schlimmeres.
Verdammt, dachte Slizza, die Schwachstelle könnte sich praktisch überall befinden. Doch statt Verzweiflung in ihr auszulösen bescherte ihr dieser deprimierende Gedanke eine Idee.
„Netz“, rief sie den anderen beiden entgegen, „wir brauchen ein Netz!“.
Ihre Kampfgefährten verstanden sofort. Beinah synchron schossen sie ihre Energiefäden ab und verwoben sie zu einem Gitter, wobei Ranscha und die Verbindung Zoenhir die Quer- und Slizza die Längsstreben erzeugte. Dann warfen sie ihre Schöpfung gemeinsam auf ihren Gegner und zerschnitten ihn in kleine Würfel.
„Nimm das, du Wullasch!“, fluchte Slizza in ihrer Muttersprache, wobei der Fluch einen völlig unfähigen und noch dazu feigen Krieger bezeichnete.
Das sollte uns wenigstens etwas Zeit verschaffen, selbst wenn ihn das nicht tötet, dachte Slizza.
Doch ihre Taktik ging auf. Die Einzelteile des zerschnittenen Laarmaschk fielen nicht einfach nur auf den Boden, sondern zerplatzten und besudelten die drei (beziehungsweise vier, wenn man die Verbindung Zoenhir als zwei Individuen zählte) mit dessen Überresten, während sein düsterer Geist zum Himmel hinaufstieg.
„Wir müssen es den anderen mitteilen!“, rief Slizza, während sie sich die Körpersäfte des vernichteten Feindes aus den Augen wischte, „versucht die Taktik weiterzugeben!“
„In Ordnung“, sagte Ranscha ausnahmsweise ohne ihr zu widersprechen.
„Wie du wünschst“, signalisierte ihr auch die Verbindung Zoenhir.
Dann stürmten die drei in alle Richtungen davon und verbreiten neue Hoffnung.

~0~

Erfüllt von Ehrfurcht sah Denorra dabei zu, wie der Allrichter das Licht aus dem Himmel zu sich hinabzog und zu tödlichen, breiten Strahlen bündelte, die er den Laarmaschk gnadenlos entgegenwarf und ihr künstliches, lehmiges Fleisch verdampfen ließ. Einige der Kreaturen schleppten sich als verstümmelte Masse weiter, die meisten jedoch lösten sich vollständig auf.
Diese Macht, dachte Denorra verzückt, dieses wunderbare Licht! Ich tue gut daran ihm zu dienen. Ihre Feinde mochten nach wie vor in der Überzahl sein, aber sie war sich sicher, dass sie letztlich gewinnen würden. Immerhin hatten sie das Licht auf ihrer Seite.

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„Wir können nicht mehr länger warten“, hallte die gedankliche Stimme von Arvoorot, dem Geistspiegel durch Herreth Kopf, „ansonsten verlieren wir. Setzt den Plan jetzt um.“
Die Laarmaschk hatten keine egalitäre, quasi-kollektivistische Gemeinschaft wie die Scyonen oder die Tronhiire. Sie folgten vielmehr einer strikten Hierarchie unter einem einzigen, mächtigen Anführer, der als unfehlbar und unersetzbar galt. Dabei verehrten sie ihn nicht in peinlichen, kriecherischen Ritualen oder umschmeichelten ihn mit schwülstigen, unterwürfigen Komplimenten. Das verlangte Arvoorot nicht.
Alles, was er wollte, war, dass seine Befehle bedingungslos befolgt wurden und das taten seine Untergebenen zumeist. Dadurch konnte er durch sie hindurch handeln, auch wenn er selbst nicht direkt in das Geschehen eingreifen konnte. Keiner der minderwertigen Körper, die hier zur Verfügung standen hätte seinen Willen auch nur annähernd fassen können.
„Natürlich, Arvoorot“, antwortete Herreth, die sich ihren Truppen angeschlossen hatte, von denen gerade die letzten die Halle der Geheimnisse verlassen hatten.
Herreth machte es nichts aus, eine Befehlsempfängerin zu sein. Ganz besonders nicht, wenn ihr die Ausführung eines Befehls so viel Freude bereitete, wie das, was nun kommen würde. Mit geradezu feierlicher Vorfreude gab sie die Anweisungen des Geistspiegels weiter.

~0~

„Ihr seid einfach nur lächerlich!“, rief Onyra übermütig, während sie mit ihrem Hirtenstab einen weiteren Laarmaschk mit einem Lichtgeschoss vernichtete und kurz darauf ihren Stab durch den Rücken eines dritten trieb. Die ansonsten so ernste Frau war in geradezu ausgelassener Stimmung. Umso mehr, da ihr aufgefallen war, dass ihre Gegner nicht länger Verstärkung erhielten. Gut, Ronno und Hyra, die beide durchaus fähige Krieger waren, waren leider ihren Feinden zu Nahe gekommen und von den umherpeitschenden Gliedmaßen so schwer getroffen worden, dass Onyra ihren Qualen hatte ein Ende setzen müssen. Das betrübte sie, aber im Kampf für das Licht mussten manchmal Opfer gebracht werden und es gab noch immer genügend Frauen und Männer an ihrer Seite, denen sie vertrauen konnte. Sie würden gewinnen!
Plötzlich schoss ein scharfer Schmerz durch Onyras Schulter, ein grässliches Splittern drang an ihre Ohren und der Hirtenstab fiel aus ihrer kraftlosen, rechten Hand.
Trotzdem gelang es ihr sich umzudrehen und zugleich einem weiteren Angriff zu entgehen, der direkt auf ihren Kopf gezielt gewesen war.
Der Angriff stammte von Kyrah, einer Hirtin, die ihr gut vertraut war und die genauso lange Teil der Gemeinschaft der Rilandi gewesen war, wie sie. Mehr noch, sie waren am selbem Tag in der „Kammer der Blüte“ von denselben Eltern gezeugt und geboren worden. Und sie waren gemeinsam in den folgenden zehn Tagen zur vollen Reife gelangt, um fortan dem Licht dienen zu können. Also warum griff die Frau sie an? War das wieder eine Teufelei des Scyonen? Noch bevor sie die schwarzen Augen und die lehmigen Linien in Kyrah Antlitz beobachtete, welche die Laarmaschk für Sekundenbruchteile schelmisch aufblitzen ließ, erahnte sie die Antwort.
Wie hatte sie so dumm sein können anzunehmen, dass ihre Truppe allein aus Rilandi bestand?
Obwohl sie eine ausgeprägte Rechtshänderin war, versuchte sie ihren Stab mit der Linken wieder aufzunehmen, aber die falsche Kyrah trat ihn brutal weg, hob ihren eigenen Stab und zielte damit auf Onyras Brust.
„Lebewohl, Hirtenmeisterin!“, sagte sie mit einer dunklen, unweiblichen Stimme und ehe Onyra sich dagegen wehren konnte, stieß sie die Spitzen des Hirtenstabes in ihr Fleisch.
Onyra schnappte ächzend nach Luft, als die gefährlichen Spitzen nicht nur ihre harte Außenhaut, sondern auch das weichere Gewebe darunter verletzten und schließlich an ihrem Wesenskern kratzten. Ich muss das loswerden, dachte sie, noch kann ich mich heilen.
„Hirten! Helft mir!“, rief sie, während sie ihre Hände um den Stab legte und sich gegen den Laarmaschk stemmte. Aber der Griff der falschen Kyrah war zu hart und ihre Verbündeten waren in ihre eigenen Kämpfe verwickelt.
Plötzlich hörte Onyra ein lautes Husten und etwas Stinkendes, Zähes benetzte ihre Haut, während sie über sich einen Luftzug spürte. Als sie beobachtete, wie die vermeintliche Kyrah hustend und krampfend einen gräulichen von kleinen Fliegen und Schilf durchsetzten Schleim auswürgte, der wie bei einem Wasserfall ständig nachlief, zählte sie eins und eins zusammen. Sie haben die Scyonen befreit, erkannte sie entsetzt. Dennoch nutzte sie die Schwäche ihrer Gegnerin, zog deren Hirtenstab aus ihrem Bauch, heilte ihre Wunde mit einem einzigen Handschlag und schuf eine feine Fädenbarriere vor ihren Nasenlöchern, durch den sie zwar Atmen konnte, der jedoch die Sumpfsporen der Scyonen draußen halten sollte. „Weg hier!“, rief sie ihren Brüdern und Schwestern zu, „schützt eure Nasen und Münder und folgt mir. Ihr wisst wohin. Wir können diesen Kampf nicht gewinnen. Nicht heute!“
Onyra achtete nicht darauf, ob die anderen oder einer der Scyonen ihr folgte.
Es ist keine Feigheit, sagte sie zu sich selbst, nur strategische Klugheit. Doch ihre Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren hohl.

~0~

Im Innenhof war das vollkommene Durcheinander ausgebrochen. Rilandi wandten sich gegeneinander, weil manche von ihnen in Wahrheit Laarmaschk waren und manchmal sogar, weil ihre Mitstreiter sie im Kampfgetümmel fälschlicherweise dafür hielten. Die offen auftretenden Laarmaschk gaben sich nicht länger damit zufrieden ihre Gegner zu töten, sondern zogen sie vermehrt in ihre Umarmung und stahlen ihnen ihre Identität, wodurch noch mehr Verwirrung in den Reihen der echten Rilandi geschaffen wurde. Gleichzeitig schwebten oder liefen die Scyonen über das Schlachtfeld und verteilten Tod und Verderben an Rilandi wie an Laarmaschk. Lichtkugeln flogen, Energiefäden zuckten, Moorlöcher, Nebel, Irrlichter und Insekten breiteten sich überall aus und wilde Schreie hallten durch die Festung und in all dem Chaos versuchte Wornaaras imposante Gestalt der Lage Herr zu werden.
Mitten in dieses Inferno stürmten Karmon, Sandra, Pingo, Kollom, Jarma und Autemga, die sich entschlossen hatten ihr Versteck zu verlassen, nachdem das Letzte der unheimlichen Wesen aus der Halle der Geheimnisse hinausgetreten war.
„Bei den Bergen von Rihn, was ist hier los?“, fragte Pingo.
„Offenbar ist es hier mit Licht und Harmonie nicht halb so weit her, wie gedacht“, kommentierte Kollom.
„Wer kämpft hier überhaupt gegen wen?“, wunderte sich Karmon, der sich einmal mehr an den Seelenwirbel erinnert fühlte. Irgendwie schien beinah das gesamte Multiversum ein schwächeres Abbild davon zu sein. Aufstieg, Kampf, Untergang, Verrat und der ständige Wille sich zu behaupten. Natürlich gab es Inseln der Harmonie – wie etwa seine Verbindung mit Adrian – aber diese waren viel zu selten. Und flüchtig.
„Das ist schwer zu sagen. Die Rilandi erkenne ich zweifelsfrei wieder, auch wenn es viele Jahre her ist, dass sie mich bestohlen haben. Aber was sind das für Kreaturen?“, fragte Jarma und zeigte dabei auf die Sumpfmagier, die ihre gefährlichen Kräfte großzügig verteilten.
„Scyonen“, antwortete Sandra, „einige von ihnen waren damals Söldner in meiner Armee. Sie sind tödlich, Stolz und unberechenbar.“
„Denkst du, sie erinnern sich an dich?“, fragte Pingo.
„Ich hoffe nicht“, erwiderte Sandra, „falls tatsächlich jemand unter ihnen sein sollte, der damals unter mir gedient hat, könnte er mich eher in schlechter Erinnerung behalten haben. Zwar habe ich die Rechte der Söldner gegen Ende meiner Amtszeit gestärkt, aber da waren die wenigen Scyonen, die Teil des Heeres waren, bereits desertiert.
„Du warst eine Herrscherin?“, fragte Jarma.
„Ja“, sagte Sandra mit einem Stolz, der kurz darauf in Melancholie abdriftete, „aber diese Zeiten sind vorbei.“
„Meint ihr, dass sich Adrian irgendwo auf diesem Schlachtfeld aufhält?“, überlegte Karmon.
„Keine Ahnung“, sagte Sandra augenrollend, „aber es würde mich nicht wundern, wenn er dieses Chaos überhaupt erst angezettelt hätte.“
„Falls er dort nicht ist, könnten noch einige andere Orte infrage kommen“, überlegte Pingo, „diese Festung ist groß und soweit ich weiß, gibt es hier auch Gefängnisse. Vielleicht sollten wir dort mit unserer Suche beginnen, jetzt wo alle hier miteinander beschäftigt sind.“
„Ich denke eher, dass ihr Freund Teil dieses Gemetzels ist oder vielmehr war“, vermutete Kollom.
„Sehen Sie sich doch nur dieses Hauen und Stechen an. Wahrscheinlich liegt er bereits irgendwo tot auf dem Boden und wir bringen uns nur unnötig in Gefahr“, sagte Kollom, „alternativ könnte ich Ihnen allen eine befristete Festanstellung zu angemessenen Konditionen anbieten. Wenn Sie darauf eingehen, könnte ich sie alle fort von diesem unangenehmen Ort und in Sicherheit bringen.“
„Auf keinen Fall!“, protestierte Pingo.
„Netter Versuch, Deovani“, lehnte auch Jarma ab, „aber Sie kriegen weder mich noch meine Komponenten in Ihre gierigen Finger.“
„Wenn ich genügend Ihrer Knochen breche, passen Sie auch ganz ohne technisches Spielereien in diesen Koffer und wir sind ihr Geschwätz los. Das wäre mein Angebot“, antwortete Karmon finster.
„Bitte bleiben Sie zivilisiert“, sagte Kollom, „das war lediglich ein freundlich gemeinter Vorschlag. Ich wollte nur vermeiden, dass Sie sich diesem Schauspiel aussetzen müssen.“
Kollom zeigte auf einen Rilandi, der von einem Scyonen in einer Säurewolke aufgelöst wurde, welcher kurz darauf seinerseits von den langen Armen zweier Laarmaschk gepackt und einfach in der Mitte auseinandergerissen wurde.
„So viel Macht“, knurrte Autemga schwärmerisch, „ich will davon kosten.“
„Vielleicht kannst du das bald“, sagte Pingo ängstlich und zeigte auf einige Scyonen und Laarmaschk, die sie anscheinend entdeckt hatten und sich nun auf sie zubewegten, wobei ihre Neugier für den Moment über ihren Zwist gesiegt zu haben schien, „falls SIE nicht vorher von UNS kosten.“
„In jedem Fall sollten wir auf der Hut sein“, meinte Sandra, „gerade die Scyonen haben eine Menge fieser Tricks auf Lager.“
„Das stimmt“, sagte Karmon, „ich erinnere mich gut daran. Zum Glück sind auch wir nicht wehrlos. Wir werden uns um die Angreifer kümmern, aber wir sollten uns nicht zu lange mit ihnen aufhalten. Das ist nicht unser Kampf und ich glaube auch nicht, dass Adrian Teil dieses Getümmels ist. Ich spüre ihn dort nicht. Pingo, kannst du uns zu diesem Gefängnis führen?“
„Ich glaube schon“, sagte Pingo.
„Dann versuche nicht zu sterben“, sagte Karmon ernst und Pingos Gesicht schien noch mehr zu versteinern.

~0~

Was habe ich nur getan, dachte der Allrichter entsetzt, während er beobachtete, wie seine Schützlinge einer nach dem anderen von Laarmaschk übernommen oder von Scyonen zerfetzt wurden. All diese Wesen habe ich hierher gebracht.
Einst, bevor die Laarmaschk und selbst die Scyonen hierhin gekommen waren, war Uranor schwächer, aber rein gewesen. Es hatte keine großen Wunder gegeben, die bis hinein in die entlegensten Winkel des Multiversums gewirkt werden konnten, sondern lediglich kleine Denkanstöße, Visionen und Traumbotschaften in nahen Welten. Der Glaube in diesen Welten hatte sich nur langsam entwickelt. Zu langsam für seinen Geschmack, aber hätte er mehr Geduld gehabt, würde Uranor jetzt nicht vor dem Untergang stehen.
Allerdings brachte all das Grämen nichts. Er musste etwas tun. Und er wusste auch, was. Noch einmal schöpfte Wornaara mit vollen Händen aus dem Glauben, welcher von tausenden Orten und Trilliarden von Seelen in Form von Licht in Uranor kondensierte und lenkte ihn diesmal nicht in einen Angriff, sondern in einen Kreis von etwa dreißig Metern Durchmesser. Nicht mit dem Zweck zu töten, sondern zu offenbaren.
Zufrieden und zugleich betrübt beobachtete er, wie sich zumindest eine Handvoll der Rilandi, die ihn umgaben, ihrer Form entledigten und sich in die Lehmform der Laarmaschk zurückverwandelten, woraufhin er sie schweren Herzens mit seinen Lichtstrahlen tötete.
„Kommt in diesen Kreis, meine Kinder“, rief er laut, „hier drin gibt es keine Täuschung.“
Und zu seiner Erleichterung schienen die Rilandi ihn zu hören. Jeder, dem es möglich war, flüchtete sich in den Kreis aus Licht und er kam sich tatsächlich wie ein Vater vor, der seinen Nachwuchs in seinen Armen barg. Manche der Laarmaschk versuchten ebenfalls ihr Glück, wurden jedoch sofort enttarnt und von ihm oder den Rilandi gerichtet, was den Rest dazu brachte es gar nicht mehr zu versuchen.
Langsam wurde es eng in dem begrenzten Offenbarungskreis, den Wornaara geschaffen hatte, aber dennoch gelang es allen verbliebenen Rilandi darin Schutz zu suchen. Einige der rachsüchtigen Scyonen wurden nun ebenfalls auf das Refugium aufmerksam und flogen darauf zu. Die ersten von ihnen wurden von Lichtgeschossen und energetischen Fäden zurückgehalten, doch als das erste seiner Kinder röchelnd und dickflüssiges Sumpfwasser aushustend auf dem Boden zusammenbrach wurde ihm bewusst, dass dies nicht ausreichen würde. Sie waren hier drin ein zu leichtes Ziel für die Sumpfmagier.
Wornaara mobilisierte all seine Kräfte und formte den Ring zu einer Kuppel, der er neben den enttarnenden auch schützende Eigenschaften verlieh. Dafür würde er nun auf seine Angriffsfähigkeiten verzichten müssen, aber sie würden vorerst nicht notwendig sein.
Wütend und frustriert brandeten die Scyonen genauso wirkungslos gegen die Barriere an wie auch ihre Zauber und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf die Laarmaschk zu stürzen. Unsere Feinde werden sich gegenseitig vernichten, dachte er zufrieden. Wir werden einen Neuanfang ohne diese Kreaturen wagen, dachte er, und einmal mehr wird das Multiversum unter unserem Einfluss erblühen. Plötzlich vernahm er eine uralte Melodie.
„Wornaaras Hand birgt jede Welt, so warm und tröstend wiegt er sie, wen kaum ein Sinn am Hoffen hält, erblüht in seiner Harmonie“, sangen seine Kinder und Wornaara, der zutiefst gerührt war, weinte heiße, süße Tränen.

~0~

Karmon pflücke den ersten Scyonen, der in seine Reichweite kam, direkt aus der Luft und drückte ihn zu Boden, wo er ihm mit seinen schwarzen Blitzen im Handumdrehen den Garaus machte. Vor seinem Ableben schien dem Wesen jedoch noch ein Zauber gelungen zu sein, denn von einem auf den anderen Augenblick waren seine Hände bedeckt von einer scharf riechenden, grünen Substanz, bei der es sich nur um Säure handeln konnte, die jedoch offenbar keinen Schaden an ihm bewirkte. Pingo hat mir wirklich einen nützlichen Körper geschaffen, dachte Karmon, falls das hier wirklich Säure ist.
Als nun auch noch eines der Lehmwesen auf ihn zu rannte, rammte er ihm die schleimbedeckten Hände tief in dessen Leib, woraufhin dieser zu zischen und zu brodeln begann. Offensichtlich Säure, dachte Karmon.
Noch während seine Hände in dem lehmigen Fleisch steckten, fühlte er darin eine Art Energiezentrum, nach dem er instinktiv tastete und welches er mit beiden Händen zerquetschte. Sofort explodierte der Körper des Wesens mit einem hässlichen, schmatzenden Geräusch und sein Geist verflüchtigte sich.
Ein triumphaler Schrei bildete sich in Karmons Kehle, der sich bald darauf in einen verärgerten Laut verwandelte, als er spürte, wie seine Arme plötzlich mit Gewalt an seinen Körper gedrückt wurden. Er sah an sich herab und entdeckte dornige Pflanzen, die ihn wie eine Fessel umgaben. Über ihm erklang das Lachen eines weiteren Scyonen. Karmon versuchte sich zu befreien, aber die Fesseln hielten stand und schnürten sich nur noch enger. Immerhin waren seine Beine noch frei und so konnte er einem weiteren Lehmwesen knapp entgehen und es mit mehreren Schüssen aus seinem integrierten Schattenstrahler zur Strecke bringen. Dann jedoch bemerkte er, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab und weich und sumpfig wurde. Hilflos und gefesselt sank der Koloss immer weiter hinab.

~0~

„Du meintest doch, du seist kein guter Schütze“, sagte Jarma zu Pingo, der mit seiner Waffe bunte, regenbogenfarbene Kristalle auf die Scyonen und Laarmaschk abfeuerte. Obwohl seine Hand zitterte, traf er dabei überraschend häufig.
„es ist ein Stück Heimat“, antwortete Pingo schwärmerisch, „das gibt mir wohl etwas Sicherheit. Außerdem verfügt jedes Kristallkarrekt über eine teilautomatische Zielhilfe. Sie gilt deshalb auch als Gelehrtenwaffe, was aber auch nicht bedeutetet, dass man nicht auch etwas Übung bräuchte, um …“
Plötzlich griff Pingo sich an den Hals und machte ein würgendes Geräusch. Stinkender Schlamm tropfte von seinem Kinn.
„Was ist los?“, fragte Jarma ihn besorgt, doch der Steingeweihte antwortete nicht und ließ seine Waffe fallen. Seine Augen sahen flehend zu Jarma.
Das muss das Werk dieser Scyonen sein, vermutete Jarma, sie mussten etwas mit seinen Lungen angestellt haben. Jarma fragte sich, ob sie ihm irgendwie helfen konnte. Gesundheit hätte vielleicht etwas bewirkt, aber sie konnte sie Pingo unmöglich verabreichen, solange seine Kehle mit diesem magischen Moorschlamm gefüllt war. Vielleicht gab es aber auch eine andere Möglichkeit.
Sie öffnete ihre Arzttasche und kramte darin herum, als ihr ein Kribbeln in ihrem Nacken verriet, dass sie Gesellschaft hatte. Mit ihrem Skalpell in der Hand erwischte sie einen herannahenden Scyonen quer über dessen Gesicht. Das Wesen schrie auf und zog sich einige Meter zurück. Jarma vermutete, dass es bei ihr denselben Angriff versuchte, wie beim bedauernswerten Pingo, doch an ihrer ultrafeinen, hocheffizient filternden OP-Maske scheiterte. Noch bevor der Scyone etwas anderes probieren konnte, geriet er zwischen die gewaltigen Kiefer von Autemga, der ihn sich mit einem gut sechs Meter hohen Sprung mit seinem kräftigen Maul aus der Luft fischte.
„Danke!“, sagte sie zu der Mischkreatur, die genüsslich auf den dünnen Knochen des Scyonen herumkaute, um sie zu brechen und ihn dann in einem Stück verschlang. Autemga knurrte nur kurz, dann stürzte er sich auf seinen nächsten Gegner.
Jarma verlor keine Zeit, da sie wusste, dass selbst ein Steingeweihter nicht ewig mit Flüssigkeit in der Lunge überleben konnte, vor allem nicht, wenn diese Flüssigkeit womöglich toxisch war und Langzeitschäden anrichten konnte.
In der Hoffnung, dass Autemga ihr den Rücken freihalten würde, konzentrierte sie sich ganz auf ihre Berufung als Ärztin, holte ein Fläschchen Gesundheit heraus und zog eine Spritze damit auf. Sie hatte die Substanz noch nie auf diese Weise verabreicht, nicht einmal in ihrer Zeit in Hyronanin, da die orale Gabe stets effektiv genug gewesen war, sie hoffte aber, dass es ebenfalls funktionieren würde. Sie nährte sich dem Körper des hustenden und sich windenden Pingo. „Halt still. Ich helfe dir“, flüsterte sie ihm beruhigend ins Ohr und der Gelehrte beruhigte sich tatsächlich. Nun stand sie aber vor einem weiteren Problem. Die Haut des Steingeweihten war zu hart, um mit der Spritze durchzudringen.
„Verdammt!“, fluchte sie und tastete seinen Körper fieberhaft nach einer weicheren Stelle ab, als sie plötzlich von zwei starken, lehmigen Händen brutal gepackt wurde. Die Spritze kullerte auf den Boden.

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„Fühlt Sahkschas Zorn!“, rief Sandra und versuchte die finstere Tonlage nachzuahmen, die ihr die Rüstung einst verliehen hatte. Natürlich misslang das und ihr war auch bewusst, dass sie sich albern verhielt. Aber zu sehen, wie ihre Gräber sich in die Schlammwesen hineingruben und sie von innen heraus auffraßen, versetzte sie in Hochstimmung. Die Tierchen waren zwar eigentlich für die Jyllenjagd konzipiert, aber sie schienen glücklicherweise auch mit dieser Spezies vorlieb zu nehmen. Trotzdem wäre es sicher keine gute Idee den Gräbern zu Nahe zu kommen. Für den Kampf gegen die schwebenden Scyonen wäre die Waffe sicher gänzlich ungeeignet. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was ein Regen aus Gräbern mit ihrem Körper anstellen würde. Zum Glück hatte sich noch kein Scyone an ihr vergriffen.
Dafür hatte sie auch so alle Hände voll zu tun, denn obwohl sie schon einige Gegner zur Strecke gebracht hatte, kamen immer wieder welche nach, so als fänden sie Sandra viel interessanter, als ihre ursprünglichen Gegner.
„Ich könnte hier ein wenig Hilfe gebrauchen!“, rief sie Kollom zu, den sie irgendwo hinter sich vermutete. Als der Deovani nicht antwortete, drehte sie sich zu ihm um und sah, dass er wieder mal irgendeine seltsame Gerätschaft aus seinem Manifestor gezaubert hatte, an der er nun herumspielte.
„Ich hoffe, das ist eine Waffe!“, sagte Sandra genervt, während sie einige weitere Gräber auf ihre Feinde abfeuerte und dem Arm eines Laarmaschk auswich, der ihr gefährlich nahe gekommen war. Sie schoss auf ihn und machte ein paar hastige Schritte rückwärts, als ihr Gegner zerplatzte. Dennoch begann sich einer der Gräber für sie zu interessieren und stürzte blutgierig auf sie zu, doch es gelang ihr noch ihn mit ihrem Stiefel zu zertreten, bevor er sich ihn ihr Fleisch versenken konnte.
Hinter sich hörte sie ein flirrendes Geräusch und als sie sich erneut umdrehte, hatte Kollom sich und seinen Koffer in einen vertikalen Quader gehüllt, der zumindest optisch an farblosen Wackelpudding erinnerte und es sich dort mit einem verdammten, weißen Stoffsessel mit dem Logo seiner Firma gemütlich gemacht. Ein überlegenes Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Was stimmt mit dir nicht, du feiges Arschloch!?“, fragte Sandra ungläubig, „du kannst dich nicht einfach aus dem Kampf heraushalten.“
„Warum sollte ich unnötig mein Leben riskieren, wenn ich hier drin sicher bin? Wie Karmon schon so treffend sagte: Das ist nicht unser Krieg und meiner schon gar nicht. Ich kann Sie aber natürlich auch in Sicherheit bringen, wenn Sie das wünschen. Der Komfort meines Manifestors steht jedem meiner Angestellten jederzeit zur Verfügung!“
„Fick dich!“, sagte Sandra, die die Gesellschaft dieser Kreaturen der von Nanita allemal vorzog. Sie beschloss Kollom zu ignorieren und konzentrierte sich wieder auf ihre Gegner. Und darauf nicht zu sterben.

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„Ignoriert die Scyonen. Greift den Schild des Allrichters an!“, rief Herreth sowohl laut als auch gedanklich zu den anderen Laarmaschk. Der Schachzug von Wornaara hatte sie kalt erwischt. Weder sie noch ihre Spione oder deren Rilandi-Vorbilder hatten gewusst, dass es in Wornaaras Macht lag sie zu erkennen. Noch schlimmer war, dass es dem Anführer der Rilandi nicht nur gelang ihre Leute zu enttarnen, sondern dass er sie noch dazu daran hinderte ihr Vernichtungswerk an seinen Untergebenen durchzuführen.
Am Schlimmsten jedoch war, dass ihnen keine freien Körper mehr zur Verfügung standen, um auf dieser Ebene einzugreifen und ihre Verluste auszugleichen. Unzählige körperlose Laarmaschk warteten im Zwischenraum, ohne ihn verlassen zu können. Leider war es ihnen nicht möglich einen Körper zu besetzen, in dem bereits ein intakter Geist wohnte. Aber Herreth würde nicht aufgeben. Sie musste mit dem arbeiten, was sie hatte und Wornaaras Schutz war sicher nicht unüberwindbar. Jede Mauer hatte eine Schwachstelle.

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Denorra schwelgte in einem Zustand vollkommen Glücks. Der Allrichter war bei ihr und beschützte sie. Ihre Schwestern und Brüder waren bei ihr und überall war reinstes Licht, an dem sich die Kreaturen des Bösen die Zähne ausbissen.
„Was im Namen des Lichtes ist das?“, störte die panische Stimme Druuns ihre selige Trance. Wie ein hässliches Insekt, welches ein köstliches Glas frischen Lichtweins verunreinigte. Dennoch folgte sie seinem in den Himmel geneckten Finger und erstarrte, während sich ihre Freude in Asche verwandelte.

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Ominee hatten wir die Idee zu verdanken, unsere Fäden als eine Art Stoßdämpfer zu verwenden. Und wahrscheinlich waren die Fäden, die Nojun, Treva und ich kurz vor unserer Landung zu Boden schickten, auch der wesentliche Grund, warum wir den Aufprall nicht nur überlebten, sondern auch bei Bewusstsein blieben und bis auf einige blaue Flecke unverletzt blieben. Unser Untergrund mochte zwar aus Wolken bestehen, diese waren jedoch – selbst wenn sie während unseres Falls bedrohlich an Stabilität eingebüßt hatten – noch immer nicht wirklich weich und zudem hatten wir einen Sturz aus extrem großer Höhe hinter uns.
Natürlich wurden wir trotzdem ordentlich durcheinandergewirbelt, als wir schließlich am Boden aufkamen, aber jenen Scyonen und Laarmaschk, denen es nicht rechtzeitig gelungen war, den herabstürzenden Wolkensplittern zu entgehen, erging es um einiges schlimmer.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich während ich die Benommenheit aus meinem Körper schüttelte.
„Geht so“, antwortete Ominee schwach.
„Ich lebe noch“, brachte Treva ächzend hervor, „aber leider kann ich ohne Augen nicht sagen, wo wir sind oder was um uns herum geschieht. Es würde mich freuen, wenn mir da jemand nachhelfen könnte.“
„Puh“, sagte Ominee, die sich inzwischen aufgerappelt hatte, „wie beschreibe ich das. Also, die anderen Rilandi hocken wie junge Zrym auf der Stange um den Allrichter herum, umgeben von einer Kuppel aus Licht und einer Menge Laarmaschk in ihrer unausgebildeten Gestalt, die auf die Lichtkuppel zustürmen und ihrerseits von Scyonen angegriffen werden. Außerdem sind dort …“
„Karmon, Sandra und Pingo!“, rief ich und rannte so schnell es meine noch immer schmerzenden Beine erlaubten auf die lange vermissten Freunde zu. Dass ich Karmon in seinem neuen Körper erkannte, mag seltsam klingen, aber nach unserer langen, tiefen Verbindung gab es für mich keinen Zweifel.
„Die offensichtlich auch“, sagte Ominee seufzend.
„Ihr könnt ihm ruhig folgen“, sagte Treva zu Ominee und Nojun, „ich komme hier schon klar.“
„Nein“, beharrte Ominee und ergriff Trevas Hand, „Ich lasse dich nicht einfach zurück. Wir folgen ihm gemeinsam. Und wenn es länger dauert, ist es eben so.“
„Besser hätte ich es nicht ausdrücken können“, sagte Nojun und ergriff Trevas andere Hand.
„Ich habe euch Fremdgeborene wohl immer falsch eingeschätzt“, sagte Treva beschämt.
„Gut möglich“, sagte Ominee lächelnd.

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„Adrian!“, sagte Sandra, die nun wieder die Muse hatte ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da ihre Gegner sich entweder wegen des … nun … ungewöhnlichen Himmelsereignisses oder aus einem anderen Grund zurückgezogen hatten.
„Das also ist der Mann, den sie unbedingt retten wollten?“, versicherte sich Kollom.
„Das ist er“, sagte sie mit einer Mischung aus Zynismus und freudiger Belustigung, „wer sonst wäre in der Lage uns den Himmel auf den Kopf stürzen zu lassen und das auch noch zu überleben.“
„Warum rennt er dann an Ihnen vorbei?“, fragte Kollom.
„Weil dieser Typ halb wahnsinnig ist“, urteilte Sandra. Als sie jedoch ihren Blick in seine Richtung wandte und erkannte, in welcher Bedrängnis sich Pingo, Jarma und Karmon befanden, fügte sie milder hinzu, „diesmal scheint er jedoch ausnahmsweise auch einen guten Grund zu haben.“
„Wo gehen Sie hin?“, fragte Kollom, der sich immer noch nicht von der Stelle gerührt hatte, als er sah, dass auch Sandra sich in Bewegung setzte.
„Ich helfe ihm natürlich“, sagte Sandra, „wenn Adrian einmal etwas Vernünftiges tut, muss man diese Gelegenheit nutzen.“
Kollom sah ihr interessiert hinterher, während er sich einen „Thought Shot“ in den Becher goss, den er genau wie die Flasche mit dem Getränk aus seinem Manifestor geholt hatte. Sonst würde er erst einmal nichts tun. Noch nicht.

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Es ist schwer zu rekonstruieren, in was für einer Geistesverfassung ich mich zu jenem Zeitpunkt befand. In jedem Fall sorgte sie aber dafür, dass ich ohne Waffe oder besondere Fähigkeiten blindlings auf Pingo zustürmte, der hilflos röchelnd am Boden lag. Und sie sorgte außerdem dafür, dass ich die Gesunderin, die von dem Laarmaschk in die Mangel genommen wurde und vergeblich nach einer Spritze griff, nicht für eine Feindin hielt. Irgendwas an ihr erinnerte mich an Antiella, jene Gesunderin, die sich in Hyronanin auf unsere Seite gestellt hatte. Niemand war dazu verurteilt böse und egoistisch zu bleiben, wie auch jeder Altruist zu einem kompletten Schwein mutieren konnte.
Ja, zur Hölle, ich mochte keine reine Seele sein und ich fand es verdammt geil Feinde leiden zu lassen, aber ich hatte dennoch genug davon Freunde im Stich zu lassen. Erst recht, wenn sie so naiv und unschuldig waren wie der Steingeweihte, der offensichtlich gerade dabei war sein Leben auszuhauchen.
Mit einem beherzten Sprung landete ich auf dem Rücken des Laarmaschk und schlug ihn gegen seinen konturlosen Schädel, was ihn zwar nicht verletzte, mir aber immerhin seine Aufmerksamkeit sicherte. Ohne dass sich sein Kopf drehte, wandten sich seine pechschwarzen Augen mir zu, so als würden sie von einem integrierten Fließband um seinen Kopf herum transportiert. Er wollte mich, begriff ich, weit mehr als er die Gesunderin wollte. Und das musste ich ausnutzen. Bevor sich auch seine Arme mir zuwandten, sprang ich wieder ab und rannte ein kleines Stück weg, woraufhin der Laarmaschk mir tatsächlich folgte. „Kümmer dich um Pingo!“, rief ich der Gesunderin zu und hoffte inständig, dass ich sie richtig eingeschätzt hatte.

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Jarma hatte keine Ahnung, wer dieser Fremde war, aber sie war ihm sehr dankbar für ihre Rettung und mehr als bereit seine Bitte zu befolgen. Obgleich ihre Schultern noch immer vom Griff des Laarmaschk schmerzten, packte sie endlich die Spritze, betastete erneut die Haut des Steingeweihten und fand endlich eine kleine Stelle am Nackenansatz, die ihr weicher erschien, als der Rest seines Körpers. Trotzdem ertönte ein Knacken wie von berstendem Schiefer, als sie die Spritze in sein Fleisch stach und ihm die Gesundheit subkutan verabreichte. Sie hoffte, dass sein Körper wusste, was damit zu tun war.

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Da ich ahnte, dass direkte Angriffe mit meinen Fäden wenig gegen den Nachahmer würden ausrichten würden, versuchte ich etwas anderes. Ich rannte auf das Wesen zu, sprang, wobei ich die Fäden als eine Art Sprungverstärker benutzte und warf mich direkt in die Arme der Kreatur. Ich muss zugeben, dass dies aus heutiger Perspektive mehr als nur wahnsinnig klingt, aber immerhin war es etwas mit dem die Kreatur nicht gerechnet hatte und es führte dazu, dass sich ihr Schwerpunkt weit genug verlagerte, um sie zum Straucheln zu bringen.
Um zu verhindern, dass sie sich mit ihren langen Armen abstützen oder auf andere Weise ihr Gleichgewicht wiedererlangen könnte, presste ich meine Fäden mit aller Macht gegen den Boden. Mit Erfolg. Der Laarmaschk fiel wie ein gefällter Baum auf den Boden und seine Fußklumpen drehten sich vergeblich in der Luft wie vom Wind bewegte Sanddünen. Von meinem eigenen Erfolg überrascht, dachte ich fieberhaft darüber nach, wie ich seinem Leben ein Ende setzen könnte, und hatte schließlich eine Idee, die ich im Wesentlichen Kollat zu verdanken hatte. Ich zog die sechs Fäden, die ich hatte produzieren können, zurück, rammte jeweils drei von ihnen in die schwarzen Knopfaugen des Laarmaschk und zog sie heraus, bis sie nur noch an zwei dunklen, glänzenden Lehmschnüren hingen, die wohl die Entsprechungen von Sehnerven waren.
„Gute Idee“, sagte die Gesunderin, die inzwischen zu mir aufgeschlossen hatte und trennte die Augen mit einer schwungvollen Bewegung ihres Skalpells ab. Der Laarmaschk gab einen blubbernden Schrei von sich und bemühte sich, sich mit seinen Armen wieder hochzustemmen, was die Gesunderin auf ihrer Seite zu verhindern versuchte, indem sie mit dem Skalpell auf ihn einhieb, während ich die abgetrennten Augen fallen ließ und den anderen Arm der Kreatur mit meinen Fäden zu fesseln versuchte.
„Danke“, sagte ich, „aber warum bist du nicht bei Pingo?“
„Ich habe für ihn getan, was ich konnte“, sagte die Gesunderin, „der Rest liegt an ihm.“
Ich nickte und konzentrierte mich wieder darauf, die Bestie zu bändigen, aber schließlich gelang es der Kreatur trotz unserer Bemühungen sich in die Höhe zu stemmen und langsam aufzurichten. Geistesgegenwärtig rollten wir uns vom Körper des Wesens herunter und sahen uns ratlos an.
„Wie können wir das Vieh nur erledigen?“, fragte ich verzweifelt.
„Hiermit“, hörte ich Sandra hinter mir rufen, „tretet zurück. Schnell!“
Wir gehorchten und flüchteten hinter Sandras Rücken, die eine klobige Gräberkanone in der Hand hielt. Nun verstand ich, warum wir zurücktreten mussten. Allein der Anblick der Waffe löste einen ganzen Strudel von Erinnerungen in mir aus. Diese schob ich jedoch zurück und sah lieber dabei zu, wie Sandra die gefräßigen Tiere in den Leib des Laarmaschk hineinpumpte, der sich kurz darauf ungesund verformte, als die lebenden Geschosse sich vermehrten und ihn von innen heraus zu zerfressen. Als unser Gegner schließlich explodierte, traten wir alle instinktiv noch ein weiteres Stück zurück, was verhinderte, dass wir zur Beute der Gräber wurden.
„Danke, Sandra!“, sagte die Gesunderin schwer atmend.
„Schon gut“, erwiderte Sandra, „wäre zwar eigentlich deine Aufgabe den Scheiß wegzuräumen, den deine Experimente hervorgebracht haben, aber was soll‘s.“
„Da hast du wohl recht“, antwortete die Gesunderin zerknirscht. Die mir unbekannte Frau streckte mir ihre siebenfingrige Hand entgegen. „Mein Name ist Jarma“, sagte sie, „und auch dir danke ich für deine Hilfe!“
„Kein Ding“, entgegnete ich, „eigentlich habe ich mich für Pingos Rettung zu bedanken. Er ist ein Freund von mir. Mein Name ist übrigens Adrian und ich bin ein Fortgeschrittener. Oder zumindest war ich es, bis ich ein Rilandi wurde. Ihr beide kennt euch?“
Jarma sah mich verblüfft an, nickte dann aber nur. „Ja, wir kennen uns“, sagte sie, „auch wenn dieses Kennenlernen unter recht unglücklichen Umständen stattfand.“
„Wir brauchen einander ja nicht vorzustellen, oder?“, fragte mich Sandra mit einem ironischen Unterton. Die Wiedersehensfreude schien sich bei ihr in Grenzen zu halten.
„Nein“, stimmte ich zu, und versuchte die Enttäuschung über die kalte Begrüßung zu verbergen, „aber ich danke dir trotzdem für unsere Rettung. Nun müssen wir aber Karmon helfen!“
Das immerhin löste etwas mehr Enthusiasmus in Sandra aus. Immerhin hatte der Große ihren Katalog.

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Autemga war nicht sonderlich glücklich mit seiner Lage. Der Geschmack dieser gestaltwandelnden Lehmwesen, deren Körper er einfach nicht zermalmen konnte, lag wie Blei auf seiner Zunge und die fliegenden Wesen, die größtenteils vergeblich ihre Zauberkunststückchen an ihm anzuwenden versuchten, schmeckten nach Moor, Tod und Krankheit, was zwar etwas besser war, aber nicht viel besser.
Während letztere jedoch wenigstens eine anerkennenswerte Macht und Schläue besaßen, die er trotz allem gern in sich aufnahm, waren ihm die Lehmwesen zutiefst zuwider, gerade weil sie – wie er erahnte – aus einem ähnlichen Stoff erschaffen worden waren, wie er selbst. Anders als er, waren ihre Leiber nämlich unfertig und roh und boten den Geistern, die in ihnen wohnten, kaum angemessene Ausdrucksmöglichkeiten.
Wer sich dazu herabließ, in solch einem Gefäß zu wohnen, besaß weder Würde noch Stärke. Um so erniedrigender fand er es, dass es einigen von ihnen dennoch gelungen war ihn in die Enge zu treiben.
Gleich mehrere ihrer massigen Leiber hielten ihn am Boden, während einer von ihnen seinen Kopf gegen Autemgas geöffnetes Maul presste. Autemga konnte in seiner aktuellen Form nicht ihre Gedanken hören und die Wesen schienen auch nicht in der Lage zu sprechen, aber er erkannte ihre Motivation dennoch. Es war dieselbe, die ihn umtrieb. Verschlingen und wachsen.
Er spürte, wie das Schlammwesen an seiner Essenz zerrte, wie es unsichtbare Finger danach ausstreckte, um sie sich zu greifen. Doch diese Finger waren so dünn, so schwach und zerbrechlich, dass Autemga genau das tat: Er zerbrach sie, zerlegte sie in kleine, maulgerechte Stücke und nahm den Geist, des Wesens – des Laarmaschk – in sich auf, woraufhin dessen Leib vor seinen Augen zu nichts zerfiel.
Gestärkt durch diese Mahlzeit und den feinstofflichen Geruch der vertilgten Seele noch immer in der Nase, streckte er seinen Willen nach den anderen Laarmaschk aus, die ihn angegriffen hatten. Er fraß sie alle.

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„Er ist bei Bewusstsein“, sagte Jarma erleichtert, als wir Pingo erreichten, der sich bereits wieder aufgerichtet hatte und uns neugierig ansah.
„Gut“, sagte ich und nickte Pingo kurz grüßend zu, „wir kümmern uns gleich um ihn. Gerade haben wir leider keine Zeit für Wiedersehensfreude.“
„Einen Moment“, sagte Jarma und holte einige schwarze OP-Masken aus ihrer Arzttasche und drückte sie mir in die Hand, „die werdet ihr brauchen, falls ihr nicht Pingos Qualen teilen wollt. Ich gebe ihm auch noch eine und stoße dann sofort zu euch.“
„In Ordnung“, sagte ich atemlos, reichte eine Maske an Sandra weiter und fummelte mir meine noch im Lauf über das Gesicht. Das Atmen fiel mir nun etwas schwerer und von der Maske ging ein leicht pilziger Geruch aus, aber es war wohl allemal besser, als qualvoll zu ersticken.

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„Wir müssen keine Gegner sein“, sagte Karmon, der schon fast zur Brust im Boden steckte, verzweifelt zu den ihn umgebenden Scyonen, „ich habe einst mit einigen von euch Seite an Seite gekämpft. Einer von ihnen hieß Moydrur. Wir waren Verbündete und können es wieder sein.“
„Moydrur ist nicht hier und ich kenne dich nicht“, sagte der Scyone, der direkt über ihm schwebte und der Einzige von ihnen war, der sich noch in Karmons Nähe befand. Leider reichte das vollkommen aus, „und selbst wenn ich dir glauben würde: Nachdem ich jahrhundertelang der Sklave von euch Rilandi war, habe ich keine Lust mehr mich zurückzuhalten. Jetzt zählen endlich unsere Bedürfnisse und was wir wollen, ist Rache.“
„Ich bin kein Rilandi“, protestierte Karmon, „ich trage keine Schuld an dem, was euch passiert ist.“
„Um so besser“, sagte der Scyone mit einem mitleidlosen Grinsen, „dann stirbst du als Unschuldiger. Das ist die reinste Form des Todes.“
Mit diesen Worten sandte er einen Schwarm von Fliegen gegen Karmon aus. Die kleinen, aggressiven Insekten krochen kurzerhand auf die Waffenöffnung in seiner Brust zu. Es gelang ihm, einige von ihnen mit Schattenstrahlen zu vernichten, aber schließlich spürte er, dass manche dennoch in den Hohlraum in seinem Inneren vordrangen. Karmon verfiel in Panik. Er wand sich, strampelte und versuchte seine Hände zu befreien, doch der sumpfige Untergrund hielt ihn erbarmungslos fest.
Das ist das Ende, dachte er, hier sterbe ich so wie ich geboren wurde. Auf mich gestellt und umgeben von Feinden. Die Gesichter von Adrian und Sandra erschienen vor Karmons innerem Auge, während er förmlich spürte, wie sich die kleinen Insekten auf die Suche nach seinem Herz machten.
„Finger weg von meinem Freund, Sumpfkröte!“, hörte er plötzlich die Stimme Adrians, der sich vor Karmon warf und irgendetwas mit dem Scyonen anstellte, in dessen Körper sich plötzlich sechs kleine, blutende Löcher auftaten.
Der Scyone schrie auf, wirkte aber nur noch zorniger, „Ich werde dich zerreißen, Mensch!“, drohte der Magier und feuerte eine Ladung angespitzten Eisenschilfs auf mich ab, der ich nur teilweise ausweichen konnte. Drei der Geschosse streiften und zwei durchschlugen meinen linken Arm.
„Das kann ich besser“, sagte Sandra wütend und zielte mit ihrer Gräberkanone auf den Scyonen.
„Halt!“, rief die heranstürmende Ominee, „Du brauchst keine Gräber einzusetzen!“
Sandra war nicht der Typ, der sich von anderen gern etwas befehlen ließ, aber Ominees Warnung brachte sie lange genug zum Zögern, um der Jyllen Gelegenheit zu geben, eine ganze Salve von Lichtkugeln auf den Sumpfmagier abzufeuern. Zwar tötete sie ihn auch damit nicht, aber dem Scyonen wurde es anscheinend zu bunt. Er rief eine Dimensionsspalte herbei und zog sich in den Zwischenraum zurück.
Sofort stürmte ich zu Karmon, der schon fast vollständig im Schlamm versunken war.
„Hallo, Grong-Shin“, sagte ich lächelnd, auch wenn mich sein Zustand betrübte, „einen schönen Körper hast du da. Ist er neu oder geborgt?.
„Hallo, Adrian“, erwiderte Karmon melancholisch, „Diese Hülle hat mir Pingos Stein beschert. Sie gehört zuvor niemandem, da sie nicht existierte. Doch schon bald wird sie mir nichts mehr nützen. Trotzdem ist es schön, dich vor meinem Ende noch zu sehen.“
„Hier endet niemand und du schon gar nicht“, widersprach ich und blickte zu den anderen, „helft mir, ihn rauszuziehen!“
„Das würde nichts bringen“, erwiderte Karmon, „Der Tod, er ist bereits in mir.“
Wie um seine Worte zu unterstreichen wühlten sich auf der Höhe seiner Brust einige kleine schwarze Insekten aus dem Schlamm hervor, um kurz darauf wieder dort zu verschwinden.
„Doweng-Fliegen“, erkannte Jarma, die inzwischen ebenfalls eingetroffen war und sich ihrem Heilerinstinkt folgend sofort vor Karmon hingekniet hatte, „das kriegen wir hin. Aber es muss schnell gehen. Zieht ihn raus, ansonsten komme ich nicht an sie ran.“
„Du kannst ihm helfen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„Ja. Aber nur wenn wir keine Zeit mehr verschwenden“, antwortete Jarma ungeduldig und machte sich einmal mehr an ihrer Arzttasche zu schaffen.
Ominee, Sandra, Treva und ich versuchten gemeinsam Karmon aus dem verflüssigten Boden hervorzuziehen, indem wir uns unter seinen Achseln einhakten, doch das unnatürliche Moor erwies sich entweder als zäher und klebriger, als erwartet oder das Gewicht des Kwang Grong war schlicht zu groß. Zwar gelang es uns Karmon ein kleines Stück zu bewegen, aber nur Momente darauf, begann er wieder zu versinken.
„Wir schaffen es nicht!“, fluchte Sandra ächzend.
„Lasst es gut sein“, sagte Karmon schmerzerfüllt, „sie haben mein Herz ohnehin gefunden. Ich kann bereits fühlen, wie sie daran reißen. Adrian, Sandra. Eure Kataloge sind beide in meiner Brust verborgen. Wenn ich tot bin, könnt ihr meinen Körper zerstören und sie bergen.“
„So ein Schwachsinn“, widersprach ich, auch wenn mich das Wissen um die Nähe der Kataloge förmlich berauschte. Es war wie bei einem Entzug. Solange die Droge nicht in Reichweite war, hatte man keine andere Wahl als sich damit abzufinden. Doch wenn sie direkt vor einem lag …“
Nein, rief ich mich zur Ordnung. Karmon ist mein Freund. Sandra hingegen sah durchaus aufgeschlossen für seinen Vorschlag aus.
„Ich kann helfen“, rief Pingo hustend.
„Du solltest dich ausruhen“, protestierte Jarma streng, während sie eine kleine runde Metalldose aus ihrer Tasche zog.
„Später“, antwortete Pingo und positionierte sich bei Karmon.
Erneut unternahmen wir einen Versuch Karmon aus seinem schlammigen Gefängnis zu befreien. Doch trotz Pingos ehrlicher Bemühungen schafften wir es auch diesmal nicht den Riesen hochzuheben. Ein zittriger Schmerzensschrei löste sich aus Karmons Kehle und traf mich direkt ins Mark, während ich über mir eine Bewegung wahrnahm. Erst ging ich von der erneuten Attacke eines Scyonen aus, aber dann erblickte ich stattdessen eine silberne Flugdrohne, die eine Art metallenes Gerüst hinabließ.
„Sie können loslassen. Sie behindern nur seine Bergung“, erklang eine mir unbekannte männliche Stimme.
Ich und die anderen gehorchten und sobald wir losgelassen hatten, passte sich das Metallgerüst praktisch automatisch an Karmons Körperform an und zog ihn mit einem herzhaften Ruck aus dem Boden.
„Kollom“, sagte Sandra, „was zur Hölle machst du hier?“
„Helfen“, sagte der Mann, dessen lidlose, runde Augen ihm etwas äußerst bizarres gaben, „die Schlacht zu beobachten hat mich gelangweilt. Zumindest, bis der Himmel herunterfiel. Das war durchaus bemerkenswert.“
„Idiot!“, sagte Sandra und schüttelte den Kopf.
„Gut!“, sagte Jarma, als Karmon sich wieder auf festem Untergrund befand, „schnell, befreit ihm vom Schlamm. Das wird helfen.“
Ich begann mit beiden Händen den Schlamm aus Karmons Brust herauszuholen, während Jarma den Deckel ihrer Dose abschraubte und sich sofort ein scharfer, pfefferiger Geruch verbreitete.
„Was ist das?“, fragte Ominee würgend.
„Pheromone von Doweng-Fliegen“, erklärte Jarma, „denen können sie nicht widerstehen.“
Tatsächlich wühlten sich die Fliegen sofort aus dem restlichen Moorwasser in Karmons Brust hervor und bewegten sich auf die Dose und das darin enthaltene Sekret zu, wo sie aufgeregt daran zu schnüffeln begannen.
„Spürst du sie noch in dir?“, fragte Jarma, als die scheinbar letzte Fliege in der Dose gelandet war.
„Nein“, sagte Karmon schwach, aber glücklicherweise noch lebendig.
„Gut“, sagte Jarma und verschloss die Dose.
„Danke für meine Rettung!“, sagte Karmon zu Jarma, aber auch zu Kollom, „ich denke, ich schulde ihnen beiden was.“
„Oh das denke ich auch“, sagte Kollom schleimig und zugleich Bierernst, was ihn mir sofort unsympathisch machte, „aber darüber reden wir später.“
„Mir schulden Sie gar nichts“, sagte Jarma, „es fühlt sich gut an, zur Abwechslung mal Leben retten zu können.“
„Was nun?“, fragte ich und warf dabei einen Blick auf das Schlachtfeld, wo die Laarmaschk noch immer vergeblich gegen den Allrichter und seine Schützlinge anrannten.
„Nun gibt uns Karmon wie versprochen unsere Kataloge zurück und wir verschwinden von hier“, sagte Sandra, „nicht wahr, Großer?“
Der Kwang Grong wirkte hin- und hergerissen.
„Nein, Karmon!“, widersprach ich, auch wenn ich mich selbst ein Stück weit darüber wunderte. „Wenn wir die benutzen, überlassen wir alle anderem ihrem Schicksal. Das kannst du nicht wollen. Und ich will es auch nicht mehr!“
Ominee bedachte mich für meine Worte mit einem anerkennenden Blick, genauso wie auch Jarma und Pingo, aber nicht jeder war darüber so glücklich.
„Was du willst, ist mir egal!“, donnerte Sandra, „ich habe lange genug gewartet und mit euch anderen gekämpft. Ich habe mich durch den Schlamm gewühlt und bin die Sklavin dieses Anzugfuzzis geworden, nur um dich zu finden und zu befreien. Und nun würde ich gerne meinen Höllentrip an einem anderen Ort fortsetzen. Ich wünsche euch allen viel Glück, aber ich habe genug von Uranor und ich bin weder euer Kindermädchen, noch eure Sklavin. Also, was ist nun Karmon?“
Die Augen des Kwang Grong flogen unsicher zwischen mir und Sandra hin und her und für einen schrecklichen Moment, war ich mir nicht sicher, wo die Loyalität meines Grong-Shin letztlich liegen würde. „Adrian hat recht!“, sagte Karmon schließlich und ich atmete erleichtert auf.
„So viel sind also deine Versprechen wert?“, zischte Sandra kalt, „ich wünschte, diese Kackfliegen hätten dein Herz gefressen!“
Karmon sah verletzter aus, als ich es bei einem Wesen wie ihm für möglich gehalten hätte. Konnte es wirklich sein, dass er Gefühle für Sandra entwickelt hatte?
„Du bekommst deinen Katalog, sobald …“, begann Karmon.
„Ach fick dich!“, rief Sandra und streckte ihm ihren Mittelfinger entgegen.
„Wer ist diese Frau, Adrian?“, fragte Ominee, „ich hab selten jemanden erlebt, der so unerträglich egoistisch ist.“
Sandras Augen glühten vor Zorn und sie stürzte so plötzlich mit der Gräberkanone in ihrer Hand auf Ominee zu, dass diese reflexartig ihren Stab hob. „Du willst wissen, wer ich bin, dreckige Jyllen?“, fragte Sandra, „Ich war einst die Sahkscha der Rorak. Jene Sahkscha, die fast dein ganzes Volk vernichtet und den Rest von ihnen in schwachsinnige, sabbernde Sklaven verwandelt hat. Und ich bin verdammt stolz drauf. Dein Freund hier hat mir tatkräftig geholfen und mir nachts das Bett gewärmt. Darauf bin ich weniger stolz. Aber es ist die Wahrheit.“
Ominee antwortete nicht, sondern schlang ihre verstümmelten Anmella-Stränge und ihren Nutrion wie eine Schlinge um Sandras Hals und drückte zu. „Das ist für mein Volk!“, sagte sie.
„Hört auf“, rief Pingo, „wir können uns doch nicht gegenseitig an die Gurgel gehen, wenn wir überall von Feinden umringt sind.“
„Ominee, sei vernünftig!“, rief auch ich.
Doch weder Ominee noch Sandra hörten auf uns und während Ominee den Druck auf Sandras Hals verstärkte, sah ich, wie Sandra den Finger um ihre Gräberwaffe krümmte.
„Nein!“, brüllte ich panisch und versuchte ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen. Ganz sicher wäre ich damit zu spät gekommen, doch anstatt tödliche Gräber auszuspucken, war die Kanone plötzlich zusammen mit Sandra verschwunden.
„Wo ist die Schlampe!?“, fragte Ominee wütend.
„Es tut mir leid, dass dies nötig geworden ist“, ertönte Kolloms nüchterne Stimme, „aber ich kann nicht zulassen, dass meine Angestellten den guten Ruf meines Unternehmens beschädigen.“
Pingo lachte auf, als hätte Kollom einen guten Witz erzählt.
„Ich versteh nicht …“, sagte ich verwirrt.
„Kollom hat Sandra in seinem Koffer verstaut“, erklärte Pingo, „Sie haben eine Art Vertrag geschlossen und seitdem kann er das mit ihr tun, wann immer er will.“
„Ich hoffe, sie nehmen mir das nicht übel“, sagte Kollom und wechselte Blicke mit Karmon und mir.
Karmon schüttelte den Kopf.
„In diesem Fall sicher nicht“, verneinte ich, „zumindest, wenn Sie sie so bald wie möglich wieder in die Freiheit entlassen. Aber wie haben Sie das überhaupt gemacht?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Betriebsgeheimnis“, antwortete Kollom entschuldigend.
„Wir haben ohnehin keine Zeit für lange Erklärungen“, meldete sich Nojun zu Wort, „seht doch!“
Wir blickten nach oben. Das Licht, welches immer ein integraler Bestandteil der Festung zu sein schien und welches sich wie ein feiner Wasserfall von oberhalb der Wolken in sie ergossen hatte, war eindeutig schwächer geworden. Gleichzeitig war die Luft kaum merklich kälter geworden.
Teile der Wolken über uns verdampften zu nichts. Weitere kleinere und größere Wolkenfetzen stürzten oder schwebten samt der auf ihnen gebauten Strukturen zu Boden. Einige der Gebäude blieben intakt, während andere ihren Weg als Ruinen beendeten. Unweit von uns landeten etwa die geborstenen Überreste einer Wohnung samt einer zersplitterten Lichtwanne, einem zerrissenen Bett und einem Deckenprojektor, der ein letztes Mal das schwache Abbild eines sterbenden, roten Riesen zeigte. Ich war mir nicht sicher, ob es meine Wohnung war, aber es wäre möglich.
Gleichzeitig zerfiel die Himmelstreppe, wobei ihre Bruchstücke wie Katapultgeschosse in den Boden, die Mauern und die Säulengänge der Festung einschlugen, die zwar nicht daran zerbrachen, aber doch schwer beschädigt wurden.
Das war jedoch noch nicht alles. Als ich meinen Blick wieder auf das Schlachtfeld senkte, bemerkte ich, dass der Schild, den der Allrichter um sich und die seinen errichtet hatte, flackerte … und verschwand. Für einen Moment schienen alle den Atem anzuhalten. Dann stürzten sich die Laarmaschk auf ihre nun fast wehrlosen Gegner.
„Sie werden die Rilandi in Kürze überrennen“, stellte Ominee fest, die sich wieder etwas gefangen hatte, „und dann sind wir an der Reihe.“
„Das habe ich nie gewollt“, sagte Nojun, „wir haben alles noch viel schlimmer gemacht!“ Er sah mich direkt an. Sowohl in seinen Augen, als auch in seinem Tonfall lag ein unausgesprochener Vorwurf an mich.
„Wir müssen dem Allrichter zur Hilfe kommen!“, verlangte Treva.
„Sie hat recht“, sprang ihr Nojun bei, „ich hege nicht viele Sympathien für ihn, aber immerhin haben wir den gleichen Feind. Und es geht auch nicht nur um ihn. Slizza, Ranscha und die Verbindung Zoenhir könnten unter seinen Truppen sein, wenn sie das Geflecht überlebt haben. Wir müssen ihnen zur Hilfe kommen!“
„Dafür ist zu spät“, sagte Ominee traurig, „Schaut euch dieses Gemetzel doch mal an. Wenn wir da einfach blind reinstürmen, wäre alles, was wir dabei erreichen würden, unser eigener Tod.“
„Deine Freunde bedeuten dir nicht viel, oder?“, fragte Nojun.
„Was fällt dir ein!?“, schoss Ominee zurück, „Slizza ist meine beste Freundin und Ninvinee ist zwar noch verblendeter gewesen als ich, aber sie ist eine Jyllen und auch sie bedeutet mir viel. Es zerreißt mir das Herz zu wissen, dass sie dort sterben könnten, aber keiner von ihnen würden wollen, dass wir uns sinnlos opfern. Wenn überhaupt, brauchen wir eine Strategie.“
Treva öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber letztlich blieb sie stumm. Auch Nojun sagte nichts mehr.
„Wie sieht dein Plan aus, Adrian?“, fragte Karmon mich. Doch nicht nur er, sondern auch alle anderen sahen mich fragend an. Selbst die blinde Treva schien zumindest ihre geistigen Augen auf mich gerichtet zu haben. Ich war kurz davor hysterisch loszulachen. Warum verließen all diese Leute sich noch immer auf meine Entscheidungen, wo genau diese Entscheidungen erneut eine Welt in noch größeres Leid gestürzt hatten, all meinen Schwüren zum Trotz? Doch mein Selbstmitleid würde uns jetzt auch nicht weiterbringen, also riss ich mich zusammen und versuchte meine Gedanken zu klären.
„Wir müssen die Laarmaschk vernichten und die Scyonen zumindest dazu bringen von hier zu verschwinden“, überlegte ich.
„Da würde dir sicher keiner hier widersprechen“, sagte Nojun, „aber die Frage ist ja, wie du das anstellen willst. Das klingt nämlich nach einer verdammt großen Aufgabe für eine Handvoll Leute.“
„Wir sind bald mehr als eine Handvoll Leute“, erwiderte ich, „Die Lichtmauer und das Tor sollte in Kürze fallen und die Ungeprüften werden hineinströmen.“
„Und wenn schon“, sagte Ominee, „das sind verzweifelte, desorientierte Gestalten. Sie mögen vielleicht noch dafür zu gewinnen sein gegen die Rilandi aufzubegehren und die Festung weiter dem Erdboden gleichzumachen, aber gegen Scyonen und Laarmaschk werden sie weder kämpfen wollen noch können. Sie werden in Scharen fliehen.“
„Es gibt keinen Ort, an den sie fliehen können“, entgegnete ich.
„Dann werden sie eben von den Laarmaschk übernommen und würden deren Truppen verstärken“, gab Ominee zurück, „das wäre auch nicht besser.“
„Das wird nicht geschehen“, widersprach Jarma, „das Amorphium, aus dem die Körper dieser Kreaturen gemacht wurden, kann nicht kopieren, sondern nur absorbieren und imitieren. Sie können ihre Truppenstärke also nicht vergrößern.“
„Das mag sein“, räumte Ominee ein, „aber wir können uns trotzdem nich‘ allein auf die Ungeprüften verlassen. Das wäre nicht nur Selbstmord, sondern auch unverantwortlich gegenüber den armen Seelen, die dann ins offene Messer laufen würden.“
„Es gibt noch weitere mögliche Verbündete, auf die wir zurückgreifen können“, überlegte ich, „wie ich schon meinte, als wir unseren Plan damals besprochen haben: Die Hallen der Prüfung sind randvoll mit fähigen Kämpfern. Wir brauchen sie nur zu befreien und könnten die Laarmaschk in die Zange nehmen.“
„Du weißt sicher auch noch, was ich damals dazu gesagt habe“, antworte Nojun, „diese Leute leben in ihren eigenen Wahnvorstellungen. Sie sind eine fast ebenso große Bedrohung für uns und für sich wie für die Laarmaschk.“
„Wir haben keine andere Wahl“, sagte ich.
„Das scheint dein Lieblingssatz zu sein, oder?“, kommentierte Nojun sarkastisch.
„Kann ich trotzdem auf dich zählen?“, fragte ich Nojun.
„Ja“, sagte er schweren Herzens, „jemand muss ja versuchen Schadensbegrenzung zu betreiben.“
„Und die anderen?“.
„Bin dabei“, sagte Pingo.
„Natürlich, Grong-Shin!“, antwortete Karmon.
Auch Ominee, Kollom, Jarma und Treva stimmten zu.
„Was ist mit den Scyonen?“, fragte Treva, „wie willst du sie davon überzeugen, dass sie uns in Ruhe lassen?“
„Ich muss Moydrur finden und mit ihm sprechen“, antwortete ich.
„Und du meinst, du kannst ihn überzeugen?“, fragte Treva.
„Sie wollten sich an den Rilandi rächen und diese Rache ist bald vollendet“, erwiderte ich, „die Laarmaschk hassen sie offenbar ebenso sehr wie wir. Ich werde ihn bestimmt überreden können sich aus dem Kampf rauszuhalten, wenn sie uns nicht sogar helfen.“
Plötzlich fiel ein gewaltiger Schatten auf uns. Zunächst hielt ich es für einen Angriff, dann aber erkannte ich, dass sich lediglich der Himmel weiter verdunkelt hatte. Gleichzeitig schwoll das Anti-Om, welches ich schon fast aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte zu einer solchen Lautstärke an, dass es sich kaum noch ignorieren ließ.
„Wir sollten aufbrechen“, sagte Karmon, „diese Welt zerfällt!“
„Vorsicht, Adrian, hinter dir!“, rief Ominee panisch und als ich mich umdrehte und eine monströse, vierbeinige Mischung aus Echse, Insekt und Wolf erkannte, verfluchte ich mich, da ich meine Waffe verloren hatte. Ominee jedoch richtete ihren Hirtenstab auf die Kreatur.
„Stopp!“, sagte Pingo und schlug Ominees Waffe weg, „er ist ein Freund. Oder zumindest so was Ähnliches.“
„Ihr wollt schon gehen?“, knurrte Autemga, „spürt ihr nicht die Macht, die sich hier zusammenbraut. Ich kann sie fast schmecken.“
Er leckte sich mit der Zunge über die scharfen, mit Blut und Lehm befleckten Zähne.
„Du wirst früh genug davon kosten können“, beruhigte ihn Karmon, „zunächst müssen wir einige Verbündete befreien. Wirst du uns dabei helfen?“
„Ich werde euch folgen“, sagte Autemga, „zumindest, wenn es nicht allzu lange dauert.“
„Das da soll ein Freund sein?“, fragte Ominee ungläubig.
„Ja“, bestätigte Jarma, „und mir scheint, wir können gerade jeden einzelnen gut gebrauchen.“

~0~

Der feierliche Gesang der Rilandi, an dem sogar Slizza sich beteiligt hatte, war verstummt. Sein Platz hatten Schreie, Kampflaute und jenes finstere Brummen eingenommen, welches früher nur zur Stunde der Schwärze zu hören gewesen war. Der Himmel über ihnen hatte sich verdunkelt und die Macht des Allrichters war gebrochen. Alles, was noch aus seinen einst mächtigen Händen kam, waren dünne Lichtstrahlen, die die Laarmaschk nicht im Geringsten beeindruckten. Die Kräfte der Sucher und Weber waren ebenfalls geschwunden. Auch sie brachte nicht mehr als ein oder zwei dürre Fäden zustande und die Hirtenstäbe der Hirten waren nur noch dazu geeignet auf die Laarmaschk und Scyonen einzuschlagen, was jedoch nur begrenzt effektiv war.
Slizza hatte sich fast ganz bis ans Tor zurückgezogen, welches bereits so dünn geworden war, dass der Sternengraben hindurchschien. Dennoch versuchte sie dem verbliebenen Licht nicht zu Nahe zu kommen. Es mochte noch immer potenziell tödlich sein.
Sie war normalerweise ganz und gar nicht feige, aber gerade wurde ihr das alles zu viel. Aus ihrer Heimat war sie es gewohnt gegen ganz normale Heere anzutreten, die über nichts weiter als gewöhnlich Hieb- und Schusswaffen verfügten und alles lief nach fairen Regeln und einem zumeist beachteten Ehrenkodex ab. Magier und Gastaltwandler passten ebenso wenig in ihr Weltbild wie verschiedene Kampfparteien, die sich gegenseitig in den Rücken fielen. Zudem waren ihre engsten Verbündeten und Freunde entweder tot oder verschollen. Ranscha hatten sie im Getümmel verloren.
Ob Ominee noch lebte, wusste sie ebenfalls nicht. Die Revolution und ihre verschiedenen Ansichten hatten Slizza zwar für einige Zeit dazu gebracht sich ihren Tod zu wünschen, aber das änderte nichts daran, dass sie die Jyllen noch immer mochte, die ihr geholfen hatte die harten ersten Wochen in dieser fremden Welt zu überstehen und mit der sie nicht nur ihren Hintergrund als Kriegerin, sondern auch vieles weitere gemeinsam hatte. Noch dazu war ihr Argwohn unbegründet gewesen, was das Ganze nur noch schmerzlicher machte. Slizza hoffte, dass Ominee dieses Inferno überlebte, aber sie glaubte nicht wirklich daran. Was aus den anderen Rebellen geworden war, ob sie gerade kämpften, flohen, starben oder irgendwo unbeachtet verrotteten wusste sie ebenfalls nicht.
Der dunkle Strudel am Meeresgrund war dabei Slizza zu verschlingen und nur die beiden unheimlichen Geschwister der Verbindung Zoenhir waren noch an ihrer Seite. Nur ihnen allein hatte sie es zu verdanken, dass sie noch lebte, denn die beiden Male, wo ein Laarmaschk zu ihnen durchgebrochen war, hatte sie die Angreifer verschlungen und sie ihren übervollen Eiersäcken hinzugefügt. Das Sterben des Lichtes, ermöglichte ihr offenbar diese Fähigkeit auch hier anzuwenden. Doch auch die Tronhiire würden sie nicht beschützen können, sobald die Reihen der Rilandi vor ihr endgültig zerbrochen waren. Schon jetzt schien ihr jeder verschlungene Laarmaschk Schmerzen zu bereiten und die Membranen ihrer Eiersäcke spannten sich bereits ungesund.
„Ich will nicht sterben“, flüsterte Slizza und wünschte sich zurück in die Arme ihrer Kriegermutter.
Selbst durch den Kampflärm hindurch vernahm Slizza den hohen Ton, mit dem die Verbindung Zoenhir für gewöhnlich ihre Kommunikation einleitete. Sie schienen ihr Flehen gehört zu haben. Slizza wandte sich zu den Tronhiire um.
„Das musst du nicht“, sagte die Verbindung, „wir können ins Geflecht flüchten.“
„Was sollen wir dort?“, erwiderte Slizza skeptisch, „Dort wimmelt es von Laarmaschk.“
„Nicht nur“, antwortete die Verbindung Zoenhir, „dort auch Enklave der Tronhiire. Ein Brückenkopf in der Tiefe und von dort einen Durchgang nach Troh. In unsere Heimat.“
Zuerst wollte Slizza widersprechen. Sie wusste kaum etwas über die Heimatwelt der Tronhiire, aber sie war sich sicher, dass sie ein finsterer Ort sein musste. Das hatte sie schon den Andeutungen der Verbindung im Geflecht entnommen. Doch war Uranor das nicht auch? Vielleicht musste sie sich vom Strudel verschlucken lassen und auf der anderen Seite wieder hinausschwimmen, um ihre Freiheit zu erlangen. Vielleicht war das der Weg, den sie einschlagen musste.
„Ich bin einverstanden“, sagte Slizza schweren Herzens und nachdem die Entscheidung getroffen war, mischte sich in die Angst vor dem Unbekannten sogar so etwas wie Vorfreude. Sie war zwar keine Fortgeschrittene. Aber auch sie war eine Entdeckerin.
Gemeinsam öffneten sie einen Durchgang und wurden in Uranor nie wieder gesehen.

~0~

„Jetzt!“, rief Herreth euphorisch, während sie wie beiläufig einen unachtsamen Scyonen aus dem Himmel pflückte und ihn mit beiden Händen auseinanderriss. Auf ihren Befehl hin, der wiederum der Order des Geistspiegels entsprang, scharrten sich – beschützt von den restlichen Kämpfern – zwanzig noch identitätslose Laarmaschk um den geschwächten Allrichter und begannen damit seine Essenz in sich aufzunehmen. Die verbliebenen Rilandi versuchten das so verzweifelt wie erfolglos zu verhindern, während die Scyonen sich ausnahmsweise aus dem Geschehen heraushielten. Offenbar waren sie fasziniert von dem, was sich hier abspielte. Scyonen waren geradezu süchtig nach mächtigen Geschöpfen und ungewöhnlichen Ereignissen. Das war vielleicht ihre größte Schwäche.
Und ihnen wurde einiges geboten. Während der Allrichter sich langsam auflöste und vergeblich versuchte seine Angreifer abzuschütteln, formten sich aus den Laarmaschk Abbilder seines Kopfes, seiner Gliedmaßen und von Teilen des Rumpfes. Als die Verwandlung schließlich abgeschlossen war, war Wornaara vollständig verschwunden und die Laarmaschk fügten sich wie die Teile eines Puzzles zu einem neuen Körper zusammen.
„Euer Gefäß ist bereit, Geistspiegel“, sagte Herreth an Arvoorot gerichtet und der Geistspiegel antwortete nicht mit Worten, sondern mit einem Strom aus Gefühlen von Anerkennung und Dankbarkeit, die Herreth gestohlenen Körper fast auseinanderrissen. Sie weinte hemmungslose Freudentränen, als sie Arvoorot dabei zusah, wie er in seinem neuen Gefäß erwachte. Das Ende der letzten Rilandi und der Scyonen war besiegelt.

~0~

Unser Weg hinein in die Hallen der Prüfung war unkomplizierter als erwartet. Jenseits des Schlachtfeldes war die gesamte Festung wie ausgestorben. Da die Tür nicht einmal verriegelt war, betraten wir kurzerhand die Eingangsebene, in der die Träumenden sich unruhig in ihren Albträumen quälten, unverständliche Dinge murmelten und gelegentlich nach unsichtbaren Feinden schlugen.
„So viel Fleisch. So viel Potenzial“, freute sich Autemga, „vielleicht war es doch keine schlechte Idee mit euch zu kommen.“
„Du rührst sie nicht an“, ermahnte ihn Karmon, „wir brauchen sie aus anderen Gründen.“
„Immer diese Vernunft, Karmon“, entgegnete Autemga, „diese strenge Zurückhaltung. Manchmal muss man seinen Trieben nachgeben, sonst gleicht das Leben einem toten Kadaver.“
„Wenn du deine Zähne auch nur in einen der Schlafenden schlägst, wirst du selber einer“, sagte Karmon finster.
„Du drohst mir?“, fragte Autemga.
„Ich erläutere Konsequenzen“, entgegnete der Kwang Grong.
Autemga ließ ein bellendes Lachen hören, „dein Humor gefällt mir. Und ich werde mich an deine Bitte halten. Vorerst.“
„Was ist mit diesen Leuten los?“, fragte Pingo, der Autemga mit Argwohn betrachtete, mitfühlend.
„Ihre Geister sind in Illusionen gefangen“, erklärte Ominee, „die Rilandi lassen sie grausame Szenen durchleben und nutzen dies als Prüfung um zu testen, ob sie bereit sind als Hirte, Weber oder Sucher zu dienen.“
„Das ist schrecklich!“, fand Pingo.
„Das ist es in der Tat“, stimmte ich zu und erinnerte mich an meine schmerzhaften Erlebnisse mit Korf und Garwenia. Dabei fragte ich mich, inwiefern ihre Reaktionen ihrer wahren Einstellung mir gegenüber entsprochen hatten. Sollten sie mich wirklich so sehr hassen, konnte sich eine Kooperation schwierig gestalten.
„Wie weckt man sie auf?“, fragte Jarma, auf deren Gesicht sich ebenfalls Mitgefühl widerspiegelte.
„Es gibt eine Formel dafür, die man ihnen ins Ohr flüstern muss“, erklärte Treva.
„Eine Zauberformel?“, fragte Pingo.
„Nein“, antwortete Treva kopfschüttelnd, „keine Zauberformel, sondern eine Art suggestive Konditionierung. Eigentlich kennen sie nur die Hirten, doch Kollat hat gerne geheimes Wissen an Wahrgeborene weitergeben. Deshalb kenne auch ich sie.“
„Wie viele Leute sind in diesem Gebäude?“, fragte Kollom, der den Aufzug entdeckt hatte.
„Ungefähr eintausend“, antwortete Treva.
„Das wäre Wahnsinn“, befand Karmon, „jeden von ihnen einzeln aufzuwecken würde Stunden dauern.“
„So ist es“, stimmte Treva zu, „zum Glück müssen wir das nicht. Es gibt einen Mechanismus für die Weitergabe dieser Botschaften. Eine Art Lautsprechersystem, das die Signale jedoch in gleichmäßiger Lautstärke an alle Träumer übermitteln. Es ist eigentlich dafür gedacht neue Impulse in ihre Illusionen hineinzugeben oder … alle Insassen zu töten, wenn es nötig ist. Aber auch diese Botschaft lässt sich darüber vermitteln.“
„Wie grausam“, sagte Pingo schockiert.
„Die Tötungsbotschaft wurde meines Wissens noch nie angewendet“, sagte Treva verteidigend, „aber ja, es ist extrem.“
„Wo befindet sich dieser Mechanismus?“, fragte Karmon.
„Auf dieser Ebene“, sagte Treva, „ich zeige ihn euch!“
„Warte, Treva“, sagte ich, „bevor du ihn auslöst, gib mir noch fünf Minuten. Es gibt zwei alte … Freunde von mir, die hier gefangen sind. Ich möchte lieber bei ihnen seinen, wenn sie aufwachen. Das könnte ihnen womöglich die Orientierung erleichtern. Einer von ihnen hat große militärische Kenntnisse und ein unvergleichliches Durchsetzungsvermögen. Vielleicht kann er uns sogar dabei helfen etwas Ordnung in das Chaos zu bringen.“
„Wenn du das für eine gute Idee hältst“, meinte Treva skeptisch, „weißt du, auf welcher Etage sie sich befinden?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Woher stammen deine Freunde?“, fragte Treva.
„Einer von ihnen ist ein Rorak aus Konor. Die andere eine Bravianerin, die jedoch bis zuletzt in Hyronanin gelebt hat und wohl auch dort gestorben ist“, antwortete ich.
„Dann liegen sie wahrscheinlich in der zwanzigsten Etage. Wir nennen sie auch ‚Aschegrube‘. Dort liegen jene, die kaum darauf hoffen können je erweckt zu werden, weil sie zu viel erlitten oder getan haben“, erklärte Treva.
Hatte mich das Schicksal von Korf und Garwenia vorher schon betrübt, steckte mir nun erst recht ein dicker Kloß im Hals. „Danke“, sagte ich trotzdem.
„Keine Ursache“, sagte Treva, „wir stoßen dann zu dir, sobald der Mechanismus ausgelöst wurde. Vorausgesetzt die Insassen lassen das zu.“
„Ich komme mit dir“, entschied Jarma, „ich bin immerhin Heilerin. Vielleicht kann ich helfen.“
„Gut möglich“, sagte ich, „auch wenn ich mir mehr Sorgen um seinen Geist, als um seinen Körper mache.“
„Auch damit kennen wir Gesunder uns aus“, meinte Jarma, „selbst wenn wir diese Kenntnisse selten zum Guten anwenden.“
„Ich komme ebenfalls mit“, sagte Karmon.
„Gerne“, antwortete ich und sah dem Kwang Grong, mit dem ich so lange meinen Körper geteilt hatte, in sein fremdartiges Gesicht, „allerdings könnte Korf dich für einen Feind halten.“
„Vielleicht trifft das ja zu“, sagte Karmon entschlossen, „zumindest, wenn er versucht dir etwas anzutun.“
„Das wird er nicht“, widersprach ich.
„Lüg‘ mich nicht an, Adrian!“, wies mich Karmon streng zurecht, „nur weil wir uns keinen Körper mehr teilen, heißt es nicht, dass du deine Emotionen vor mir verheimlichen könntest. Du hast selber Angst vor seiner Reaktion und das mit gutem Grund, wie ich weiß. Du vergisst, dass auch ich Korf kannte und erlebt habe, was du ihm angetan hast. Was WIR ihm angetan haben. Das Gleiche gilt für Garwenia. Sollten sie sich tatsächlich hier drin befinden, werden sie stinksauer auf dich sein. Wenn wir Glück haben, werden sie dich nur hassen. Wenn wir Pech haben, werden sie deinen Tod wollen.“
Es war erschreckend wie nah Karmon damit den Erfahrungen aus meiner eigenen Illusion kam.
„Wir werden es riskieren müssen“, sagte ich, „selbst wenn sie mich hassen sollten, so wollen sie ganz sicher lebend hier raus.“
„Ich will ja nicht hetzen“, sagte Treva, „aber dort draußen bricht gerade Uranor zusammen und fällt an die Laarmaschk. So langsam sollten wir uns beeilen.“
„Du hast recht“, stimmte ich ihr zu, „wir brechen sofort auf. Nur eine Sache noch. Ominee?“
„Ja, Adrian?“, fragte die Jyllen.
„Es gibt hier drin noch eine Gefangene, die Beistand gebrauchen könnte. Scavinee“, antwortete ich.
„Was?“, fragte Ominee fassungslos, „unsere Arnivel ist hier? Warum hast du mir das nie erzählt?“
„Wahrscheinlich wollte ich es verdrängen“, überlegte ich, „einmal wegen dem, was ich ihr angetan hatte, aber auch wegen dem, was ich durch sie erlitten habe, ob nun Zurecht oder nicht. Sie hat mich in meiner Illusion gefoltert und noch schlimmere Folter für mich geplant. Ich kann dir gerne mehr dazu erzählen, wenn das hier vorbei ist. Jedenfalls solltest du zu ihr gehen. Mich würde sie mit Sicherheit töten wollen.“
Ominee nickte, „natürlich, aber ich weiß nicht, wo sie liegt.“
„In der Fünfzehnten“, half Treva aus, „das weiß ich, da sie hier so etwas wie eine kleine Berühmtheit hier ist. Fast wie Olevan.“
„Nicht in der Zwanzigsten?“, fragte Ominee, „eigentlich sollte dafür doch wirklich genug durchlitten haben.“
„Das schon“, erwiderte Treva, „aber sie hat einen starken Willen.“

~0~

Die Kabine des gläsernen Aufzugs war für Karmon gerade so hoch genug, jedoch nur, wenn er sich tief bückte. Insgesamt war es in dem Glaskasten verdammt eng und stickig.
„Jarma?“, fragte ich, während sich der Aufzug in Bewegung setzte.
„Ja?“, erwiderte sie.
„Kennst du Antiella?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete sie kopfschüttelnd.
„Und Ryxah?“
„Ryxah kenne ich, ja“, sagte Jarma und sah mich neugierig an, „sie war meine jüngste Schülerin, damals in Hyronanin. Ein wildes junges Mädchen, das viel Spaß daran hatte mit der Hoffnung ihrer Patienten zu spielen.“
„Dann muss es lange her sein, dass du Hyronanin verlassen hast. Als ich dort war, war sie keine Schülerin mehr, sondern die Anführerin eures Volkes.“
„Das wundert mich nicht“, antwortete Jarma bitter, „Grausamkeit wurde bei uns stets belohnt. Zumindest seit dem Ende der Sanisa. Du warst in den Seuchenhöhlen?“
Ich nickte.
„Dann gratuliere ich zu deinem Entkommen. Es gab nicht viele, denen das gelungen ist“, sagte Jarma anerkennend.
„Garwenia, die wir gleich begrüßen werden, ist es auch gelungen“, kommentierte ich, „wenn auch leider nur durch den Pfad des Todes. Sie war einst eine wandelnde Kranke.“
„Bemerkenswert“, sagte Jarma mit beinah wissenschaftlichem Interesse, „wie hat sie das geschafft, wo doch der Tod in meiner Heimat unbekannt ist?“
„Nur im Untergrund“, erwiderte ich, „nicht auf der Oberfläche.“
„Sie ist an die Oberfläche geflohen?“, wunderte sich Jarma.
„Es war eine Strafe“, erklärte ich, „Ryxah hat sie dorthin verbannt, weil sie ihre Existenz nicht mehr dulden wollte.“
„Wäre es nicht Ryxah, würde ich eher von Gnade ausgehen, als von einer Strafe“, meinte Jarma.
„Wir sind da“, bemerkte Karmon. Ein glockenheller Ton erklang. Sanft und federnd kam der Aufzug an der Zieletage zum Stehen. Die Türen öffneten sich und wir traten auf die Ebene heraus, die der Eingangsebene bis ins letzte Detail glich. Mit dem einzigen Unterschied, dass hier andere Prüflinge ihre Qualen durchlitten. Viele von ihnen waren Rorak oder Kannibalen aus Dank Qua, manche sogar Andrin und selbst einige Cestral und auch Menschen waren darunter.
„Jetzt müssen wir die beiden nur noch finden. Wir suchen nach einer Bravianerin und einem Rorak“, sagte ich und beschrieb Jarma alle weiteren Details zu dem Äußeren der Beiden, an die ich mich erinnerte. Karmon brauchte ich hier natürlich nichts zu erklären.
Schließlich fanden wir die beiden. Ihre Schlafstätten befanden sich nicht einmal weiter auseinander, ja lagen sich sogar diagonal gegenüber. Korf sah trotz des fehlenden Kampfanzugs noch immer imposant aus. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich in raschen, hektischen Atemzügen, während er gelegentlich Befehle oder Flüche in Rorak-Sprache ausstieß. Garwenia hingegen zitterte und weinte. Auf ihrer hohen Stirn glänzte Fieber. Dafür war ihre Haut so makellos wie ich sie noch nie gesehen hatte. Kein Stück fehlte. Alles war intakt. Zumindest, soweit man es in dem weißen Umhang sehen konnte, den sie genau wie Korf trug.
Garwenia ist gesund. Genau das, was sie sich immer erträumt hat, dachte ich gerührt. Nun, zumindest fast.
„Sie sieht nicht aus wie eine wandelnde Kranke“, fand Jarma.
„Nicht mehr“, stimmte ich ihr zu, „offenbar wird der Körper hier in Uranor wieder vollständig hergestellt. Selbst ihre Muskeln haben sich trotz der langen Starre kaum abgebaut“, wunderte ich mich.
„Vielleicht setzten sie dafür irgendeine versteckte Technik ein, um die Muskeln zu stimulieren“, vermutete Jarma, „oder es liegt daran, dass der Stoffwechsel hier anders funktioniert.“
Plötzlich erklang ein Satz in einer unbekannten Sprache, der von überall her zu kommen schien.
„Wir sollten lieber etwas zurücktreten“, warnte Karmon und Jarma und ich folgten seinem Vorschlag. Während sich rings um uns herum die lang geschlossenen Augen gequälter Geister öffneten und zunächst noch völlig ratlos in diese neue Umgebung starrten. Andere schienen sich an ihren finsteren Träumen festzuklammern, weil sie ihnen noch immer mehr Halt boten als diese neue, harte Wirklichkeit. Von meinen beiden alten „Freunden“ war Garwenia diejenige, die zuerst erwachte. Wobei erwachen ein relativer Begriff war, denn sie öffnete zwar die Augen, schien uns aber nicht wirklich zu sehen.
„Mein Dra-Daun“, benutzte sie jenen Begriff, den sie schon in ihren Fieberträumen in Hyronanin verwendet hatte, „warum hast du mich verstoßen? Mich zurückgelassen unter Strömen aus Sand. Mit Fingern so taub und rissig, warum hast du dich nie umgeblickt, nicht ein einziges Mal. Als wären meine Schreie aus Luft und du nicht in der Lage zu atmen, Warum hast du …“
„Was redet sie da?“, fragte Karmon.
„Sie ist noch immer in einem Traum gefangen“, sagte Jarma, „aber es ist keiner, den die Rilandi für sie schufen. Ihr Verstand hat sich eine eigene Zuflucht gesucht, entweder in ihrer Vergangenheit oder in einer ausgedachten Welt. Ich sehe so etwas nicht zum ersten Mal. Ähnliches geschieht oft bei jenen, die in unseren Verwahrern weggesperrt werden.“
„Sie hat schon einmal so etwas von sich gegeben“, sagte ich, „damals, als sie von einem Bakteroiden tiefenverseucht wurde.“
„Sie wurde tiefenverseucht?“, fragte Jarma überrascht, „diese Frau hat wirklich schon einiges durchlitten. Kein Wunder, dass sie in so einem Zustand ist.“
„Denkst du, wir können sie irgendwie aufwecken?“, fragte ich.
„Vielleicht“, sagte Jarma, „aber nicht jetzt und nicht hier inmitten von Krieg und Chaos. Wenn wir das versuchen, könnte ihr Verstand wie Glas zersplittern. Trotzdem sollten wir sie mitnehmen.“
„Genau das hatte ich auch vor“, sagte ich, „ich habe sie schon einmal im Stich gelassen. Ich tue es nicht wieder.“
„Kora!“, brüllte Korf plötzlich auf und seine Augen sprangen auf, „ich reiß euch Bastarden die scheiß Arme aus. Ihr dreckigen Harex werdet noch den Tag verfluchen, an dem ihr gewagt habt …“
Mit einem Mal schienen Korfs Augen in die Wirklichkeit umzuschalten. Doch das, was er dort sah, schien ihm nicht unbedingt besser zu gefallen.
„Adrian!“, brüllte er und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und den einzigartigen Reflexen eines Rorak-Kriegers stürzte er sich auf mich und legte seine Pranken und meinen Hals, „Warum lebst du noch? Warum atmest du Pisser noch immer Luft, wo du doch Würmer fressen solltest?“.
„Warte Korf, ich verstehe deinen Zorn, aber …“, begann ich gepresst zu erklären, aber der Rorak wollte nicht zuhören. Stattdessen verstärkte er den Druck. Ich bekam das grauenhafte Gefühl, dass mein Kehlkopf zerquetscht werden würde und das wäre wohl auch passiert, wenn sich Karmon nicht wie eine lebendige Mauer vor mich geschoben, die Arme des Rorak wie eine Schraubzwinge gepackt und sie mit roher Gewalt von mir gelöst hätte. Erst jetzt begriff ich, was der neue Körper des Kwang Grong für eine gewaltige Kraft besaß.
„Lass mich los, Dämon!“, verlangte Korf, dessen Muskeln vergeblich gegen die von Karmon anarbeiteten, „ich weiß nicht, aus welchem Schwefelschlund der Verräter dich gezogen hat, aber auch du wirst ihn nicht vor mir retten.“
„Das tue ich gerade“, sagte Karmon vollkommen ruhig, „und ich bin kein Dämon, auch wenn du nicht der Erste bist, der mich so nennt. Ich bin ein Teil von Adrian und als solcher werde ich nicht zulassen, dass du ihm schadest.“
Es mag seltsam klingen, aber die Vorstellung, dass Karmon sich noch immer als einen Teil von mir betrachte, erzeugte ein warmes Gefühl in meinem Bauch. Vor allem, weil es mir selbst ähnlich ging.
„An deiner Stelle wäre ich nicht stolz drauf, ein Teil von dem da zu sein. Er ist ein dreckiger Lügner, der seinen eigenen Kameraden in den Rücken fällt und Kameradenschweine und Deserteure haben nichts als Folter, Tod und Verachtung verdient!“, keifte Korf.
„Hör mir doch zu …“, versuchte ich es erneut, aber Korf schien nicht dazu bereit zu sein.
„Einen Scheiß werde ich!“, brüllte er, „Ich kenne deine Lügen schon von unserem Gespräch im Gefängnis. Eher würde ich die Pisse eines Zuhhonka-Bullen trinken, als sie mir nochmal …“
Er verstummte, als er den kalten Stahl von Jarmas Skalpell an seiner Kehle spürte.
„Dann höre mir zu“, sagte sie herrisch, „es ist vollkommen egal, was zwischen dir und Adrian gelaufen ist und ihr könnt euch meinetwegen eines Tages wie primitive Idioten zu Tode prügeln oder gemeinsam einen Trinken gehen und euch vertragen, wie es vernunftbegabte Wesen tun würden. Gerade aber braut sich dort draußen die verdammte Apokalypse zusammen und wir werden alle draufgehen, wenn wir uns nicht dagegen wehren. Du scheinst mir ein Krieger zu sein, und das ist gut. Denn jenseits dieses gemütlichen Schlafsaals tobt ein Krieg. Und wenn du dich nicht wie eine feige Memme verhalten willst, die alten Kränkungen nachweint, sondern an unserer Seite gegen unsere gemeinsamen Feinde kämpfst, könnten wir ihn vielleicht sogar gewinnen. Andernfalls werden diejenigen, die für deine Gefangenschaft verantwortlich sind, in wenigen Stunden selbstzufrieden auf dein Grab pissen!“
„Wow!“, sagte Karmon beeindruckt und wenn ich mich nicht schwer täuschte, beinah ein wenig schwärmerisch, „die Lady hat Feuer und viel mehr Eier als du, Kleiner!“
„Bedeutet das, dass ich dich loslassen kann?“, fragte Karmon skeptisch.
„Ja, das kannst du Dämon“, sagte Korf, „irgendwann werde ich Adrians vertrockneten Schwanz mit Sicherheit an meinen Gürtel knoten …“
Sein Mund grinste, aber der Blick, den er mir zuwarf, war sicher nicht der eines Freundes, „aber das kann ich auch noch etwas aufschieben. Blutrache macht mit Scharfwasser eh viel mehr Spaß, aber für einen kleinen Krieg bin ich immer zu haben. Also wie ist die Lage und was soll ich tun?“
Karmon sah noch einmal Rat suchend zu mir. Ich nickte ihm zu und er ließ Korfs Arme los. Trotzdem versuchte er mich nicht umzubringen. Fürs Erste.
„Wo wir uns befinden weißt du noch?“, fragte ich Korf, da ich nicht wusste, wie viel von unserem Gespräch in dem illusorischen Gefängnis ich mir vielleicht nur eingebildet hatte.
„Klar“, sagte er, „So ’ne Art Heim für Tote, wo diese Glasmenschen ihren Spaß mit uns haben.“
Um uns herum begannen die anderen Gefangenen entweder ihrem Frust und ihrer Orientierungslosigkeit Luft zu machen oder aber ihre Wahnvorstellungen in der Realität fortzuführen. Beides äußerte sich sowohl in gesalzenen Flüchen, unverständlichem Gemurmel, irrem Gelächter und Weinkrämpfen, als auch in handfester Gewalt gegeneinander, gegen sich selbst oder gegen die Wände der Halle.
„Genau“, sagte ich durch den Lärm hindurch, „die Glasmenschen sind zwar inzwischen so gut wie besiegt und die, die übrig sind, sind auf unserer Seite, aber dafür sind ein paar sehr finstere Burschen dabei die Kontrolle über den Planeten zu übernehmen und alle, die ihnen dabei im Weg stehen zu vernichten. Sie nennen sich Laarmaschk und sind in der Lage die Körper anderer Wesen zu kopieren.“
„Und die wollt ihr kalt machen?“, fragte Korf.
Ich nickte.
„Schön, Kleiner“, sagte Korf, „aber mit welcher Armee?“
Eine Bravianerin, die uns wohl für eine Horde Ungeheuer zu halten schien, stürmte auf uns zu und wurde nur Dank Karmon, der sie effektiv aber erstaunlich sanft ausknockte, daran gehindert größeren Schaden anzurichten.
„Mit dieser hier und mit den Leuten, die vor der Festung im Schlamm auf ihr Urteil warten. Wir haben die Maschine zerstört, die hier alles mit diesem grellen Licht versorgt. Schon bald dürfte das Tor fallen, welche sie draußen hält“, schilderte ich die Lage.
Zu sagen, dass Korf mich zweifelnd ansah, wäre gelinde gesagt untertrieben gewesen, er schien mich mindestens für verrückt zu halten.
„Du willst gegen seelenfressende Gestaltwandler antreten und alles, was du hast, ist ein Haufen Dronnzaak und wimmernder Heulsusen, die nicht einmal von dem Glück wissen, dass sie deine sogenannte Armee sind?“,
Ich wollte ihm widersprechen, das Problem war nur, dass er im wesentlichen recht hatte. „Nicht ganz“, versuchte ich mich trotzdem an einer Entgegnung, „ich habe Karmon, Jarma und ein paar andere Freunde, die mir beistehen. Außerdem … erinnerst du dich noch an Moydrur?“, fragte ich.
„Klar“, brummte Korf, „riecht nach Sumpf, ist gut mit Gehirnwäsche und hat mich fast mit meinem eigenen Gräber gekillt. Was ist mit ihm?“
„Er und seine Leute kämpfen ebenfalls gegen die Laarmaschk“, erklärte ich.
„Die sind also unsere Verbündeten?“, fragte Korf etwas erleichtert, „sind zwar Harex, aber recht Nützliche. Da ließe sich zumindest mit arbeiten.“
„Nicht direkt“, sagte ich, „bislang kämpfen sie auch gegen uns, aber ich hoffe das ändern zu können.“
„Hat dir ein Zrym ins Gehirn gekotet?“, erkundigte sich Korf, „vielleicht brauche ich mir doch nicht die Mühe machen, dich für deinen Verrat qualvoll abzumurksen. Wahrscheinlich erledigst du das selbst viel besser. Dein sogenannter Plan ist so verrückt – selbst der Versuch mit einer Handvoll Leute das Jyllen-Imperium zu stürzen, hätte mehr Aussicht auf Erfolg.“
„Genau das ist uns ja auch bereits gelungen“, entgegnete ich lächelnd, „also Korf, können wir auf dich und deine militärischen Fähigkeiten zählen, wenn es darum geht aus diesen Leuten eine Armee zu machen? Oder scheust du die Herausforderung?“
Ich rechnete mit einer wütenden Entgegnung oder mit trotzigem Zuspruch, aber Korf überraschte mich.
„Hör mal zu, Kleiner“, antwortete er ernst, „du brauchst gar nicht erst versuchen mich bei meiner Ehre oder meinem Kriegerstolz zu packen. Beides habe ich nicht. Das eine hatte ich nie und das andere hast du mir mit deiner verfickten Schattenwaffe aus dem Kopf gebrannt. Aber ich will hier lebend rauskommen, insofern man an diesem Ort davon sprechen kann und ich habe wirklich Lust in ein paar Ärsche zu treten. Also ja, ich sehe, was ich tun kann. Eine Armee wird aus denen sicher nicht. Das braucht Monate, eher Jahre des Trainings. Aber wenn ich mir das Gekloppe hier so ansehe, waren einige von denen ganz passable Knochenbrecher. Vielleicht kann ich ihren Verstand zumindest so weit zurechtbiegen, dass sie als Kanonenfutter taugen.“
„Das muss reichen“, sagte ich.
„Eine ziemlich gefühllose Art, um über Lebewesen zu reden, oder?“, kommentierte Jarma und ich zuckte schuldbewusst zusammen.
„Is‘ ja in deren Interesse“, antwortete Korf, „wenn sie hierbleiben, killen die sich sowieso gegenseitig oder werden irgendwann von unserem Feind überrannt. Wenn sie kämpfen, schaffen es ein paar vielleicht noch den nächsten Tag zu erleben.“
Jarma nickte zögerlich, auch wenn sie nicht überzeugt wirkte. Auch mein Gewissen ließ sich nun, wo Jarma es aufgeweckt hatte, nicht ganz beruhigen. All diese Prüfungen und Torturen und dennoch betrachtete ich andere noch immer gerne als Schachfiguren. Vielleicht war das aber auch nur die Logik des Krieges, der die Eigenheit hatte, selbst das blühendste und schillerndste Leben in sein Schema von Schwarz und Weiß, Befehlen und Gehorchen und Töten und Sterben zu pressen. Ich hoffte, dass es so war.
„Den Schmerz, den Segen, die Erhebung. Alles haben wir geteilt. Nur die Zukunft wolltest du für dich, mein Dra-Daun. Ach, warum hast du mich verlassen“, meldete sich Garwenia nach längerem Schweigen wieder zu Wort.
„Wer is‘n diese Braut?“, fragte Korf, „die kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Eine alte Freundin“, erklärte ich, „ihr habt mich in unserer geteilten Illusion gemeinsam im Stich gelassen.“
„Ah“, sagte Korf erkennend, „jetzt erinnere ich mich. Das war äußerst lustig. Allerdings war sie da noch keine Dronnzaak, soweit ich weiß!“
„Irgendwann bricht fast jeder Verstand“, kommentierte Jarma.
„Kann schon sein“, sagte Korf.
„Aber zurück zum Abschlachten: Dafür braucht man für gewöhnlich Waffen. Habt ihr welche?“, wollte Korf wissen.
„Noch nicht“, gestand ich ein.
„Kollom hat eine ganze Menge davon mitgenommen, als wir in der Halle der Geheimnisse waren“, sagte Karmon.
„Dann werde ich ihn überreden müssen, sie uns zu überlassen“, sagte ich entschlossen.
„Viel Glück dabei“, sagte Jarma, „der Typ ist ein gieriger Drecksack. Wie praktisch jeder Deovani.“
„Irgendwie wird es mir schon gelingen“, sagte ich zuversichtlich, „Karmon, Jarma? Geht bitte Korf zur Hand und gebt auf Garwenia acht. Ich gehe zu den anderen. Wir treffen uns am Eingang.“
„Ich werde dich nicht allein gehen lassen, Grong-Shin“, widersprach Karmon, „wir waren lange genug getrennt.“
„Trotzdem muss ich dich darum bitten“, erwiderte ich, „wir sehen uns wieder, Karmon. Das verspreche ich dir!“
Karmon nickte widerwillig, dann rannte ich an einigen weinenden Bravianern und einem Rorak, der sich gerade die Augen ausgekratzt hatte und nun offenbar den Boden mit seinen Fäusten für diesen Verlust bestrafen wollte, vorbei zum Aufzug.
„Aufgepasst, ihr Jollt-Ratten!“, hörte ich Korf noch brüllen, bevor sich die Türen des Aufzugs schlossen, „ich kann verstehen, dass ihr scheiß wütend seid. Geht mir genauso. Die Pisser haben mit unserem Verstand rumgepfuscht und euch eingepfercht wie die Tiere. Aber wenn ihr mir folgt, zeig ich euch, wie wir es den Dreckskerlen heimzahlen können, anstatt euren Zorn hier sinnlos zu vergeuden. Gemeinsam können wir …“
Korf würde das schon machen, dachte ich lächelnd und hoffte, dass wir uns irgendwann wieder vertragen würden. Irgendwie mochte ich den Kerl noch immer. Selbst, wenn er noch vor Kurzem meine Hände und meine Hoffnung zertreten hatte.

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„Wie gefällt euch euer neuer Körper, Geistspiegel?“, begrüßte Herreth Arvoorot. Sie hatte sich erfolgreich an den Scyonen vorbeigekämpft um ihrem Anführer ganz nah zu sein. Huldvoll blickte sie in sein gestohlenes Gesicht.
„Wohl fühle ich mich hier nicht“, sagte Arvoorot, „diese Ebene ist so … träge. Außerdem gibt es hier viel zu viele Scyonen.“
„Das werden wir ändern“, versprach Herreth.
„Oh ja, das werden wir“, pflichtet ihr Arvoorot bei, „wir werden die Sumpfhexer alle auslöschen müssen. Aber das ist nicht unsere einzige Sorge. Es gibt hier immer noch ein paar Rilandi, deren Identität wir noch nicht übernehmen konnten. Außerdem gibt es eine Reihe von Spiegeln, die außerhalb der Festung und in den Hallen der Prüfung auf uns warten. Ihre Leiber könnten von unseren Körperlosen als Wohnstätten genutzt werden.“
„Ich will euch nicht widersprechen, Geistspiegel, aber wie sollen sie ihre Leiber nutzen, wenn diese doch bereits bewohnt sind?“, fragte Herreth.
„Ich werde sie entleeren“, versprach Arvoorot düster, „die Macht des Allrichters verbunden mit meiner eigenen eröffnet ungeahnte Möglichkeiten.“
„Fantastisch“, fand Herreth und grinste so breit, dass ihr falscher Rilandi-Mund für einen Moment zerriss und die lehmige Substanz darunter offenlegte.
„Die Lichtmauer ist bereits gefallen und das Tor wird bald folgen. Dann werde ich mich um die Neuankömmlinge kümmern“, versprach Arvoorot, „bis dahin will ich, dass du mit einer Handvoll unserer Krieger zu den Hallen der Prüfung gehst. Du weißt sicher, wo sie liegt, oder?“, fragte der Geistspiegel.
Herreth nickte.
„Gut. Von einem unserer Agenten weiß ich, dass sich dort noch einige entkommene Rilandi und andere Feinde aufhalten. Vernichte sie restlos und verhindere, dass sie die Gefangenen dort befreien. Auch wenn ich mich in der Lage fühle, sie zu Gefäßen zu machen, sollten wir kein Risiko eingehen, solange die Sumpfhexer noch nicht besiegt sind. Kehre zu mir zurück, sobald du die Rilandi vernichtet hast, aber verschone den Agenten, den wir in ihren Reihen haben. Sein Name lautet …“

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„Treva!“, rief Nojun.
„Ja?“, fragte die blinde Rilandi, die einmal mehr wie beiläufig mit dem Gegenstand in ihrem Mantel spielte.
„Es scheint funktioniert zu haben“, antwortete Nojun, „Ominee ist zurück mit einer anderen Jyllen – wahrscheinlich Scavinee.“
„Ich hoffe, Adrian hatte ebenfalls Erfolg“, sagte Pingo besorgt.
„Das werden wir bald erfahren“, sagte Nojun.
Die Tür der Kabine öffnete sich und die beiden Jyllen-Frauen traten hinaus.
„Darf ich vorstellen,“, sagte Ominee fröhlich, „Scavinee. Einst gewählte Anführerin von Neu-Arganon und aller Jyllen.“
Scavinee nickte, fügte dann jedoch hinzu, „das klingt so förmlich, Ominee. Ich war doch nichts Besonderes. Nur eine Jyllen wie jede andere.“
„Allein das macht dich leider schon zu etwas Besonderem“, sagte Ominee bitter, „es gibt nicht mehr viele von uns. Auch nicht hier in Uranor.“
„Das stimmt wohl“, sagte Scavinee traurig, „aber ich möchte gerade nicht darüber nachdenken. Dieser Ort hat mich lange genug mit dieser Tatsache konfrontiert. Vielen anderen wurden hier anscheinend fantasievolle Albtraumszenarien vorgegaukelt. Bei mir haben meine Erinnerungen als Folter ausgereicht. Doch nun würde ich gerne wissen, mit wem ich die Ehre habe.“
„Natürlich“, antwortete Ominee, „das hier sind Treva aus Uranor, Nojun aus Uranor, Pingo Dellagrahn aus Rihn und Kollom Nehmer aus Deovan. Und … Autemga … ebenfalls aus Uranor.“ Sie zeigte auf die Bestie, die die Neuankömmlinge zugleich misstrauisch und hungrig musterte.
„Einige weitere Mitstreiter befinden sich noch auf einer der andere Turmebenen, um dort Freunde zu retten und Verbündete zu gewinnen.“
„Angenehm“, sagte Scavinee und verbeugte sich höflich, was von allen außer Treva, die es nicht sah, und Kollom, der sich mit einem angedeuteten Nicken begnügte, erwidert wurde.
„Verbündete sind im Übrigen ein gutes Stichwort“, sagte Scavinee, „Ominee meinte zu mir, dass wir Unterstützung im Kampf bräuchten und auch wenn mir das ganz und gar nicht gefällt, weil die Leute hier auch so schon viel zu viel durchgemacht haben, scheinen viele von denen, mit denen ich gesprochen habe und deren Verstand noch einigermaßen intakt ist, dazu bereit zu sein. Allerdings wird es Ewigkeiten dauern, sie alle hier hinauf zu bringen.“
Passend zu ihren Worten hielt in diesem Moment der Aufzug erneut und spuckte drei Bravianerinnen und einen Echsenmann aus, die den anderen zunickten, bevor der leere Aufzug wieder zu einer anderen Etage fuhr.
„Ich könnte vielleicht helfen“, bot sich Kollom an, öffnete seinen Koffer und zauberte zwei einfache, hellgrüne Ringe hervor.
„Sind die aus Aventurin?“, fragte Pingo.
Kollom nickte.
„Wie soll uns das helfen?“, wunderte sich Nojun.
„Das ist ein Artefakt aus Jin Dragag“, erläuterte Kollom, „es kann ein Portal zwischen zwei Orten erschaffen. Die maximale Reichweite beträgt nur ein paar hundert Meter, aber für unsere Zwecke sollte es reichen. Platziert es einfach im Aufzug, dann braucht dieser sich nicht mehr zu bewegen und jeder, der sich auf einer bestimmten Etage befindet, kann einfach so hindurchspazieren.
„Das wäre wirklich hilfreich“, fand Scavinee, „wie sind Sie an so ein mächtiges Artefakt gekommen?“
„Das bleibt leider mein Geheimnis, meine Liebe“, antwortete Kollom.
In diesem Moment hielt der Aufzug ein weiteres Mal in der obersten Etage und ich stieg aus.

~0~

„Ist das … ich meine ist das wirklich …“, stotterte Scavinee wobei sie sich vor Wut fast verschluckte.
„Ja, das ist Adrian“, sagte Ominee, „aber er ist nicht so wie du denkst, nicht nur. Er ist …“
„Er ist der Vernichter unseres Volkes!“, keifte Scavinee von deren sonst so sanfter Art kaum noch etwas zu erkennen war, „schlimmer noch, er hat die Überlebenden – und auch mich – in geistlose Sklaven verwandelt. Kein Feind kann schlimmer sein, als er. Ich verlange seinen Tod. Mindestens! Denn eigentlich wäre das noch viel zu gnädig für ihn!“
„Er hat sich geändert“, entgegnete Ominee, „zumindest zum Teil. Er hat mich beschützt, mir geholfen und mir die Fehler meines eigenen Handelns aufgezeigt.“
„Danke, dass du mich verteidigst, Ominee“, sagte ich, „aber Scavinee hat recht. Ich habe den Tod vielleicht verdient. Aber ihr verdient ihn nicht und damit er euch nicht ereilt, müssen wir zusammenarbeiten.“
„Glaub nicht, dass mich deine Worte umstimmen können, du Ungeheuer! Du redest stets wie ein Philosoph aber handelst wie ein Mörder und das sagt alles über dich, was man wissen muss. Niemand braucht dich oder deine vergifteten Worthülsen. Hörst du? Niemand!“
„Ich brauche ihn!“, sagte Ominee und ihr Blick sagte mir, dass sie ihren eigenen Todesschwur mir gegenüber beerdigt hatte. Gerade jedoch wäre es mir um ihretwillen fast lieber gewesen, wenn das nicht der Fall gewesen wäre.
„Verräterin!“, schrie Scavinee, „du bist keine Jyllen mehr, wenn du mit dem Feind unseres Volkes gemeinsame Sache machst!“
„Du nimmst mir nicht mein Geburtsrecht!“, sagte Ominee trotzig, auch wenn man ihr ansehen konnte, dass es sie verletzte von einer Frau, die für sie wahrscheinlich so etwas wie eine Legende war, derart behandelt zu werden.
„Nein, das nimmst du dir selbst“, sagte Scavinee eisig.
„Adrian sagt die Wahrheit“, sagte Pingo, „wir müssen zusammenhalten, wenn wir eine Chance haben wollen!“
„Wir bekommen Gesellschaft“, knurrte Autemga.
Das zumindest schien mehr zu bewirken als Pingos oder meine jämmerlichen Versuche Frieden zu stiften.
„Hallo Olevan, Hallo Ominee. So sieht man sich wieder!“, rief Herreth, die sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihre Rilandi-Form aufrechtzuerhalten, sondern ihre ursprüngliche, viel größere Laarmaschk-Gestalt angenommen hatte. Lediglich Herreth gläsernes Gesicht trug sie wie eine zu klein geratene Theatermaske. Die sieben vermeintlichen Rilandi in ihrem Gefolge standen zwar zu ihrer Tarnung und trugen allesamt Hirtenstäbe, ich zweifelte jedoch keine Sekunde daran, dass es sich nicht um echte Rilandi handelte, zumal es auch in ihrer Maskerade kleine Risse und Makel gab.
Ominee verlor keine Zeit und brachte ihren Hirtenstab mit beeindruckender Geschwindigkeit zum Einsatz, indem sie versuchte eine Lichtkugel auf einen von Herreth Schergen abzufeuern. Dummerweise funktionierte das nicht. Alles, was aus Ominees Waffe kam, war ein trauriges, mattes Leuchten, das wirkungslos im Körper ihrer Angreifer verpuffte.
„Scheiße, das Ding ist kaputt!“, fluchte Ominee und ging daraufhin sofort in Deckung.
Wahrscheinlich wären wir alle direkt im ersten Anlauf vernichtet worden, wenn nicht Autemga seine wilde Kraft genutzt hätte, um mitten in die Feinde hineinzuspringen, einen von ihnen mit den Zähnen zu packen und mehrere weitere umzuwerfen. Als er im Sprung zwei Geschosse, die statt aus Licht, aus einer seltsamen, grauen Energie bestanden, mit seinem Körper abfing, brüllte er kurz auf, ließ sich jedoch in seiner Wut nicht stoppen.
Ein weiteres Geschoss aus dem Hirtenstab einer falschen Rilandi mit zwei gläsernen Pippi-Langstrumpf-Gedächtnis-Zöpfen traf Pingos halb versteinerte Haut, die an der Einschussstelle kurz wie Lava aufglühte, was sich in einem Schmerzenslaut und dem Geruch nach verbrannten Fleisch bemerkbar machte. Der Steingeweihte ließ sich jedoch davon nicht entmutigen, rannte erstaunlich schnell zur Seite, zielte und verpasste dem falschen Rilandi eine volle Breitseite mit seiner Kristallkanone, die die Brust seiner Gegnerin so vernichtend traf, dass diese fast in zwei Hälften gerissen wurde und sie kurz darauf zu Schlamm zerfloss.
„Guter Schuss, Pingo!“, lobte ich und beschloss mir die Stelle zu merken, an der Pingo getroffen hatte.
„Danke, Adrian!“, antwortete Pingo strahlend.
Die Begeisterung hielt aber nicht lange an. Herreth stürmte direkt auf mich zu und auch jene falschen Rilandi, die sich nicht im direkten Kampf mit Autemga befanden, eröffneten das Feuer.
Reflexartig warf ich mich auf den Boden und entging so dem gleißenden Tod und den dicken Fäusten der Laarmaschk.
„Ich brauche eine Waffe“, rief ich, „hat jemand von euch eine“, sagte ich fast gleichzeitig mit Ominee und mit Scavinee, die hinter Autemgas Körper Schutz gesucht hatte.
„Hier!“, rief Kollom Nehmer und warf uns drei kleine, weiße Pistolen zu. Ich fing meine auf, drückte auf die Stelle, an der ich den Abzug vermutete und zielte auf die Brust von Herreth, die sich mit einem gewaltigen Sprung auf mich stürzte. Ein Stöhnen aus der Kehle der Laarmaschk zeigte mir, dass sich wie erhofft ein Schuss gelöst hatte. Die Hände, die sich um meine Kehle legten, bewiesen jedoch, dass ich nicht richtig getroffen hatte.

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Autemga brüllte, als er die Hitze in seinem Bauch spürte. Obwohl er bereits zwei seiner Gegner den Kopf abgebissen hatte, hörten sie nicht damit auf ihre verfluchten Waffen auf ihn abzufeuern oder sie sogar in sein Fleisch zu rammen. Dunkles Blut tropfte aus mehreren Wunden und er spürte, wie ihn langsam das Leben verließ. Anders als die Körper seiner Gegner hatte seiner eine feste, dauerhafte Form angenommen und war dadurch auch verwundbarer. Hektisch biss er immer wieder zu, auf der Suche nach einer Schwachstelle und versuchte schließlich nach einer der Waffen zu schnappen, aber die Laarmaschk waren klug genug, sie außerhalb seiner Reichweite zu halten.
„Du hattest kein Recht diesen Körper zu besetzen, Bestie!“, sage einer der Laarmaschk arrogant und drehte dabei die scharfe Spitze der Waffe in der Wunde, „er gebührt einem von uns und deshalb wirst du ihn wieder verlassen.“
Autemga spürte, wie das Geschöpf versuchte an seiner Essenz zu saugen. Das war ein Fehler, dachte Autemga erleichtert. Dieses Spiel beherrschte er.

~0~

„Kollom!“, rief Scavinee, während sie sich unter einem Lichtblitz wegduckte, „bringen Sie Ihre Apparatur an, sobald der Aufzug anhält und fahren Sie bitte mit hinunter, um alles zu erklären. Wir brauchen Verstärkung. Und zwar schnell!“
„In Ordnung!“, sagte Kollom und rannte zum Aufzugschacht.
Fast im selben Moment hielt der Aufzug ein weiteres Mal an und zwei bullige Rorak, eine dünne Frau mit schwarzer Maske und siebenfingrigen Händen, sowie eine Scavinee unbekannte, aber furchterregende Kreatur, die fast zu klein für den Aufzug war, stiegen aus.
„Was zum …“, begann Scavinee, doch ehe sie sich den Neuankömmlingen widmen konnte, stürzte sich ein Laarmaschk auf sie, drückte ihre Arme mit den Knien nieder und setzte seinen Hirtenstab auf ihre Brust. Die Waffe, die sie gerade erst aufgefangen hatte, entglitt Scavinee wieder und rutschte außerhalb ihrer Reichweite ihrer Hand. Der boshaft grinsende Gegner machte sich bereit zuzustoßen.

~0~

Während die Jyllen-Anführerin sich im Kampf befand, rannte Kollom an den Neuankömmlingen vorbei, die ihn verdutzt ansahen, aber ihm sonst nicht viel Beachtung schenkten, platzierte einen der Ringe auf dem Boden direkt vor der Aufzugkabine und stieg dann in die Kabine hinein, wo er plante den zweiten Ring zu platzieren. Dazu kam es jedoch nicht, denn gerade als Kollom sich hinkniete, um den Ring in Position zu bringen, traf eine gläserne Hand hart gegen seinen Hinterkopf, schlug ihn bewusstlos und zerrte ihn aus der Kabine hinaus, wo sie mit flinken Fingern ein paar Einstellungen an der Kabinensteuerung machte.
Dieser Aufzug wird vorerst nirgendwohin fahren, dachte der Angreifer zufrieden. Dann wandte er sich wieder dem Kampfgeschehen zu.

~0~

Gleich drei der Laarmaschk waren auf den dummen Gedanken gekommen, sich an Autemgas Essenz zu vergreifen. Er drehte den Spieß mühelos um und saugte die finstere Seele aus den Angreifern heraus. Diese waren zwar schlauer, als seine letzten Gegner und versuchten noch, sich aus ihm zurückzuziehen, aber Autemga hielt sie fest, bis er sein Mahl beendet hatte und sie als harmloser Schleim auf den Boden tropften. Er spürte, wie neue Kraft in ihn strömte und seine Wunden heilten. Sie hätten ihn beinah besiegt, aber eben nur beinah. Sein Körper mochte noch verwundbar sein, aber sein Wille war es nicht.

~0~

Scavinee sah das Ende ihrer Stadt noch einmal an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen, so wie sie es in den endlosen Albträumen gesehen hatte, mit denen man sie an diesem Ort gequält hatte. Während sie diese Bilder damals jedoch eher gelähmt und traumatisiert hatten, weckten sie diesmal vor allem Trotz und Zorn in ihr. Sie hatte so vieles durchlitten und überstanden, sie würde hier nicht sterben.
Nein, sie würde sich rächen. An Adrian und allen anderen, die ihr oder den ihren Unrecht getan hatten. Diesen Zorn, der sich als saurer Speichel in ihrem Mund sammelte, spuckte sie ihrem Feind direkt in sein Gesicht.
Dieser schrie auf, griff sich in die Augen, um sich den aggressiven Speichel aus den empfindlichen Wahrnehmungsorganen zu wischen und lockerte für einen Moment den Griff um seine Waffe. Dieser Moment reichte Scavinee aus.
Da ihre Hände noch immer blockiert waren, nutzte sie ihre Anmella-Stränge um ihn seine Waffe zu entreißen und rammte sie ihm in den Bauch. Erneut brüllte der Laarmaschk vor Schmerz, da sich jedoch sein Körper noch immer nicht auflöste, rollte sie den geschwächten Mann von sich herunter, angelte nach ihrer Pistole und feuerte so lange in seinen Bauch und seine Brust, bis sie endlich die richtige Stelle gefunden hatte und sich der Körper ihres Feindes in seine schleimigen Überreste auflöste. Die Waffe, die in ihm gesteckt hatte, fiel zu Boden.

~0~

„Eins wollte ich dir noch sagen, bevor du stirbst“, hauchte Herreth mit ihrer düsteren Stimme in mein Ohr, während ihre Hände das Leben aus mir herausquetschten.
„Danke für diese Revolution. Ohne sie hätte es noch Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte gedauert, bis wir die Macht ergriffen hätten. Natürlich verdamme ich eure Beweggründe dennoch. Was die Rilandi taten, war richtig. Sie taten es nur auf die falsche Weise, indem sie ihre Energie aus Hoffnung und Hingabe, statt aus Angst bezogen. Wir werden es besser machen.“
„Wir haben die Webmaschine zerstört“, brachte ich mit meinem schwindenden Atem hervor. Dunkle Schatten wuchsen vor meinen Augen und ich konnte nicht sagen, ob sie vom Sauerstoffmangel oder von Herreth ausgingen.
„Zerstörtes lässt sich wieder aufbauen“, antwortete Herreth gleichgültig.
„Nich‘, wenn man es ordentlich macht!“, sagte Korf, packte Herreth mit seinen Pranken und drosch ihr seine rechte Faust so fest gegen den Kopf, dass er abknickte, während Karmon, der neben ihm auftauchte einen Schattenstrahl in ihren Brustkorb donnerte und ihrem Leben damit ein Ende setzte.
„Ich danke euch beiden“, sagte ich.
Korf spuckte mir dickflüssigen Rotz ins Gesicht, der zwar unangenehm roch, jedoch wenigstens nicht ätzend war, wie der der Jyllen, „Scheiß auf deinen Dank. Ich hab dich nur gerettet, weil ich mich von einer dahergelaufenen Gestaltwandlerin nicht um meine Rache an dir bringen lasse. Sollte dein Schoßhund hier einmal von deiner Seite weichen, werden diese Fäuste dich treffen, klar?“
„Klar“, sagte ich und ergriff Karmons Hand, der sie mir anders als Korf entgegenstreckte. So langsam begann ich mich an Todesdrohungen zu gewöhnen. Man erntet, was man sät, dachte ich.
Als ich dank Karmons Unterstützung wieder auf meinen Beinen stand, bemerkte ich, dass sich Autemga, Jarma, Ominee und der unbekannte Rorak um die verbliebenen Laarmaschk gekümmert hatten. Fürs Erste hatten wir Ruhe. Zumindest was die Laarmaschk betraf.
„Erst der Schlächter, dann Gestaltwandler und nun auch noch stinkende Rorak“, empörte sich Scavinee, „Es ist, als hätte sich hier die schmierige Asche gesammelt, die Mutter Flammes Feuer verschmäht hat.“
„Pass auf, was du sagst Jyllen-Fotze!“, knurrte Korf.
„Vor meinen Worten solltest du dich nicht fürchten“, sagte Scavinee kalt, „aber vielleicht vor dem, was ihnen folgt.“
„Wir sollten uns endlich wie Erwachsene benehmen“, unternahm Pingo erneut einen Deeskalationsversuch, „das wird nicht der letzte Angriff gewesen sein.“
Diesmal schienen seine Worte auf fruchtbareren Boden zu fallen. Ein wenig fruchtbarer zumindest.
„Stimmt“, pflichtete Korf Pingo bei, „gibt ja noch mehr abzumurksen, als nur hässliche Jyllen. Diese Lehmbeutel sind wenigstens eine kleine Herausforderung für einen Krieger. Apropos Krieger – was ist eigentlich mit diesem scheiß Aufzug los? Hier sollte es doch längst von blutgierigen Bastarden wimmeln, die nur darauf warten von mir in die Schlacht geführt zu werden.“
Alle blickten zum Aufzug und erblickten Kolloms reglosen Körper. Jarma war als erste bei ihm und fühlte seinen Puls.
„Er lebt noch“, befand sie und nachdem sie ihm etwas aus seiner Arzttasche verabreicht hatte, wobei es sich jedoch nicht um Gesundheit handelte, soweit ich es beurteilen konnte, begann er sich wieder zu regen.
„Der Aufzug lässt sich nicht mehr bewegen“, stellte Pingo fest, der sich nun ebenfalls zur Aufzugkabine begeben hatte, „irgendjemand muss die Steuerung blockiert haben.“
„Wahrscheinlich einer der falschen Rilandi“, vermutete Kollom, der nun wieder einigermaßen zu Bewusstsein gekommen zu sein schien, „jemand hat mich mit etwas erwischt, dass sich ziemlich nach einer Gestaltwandlerfaust anfühlte.“
„Das passt zur Wunde an seinem Hinterkopf“, bestätigte Jarma, „dort gibt es sogar noch Spuren von Amorphium. Und von Glassplittern.“
„Es war keiner von den Viechern in der Nähe des Aufzugs“, sagte der unbekannte Rorak, „die waren alle im Kampf.“
„In diesem Fall …“, überlegte Kollom und blickte zu Treva und Nojun, die zusammen mit der murmelnden Garwenia an der Wand lehnten.
„Was siehst du uns beide denn so an?“, empörte sich Nojun.
„Nun, ihr tragt als einzige die Gestalt, die die Laarmaschk mit Vorliebe annehmen“, erklärte Kollom.
„Ich bin blind“, verteidigte sich Treva, „wie bitte soll ich den Aufzug manipuliert oder den Deovani niedergeschlagen haben?“
„Guter Punkt“, gestand Kollom zu, „dann war es wohl dieser Gentleman hier.“
„Ich kann es ja wohl auch nicht gemacht haben“, verteidigte Nojun sich, „ich bin neben Olevan die Triebfeder dieses ganzen Widerstandes gewesen. Ich hasse all das hier. Ich verabscheue die Selbstgerechtigkeit der Rilandi und genauso hasse ich die Laarmaschk. Außerdem kann ich schon rein technisch keiner von ihnen sein. Du warst mit mir bei der Speisung, Adrian. Du hast gesehen wie mein Laarmaschk aussah. Er war noch nicht vollständig.“
Ich wollte Nojun glauben, aber unwillkürlich hallten Herreth Worte in meinem Kopf nach „Danke für diese Rebellion.“
„Da wir es nicht herausfinden können, sollten wir die beiden am besten Fesseln oder gleich umlegen“, schlug Korf wenig subtil vor.
„Typisch Rorak“, sagte Scavinee, „ihr kennt nichts außer Gewalt.“
„Oh, wir können es herausfinden“, widersprach Kollom, „mein Manifestor fertigt automatisch Aufzeichnungen von allem an, was um ihn herum passiert. Ich brauche sie nur abzurufen. Einen Moment.“
Kollom beugte sich zu seinem Koffer hinunter, doch noch bevor er ihn geöffnet hatte, stieß Nojun die neben ihm stehende Treva hart um und rannte auf die Tür zu. „Hey, warte Freundchen!“, sagte Ominee und platzierte einen gut gezielten Schlag mit dem Hirtenstab, dem Nojun jedoch knapp entging. Was dieser zunächst für Glück halten mochte, entpuppte sich als großes Pech, als er stattdessen in die Fänge Autemgas geriet, der die Entfernung zu ihm mit einem großen Sprung überwand und seine Beine zwischen den Kiefern zermalmte, die sich jedoch augenblicklich verflüssigten und eine neue Form anzunehmen versuchten.
„Töte ihn nicht, Autemga!“, bat Karmon, „noch nicht!“
Die Bestie warf Karmon einen wilden Blick zu, aber entsprach seinem Wunsch. Inzwischen wurde der Verräter von allen Anwesenden umringt und unter anderem von Scavinee, Pingo, Ominee und Jarma mit der Waffe bedroht. Auch ich hatte den Hirtenstab eines der toten Laarmaschk aufgehoben und ihn auf Nojun gerichtet.
„Wie lange trägst du dieses Gesicht schon?“, fragte ich und verbot mir Enttäuschung oder Trauer, da ich den Mann, der meine Freundschaft vermeintlich missbraucht hatte, in Wahrheit nie kennengelernt hatte. Dennoch tat es weh. So wie man sich selbst in fiktive Buch- oder Zeichentrickfiguren verlieben konnte oder Filmbösewichte mit Inbrunst hassen konnte, konnte man auch von einer falschen Identität enttäuscht werden. Die Psyche war ein wirklich abgefucktes Ding.
„Einige Jahre“, sagte Nojun grinsend, „anfangs hab ich es gehasst, weißt du? Dieser Typ ist so schwach und gutgläubig gewesen. Aber mit der Zeit habe ich auch die Vorteile zu schätzen gelernt. So jemandem wie ihm vertraut man leicht. Ich denke, du weißt, was ich meine, oder?“
Mir lagen weitere Fragen auf der Seele. Was es mit Nojuns Laarmaschk auf sich hatte, den ich bei der Fütterung gesehen hatte, zum Beispiel oder warum er mich vor den Scyonen und vor Ominee gewarnt hatte. Aber die meisten dieser Fragen glaubte ich mir entweder selbst beantworten zu können oder sie waren irrelevant. Draußen tobte noch immer ein Krieg und so gab es nur eine Frage, die wirklich zählte. „Kannst du den Aufzug wieder zum Laufen bringen?“
„Ja“, sagte Nojun gackernd.
„Wirst du es auch tun?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete Nojun, „ihn zu manipulieren war ein Befehl des Geistspiegels und ich würde ihn niemals hintergehen.“
„Wer oder was is‘n Geistspiegel?“, fragte Korf, aber Nojun antwortete nicht darauf.
„Gut“, sagte ich kalt, „dann tötet ihn!“
Das eigene Todesurteil löste keine Regung auf Nojuns Gesicht aus. Der Laarmaschk hatte sich erstaunlich gut im Griff.
Scavinee rührte keinen Finger, wahrscheinlich weil sie meinen Befehlen schon aus Prinzip nicht gehorchen wollte und Pingo schien der Gedanke, einen Wehrlosen zu ermorden – ob nun Gestaltwandler oder nicht –, anzuwidern. Der Rest schien noch unschlüssig zu sein.
„Gerne“, knurrte Autemga, auch wenn er mit vollem Mund nur schwer zu verstehen war, „aber das würde nur seinen Körper betreffen. Seine Seele könnte entfliehen. Würde er versuchen, sich an meiner Essenz zu vergreifen, wäre es etwas anderes, aber dazu kann man ihn leider nicht zwingen.“
„Vielleicht gibt es noch eine andere Lösung“, überlegte Jarma.
„Welche?“, fragte ich.
„Ich könnte das Amorphium, aus dem er besteht, so verändern, dass es ihm zum Gefängnis werden würde“, sagte Jarma, „nicht nur könnte er seine Form dann nicht mehr anpassen und sich nicht mehr bewegen, er wäre auch nicht in der Lage diesen Körper zu verlassen.“
„Das vermagst du nicht!“, sagte Nojun arrogant, doch mit einer Spur Unsicherheit in der Stimme.
Jarma beugte sich zu ihm vor. In ihrem Gesicht lag eine von keinerlei Mitgefühl oder Ethik getrübte medizinische Neugier, die selbst mir einen Schauer über den Rücken jagte. „Ich habe das Material erschaffen, aus dem dein Körper besteht, Nachahmer. Ich kenne es also sehr gut und es gibt kaum etwas, was ich nicht damit tun könnte“, drohte sie.
„Tu es“, sagte ich mitleidlos.
Jarma nickte und kramte in ihrer Arzttasche.
„Nein, das ist grausam“, rief Pingo, „selbst bei einem wie ihm. Das darfst du nicht machen, bitte Jarma!“
„Er hat recht“, stimmte Ominee zu, „Ihn umzubringen genügt. Soll er in das Geflecht oder irgendeine andere Schattendimension fliehen und dort sein Unwesen treiben. Hauptsache er belästigt uns hier nicht mehr. Wir brauchen uns nicht die Hände schmutzig zu machen.“
Doch Jarma holte eine kleine, dickbäuchige Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit hervor, zog eine Spritze auf und ging damit auf Nojun zu.
„Nein!“, sagte er schließlich, als die metallene Spitze schon beinah seine Haut berührt hatte. Inzwischen wirkte er gar nicht mehr so gelassen. „Bitte!“, flehte er, „ich werde den Aufzug wieder in Gang bringen!“
„Warum nicht gleich so“, sagte ich grinsend, „Autemga, lass ihn bitte los, aber behalte ihn im Auge.“
Autemgas Kiefer öffnete sich und Nojun rappelte sich auf, wobei ihm nicht nur die Blicke des Mischwesens, sondern auch die Waffen der Anwesenden folgten.
Nojuns Finger begannen ihr Werk und er machte sich mit flinken Bewegungen an den Kontrollen zu schaffen, wobei seine Finger manchmal die Form bestimmter Werkzeuge annahmen, was mitunter mehr als grotesk wirkte. „Nun funktioniert er wieder“, sagte Nojun schließlich.
„Das hoffe ich für dich“, sagte Jarma und hob böse lächelnd die Spritze.
„Irgendjemand muss es ausprobieren“, sagte ich, „wenn kein anderer diese Ehre für sich beansprucht, würde ich …“
„Ich gehe“, sagte Scavinee, „ich erkläre den Leuten auf meiner Ebene wie das mit dem Portal funktioniert, damit sie nicht in Panik verfallen. Sobald sie alle hier sind, kann der … Rorak das mit seiner Ebene tun. Danach kümmern wir uns um den Rest.“

~0~

Scavinee kehrte heil mit den ersten Gefangenen zurück, die dort, wo Kollom den Ring platziert hatte, einfach in der Luft erschienen und dabei einen ziemlich verwunderten Eindruck machten.
„Du hast Wort gehalten“, sagte ich zu Nojun, „dafür bekommst du einen schnellen Tod. Wie willst du sterben?“
Nojun sah mich finster an, dann jedoch wurde sein Blick plötzlich weicher und sein Körper, der sich in einem Zwischenstadium zwischen Nojun- und Lehmgestalt befunden hatte, nahm nun gänzlich die Form des Rilandi an, „Ziele auf diese Stelle“, sagte er und deutete auf einen Bereich über seinem Bauchnabel, „in dieser Gestalt ist das zwar nicht der einzige Weg uns zu töten, aber so wird es schnell und schmerzlos gehen.“
Ich nickte und setzte den Hirtenstab an der beschriebenen Stelle an.
„Was wird mit dir passieren?“, fragte ich den Laarmaschk, „gehst du wirklich ins Geflecht?“
„Ja“, antwortete Nojun, „aber ich werde meine Erinnerungen an diese Existenz verlieren.“
„Das tut mir leid“, sagte ich mit aufrichtigem Bedauern, „aber du weißt, dass ich dein Leben nicht verschonen kann.“
Nojun nickte. „Ich glaube, der echte Nojun hätte dich gemocht“, sagte der Laarmaschk und schenkte mir ein warmes Lächeln, in dem ich nicht einmal Ironie entdeckte.
„Das werden wir wohl nie erfahren“, sagte ich ernst, zwang mich jedoch ebenfalls zu lächeln. Dann schoss ich und beendete die Existenz des Gestaltwandlers in dieser Ebene. Kurz darauf entschwebte sein Geist als hellgrauer Schatten zur Decke und verblasste. Ich bemerkte, wie meine Augen feucht wurden und wischte mir eine Träne weg.
„Irgendwie traurig“, sagte Pingo.
„Er war ein Monster“, sagte Scavinee schulterzuckend.
„Dieses Leben ist eine Monsterfabrik“, sagte Ominee nachdenklich, „und wer kein Mitleid mit Monstern hat, ist vielleicht schon selber eins geworden.“
Gerade weil in ihrer Stimme kein Vorwurf, kein Zynismus und keine Aggressivität mitschwangen erschauerte Scavinee bei ihren Worten schuldbewusst. Auch mir gingen sie nahe. Wenn auch aus anderen Gründen.
„Aber es war wirklich ein genialer Bluff von dir und Adrian“, sagte Pingo zu Jarma, “auch ich hätte dir beinah geglaubt, dass du ihn wirklich zu einer lebenden Statue gemacht hättest.“
„Das hätte ich auch getan, Pingo“, sagte Jarma ernst, „zumindest, falls er nicht kooperiert hätte.“
„Oh!“, sagte Pingo und seine Gesichtszüge entgleisten für einen Moment, „du weißt, dass mir irgendwann das Gleiche Schicksal bevorsteht.“
„Ja“, sagte Jarma mitfühlend, „aber im Gegensatz zu ihm, hättest du es nicht verdient.“
„Bei so viel Gefühlsduselei wird einem ja schlecht“, beschwerte sich Korf, „Mir wurde ein Krieg versprochen und jetzt stehen alle hier rum und halten Trauerreden.“
„Für deinen Krieg brauchen wir Soldaten“, erinnerte ihn Treva, „und die müssen erst mal hier hochgeschafft werden.“
Inzwischen waren bereits weitere ehemalige Gefangene angekommen und bald darauf folgte ihnen ein regelrechter Strom. Die meisten der Befreiten sahen ziemlich abgekämpft und traumatisiert aus, einige wirkten wütend und bei manchen hatte ich den Eindruck, dass sie Dinge in der leeren Luft anstarrten, die sie entweder zu fürchten oder zu hassen schienen. Wieder andere waren in einem ähnlichen Zustand wie Garwenia oder noch schlimmer und murmelten irgendwelches sinnloses Zeug oder versuchte gar, sich selbst zu verletzen.
„Was machen wir mit ihnen?“, fragte Scavinee, „ich glaube nicht, dass wir sie in Kampf schicken können und einfach hierlassen können wir sie auch nicht.“
„Ich kann sie in Sicherheit bringen“, bot Kollom an und tippte auf seinen Koffer.
„Du würdest sie alle in deinen Koffer hineindigitalisieren, so wie du es mit Sandra getan hast?“, fragte ich skeptisch.
„Ich würde darauf nicht eingehen, Adrian“, sagte Karmon, „Kollom macht dieses Angebot sicher nicht aus Mitgefühl. Du willst sie unter Vertrag nehmen, oder?“
Kollom nickte, „ja, aber nur mit befristeter Laufzeit. Sie müssten ein paar einfache Arbeiten für mich erledigen und nach … sagen wir einem halben Jahr könnten sie gehen, wohin sie wollen.“
„Arbeiten?“, fragte Scavinee fassungslos, „Diese Leute sind doch kaum in der Lage irgendwelche Verträge zu verstehen. Die Meisten wissen nicht einmal, was um sie herum geschieht.“
„Ich verfüge über ein Artefakt, welches in der Lage ist den Lebenswillen einer Person zu prüfen. Wollen sie weiterleben, würden sie sicher meinen Bedingungen zustimmen, weswegen ich das nach deovanischem Recht als vorläufige Zustimmung werten kann. Außerdem verfüge ich über gute Psychologen und psychologische Hilfsprogramme, die ihren logischen Verstand und ihre grundlegende Arbeitsfähigkeit wiederherstellen können. Das wird sicher ein paar Wochen dauern, aber für diesen Fall gewähre ich ihnen eine einmonatige Rücktrittoption. Stimmen sie den Bedingungen dann erneut zu, werden sie ihren Dienst gegen ein angemessenes Entgelt ableisten und bekommen ihre wiederhergestellte geistige Gesundheit als Bonus. Lehnen sie dann ab, werde ich ihren ursprünglichen geistigen Zustand wiederherstellen lassen und sie können in Deovan ihrer Wege gehen.“
„Ich dachte bisher, dass Adrian das größte Ungeheuer in diesem Raum ist“, sagte Scavinee, „aber Sie sprengen wirklich alle Maßstäbe.“
„Weil ich helfen will?“, fragte Kollom überrascht.
„Weil Ihnen das Wohlergehen dieser Leute scheißegal ist und sie nur billige Arbeitskräfte wollen“, antwortete Ominee.
„Ich bin eben ein Geschäftsmann“, sagte Kollom schulterzuckend, „ich gebe etwas und bekomme etwas. So ist das Leben.“
„In Deovan vielleicht“, warf Pingo ein.
„Im Grunde überall, Herr Dellagrahn“, widersprach Kollom, „überall im Multiversum handelt man gnadenlos. Ob nun mit Geld, Aufmerksamkeit, Hoffnung, Vertrauen, Sicherheit oder Zuneigung. In den Lebensmärkten sind wir nur ehrlicher und verstecken uns nicht hinter irgendwelchen Philosophien.“
„Klingt mir nach schlechtem Marketing“, kommentierte ich.
„Nun, zumeist funktioniert es“, sagte Kollom lachend.
„Ich weiß genügend über das Multiversum, um zu wissen, dass Sie falsch liegen“, sagte Pingo, „es gibt viele Welten – und Individuen – die nicht so funktionieren.“
„Wie Sie meinen“, sagte Kollom schulterzuckend, offenbar vor allem, weil er das Interesse an dem Gespräch verloren zu haben schien, „aber mein Angebot steht, falls Sie keinen besseren Vorschlag haben.“
„Ich fürchte, wir müssen darauf eingehen“, meinte Ominee, „wenn wir sie hierlassen und wir die Schlacht verlieren, werden sie mit Sicherheit sterben oder Schlimmeres. So haben sie zumindest eine Überlebenschance. Mir würde leider nichts Besseres einfallen.“ Auch von mir und den anderen kam kein Vorschlag.
„Also gut“, sagte Scavinee, „tun Sie es, aber ich warne Sie, wenn ich irgendwie erfahre, dass Sie diese Leute misshandelt haben, werde ich Sie dafür zur Rechenschaft ziehen.“
„Natürlich“, stimmte Kollom leichtherzig zu. Wahrscheinlich wusste er so gut wie ich und auch Scavinee, dass sie sein Verhalten niemals würde sanktionieren können.
Kollom ging zu der Gruppe der Verwirrten, nahm einen neuneckigen Anhänger, der an seinem Hals baumelte und begann damit ihren Lebenswillen zu prüfen. Bei den meisten leuchtete der Anhänger grün auf, was ich als „Ja“ interpretierte, da er die entsprechenden Personen in seinem Koffer verschwinden ließ. Die Wenigen, bei denen der Anhänger „rot“ anzeigte ließ er hier. Zum Sterben womöglich. Ich schwor mir dennoch diesen Krieg zu gewinnen und hierher zurückzukehren, um mich um diese Leute zu kümmern. Ob auf Kolloms komisches Artefakt Verlass war, bezweifelte ich stark.
Als er bei Garwenia ankam, traf ich eine spontane Entscheidung. „Garwenia bleibt hier“, sagte ich.
„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Pingo, „sie ist kaum bei Bewusstsein.“
„Treva?“, fragte ich die Rilandi, „kannst du Sie beschützen?“
„Du meinst, weil ich in meinem Zustand kaum eine Hilfe im Kampf wäre?“, fragte die Rilandi etwas gekränkt.
„Ja“, sagte ich aufrichtig und versuchte dabei nicht zu beleidigend zu klingen.
„Aber um deine Freundin zu beschützen ist eine Blinde gut genug, was?“, fragte Treva spitz.
„Sie ist nicht meine Freundin. Nicht mehr. Aber sie hat es nicht verdient auf dem Schlachtfeld zu sterben oder in Kolloms Koffer zu landen“, antwortete ich.
„Ach und die anderen haben das verdient, weil sie nicht das Glück haben ehemalige Freunde von dir zu sein?“, erwiderte Treva.
„Müssen ich wirklich moralische Diskussionen mit jemanden führen, der es in Ordnung findet wildfremden Gesellschaften seine Regeln aufzudrücken?“, fragte ich möglichst sachlich, um keinen unnötigen Streit zu provozieren.
„Das musst du wohl“, erwiderte Treva, „zumindest, wenn du etwas von demjenigen willst.“
„Wirst du ihr nun helfen?“, fragte ich, „oder will sich jemand, der sich dem Licht verschrieben hat wirklich weigern eine hilflose Person zu beschützen? Wenn dem so ist, scheint eure Philosophie wirklich nur reine Propaganda gewesen zu sein.“
Das saß, wie ich an Trevas Gesichtsausdruck ablesen konnte. „Ich werde es tun“, sagte sie zähneknirschend.
„Danke!“, sagte ich, „ich werde sofort nach euch sehen, sobald ich kann.“
„Will ja ungern wieder stören“, knurrte Korf, „aber wenn wir schon quatschen müssen, könnten wir auch mal über unser eigenes Schicksal reden, statt darüber zu debattieren, wohin wir irgendwelche Irren und Heulsusen verschiffen. Wie soll es weitergehen, falls wir das hier überleben? Ich für meinen Teil habe wenig Lust auf diesem Kackplaneten zu versauern. Gibt es irgendeine Möglichkeit von hier zu verschwinden? Am besten direkt ins gute alte Konor zu meiner lieben kleinen Kora.“
„Gute Frage“, gestand Ominee ein.
„Ja und nein“, meldete sich Treva zu Wort, „Uranor verfügt über eine kleine Raumflotte. Das hat mir Kollat einmal erzählt. Im Grunde handelt es sich um uralte Whe-Ann-Technologie, die man in neue Hüllen aus weißem Stahl und hoch stabilem Glas gepackt hat. Sie soll wohl irgendwo im Untergrund verborgen sein, aber wo weiß ich nicht und ich weiß auch nicht, ob sie noch einsatzfähig ist. Sie wurde wohl lange nicht mehr benutzt. Außerdem kann es sein, dass der Flug zu anderen Welten sehr lange dauert. Leider weiß ich selbst nicht genau, wo Uranor liegt.“
„Das klingt eher suboptimal“, fand Scavinee, „aber nicht nach einem ‚Nein‘.“
„Tja, leider gibt auch noch ein anderes Problem“, fuhr Treva fort, „vielleicht ist es euch noch nicht aufgefallen, aber die Meisten von euch sind technisch gesehen tot. Dieser Planet wurde nicht ohne Grund von uns Rilandi als Basis ausgewählt. Er besitzt eine gewisse Anziehungskraft für Seelen – eine Astralgravitation könnte man sagen. Und diese hält sie nicht nur hier, sondern gibt ihnen auch die Körper zurück, die sie zu Lebzeiten besaßen. Solange sie hier sind, verhalten diese sich fast genauso wie normale Körper, aber wenn sie Uranor verlassen, ist nicht sicher, was mit ihnen passiert. Einigen gelingt es wohl ihre körperliche Form aufrechtzuerhalten und ihr gewohntes Leben fortzusetzen, bis sie altern und sterben. Viele jedoch finden nicht zurück in ihren natürlichen Rhythmus, behalten ihre momentane Gestalt bei und verschwinden irgendwann einfach. Manchmal nach Stunden, Tagen oder Wochen, manchmal auch erst nach Jahren oder Jahrzehnten.“
„Kollat hat dir wirklich eine Menge erzählt“, meinte Ominee mit einer Spur von Neid in der Stimme.
„Das heißt, wenn wir Pech haben, lösen wir uns noch im Raumschiff auf, lange bevor wir unseren Bestimmungsort erreichen?“, folgerte Scavinee.
„So ist es“, stimmte Treva zu.
„Das ist mies“, sagte Korf, „ich meine, für Kora würde ich jedes Risiko eingehen, aber mir wär lieber, wenn die Chancen besser stehen würden.“
„Vielleicht gibt es noch eine bessere Möglichkeit“, überlegte ich.
„Welche denn, Kleiner?“, fragte Korf interessiert.
„Ich könnte Moydrur bitten euch zu helfen“, antwortete ich, „die Scyonen sind ebenfalls in der Lage die Welten zu wechseln und soweit ich weiß, geht das deutlich schneller als mit einem Raumschiff. Vielleicht kann er euch mit sich nehmen. So würdet ihr zumindest an eurem Zielort ankommen.“
„Falls das funktioniert, wäre das eine wirklich gute Idee“, gab Scavinee zu, „auch wenn ich nicht eben viel von Scyonen halte.“
„Bist du dir sicher, dass Moydrur uns helfen wird?“, fragte Ominee, „schon für Nojuns Heilung hatte er eine Gegenleistung verlangt. Ich bin gespannt was er sich jetzt ausdenkt.“
„Das lässt sich herausfinden“, sagte ich, „ich muss ohnehin mit ihm reden, wenn wir nicht wollen, dass wir weiter gegen die Scyonen UND die Laarmaschk antreten müssen. Allerdings wäre es gut, wenn Autemga mich begleiten könnte. Moydrur ist von Macht fasziniert und Autemga besitzt sie definitiv.“
„Da kann ich nicht widersprechen“, brummte das Mischwesen geschmeichelt.
„Ich komme mit euch“, sagte Ominee.
„Ich ebenfalls“, schloss sich Scavinee an, „ich möchte gerne wissen, was uns da draußen erwartet.“
„Ok“, sagte Korf, „dann kümmer ich mich darum, dass die Rekruten weiter fleißig anrücken. Ach ja, wo wir gerade dabei sind: Wir brauchen immer noch Waffen. Hey, Anzugtyp!“
Er sah zu Kollom herüber, „hast du Totmacher in deinem Köfferchen? Der kleine Verräter meinte, da wär bei dir was zu holen. Stimmt das, oder muss ich erst meine Seele an dich verscheuern oder so was?“
„Das wird nicht nötig sein“, sagte Kollom lächelnd, „Sie können bezahlen, indem Sie mich beschützen. Vorausgesetzt, Sie geben die Waffen hinterher zurück. Die Uniformen, die ebenfalls zur Gesamtausstattung gehören, können sie erst mal behalten.“
„Geht klar“, sagte Korf.
„Nun wo das geklärt ist, sollten wir lieber keine Zeit mehr verschwenden“, sagte ich und ging zur Tür hinaus. Die anderen folgten uns.
„Viel Glück“, rief Pingo uns hinterher.

~0~

draußen herrschte inzwischen nur noch schwaches Dämmerlicht und die frühlingshaften bis frühsommerlichen Temperaturen, die für gewöhnlich in der Festung herrschten, hatten sich auf die eines durchschnittlichen Herbsttages abgekühlt. Trotzdem erkannte ich, dass der Kampf zwischen den Scyonen und den Laarmaschk noch immer tobte. Die beiden Parteien schienen sich in einer Art Patt zu befinden, was in gewisser Weise unser Glück war. Jedoch erkannte ich auch, dass das blendende Licht, welches das Eingangstor in die Festung schützte, schon beinahe verschwunden war.
Sobald diese Barriere fort wäre, würde das die Pattsituation womöglich beenden. Zugunsten welcher Seite, ließ sich jedoch nicht sagen. Vor allem jene Gestalt, die wie eine Spinne in der Mitte des Schlachtfeldes, hockte verhinderte, dass ich allzu zuversichtlich wurde. Es handelte sich um Wornaara, jedoch hätte es nicht den Anblick der Wellen aus schmutzigem grauem Licht gebraucht, mit denen er die Scyonen beschoss, um mir klarzumachen, dass es sich nicht mehr um das Original handelte. Schon allein seine finstere Ausstrahlung machte dies überdeutlich.
„Mein Gott“, meinte Scavinee, „Dieses Ding wird ein harter Brocken!“
„Ja“, stimmte ich zu, „aber wenn wir ihn nicht knacken, könnte das für sehr viele Welten üble Folgen haben.“
„Meinst du, dass Moydrur überhaupt noch lebt?“, fragte Ominee.
„Das werden wir gleich sehen“, antwortete ich und rief Moydrurs Namen. Erst passierte nichts und ich fragte mich für einen Moment, ob er tatsächlich tot war oder ob ich seinen Namen wie im Märchen dreimal würde rufen müssen. Dann jedoch schälte sich die Gestalt des Scyonen aus einem kleinen Dimensionsriss direkt vor uns.
„Dir scheint wirklich daran gelegen zu sein die Aufmerksamkeit des Geistspiegels auf dich zu lenken, Oberkarzon“, sagte Moydrur.
Scavinee warf mir einen besonders verachtenden Blick zu, als sie die längst nicht mehr aktuelle Rangbezeichnung hörte.
„Wer ist der Geistspiegel?“, fragte Ominee.
„Der Anführer der Laarmaschk, der jetzt Wornaaras alten Körper übernommen hat“, erklärte Moydrur, „er macht uns Scyonen weit mehr zu schaffen, als seine minderwertigen Diener und deshalb solltet ihr euch kurzfassen. Auf diesem Schlachtfeld sterben meine Geschwister.“
„Ich habe zwei Bitten an dich“, sagte ich.
„Oh, das nenne ich gewagt, Oberkarzon“, sagte Moydrur schroff, „vor allem für jemanden, dem ich schon eine Menge Bitten erfüllt habe und der noch immer in meiner Schuld steht.“
Zuerst machte Moydrur beinah den Eindruck, wieder verschwinden zu wollen. Dann jedoch fiel sein Blick auf die dicken Muskeln, die wilden Augen und das mächtige Gebiss von Autemga. Wie erhofft, schien ihm zu gefallen, was er sah. Er blieb.
„Das ist mir bewusst“, sagte ich, „natürlich bin ich auch bereit, dafür zu bezahlen.“
„Das höre ich gerne“, sagte Moydrur ungeduldig wobei er immer wieder einen Blick zurück aufs Schlachtfeld warf, „doch nun rede! Was willst du?“
„Ich will, dass wir uns gegen die Laarmaschk verbünden und keiner von deinen Leuten uns mehr angreift. Und ich möchte eine sichere Passage aus Uranor heraus für jeden, der sie nutzen will“, sagte ich.
„Das ist eine Menge“, sagte Moydrur, „du musst wissen, dass nicht jeder meiner Schwestern und Brüder so diszipliniert ist wie ich und ich bin auch nicht direkt ihr Anführer. Ich bin ihr Annfäet und trage diesen Ehrentitel, weil ich mich für sie aufgeopfert und die Befreiungsaktion gegen unsere Unterdrücker durchgeführt habe. Dadurch besitze ich ihren Respekt, aber nicht unbedingt ihren Gehorsam. Außerdem sind sie müde vom Kampf, ganz besonders, nachdem praktisch alle Rilandi – außer euch – vernichtet wurden. Die Laarmaschk hassen wir zwar ebenfalls, aber sie haben uns zumindest nicht über Jahrhunderte eingepfercht und vor langer, langer Zeit waren sie sogar so etwas wie unsere Verbündeten. Es gab bereits erste Stimmen, die eine sofortige Heimkehr gefordert haben, während andere erst gehen wollen, wenn all unsere Feinde im Staub liegen. Damit meinen sie auch euch.“
„Ihr müsst auch nicht bis zum bitteren mit uns Ende kämpfen. Helft uns, diesen Geistspiegel niederzuwerfen. Dann könnt ihr wieder verschwinden und wir kümmern uns um den Rest“, schlug ich vor, „Meinst du, du kannst deine Leute unter diesen Bedingungen davon überzeugen, dass sie vorerst darauf verzichten uns anzugreifen?“
„Ich werde es versuchen“, versprach Moydrur, „was deinen anderen Wunsch betrifft, so habe ich zwar viel von meiner Macht verloren, aber womöglich bin ich noch in der Lage einige von deinen Freunden in den Zwischenraum mitzunehmen. Normalerweise kann ich auch diesbezüglich nichts versprechen, denn wie du weißt, fällt es uns Scyonen schwer, einen bestimmten Ort für unsere Reisen anzuvisieren. Aber da viele meine Geschwister über Jahrhunderte dafür missbraucht wurden, ganz bestimmte Welten zu beeinflussen, sollten sie zumindest diese Welten recht zuverlässig finden können. Falls sie den Kampf überleben, werde ich sie darum bitten, euch zu helfen. Das ist alles, was ich für euch tun kann. Doch dafür verlange ich auch eine angemessene Gegenleistung.“
„Welche?“, fragte ich und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
„Dein erstgeborenes Kind“, sagte Moydrur, „und danach jedes weitere, das du je zeugen wirst.“
„Was?“, fragte ich prustend in der Annahme, dass es sich nur um einen finsteren Scherz handeln konnte, „Willst du seine Seele einem Dämon opfern, oder was?“
„Mitnichten. Ich würde meinen Besitz nicht mit irgendeinem Wesen teilen, das kein Scyone ist. Außerdem will ich nicht seine Seele, ich will seine Verzweiflung, sein Blut und sein Fleisch für mich und meine Geschwister. Darin liegt die Macht, die wir brauchen“, beharrte Moydrur ernst, „sobald du ein Kind hast, wirst du es in die Nebel schicken, wenn es das siebte Lebensjahr erreicht. Gib ihm dafür einfach diesen Fehlstein, begib dich mit ihm in ein Moor- oder Sumpfgebiet einer beliebigen Welt, drehen ihn zweimal in deiner Hand und rufe mich. Es funktioniert auch an jedem anderen Ort, aber so geht es am besten.“
Moydrur streckte die Hand aus und brachte einen kleinen, milchigen, grün schimmernden, flachen Edelstein in einem schwarzen Rahmen zum Vorschein, „falls du es nicht tust, werde ich dich finden. Und versuche gar nicht erst mich zu betrügen. Diesen Stein kannst du nicht ablegen, sobald du ihn akzeptiert hast. Und er wird mich stets zu dir führen.“
„Er ist ein Kindermörder!“, hallte die Warnung, die Ominee bei meinem ersten Pakt mit Moydrur ausgesprochen hatte durch meinen Kopf.
„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“, fragte ich, „wir sind hier doch nicht in einem verfluchten Märchen.“
Moydrurs Augen leuchteten auf und schienen förmlich in mich hineinzusehen, „In vielen Geschichten steckt ein wahrer Kern“, sagte er, „aber ich kann auch einfach wieder gehen. Du bist nicht gezwungen dieses Angebot anzunehmen.“
„Daran solltest du nicht einmal denken!“, warnte Ominee, „das ist verwerflich und böse.“
Doch leider tat ich genau das. Ich dachte sorgfältig darüber nach, ob ich überhaupt je ein Kind haben würde. Selbst, wenn ich den heutigen Tag überlebte, meinen Katalog wiedererlangte und in all den bizarren Welten, die ich bereiste, jemanden finden würde, der genetisch mit mir kompatibel und bereit dafür wäre mit mir ein Kind zu haben, war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte.
Ich war – so dachte ich damals zumindest – einfach nicht der Typ für Babywindeln und Kinderwagen und ganz bestimmt nicht für väterliche Ratschläge und Erziehung. Wenn ich die Verantwortung für ein Kind übernehmen würde, würde es wahrscheinlich eine Laufbahn als General in Saurons Armee oder dergleichen einschlagen. Und wenn es halbwegs anständig wäre, wäre das sogar noch schlimmer. Jedes zartfühlende Herz würde an den Schrecken meiner Wege zerschellen. Nein, entschied ich, ein Kind würde es für mich nie geben. Und Scavinee, Korf und all die anderen, die ich enttäuscht, hintergangen oder zumindest in Schwierigkeiten gebracht hatte, waren auf meine Hilfe angewiesen.
„Du kannst diesem Monster nicht vertrauen“, versuchte Ominee mir noch einmal ins Gewissen zu reden, aber meine Entscheidung war bereits gefallen.
„Ich bin einverstanden!“, sagte ich schließlich und der Scyone drückte mir den Fehlstein in die Hand. Er fühlte sich feucht und warm an. Und ich beeilte mich ihn in der Tasche meines Rilandi-Umhangs zu verstauen. Das immerhin schien möglich zu sein. Trotzdem hatte ich ein mieses Gefühl, nun wo die Entscheidung gefallen war. Auch ein scheinbar folgenloser Pakt mit der Finsternis war noch immer ein Pakt und er schränkte die Freiheit meines Willens ein.
„Wunderbar, Oberkarzon“, sagte Moydrur, „ich werde mit meinen Brüdern und Schwestern reden. Wenn alles gut geht, treten wir zusammen gegen die Laarmaschk an und unser Pakt gilt. Wenn nicht, wird sich der Fehlstein auflösen und unser Handel gilt als nichtig. Gib mir fünf Minuten, dann weißt du, ob ich die anderen überzeugen konnte.“
Dann verschwand Moydrur wieder in seiner Dimensionsspalte und wir waren erneut allein.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich von dir halten soll“, sagte Ominee kopfschüttelnd.
„Das weiß ich selbst nicht“, erwiderte ich nachdenklich, „aber ich glaube, dass Verhütung für mich gerade eindeutig an Priorität gewonnen hat.“
Trotz dieser lockeren Worte bereute ich es bereits ein wenig, auf Moydrurs Angebot eingegangen zu sein.
„Ich weiß sehr wohl, was davon zu halten ist“, urteilte Scavinee verächtlich, „das ist barbarisch und es passt perfekt zu Adrians Charakter Unschuldige zu opfern.“
„Vergiss nicht, dass er es für uns getan hat“, erinnerte Ominee, „damit wir nach Hause kommen können. Und sag mir ehrlich, Scavinee: Würdest du auf die Chance verzichten in unsere Heimat zurückzukehren und zu versuchen unser Volk wieder zu dem zu machen, was es einmal war?“
Scavinee sah verlegen zu Boden. Und schwieg.

~0~

Nirasch traute seinen Augen kaum. Seit der Vogelhumanoide vom Volk der Jander bei seinem kräfteraubenden, zeremoniellen Flug zu Ehren seines großen Gottes Muur nach Tagen des ewigen Flügelschlagens vor Entkräftung in die rauen Täler seiner Heimat gestürzt und statt im ihm versprochenen „Silbernen Nest von Muur“ in Uranor erwacht war, hatte er sich nach nichts anderem gesehnt, als danach endlich ins Innere der Festung zu gelangen und Trost in diesem segenverheißenden Licht zu finden. Währenddessen war sein Hass auf jene, die es ihm vorenthielten, im gleichen Maße gewachsen, wie seine Sehnsucht. Allein der Anblick der gläsernen Kreaturen in ihren hellen Gewändern, die durch den Schlamm stolzierten, als wären sie Abgesandte der Götter selbst, nur um letztlich wieder ohne ihn an jenen segensreichen Ort zurückzukehren, hatte sein Blut zum Kochen gebracht. Doch nun, wo es ihm endlich möglich war die Festung zu betreten, war ebendieses Licht verschwunden und Niraschs Hoffnung mit ihm. Alles, was ihm nun noch blieb, war sein vager, aber nichtsdestotrotz wilder Hass auf die Bewohner der Festung und dem würde er folgen. Er fuhr seine langen Krallen aus und rannte los. Dabei wusste er, dass viele andere ihm folgen würden.
Als er jedoch den Sternengraben passiert hatte und endlich einen unverstellten Blick ins Innere der Festung werfen konnte, entdeckte er, dass dort ein Krieg zwischen den Gläsernen und weiteren, merkwürdig anzusehenden, zum Teil schwebenden Kreaturen tobte. Zudem sah er ein gewaltiges, vieläugiges Wesen, von dem eine furchterregende Macht ausging und das er sofort für so etwas wie den König der Gläsernen hielt. „Dich hol ich mir“, dachte Nirasch und stellte sich vor, was für ein erhabenes Gefühl es wäre, den Anführer jener verachtenswerten Geschöpfe zu töten, die ihm seinen Platz unter den Flügeln des großen Vaters verwehrt hatten. Neben sich sah er weitere Krieger zu sich aufschließen, die die verschiedensten Gestalten besaßen. Auch sie wollten ihre Rache und obwohl Nirasch die Ehre des Tyrannenmordes für sich beanspruchte, gönnte er sie auch den anderen. In diesem Moment waren sie ein Schwarm.
Nirasch war nur noch wenige Meter von dem Tyrannen, wie er den Herrscher der Gläsernen nun für sich nannte, entfernt, als dieser mit einem Mal direkt in seine Augen sah.
In diesen Augen sah er seine Zukunft. Und die war kurz. Trotzdem setzte der störrische Jander zum Sprung an, wobei er seine Flügel, die in der Atmosphäre Uranors nur sehr begrenzt funktionierten, dafür einsetzte seinen Sprung zu verlängern und sich bis hinauf zum Kopf des Tyrannen zu transportierten, in den er seine Krallen schlagen würde. Doch auch wenn Nirasch sein Bestes gab und dadurch verdammt schnell war, war der Tyrann schneller. Der breite, graue Lichtstrahl, den er direkt aus seinen Augen abfeuerte, hüllte Nirasch ein und ein weiteres Mal stürzte der Janderkrieger auf den Boden. Als er jedoch aufkam, steckte in seinem Körper nicht mehr Nirasch, sondern ein Laarmaschk. Statt der Fittiche des großen Vaters erwartete Nirasch nur das gedankenlose Nichts.

~0~

Als ich in die Hallen der Prüfung zurückkehrte, platzten sie geradezu aus allen Nähten. Angehörige dutzender Völker standen mit mal mehr und mal weniger entschlossenen, aber immer halbwegs zurechnungsfähigen Gesichtsausdrücken in der großen Halle und zumindest einige von ihnen trugen Waffen.
„Wie ich sehe, hast du Erfolg gehabt“, sagte ich anerkennend zu Korf, der neben zwei weiteren Vertretern seines Volkes stand, die wohl so etwas wie seine rechte und linke Hand waren und wie er mit Gräberkanonen ausgerüstet waren. Anders als Pingo und Karmon, die relativ erleichtert wirkten und Kollom, der zufrieden seinen wahrscheinlich prall mit Arbeitskräften gefüllten Koffer streichelte, waren die Blicke der Rorak latent feindselig, wie sie es wohl gegenüber fast allen Harex waren.
„Worauf du Gift nehmen kannst, kleiner Verräter“, antwortete der Rorak. „Außerdem heißt es jetzt ‚Oberkarzon Korf‘“, fügte er grinsend hinzu, „zumindest hier in diesem Pissloch. Das hier sind Unterkarzon Rax und Unterkarzonin Remscha.“ Er nickte jeweils dem für Rorak-Verhältnisse kleinen Mann und der blondzöpfigen Frau zu, die sogar noch größer und bulliger war, als Korf, „aber was ist mit dir? Hast du was bei dem Sumpfkriecher erreicht?“
„Ja“, sagte ich, „Ich habe dafür ein Opfer bringen müssen, aber er will seine Leute dazu bringen uns nicht anzugreifen und euch die Möglichkeit geben nach Hause zu kommen oder wo immer ihr hinwollt. Ob er damit Erfolg hat, wissen wir in …“, ich holte den Fehlstein aus meiner Tasche und sah dann auf meine bravianische Uhr … „etwa einer Minute.“
Pingo, der inzwischen zu uns gestoßen war, blickte auf den Stein in meiner Hand. „Ein Fehlstein!“, sagte er entgeistert, „Diese Steine haben eine Rolle in einigen der größten Tragödien gespielt, die in den Archiven gespeichert sind, Adrian. Welchen Preis du auch immer mit Moydrur vereinbart hast, du wirst ihn bezahlen müssen, solange irgendwo ein Scyone existiert, der ihn einfordern kann.“
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als Pingo dies sagte. Aber immerhin wurden Korfs Gesichtszüge nun etwas weicher. „Ich werde Kora wiedersehen?“, fragte er und auch wenn er wahrscheinlich nach wie vor glaubte, dass seine Tochter nur noch ein Gefäß von Sahkscha war, schien ihn diese Ausssicht nicht kalzulassen.
Ich nickte, „ja, wenn alles klappt und Moydrur Wort hält.“
„Das vergesse ich dir nicht, Kleiner“, sagte Korf und für einen Moment spürte ich einen Hauch von der alten Freundschaft, die uns für einige Zeit in Konor verbunden hatte, „ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich dir nicht eines Tages die Eier rausreißen und aus deinem zerfetzten Körper eine Skulptur in Sahkschas Thronsaal machen werde, aber sollte der Deal zustande kommen, wirst du mich erst mal für eine lange Zeit nicht sehen und zumindest noch eine Weile Unruhe stiften können ohne, dass dich meine Gräber im Bauch kitzeln.“
„Danke Korf“, sagte ich und obwohl das wohl so nah an eine Versöhnung kam, wie man es nach allem, was zwischen uns vorgefallen war, überhaupt erwarten konnte, verspürte ich eine gewisse Melancholie. Irgendwie hatte ich nach unserem unerwarteten Wiedersehen fast gehofft noch etwas Zeit mit dem Rorak verbringen zu können. Nun, dachte ich, wenn ich meine Freunde nicht verlieren will, sollte ich wohl damit aufhören sie umzubringen.
Ich blickte auf die Uhr und sah dem Verstreichen der letzten Sekunden zu, während ich den Fehlstein umklammerte und mir unsicher war, ob ich auf sein Verschwinden oder seinen Verbleib in meiner Hand hoffen sollte. Als die von Moydrur genannte Zeit abgelaufen war und ich den Fehlstein noch immer spürte, beschloss ich noch eine Weile länger abzuwarten, weil Moydrur sicher keine sekundengenaue Angabe gemacht hatte. Dann jedoch sprach ich mit sehr gemischten Gefühlen zu den anderen. „Die Zeit ist um und der Pakt gilt. Wir gehen jetzt gemeinsam dort raus und kämpfen für unsere Heimkehr.“
Es gab keinen Jubel, sondern nur Stille. Die wenigsten hier wussten, was sie auf dem Innenhof erwarten würde, aber jeder von ihnen ahnte, dass es der Tod sein könnte.
„Hört ihr, ihr Pisser!“, brüllte Korf, „Abmarsch!“
Scavinee hingegen besaß einen weniger raubeinigen Führungsstil. Einer etwas älteren Bravianerin, die etwas zitterte und sogar Tränen in den Augen hatte, streichelte sie sanft über die Schultern und dem Rest ihrer Leute, von denen einige sehr unsicher wirkten, nickte sie ermutigend zu. „Wir werden das hier überstehen, wenn wir aufeinander achtgeben!“, versprach sie.
Offenbar war ich nicht der Einzige hier, der gut Lügen erzählen konnte.

~0~

Als wir im schummrigen Zwielicht dieser merklich kälter gewordenen und zerbrechenden Welt auf den Hof stürmten, erwartete uns eine böse Überraschung. Denn die ersten Gegner, die uns buchstäblich mit Klauen und Zähnen attackierten, waren weder Laarmaschk in ihrer Lehmgestalt, noch falsche Rilandi, sondern eine bunte Mischung aus Bravianern, Rorak, Echsenwesen, Menschen, Vogelwesen, Andrin, Kannibalen aus Dank Qua, Connitoren, vereinzelten Cestral und weiteren Kreaturen.
Wären nicht Autemga, Karmon und die drei Rorak-Offiziere vorangestürmt, die sich ihnen mit ihrer rohen Kraft entgegengestellt und die Wucht des Angriffs gebrochen hätten, hätten wir wohl sofort eine Menge Verluste zu verzeichnen gehabt. Auch so hatten wir keinen leichten Stand. Zwar mischten sich nun auch Pingo, Ominee, Scavinee, Jarma und Kollom, sowie einige unserer Truppen in den Kampf ein, jedoch kämpften sie eher zögerlich, denn immerhin sollte es sich bei den Angreifern eigentlich um potenzielle Verbündete handeln und nicht um weitere Feinde. „Versucht sie zu schonen“, rief ich dann auch vor allem in die Richtung der Rorak und von Autemga, die naturgemäß weniger Skrupel besaßen, „das ist bestimmt nur ein Missverständnis. Wir müssen versuchen sie auf unsere Seite zu ziehen.“
„Kann nichts versprechen, Kleiner“, keuchte Korf, „wer mir an den Kragen will, der muss die Antwort vertragen können.“
„Wir müssen nicht kämpfen, wir haben denselben Feind“, versuchte ich derweil einer Andrin klarzumachen, die mich als Gegner ausgewählt hatte und dabei Mangels regulärer Waffe eine Scherbe verwendete, welche wahrscheinlich aus den Überresten der Himmelstreppe stammte, „dort hinten sind die Leute, die für euer Leid verantwortlich sind. Lasst sie uns gemeinsam bestrafen!“
Im Grunde stimmte das nur bedingt, aber für die Details war keine Zeit und die Frau reagierte ohnehin nicht auf meine Worte, sondern führte stattdessen einen wilden Angriff mit ihrer Scherbe, der direkt auf mein Herz zielte, den ich jedoch mit meinem Hirtenstab abwehren konnte. Kaum da ich ihre Attacke pariert hatte, trat sie mir jedoch mit ihrem rechten Fuß gegen mein Schienbein. Der Schmerz brachte mich zum Stolpern und als sie erneut mit ihrem improvisierten Messer ausholte, gelang es mir nur um Haaresbreite zu verhindern, dass sie meine Halsschlagader erwischte. Diesmal reagierte ich weniger rücksichtsvoll und stieß ihr die Spitze meines Stabes in den Bauch. „Tut mir leid“, sagte ich dabei, „du zwingst mich leider dazu.“
Die Frau stöhnte auf und stolperte ihrerseits einige Schritte zurück.
„Schau mal, Kleiner“, rief Korf aufgeregt und ich erlaubte mir einen raschen Seitenblick, wobei ich hoffte, dass die Andrin das nicht ausnützen würde.
Was ich dabei sah, war ein Pflanzenmensch, den Korf mit seinen Gräbern bestückt hatte und dessen Körper kurz davor war von ihnen gesprengt zu werden. Das war jedoch nicht das eigentlich interessante, so grausam diese Waffe auch war. Viel interessanter war der hellgraue Schatten, der sich aus dem zum Vergehen bestimmten Körper erhob.
„Diese Leute sind verloren“, hörte ich Pingo bedauernd sagen.
„Nein“, widersprach Ominee irgendwo hinter ihr, „sie sind nicht länger existent.“
„Zieht die Samthandschuhe aus“, brüllte Korf, „tötet jeden, der euch auch nur schief ansieht. Außer er ist einer von unseren Leuten oder einer von den Sumpfkröten.“
Ich widersprach ihm nicht und selbst wenn ich es wollte, hätte ich es nicht gekonnt, denn in diesem Moment packte die Andrin-Laarmaschk meinen Hirtenstab und stieß ihn mir mit dem Griff voran in die Brust, was mir für einen Moment den Atem raubte. Dann ließ die falsche Andrin die Waffe los, machte einen flinken Ausfallschritt, sprang wie eine Katze auf mich zu und versuchte ihre Scherbe in meinem Auge zu versenken, was ihr wohl gelungen wäre, wenn Karmon sie nicht in diesem Moment mit einem Schuss aus seiner Brustwaffe getroffen hätte. Kampfunfähig fiel sie zu Boden und ich gab ihr keine Gelegenheit mehr aufzustehen, sondern trieb der vermeintlichen Andrin meine Waffe direkt dort hinein, wo ihr Herz lag. Dank der einen Nacht, die ich in Konor Seite an Seite mit Razza verbracht und gelegentlich auch ihrem Herzschlag gelauscht hatte, wusste ich zum Glück, wo es lag. Die Andrin bäumte sich noch einmal auf, lag dann jedoch still.
„Danke, Karmon“, sagte ich zu dem Kwang Grong.
„Wir sind eins“, antwortete Karmon, „ob in zwei Körpern oder in einem.“ Mit diesen Worten stürzte er sich auf eine heranstürmende Gruppe Rorak, die offenbar nicht zu unseren Leuten gehörte. Autemga folgte ihm brüllend, begierig seine Kiefer in gewöhnliches Fleisch zu schlagen.
„Das ergibt keinen Sinn“, meinte Jarma neben mir, „wenn diese Laarmaschk in jeden beliebigen Körper schlüpfen können, warum haben die Rilandi sich dann die Mühe gemacht mein Amorphium zu stehlen?“
„Vielleicht hat das was mit ihm hier zu tun?“, überlegte Kollom und zeigte auf den ehemaligen Wornaara, der laut Moydrur nun durch diesem ominösen „Geistspiegel“ ersetzt wurde und der seine schmutzige, graue Dunkelheit nicht nur gegen die Scyonen, sondern auch gegen jene einsetzte, die noch immer aus dem Schlamm in die Festung stürmten.
„Natürlich“, sagte Pingo, „er nimmt diesen armen Leuten die Seele und dann …“
„… können sie von den Laarmaschk besetzt werden“, beendete Jarma seinen Satz.
„Das darf so nicht weitergehen!“, sagte Scavinee, „nicht nur, dass unsere Feinde so immer mehr Zuwachs bekommen, wir dürfen vor allem nicht zulassen, dass Hunderte von Unschuldigen entseelt werden.“
„Aber wie wollen wir das verhindern?“, fragte Ominee.
„Wir könnten einen Teil unserer Truppen zum Tor führen und die Neuankömmlinge vor dem Geistspiegel beschützen“, überlegte ich.
„Meldest du dich freiwillig, Kleiner?“, fragte Korf, „ich jedenfalls würde meine Seele gerne behalten.“
„Du kannst nur verlieren, was du auch hast“, spottete Scavinee.
„Sehr witzig, Jyllen“, knurrte Korf amüsiert, „aber ich kann’s dir nicht verübeln. Krieg und Blutvergießen sind für mich auch ein nie endender Quell der Heiterkeit.“
„Gibt es keine Möglichkeit sich irgendwie vor der Entseelung zu schützen?“, frage ich Pingo, der ja immerhin auf vieles eine Antwort hatte.
„Wahrscheinlich schon“, überlegte der Steingeweihte, „es gibt in jinkoanischen Dschungel eine Schlangenart, deren Blut vor allen nicht-physischen Angriffen schützt, die Scyonen sind gegen so etwas ebenfalls von Natur aus immun, aber das bringt uns nichts, da wir keine Scyonen sind, ansonsten …“
„Ich habe vielleicht etwas, dass uns helfen könnte“, meldete sich Kollom zu Wort.
„Gibt es irgendetwas, dass du nicht hast?“, fragte Jarma.
„Natürlich“, antwortete Kollom lächelnd, „aber auch das werde ich eines Tages noch bekommen.“
„Würdest du uns das, was du hast, auch überlassen?“, hakte ich nach.
„In der Tat“, antworte Kollom und holte eine Handvoll Amulette aus seiner Tasche, die aus drei langgezogenen Achten aus glänzendem Chrom bestanden, welche man wie zu einem Kreuz verbunden hatte, und die an einer Lederkette hingen. Eines davon hing sich Kollom selbst um den Hals. „Diese guten Stücke sind eine Verbindung aus bemerkenswerten Artefakten, die wir auf einer Expedition entdeckt haben und der genialen Technologie meines Konzerns. Sie verwandeln den Körper in einer Art Seelengefängnis. Nichts kann hinein oder hinaus. Sie werden auch gerne für andrinische Folterkeller angefragt.“
„Für einen Deovani sind Sie ziemlich freigiebig“, merkte Jarma an.
„Stört Sie das etwa?“, fragte Kollom.
„Nein“, erwiderte Jarma, „aber es macht mich misstrauisch.“
„Sie müssen sie ja nicht tragen“, sagte Kollom.
„Ich glaube das werde ich auch nicht“, antwortete Jarma, „warum sollte ich auch? Wenn es mich erwischt, ist es eben so. Selbst wenn ich Ihnen trauen würde, sehe ich keinen Grund, warum ich nicht dasselbe Risiko tragen sollte, wie all die armen Seelen, die für uns kämpfen. Oder haben sie für die auch Amulette?“
Kollom schüttelte den Kopf.
„Aber Jarma. Was ist mit Shakta?“, fragte Pingo, „Willst du sie nicht mehr ins Leben zurückrufen?“
„Doch, Pingo“, antwortete Jarma, „aber nicht mehr um jeden Preis. Ich habe gesehen, wohin mich meine Obsession geführt hat. Was auch immer nun kommt, lege ich in die Hände des Schicksals.“
„Die Hände des Schicksals sind oft Fäuste, pflegen wir in Deovan zu sagen. Aber es ist Ihre Entscheidung. Was ist mit dem Rest von Ihnen“, fragte Kollom, „haben sie ebenso viele Bedenken?“
„Ja“, sagte Scavinee, „Jarma hat recht. Kein Anführer sollte bessergestellt sein, als seine Soldaten.“
„Ich verzichte ebenfalls“, schloss sich Ominee an.
„Immer her mit dem Ding“, zeigte sich Korf deutlich begeisterter und da die beiden Jyllen abgelehnt hatten, griff er sich direkt drei von den Amuletten. „Für Rax und Remscha“, erklärter er. Die beiden Unterkarzone waren bereits vorausgeeilt um die Moral der Truppen aufrechtzuerhalten.
Pingo zögerte, entschied sich jedoch letztlich ebenfalls gegen den Schutz.
„Was ist mit Ihnen?“, fragte Kollom mich.
„Ich traue Ihnen auch nicht, aber wie wahrscheinlich jeder hier weiß, bin ich schlicht zu egoistisch, um abzulehnen“, sagte ich halb im Scherz, „Ich nehme zwei. Für Karmon und für mich.“
„Ich brauche dieses Amulett nicht“, widersprach Karmon, der Kollom ebenfalls nicht im geringsten traute.
„Oh, ich denke schon“, beharrte ich, „ich habe keine Lust, dich erneut zu verlieren.“
„In Ordnung“, gab Karmon sich geschlagen und Kollom reichte uns beiden die Schutzamulette.
„Wie gehen wir jetzt vor, Kleiner?“, fragte Korf und blickte zur Frontlinie, an der sich Autemga zusammen mit unseren Truppen und der Unterstützung der Scyonen versuchten gegen die Übermacht zu behaupten. Ein Vorhaben, das jedoch nur bedingt gelang, da es bei den Gefangenen aus den Hallen der Prüfung nicht nur um ausgebildete Krieger, sondern zum Teil auch um Zivilisten handelte, die oft genug ängstlich, traumatisiert und noch dazu unzureichend ausgerüstet waren. Früher oder später würde die Front zusammenbrechen, wenn nicht bald etwas passierte.
„Du nimmst dir einen Trupp und versuchst die Front so schnell wie möglich zu umgehen und zum Tor zu kommen“, schlug ich vor, „Scavinee? Kannst du den Kampf der restlichen Soldaten koordinieren?“
„Ja“, sagte Scavinee.
„Hör mal, Kleiner“, sagte Korf, „ich bin ja kein Feigling, aber das klingt nach ’nem Himmelsfahrtkommando. Der große Macker da, wird nicht so dumm sein, das nicht kommen zu sehen. Sobald wir in seine Nähe kommen, wird er uns mit all seiner Liebe überschütten.“
„Vielleicht können wir es mit einer Ablenkung versuchen?“, schlug Pingo vor, „erinnert ihr euch noch an die Tiere in der Halle der Geheimnisse?“
„Stimmt“, sagte Jarma, „wir beide könnten sie befreien. Wenn wir schnell sind, sollte uns das gelingen. Im Moment toben in der Nähe keine Kämpfe.“
„Wir machen es“, sagte Pingo entschlossen und auch wenn ich ein wenig Angst um den gutherzigen Steingeweihten hatte, wollte ich seinen Stolz nicht beleidigen, indem ich an ihm zweifelte.
„Tut das!“, sagte ich, „Ich und Karmon werden versuchen zum Geistspiegel vorzustoßen, sobald er abgelenkt ist.“
„Ich komme mit euch!“, bot Ominee an und ich nickte.
„Ich dagegen werde mich zurückziehen“, eröffnete Kollom, „ich tauge einfach nicht für den Kampf.“
„In Shaktas Höhle sah das aber noch anders aus“, bemerkte Karmon, „dort haben sie mit ihrem Konzernschwert gewütet wie ein Samurai.“
„Das mag sein“, erwiderte Kollom, „aber das war, bevor Jarma mich in diesen See geworfen hat. Was ich an Kampfkraft hatte, ist alles in unserem großen Freund hier gelandet. Sie werden also leider auf meine Unterstützung verzichten müssen.“
„Schade“, sagte Pingo, „ich hatte gehofft, dass sie noch das ein oder andere Nützliche in ihrem Koffer haben.“
„Oh, das habe ich ganz sicher“, sagte Kollom, „aber das gehört nun einmal mir und ich denke, ich habe bereits genug für sie alle getan.“
„Wo wollen sie hin?“, fragte ich ihn, „nach Deovan?“
„Wenn Sie versuchen einfach mit Sandra in ihrem Koffer abzuhauen, wird ihm das nicht gut bekommen“, warnte Karmon.
„Keine Angst“, sagte Kollom, „ich gehe lediglich zurück in die Hallen der Prüfung und genieße die Gesellschaft der beiden charmanten Damen, die dort ausharren.“
„Wir sehen uns wieder, Kollom!“, sagte Karmon noch einmal drohend.
Kollom lächelte lediglich und verließ das Schlachtfeld.
„Gut“, sagte Korf, „dann verpassen wir den Wichsern mal ’ne Abreibung.“

~0~

Kaum da Karmon und ich die Frontlinie erreicht hatten, war unsere Atempause zu Ende. Neben übernommenen Körpern aus dem Schlamm bekamen wir es nun auch mit kopierten Rilandi zu tun, die aus ihren Hirtenstäben hässliche, graue Strahlen verschossen, die wenig mit der finsteren, aber doch reinen Energie von meinem, beziehungsweise Karmons Schattenstrahler zu tun hatte. Auch wenn es mir glücklicherweise meist gelang diesen Schüssen auszuweichen und ich nur eine einzige schmerzhafte, aber augenscheinlich harmlose Verbrennung davontrug, so bemerkte ich doch, dass sie eine schmutzige Aura besaßen und die Luft mit einem grässlichen, schmierigen Geruch nach Schimmel und brackigem Wasser erfüllten. Rings um mich herum sah ich Leute flehen, weinen, schreien, wegrennen und sterben, die zumeist zu unseren Truppen gehörten und der in rötliches Dämmerlicht getauchte Boden wurde bereits glitschig von dem Film aus verschiedenfarbigen Körpersäften, der sich darauf ausbreitete.
Karmon hielt mir mehr als einmal den Rücken frei, Ominee bewies, dass sie den Hirtenstab ebenso gut als Schlagwaffe einsetzen konnte wie ich – wenn nicht sogar besser und Autemga wütete wie ein heraufgestiegener Höllenhund unter unseren Feinden, wobei er jedes Mal ein winziges Stückchen wuchs, weil er die Stärke dieser Feinde in sich aufnahm. Doch trotz all der Anstrengungen meiner Verbündeten und der Scyonen, die manchmal wie Gestalt gewordene Blitze im Zwielicht an uns vorbeirauschten und sich tatsächlich auf den Kampf gegen die Laarmaschk und nicht gegen uns konzentrierten, war es letztlich Kollom, der verhinderte, dass meine Reise an diesem Zeitpunkt endete.
Denn inzwischen hatte der Geistspiegel seine neuen Gegner bemerkt und sandte uns einen breiten Strahl aus öliger, grauer Dunkelheit entgegen. Ich spürte, wie etwas an mir zerrte, das jedoch blockiert wurde, während das Amulett in rötlichem Feuer aufloderte.
Rings um mich herum sah, ich wie meine Verbündeten erst zu seelenlosen Gefäßen und dann zu Feinden wurden. Lediglich Korfs Unterkarzonin Remscha, die anders als Rax bei unseren Truppen geblieben war, wurde durch das Amulett geschützt. Autemga hingegen, der trotz der Berührung der grauen Dunkelheit seinen Blutdurst weiter an den Laarmaschk und nicht an uns auslebte und die Scyonen schienen von Natur aus immun gegen den hinterhältigen Angriff zu sein.
Obwohl ich alle Hände voll damit zu tun hatte den Angriffen, der zum Teil mit Kolloms Strahlern ausgerüsteten Überläufer zu entgehen, sorgte ich mich dennoch um die beiden Jyllen-Frauen, die auf den Schutz verzichtet hatten und versuchte sie in dem Chaos auszumachen.
Scavinee hatte sich glücklicherweise außerhalb der Reichweite der Attacke des Geistspiegels aufgehalten, doch als mein Blick Ominee erfasste, entdeckte ich sie reglos auf dem Boden liegend.
Mein Herz tat einen schmerzhaften Schlag und eine Welle von Schuldgefühlen überkam mich. Ich hätte auf sie achtgeben müssen, hätte sie überreden müssen Kolloms Amulett zu tragen. Schuld und Scham entluden sich in Zorn. Ich drosch einem angreifenden Bravianer meinen Hirtenstab so fest gegen sein Gesicht, dass dieser zurücktaumelte, gab ihn einen Tritt, um ihn vollends zu Fall zu bringen und rannte so schnell mich meine Beine trugen auf Ominee zu.
„Bitte nicht“, flüsterte ich zu mir selbst und war zugleich etwas erleichtert, dass sie noch nicht ihre Hand gegen mich erhoben hatte. Vielleicht war sie doch nicht entseelt, sondern lediglich bewusstlos. Ich legte meine Hand auf ihre Brust und bemerkte dabei, dass sie noch atmete. Hoffnung und Grauen kämpften in mir einen blutigen Kampf.
Die Hoffnung gewann, als sie die Augen aufschlug. Das waren ihre Augen. Konnten es zumindest sein.
„Ominee?“, rief ich fragend, nahm sie in die Arme und vergaß dabei fast, dass um mich herum noch immer eine Schlacht tobte. Die Berührung ihres trockenen, warmen Körpers und ihr scharfer, sauberer Atem gab mir für einen Augenblick wieder das Gefühl mit ihr in meinem Zimmer über den Wolken zu sein, berauscht von Lichtwein und Hormonen.
„So also hieß die, die in dieser Hülle wohnte“, erklang die düstere Antwort eines Wesens, welche Ominees Stimmbänder als Übertragungskanal missbrauchte, „sie hat sich ziemlich lange daran festgekrallt. Ich wurde schon ungeduldig.“
Trauer und Schmerz klopften mit Macht bei mir an, aber der Zorn drängelte sich vor. Noch bevor die Laarmaschk nach seinem Stab greifen konnte, trieb ich meinen, den ich während der Umarmung nicht losgelassen hatte, durch ihren Rücken. Ominees Körper spuckte Blut und sauren Speichel, der sich durch meinen Umhang und Teile meiner Haut fraß, aber ich stieß trotzdem immer und immer wieder zu. Schließlich lag ihr Körper still und meine Tränen konnten fließen. Ich hatte eine weitere Jyllen getötet und eine weitere Liebe verloren. Fast jeder, der sich mit mir einließ oder mir vertraut schien zwangsläufig dem Tod oder dem Wahnsinn anheimzufallen.
„Ein schlechter Zeitpunkt, um zu Trauern“, hörte ich Moydrur neben mir sagen, „das hier ist ein Schlachtfeld und kein Friedhof. Noch nicht zumindest. Anders als du vielleicht denkst, haben wir Scyonen Verständnis für den Schmerz von Trauer und Verlust, aber alles hat seine Zeit.“
„Moydrur“, sagte ich matt, während ich noch immer Probleme damit hatte zu begreifen, dass Ominee wirklich tot war. Ich schwor mir Scavinee und auch Sandra und Garwenia besser zu beschützen, auch wenn meine Schwüre wohl nicht mehr Wert waren als Aktienoptionen in der Postapokalypse.
„Ja, der bin ich“, sagte der Scyone, „ich muss doch auf dich achtgeben, damit du den Samen für die versprochene Frucht pflanzen kannst. Und meine Leute sterben gerade ebenso. Für dich und die deinen!“
Er wies mit der Hand auf den Geistspiegel, den die Scyonen mit Säurenebeln, Geschossen aus grünem Feuer und Eisenschilf, sowie mit Dornenranken attackierten. Der ehemalige Allrichter wehrte sich mit kleineren, konzentrierten Schüssen seiner öligen Dunkelheit, die die Scyonen zwar nicht entseelten, jedoch ihre Köpfe wie Butter durchschnitten und sie wie vertrocknete Blätter auf die Erde sinken ließen.
„Wir müssen diesen Geistspiegel schnell überwinden. Sonst überrennen seine Krieger uns!“, sagte Moydrur ungeduldig.
„Noch nicht. Wenn wir ihn jetzt angreifen, macht er aus uns Hackfleisch“, sagte ich, nachdem es mir gelungen war meinen seelischen Schmerz einzukapseln und ihn in jene Grube tief in meinem Unterbewusstsein zu verbannen, in dem die zahllosen Leichen meiner Vergangenheit schon lange vor sich hinwesten, „Korf, Pingo und Jarma brauchen noch etwas Zeit, um für Verstärkung und Ablenkung zu sorgen“, wandte ich ein.
„Zeit haben wir leider nicht“, entgegnete Moydrur, „die stirbt auf dieser Welt genauso wie das Licht.“

~0~

„Schneller, Jarma“, rief Pingo, dessen halb versteinerten, aber noch immer flinken Füße im Rennen laut auf den Boden aufstampften.
„Ich bin Heilerin, keine Sportlerin“, erwiderte Jarma, die sich immer wieder zum Schlachtfeld umblickte, wo die anderen bluteten und starben. Ein wenig schämte sie sich dafür, sich aus all dem rauszuhalten, aber sie war keine Kämpferin und auch so schon für genügend Leid verantwortlich gewesen. Immerhin schien sich wie erhofft niemand für sie und Pingo zu interessieren. Bis jetzt zumindest.
„Gerade als Ärztin solltest du doch gut in Form sein“, antwortete Pingo.
„Fitness war nicht mein Spezialgebiet, wie du weißt“, sagte Jarma und legte dennoch einen Zahn zu, wodurch es ihr schließlich gelang zu dem Steingeweihten aufzuschließen. Dabei stellte sie zu ihrem Ärger fest, dass sie sich die Hetzerei hätte sparen können.
„Mist!“, rief Pingo, „die Tür ist verschlossen!“
„Nicht schlimm“, keuchte Jarma und holte ein scharfes, gebogenes Instrument aus bläulichem Metall aus ihrer Arzttasche hervor.
„Was ist das?“, erkundigte sich Pingo, als die Gesunderin das Instrument an der Tür ansetzte.
„Ein Tiefschneider“, erklärte sie, „der kommt durch Panzerplatten, Horn, Knochen, Haut, Fleisch und jedes andere organische und anorganische Material. Sehr nützlich für Operationen und Experimente. Aber nicht nur dafür.“
Sie führte das Instrument, welches tatsächlich mühelos durch die dicke Tür schnitt, in einer geraden Linie nach oben und machte dann einen rechteckigen Ausschnitt, der groß genug für sie beide war, um hindurchzugehen. Die ausgeschnittene Platte fiel mit einem lauten Krachen in den Raum hinein, was jedoch im allgegenwärtigen Kampflärm nicht weiter auffiel.
Das helle, sanfte Schimmern der Glastiere leuchtete ihnen den Weg.
„Du bist genial“, sagte Pingo.
„Nein, nur gut ausgerüstet“, antwortete Jarma mit einem warmen Lächeln, das man wegen ihrer Maske nur an ihren Augen ablesen konnte.
„Geh hindurch, ich muss noch kurz zu Atem kommen“, forderte sie ihn auf.
Pingo gehorchte und trat hindurch.
Jarma betrachtete Pingo dabei fasziniert, nicht weil er etwas Spektakuläres tat, sondern einfach, weil er war, wie er war. Sie hatte selten so eine freundliche und höfliche Person getroffen, dachte sie. Dann folgte sie ihm in die Halle der Geheimnisse.

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„Stirb, Hackfresse!“, rief Korf und steckte einem der falschen Glaspisser seine Gräberkanone in den Mund. Er wusste, dass ihre verletzbare Stelle eigentlich woanders lag, aber so war es lustiger und im Grund war es auch egal, denn die kleinen Biester waren gründlich.
„Rax“, rief Korf.
„Ja, Oberkarzon!“, rief sein Unterkarzon.
„Es sind nur noch ne Handvoll Missgeburten zwischen uns und den Schlammkriechern. Kannst du mir die mit deinen Leuten vom Leib halten, während ich den Matschratten verklicker, dass sie in ihr Verderben laufen und das nur ich sie retten kann?“
„Geht klar, Oberkarzon“, sagte Rax.
„Gut!“, knurrte Korf und stürmte los, wobei er schon nach wenigen Schritten sah, wie seine eigenen Leute zu beiden Seiten zu ihm aufschlossen. Es waren allesamt Rorak. Sicher, einige von Ihnen waren auch verstoßene Harex, die auf den Straßen der Kommandozentrale verhungert waren, aber dennoch traute er ihnen immer noch mehr, als jedem Nicht-Rorak.
Wie ein stählerner Hammer trafen die Truppen auf die undisziplinierte Mischung aus falschen Rilandi und kürzlich von Laarmaschk besetzten Flüchtlingen. Korf grinste stolz und konzentrierte sich ganz auf die beiden Vogelmänner, die als letzte zwischen ihm und dem Tor standen und etwa einen Meter über dem Boden schwebten. Kaum, da sie ihn sahen, stürzten sie sich auf ihn und versuchten mit ihren langen Schnäbeln an seine Augen zu gelangen. Korf schirmte sein Sichtfeld mit der Linken ab, während er mit der Rechten die Gräberkanone als Schlagwaffe benutzte und einen der Vogelkreaturen damit voll ins Gesicht traf. Er hörte Knochen knacken und einen gefiederten Körper hinabfallen.
„Verzieht euch, ihr Federviecher!“, brüllte Korf, schlug seine linke Faust gegen den Kopf des anderen als dessen Schnabel versuchte darauf einzuhacken und sprang ein Stück zurück, da er vermutete, dass dieser Angriff seinen Gegner nicht getötet hatte.
Er hatte recht. Der Schnabel der Kreatur hing zwar schief in ihrem Gesicht und bläuliches Blut tropfte aus dem Schnabelansatz hervor, aber das Wesen machte sich trotzdem bereit sich mit seinen Krallen auf ihn zu werfen und sich in seiner Brust auszutoben, die leider nicht von einem dicken Kampfanzug, sondern nur durch die lächerlich dünne Uniform mit der beschissenen Aufschrift „Property of Kollom Nehmer“ geschützt wurde. Doch ein Schuss auf der Gräberkanone bereitete den Mordgelüsten des Vogelwesens ein jähes Ende.
Endlich war der Weg frei. Jenseits des Tores sah er noch eine ganze Menge Schlammkriecher, die immerhin schon etwas zögerlicher geworden waren und nicht mehr so leichtfertig und unbedacht auf die Schlachtbank zurannten. Eine kleine Standpauke und ein paar taktische Instruktionen würden den Rest besorgen.
Korf wollte sich gerade durch das Tor begeben, als er von einem schmierigen, grauen Licht geblendet wurde, welches kaum weniger schmerzte, als gewöhnliche, konzentrierte Helligkeit. Als er die Augen wieder öffnete, wurde ihm klar, was das hieß. „Scheißdreck!“, rief er und stellte mit Entsetzen fest, dass seine ehemaligen Verbündeten – mit Ausnahme von Rax – zu regungslosen, sabbernden Puppen geworden waren. Korf wusste, dass sie es nicht bleiben würden. „Renn!“, sagte er zu Rax und beide nahmen sie die Beine in die Hand.

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„Das ist wunderschön“, meinte Jarma und deutete auf die Tiere in ihren Käfigen, deren phosphoreszierendes Leuchten fast wie ein Hoffnungsschimmer in er allgegenwärtigen rötlichen beinahe-Dunkelheit erschien. Neben vielen Fluggeschöpfen gab es auch Säugetiere und Reptilien, sowie große Käfer und Spinnen, die jedoch nichts Abstoßendes an sich hatten. Hinzu kamen quallen- und netzartige Lebewesen, die wie ein vom Wind getragenes Stück Seide in der Luft schwebten und die – wie Pingo wusste – mit ähnlichen Geschöpfen in den Wäldern von Cestralia verwandt waren. Hunderte von Augen folgten ihm, zarte Flügel schlugen träge in den zu engen Käfigen und schlanke Schnauzen drückten sich neugierig und Hilfe suchend durch die Gitterstäbe.
„Ja“, stimmte Pingo zu und streichelte ein sechsbeiniges, fuchsähnliches Säugetier mit spitzen Ohren über den mit silbern schimmerndem Fell bedeckten Kopf, „wenn auch leider grausam.“
„Wir werden sie befreien“, versuchte Jarma ihn zu ermuntern.
„Nur um sie zu opfern“, erwiderte Pingo bitter. Sein trauriger Blick traf Jarma ins Herz.
„Sie sind nur eine Ablenkung, kein Kugelfang und es liegt an ihnen, wohin sie fliegen. Es kann durchaus sein, dass sie einfach in den Himmel entschwinden, was gut wäre für sie, aber schlecht für uns“, meinte Jarma.
Pingo schüttelte den Kopf, „Sie werden nach einer Lichtquelle Ausschau halten und die einzigen, die es hier noch gibt, sind die Magie der Scyonen und das finstere Leuchten des Geistspiegels. Sie werden mitten in den Kampf hineinfliegen.“
Er weiß zu viel, um sich trösten zu lassen, dachte Jarma traurig. „Wenn die anderen den Geistspiegel schnell genug niederwerfen, werden die meisten von ihnen überleben.“
„Ich glaube nicht“, sagte Pingo melancholisch, während ihm die Zunge einer kleinen Echse über die Hand leckte, „aber das ist vielleicht auch besser so. Was wäre das für ein Leben in einer Welt ohne Licht?“
Jarma sah, wie eine Träne aus seinen Edelsteinaugen kullerte und nach wenigen Zentimetern zu Stein erstarrte.
„Kein Schönes wahrscheinlich“, gestand Jarma ein, „doch wenn wir sie hier drin eingesperrt lassen, wäre das wohl kaum gnädiger. Und wenn wir diese Käfige öffnen, können wir zumindest noch viele andere Leben retten. Hilfst du mir dabei, Pingo?“
Pingo reagierte nicht. Rührte sich nicht.
„Pingo!?“, versuchte sie es nochmal und legte ihre siebenfingrige Hand auf seine kalte Haut. Noch immer reagierte Pingo nicht.
Eine Frau mit weniger medizinischem Wissen wäre jetzt sicher in Panik verfallen. Aber Jarma wusste, dass es sich „nur“ um eine Steinstarre handelte und angesichts seines Stadiums sicherlich noch nicht um die Finale.
Sie zog eine weitere Spritze mit Gesundheit auf, fand die weiche Stelle in seiner Haut, die sie schon einmal für eine Injektion verwendet hatte und verabreichte ihm das Mittel, das ihn hoffentlich aufwecken würde. Doch das würde sicherlich noch einige Minuten dauern. Sie strich dem Mann aus Rihn sanft über sein Gesicht und bemerkte dabei ein angenehmes Kribbeln in ihrer Brust, welches nicht allein auf das Adrenalin zurückzuführen war. Sofort fühlte sie sich schuldig wegen Shakta, dann jedoch verdrängte sie dieses Gefühl. Shakta war fort und womöglich würde und sollte sie es bleiben, dachte sie. Auch wenn sie die Hoffnung auf die Wiedererweckung ihrer Freundin noch nicht gänzlich begrub, erkannte sie, dass es im Leben noch andere Dinge gab, für die der Einsatz lohnte.
Denn anders als Shakta war Pingo greifbar und real und war zudem ein Mann von jener Sorte, an der das Multiversum stets einen Mangel besaß. Vielleicht könnte sie irgendwie verhindern, dass dieses sanfte Herz erstarrte oder sich in Wahnsinn verlor. Eine neue Mission, dachte sie, und auch sie schien praktisch unmöglich. Aber mit solchen Missionen kannte sie sich ja aus.
„Vergib mir Shakta“, sagte sie, und begann damit, mit dem Tiefschneider die Käfige zu öffnen und die Tiere in die Freiheit zu entlassen.

~9^~

„Halt! Da Drinnen wartet der Tod!“, rief ein atemloser Korf den Ungeprüften zu, die sich mal mehr und mal weniger vorsichtig auf die Festung zubewegten. Hinter sich hörte Korf, wie Rax zu ihm aufschloss. Er war erleichtert.
„Ja, für die Wichser, die uns das Licht vorenthalten und uns gequält haben“, sage eine kampflustige Andrin, „das ist unsere Revolution. Unsere Rache!“
„Wie ihr sehen könnt gibt es in dieser Bude kein Licht mehr. Und auch diese Glaswichser sind inzwischen Wurmfutter. Alles, was es da noch gibt, sind seelenfressende Monster, die sich eure Körper holen wollen! Was ihr dort seht, ist keine Revolution, sondern ein Buffet und ihr seid das Futter“, rief Korf, „Habt ihr nicht dieses graue Leuchten gesehen? Damit brennen sie euch den Geist aus dem Schädel.“
Seine Rede schien durchaus eine gewisse Wirkung zu haben, denn selbst die Entschlosseneren der Ungeprüften hielten plötzlich inne.
„Du kommst doch auch von dort, also kann es da nicht nur diese Monster geben, oder? Und selbst, wenn es so wäre, könnten wir sowieso nirgendwo anders hin“, meldete sich ein bärtiger Bravianer zu Wort.
„Ich sag ja nich‘, dass ihr hier rumsteh‘n und nichts tun sollt“, erklärte Korf, „Auf der anderen Seite dieser Festung kämpfen meine Leute bereits gegen die Ungeheuer. Gemeinsam können wir dem Anführer dieser Drecksäcke das Gehirn aus‘m Schädel prügeln und dem Spuk beenden. Aber dazu brauchen wir eure Hilfe.“
„Korf, Vorsicht!“, rief Rax.
Korf macht einen hastigen Ausfallschritt, wirbelte herum, feuerte und hatte sein Leben der Eigenheit von Gräbern zu verdanken, dass sie keine Gnade für fremde Rudel kannten, die sie an der abweichenden Zusammensetzung ihrer Duftstoffe erkannten. Andernfalls wäre er sicher ein Opfer der aggressiven Kreaturen geworden. Denn die Schüsse zweier ehemaliger Kameraden, die nun von Laarmaschk kontrolliert wurden, verfehlten ihn zwar knapp, aber sie kamen gefährlich nah an seinen ungeschützten Körper heran. Nur durch reine Entschlossenheit gelang es ihn zwei der Biester mit den dünnen Stiefeln zu zerquetschen, die ihm dieser Kollom neben seiner entwürdigenden Uniform überlassen hatte.
Rax hatte dem Angriff ebenfalls entgehen können und deckte die Neuankömmlinge nun seinerseits mit Gräbern ein. Korf tat es ihm gleich, kam aber erneut in Bedrängnis als aus zwei Gegnern schnell mehrere Dutzend wurden, die sich ihnen entschlossen entgegenwarfen.
„Sind das deine Leute, von denen du erzählt hast?“, fragte die Andrin, die zuerst mit ihm gesprochen hatte, sarkastisch.

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Trevas Hand glitt in die Tasche ihres Gewandes und umfasste das Whe-Ann-Speichermodul, welches sie dort verbarg. Sie wusste, dass sie damit die Zukunft von Uranor in ihren Händen hielt. Den Kern für eine neue Webmaschine. Die Chance für einen Neuanfang ohne Ausbeutung und Bigotterie, in der sie die Völker des Multiversums mit perfekten und gerechten Glaubenssystemen zum Licht führen würden. Für eine Zukunft ohne Blutopfer, Terror, Kriege und Pakte mit dunklen Mächten, die die Rebellen ganz zu Recht angeprangert hatten, auch wenn sie nicht verstanden hatten, dass Atheismus auch keine Alternative war.
Nein, die Wiedergeburt der Rilandi würde sanft und behutsam geschehen, mit zunächst nur wenigen, sorgsam gepflegten Welten, aber sie musste geschehen und Treva glaubte daran, dass es gelingen könnte, selbst wenn der Allrichter tot war. Wenn sie die Schlacht gewannen, würde sie in den Tiefen von Uranor nach der nötigen Technologie suchen, um die Maschine wiederzuerrichten und ihren Planeten vor dem Tod zu bewahren. Sie wusste, wie die Webmaschine funktionierte. Wenigstens ungefähr. Und wenn sie ein wenig vom verbliebenen Glauben auffangen könnte, der dort draußen unkontrolliert herumschwebte, würde es genügen, um ein kleines Licht anzuzünden und ein paar Seelen hierher zu holen, die sie ausbilden könnte. Treva fasste wieder neuen Mut. Wahrscheinlich war es gut, dass sie gerade nicht auf dem Schlachtfeld war, selbst wenn es ihren Stolz verletzte, denn wenn dem Geistspiegel oder seinen Dienern das Modul in die Hände fiel, könnte das üble Folgen haben.
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch wie von Stein, der auf Stein rieb. „Hallo, ist da jemand?“, fragte Treva und verfluchte ihr fehlendes Augenlicht. Das Geräusch konnte eigentlich nur von einer verborgenen Tür stammen, die sich irgendwo rechts von ihr geöffnet hatte. Treva hatte davon gehört, dass es überall in der Festung geheime Gänge gab, aber sie wusste nichts von ihrer genauen Lage. So viel Vertrauen hatte Kollat dann doch nicht in sie gehabt. Natürlich erhielt sie keine Antwort, wie es fast immer der Fall war, wenn man solche Fragen stellte. Trotzdem war es fast so etwas wie ein angeborener Reflex, sie zu stellen. Wahrscheinlich, um Zuflucht in der Vertrautheit der eigenen Stimme zu suchen. Treva lauschte nach Schritten, hörte jedoch keine.
„Im Wüstenschoß wuchsen die Blumen, deren Versprechen wir verschmähten, bis die Sande ihre Wurzeln zermahlten. Oh mein Dra-Daun. Es ist so kalt ohne dich unter der brennenden Sonne“, erhielt sie nun zumindest einen Garwenia-Monolog zur Antwort. Anders als jene bedauernswerten Kreaturen, die laut Kolloms Artefakt ihren Lebenswillen verloren hatten und die schweigend und reglos vor sich hindämmerten, meldete die Bravianerin sich immer wieder mal mit kryptischen Sätzen zu Wort.
„Sei still!“, flüsterte sie der wahnsinnigen Frau zu. Durch Garwenias Worte hatte sie nicht hören können, ob sich jemand bewegte, aber sie glaubte dennoch zu spüren, dass sie nicht mehr alleine waren. Es war, als hätte sich der Luftdruck um sie herum verändert.
„Hallo, Treva“, hörte sie die arrogante Stimme von Onyra direkt neben ihr, „was hast du da in deiner Tasche? Zeig doch mal her.“
Treva schoss instinktiv ein paar Fäden aus ihrer Brust in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, aber ihr war sofort bewusst wie albern das war, da ohne Licht nicht mehr als zwei, allerhöchstens drei davon zu erschaffen waren. Kaum ausreichend, um gegen eine Hirtenmeisterin zu bestehen.
„Netter Versuch“, sagte Onyra, „aber seit deine Verräterfreunde das Licht getötet haben, ist auf die Fäden kein Verlass mehr.“
Treva hörte Onyra näherkommen, griff Garwenia am Arm und rannte in die entgegengesetzte Richtung, wo sie sofort von mehreren Armen gepackt wurde. Onyra war nicht alleine gekommen. Treva versuchte sich loszureißen, aber es gelang ihr nicht.
„Du sprichst von Verrat?“, sagte sie an Onyra gerichtet, „du hast den Allrichter im Stich gelassen, als er versucht hatte, sich gegen die Laarmaschk zu behaupten.“
„Oh, er war nicht der Allrichter“, sagte Onyra überzeugt, „es war lediglich ein Trugbild aus dem Geflecht. Ein Puppentheater, dass sie aufführten, um euch zu narren. Der Allrichter hätte nie die Sache des Lichts verraten.“
„Doch das hat er“, entgegnete Treva, „und zwar, als er den Pakt mit den Laarmaschk schloss, als er mit den Gesundern zusammenarbeitete, als er die Scyonen versklavte. Doch gerade, als er seine Fehler eingesehen hatte, bist du – seid ihr – ihm in den Rücken gefallen.“
„Der Allrichter ist unfehlbar“, donnerte Onyra wütend, „und wir sind seiner Sache treu bis zuletzt.“
„Das sieht man“, giftete Treva, „ihr quält eure eigenen Leute, statt gegen die Laarmaschk zu kämpfen.“
„Du bist keine von uns, Verlorene!“, ätzte Onyra zurück, „und die Laarmaschk machen mir keine Sorgen. Wir werden ihr geistloses Wüten duldsam über uns ergehen lassen wie einen Sturm und wenn er vorbei ist, werden wir uns aus dem Untergrund erheben. Wir werden die Laarmaschk wieder unter unsere Herrschaft zwingen und die Scyonen ebenfalls. Alles wird wieder so werden, wie es mal war.“
„Du bist verrückt!“, sagte Treva.
„Nein, ich habe eine Vision“, widersprach Onyra und die stärkere Frau zog Trevas Arm mit Gewalt aus ihrer Tasche,
„und du hast das Mittel sie umzusetzen!“
Onyra versuchte ihr das Speichermodul aus der Hand zu reißen, aber sie hielt verbissen daran fest.
„Lass es los!“, verlangte Onyra, „wenn du kooperierst werden wir vielleicht doch einen Platz für dich in unserer neuen Gemeinschaft finden. Einen niedrigen zumindest.“
„Nein!“, beharrte Treva, auch wenn sie wusste, dass sie nur das Unausweichliche hinauszögern konnte, wollte sie dieser verbitterten Frau einfach nicht das Speichermodul überlassen.
„Wie du willst“, sagte Onyra und wandte sich an ihre Anhänger, „haltet sie gut fest.“
Weitere Hände ergriffen ihr Handgelenk und ein heftiger Schmerz explodierte in Trevas Arm, als etwas sehr Hartes darauf niederging.
Sie schrie auf. „Nein, bitte! Im Namen des Lichts, habt Erbarmen!“, flehte sie und ließ das Speichermodul dennoch nicht los. Solange nicht, bis ein zweiter, ein dritter und schließlich ein vierter Schlag ihren Arm gänzlich zerbrach. Sie spürte, wie Blut aus ihrem Armstumpf tropfte so wie die Tränen aus ihren Augen.
„Wir alle gehen ein in den Sand, Ohn-Schardara. Selbst die Univa und Ghoda in ihren Palästen“, kommentierte Garwenia.
Treva hörte, wie ihre linke Hand, die nicht mehr mit dem Rest von ihr verbunden war, aufgebrochen wurde.
„Danke, dass du das Modul gerettet hast“, sagte Onyra sanft, „vielleicht war doch noch ein Funken vom Geist des Allrichters in dir, der deine Hand lenkte.“
„Mag sein“, sagte Treva gepresst, „jedenfalls mehr als je in dir gesteckt hat.“
Als Treva darauf antwortete, war ihre Stimme wieder deutlich härter, „Tötet die Verlorene und die Bravianerin. Sie sind beide nicht mehr zu retten.“
„Das kann ich leider nicht zulassen“, erklang eine Stimme, die Treva bekannt vorkam.
„Kollom!“, erkannte sie und eine leise Hoffnung wuchs in ihr.

~0~

Die Ungeprüften griffen nicht in den Kampf ein, was Korf ihnen Ausnahmsweise nicht als Feigheit auslegte. Ohne ordentliche Bewaffnung gegen Rorak-Krieger anzutreten war nicht mutig, sondern bescheuert. Denn auch wenn diese Kämpfer nun nichts weiter als Puppen waren, hatten die Laarmaschk sich ihre Fähigkeiten angeeignet. Und je mehr es wurden, desto schwerer fiel es Korf und Rax, die sich beide schon längst in der Defensive befanden, sich deren Gräber vom Leib zu halten. Das geht nicht mehr lange gut, dachte der Rorak und sah sein Wiedersehen mit Kora – oder eher mit Sahkscha – schon wieder in weite Ferne rücken, als er plötzlich etwas hinter und über seinen Gegner schimmern sah. Unmittelbar darauf wurden seine Feinde von gläsernen Vögeln, Flugechsen, vier- und sechsbeinigen Raubtieren; kurzgesagt einem regelrechten Zoo attackiert. Die Tiere verbissen sich in das zumeist ungeschützte Fleisch der Laarmaschk-Marionetten, und auch wenn es ihnen nur selten gelang sie tödlich zu verletzen, hielten sie sie zumindest beschäftigt. Die Gräber hatten ihrerseits ihre liebe Mühe in die Körper der gläsernen Tiere einzudringen. Korf konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber glaubte zu sehen, dass sich ein Teil der Kreaturen auch diesem Geistspiegel widmete.
„Der Kieselpupser und die Ärztin haben ihren Job gemacht“, flüsterte Korf und rief dann lauter, „Los jetzt, ihr Schlammfresser! Das ist eure Gelegenheit. Falls ihr eure stinkenden Heimatwelten wiedersehen wollt, setzt ihr lieber euren Arsch in Bewegung!“
Korf stürmte los und kümmerte sich nicht darum, ob ihm die anderen folgten. Wenn sie es jetzt nicht taten, konnte er ohnehin nichts mit ihnen anfangen. Doch schon wenige Atemzüge später hörte er hinter sich die Schritte mehrerer nackter Füße, Krallen und anderer Gliedmaßen im Schlamm und auf dem hellen Stein der Brücke. Offenbar hatten seine Kommandofähigkeiten durch den Tod und die lange Folter nicht gelitten.
Er tauchte in das Tor hinein und versuchte den Glasviechern so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Ihm war durchaus klar, dass sie in diesem Kampf keine Loyalitäten kannten. Aber solange sie den vermaledeiten Seelenfresser ablenken würden, sollte ihm das Recht sein. Mit der Tierwelt kam Korf klar, denn in seinen Augen befand er sich stets an der Spitze der Nahrungskette.

~0~

„Das hier geht dich nichts an, Verlorener. Verlasse diesen Turm und behalte dein Leben oder trage die Konsequenzen“, warnte Onyra.
„Oh, es geht um potenzielles Kapital, das geht mich immer etwas an“, widersprach Kollom und betätigte einen verborgenen Schalter an seinem Manifestor.
„Vernichtet ihn zuerst“, befahl Onyra, „die anderen können warten.“
Noch bevor Onyra diese Worte ausgesprochen hatte, hatten sich dreißig kampfbereite Executioners auf gepanzerten Motorrädern in dem Raum materialisiert und der Manifestor hatte sich in einen mobilen Verteidigungsturm verwandelt.
„Ich mache euch ein Gegenangebot“, sagte Kollom, „Ihr verschwindet hier und lasst die beiden Damen in Ruhe und ich verzichte darauf euch von meinen Angestellten pulverisieren zu lassen. Das wäre mir sehr recht, da es Ressourcen schonen würde, aber wenn ihr nicht kooperiert, bin ich durchaus bereit zu investieren.“
Onyra, wechselte einen Blick mit ihren Anhängern von denen nur wenige Hirtenstäbe trugen, die zudem nicht mehr in der Lage waren Schüsse abzugeben. Anders als die falschen Rilandi konnten sie nicht auf die dunkle Kraft des Geistspiegels zurückgreifen.
„Wir gehen“, gab sich Onyra geschlagen, „überlassen wir die Verlorenen sich selbst. Wir haben, was wir brauchen.“
„Nein, Kollom!“, rief Treva, „Sie können sie nicht gehen lassen, sie haben das Speichermodul für die Webmaschine.“
„Tut mir leid, meine Teure“, sagte Kollom glatt während Onyra und ihre Leute wieder in dem Geheimgang verschwanden, „die Verhandlungen sind abgeschlossen.“
„Nein, das Schicksal des Multiversums hängt davon ab. Das können Sie nicht zulassen!“. Treva, die nicht länger festgehalten wurde, stolperte auf den Deovani zu und packte ihn an seinem Anzug. „Bitte, wir müssen ihnen folgen. Sie werden die Fehler des Allrichters wiederholen und sie womöglich noch verschlimmern!“
Er löste ihre Hand mit sanfter Gewalt, „ich weiß, Treva“, sagte Kollom sanft, „es wird zu Chaos und Konflikten führen und genau das wollen meine Auftraggeber, sei es nun durch ein spirituelles Machtvakuum oder durch diese Fanatiker. Das wäre uns beides recht. Du hingegen willst Harmonie und Ordnung und die sind schlecht fürs Geschäft. Nicht so schlecht, wie die Alleinherrschaft der Laarmaschk vielleicht, aber dennoch schädlich. Ich habe aber ein Angebot an dich. Du kannst für mich arbeiten und bekommst dein Augenlicht zurück und einen neuen Arm. Wäre das nicht was?“
„Eher sterbe ich“, sagte Treva.
Kollom zuckte mit den Schultern, aktivierte eines der Amulette an seinem Hals und berührte Treva mit seinem rechten Zeigefinger, woraufhin sie zu einem Haufen Glasstaub zerfiel. Das sparte Ressourcen und Munition. Dann ging er zu Garwenia, prüfte ihren Lebenswillen, der bejaht wurde und ließ sie im Manifestor verschwinden. Zufrieden setzte er sich auf eine der herumliegenden gläsernen Decken, genehmigte sich noch einen Thought-Shot und stand erst wieder auf, als er von draußen Jubelschreie vernahm.
Nun gab es nur noch eine Sache zu erledigen. Er verwandelte den Manifestor zurück, schickte seine Truppen hinein, öffnete das Nachrichtenfenster und stellte eine Frage an Astrera. Als kurz darauf die Antwort eintraf, traf er ein paar letzte Vorbereitungen. Und wartete.

~0~

„Moydrur, Scavinee, Korf, Autemga, Jetzt!“, rief ich Moydrur und den anderen zu, als ich sah, dass sich die Glastiere endlich wie erhofft auf den Geistspiegel stürzten und ich von irgendwoher Korfs markantes Kampfgeschrei vernahm, „Greifen wir ihn an. Gemeinsam!“
Und während der Geistspiegel damit beschäftigt war, sich die lästigen Störenfriede vom Hals zu schaffen, die er zwar mühelos mit seinen schmierigen Strahlen verdampfte, die sich jedoch hartnäckig immer wieder in seinen Leib verbissen, ließen wir die Hölle auf den Anführer der Laarmaschk los. Moydrur und die anderen Scyonen gaben noch einmal alles, was sie hatten. Schwarze Fliegen krochen dem Geistspiegel durch jede Körperöffnung, Eisenschilf schlug in sein Fleisch ein, Säure verätzte seine Atemwege, dichter Nebel verhüllte seine Sicht, der Boden unter seinen Füßen geriet in Bewegung und verflüssigte sich und sie versuchten sogar ihn einen enger werdenden Käfig aus Nachtschilf einzusperren.
Währenddessen deckten ihn Scavinees Leute mit Schüssen aus den von Kollom geliehen Waffen ein und Korf und einige der anderen Rorak beschossen ihn mit Gräbern, die ihn zwar nicht zum Platzen brachten, ihm jedoch offenbar Schmerzen bereiteten. Dennoch hielt Arvoorot dem Beschuss vorerst noch stand.
„Kannst du mich auf deine Schulter nehmen?“, fragte ich Karmon, der den falschen Wornaara ebenfalls mit seinen Schattenstrahlen unter Beschuss genommen hatte.
„Natürlich, Grong-Shin“, sagte Karmon, ohne weitere Fragen zu stellen, und hob mich wie ein Vater sein Kleinkind auf seine Schultern, wo ich mich jedoch nicht auf seine Schultern setzte, sondern auf ihnen stand, als wäre Karmon ein Aussichtsturm und wie ein solcher ertrug er mein Gewicht klaglos.
„Stirb, du Ungeheuer!“, rief ich und sprang mit dem Hirtenstab in der Hand auf den Körper des ehemaligen Allrichters zu, wobei ich meinen Sprung noch einmal leicht durch drei Fäden verstärkte, die ich aus meinen Füßen sprießen ließ und stürzte mich wie ein Drachentöter auf die mutmaßlich verwundbare Stelle des Laarmaschk-Anführers, wobei der ölige, schmutzig-graue Lichtstrahl, den er hastig aus seinen Augen auf mich abfeuerte, mir dank Kolloms Amulett nichts anhaben konnte. Ich fühlte mich erhaben in diesem Moment. Wie der Held, der ich so gerne gewesen wäre, seit ich den Katalog entdeckt hatte. Als ich die Spitze des Hirtenstabes im Körper des Geistspiegels versenkte und nichts weiter geschah, außer dass das Wesen mich wie einen Schädling aus seinem Fleisch pflückte und mich kurzerhand einige Meter von sich wegschleuderte, verstand ich, dass ich kein Held war. Ich war nur ein Getriebener mit immer noch viel zu großem Ego.
Ich brach mir alleine deshalb nicht alle Knochen, weil mein Sturz von Autemgas Körper abgefangen wurde, der sich hinter mir ebenfalls zum Sprung bereit gemacht hatte. Trotzdem raubte mir der Aufprall für einen Moment das Bewusstsein.

~0~

Als ich – benommen und mit schmerzenden Gliedern – wieder in die Realität zurückkehrte und Karmon mir half aufzustehen, stellte ich fest, dass der Geistspiegel zwar aus vielen Wunden blutete, jedoch noch immer lebte. Und nicht nur das. Er hatte offenbar weitere Truppen auf seine Seite gezogen, die gemeinsam mit den falschen Rilandi dabei waren, unseren Belagerungsring um ihn zu brechen, während er inzwischen fast alle Glastiere vernichtet hatte. Zudem hatte er sich weitere Unterstützung geholt. Der schreckliche, schwarze Malmer befand sich im Kampf mit Autemga und hielt ihn davon ab unseren Truppen zu unterstützen.
„Wir sind verloren“, sagte ich niedergeschlagen und überlegte ernsthaft, ob ich Karmon um meinen Katalog bitten sollte. Natürlich würde er nicht mit mir kommen können, obwohl … natürlich. Sandras Katalog. Er besaß ihn ebenfalls. Wenn wir beide dieselbe Seite benutzen würden, könnten wir all dem hier Lebewohl sagen und ein neues Kapitel aufschlagen.
Für die anderen war gesorgt. Immerhin hatte ich ja den Pakt mit Moydrur geschlossen, der ihnen eine Flucht ermöglichte, ja ich hatte sogar meinen eigenen, ungeborenen Nachwuchs verpfändet. Ich alles getan, was in meiner Macht stand. Man konnte nicht von mir verlangen, dass ich mich um jeden Einzelnen hier kümmerte, als wäre ich dessen Vater.
Nein, dachte ich, MAN konnte das nicht von mir verlangen. Aber ich selbst. Ich war es mir selbst schuldig, mich nicht mehr zu belügen. Ich konnte nicht erneut die Augen zukneifen und mir ein Lied davon vorsingen, dass die anderen schon alle irgendwie glücklich und zufrieden weiterleben würden.
Sandra, Garwenia, Pingo, Korf. Sie alle würden wahrscheinlich am Ende dieses Tages in ihrem eigenen Blut oder in Ketten liegen, falls sie nicht sogar gänzlich ausgelöscht werden würden. Wenn ich blieb, konnte ich das natürlich nicht mit Sicherheit verhindern. Vielleicht aber doch. Und in diesem Moment, so als hätte eine unsichtbare Macht mich dafür belohnt, dass ich mal nicht wie ein egoistischer Volltrottel dachte, kam mir eine Idee.
„Karmon“, sagte ich, „Hilf den anderen die Stellung zu halten. Ich komme gleich wieder!“

~0~

Autemgas Zähne und Klauen glitten so wirkungslos am Körper des Malmers ab, wie auch dessen Angriffe an dem seinen. Das hier war kein physischer Kampf, verstand Autemga, auch wenn sich ihre Leiber wie zwei Liebende umschlangen. Wie so oft war es ein Kampf des Willens. Doch auch dieser war nicht leicht zu führen.
Das Ding, mit dem er kämpfte, lebte nicht wirklich. Es war eine Biomaschine, ein simples Wesen mit einer einfachen Aufgabe: Zu prüfen und zu strafen. Er fand keine Gier, keine Sehnsucht, keine Emotionen, bei der er die Kreatur hätte packen können. Dann jedoch fiel es Autemga wie Schuppen von den Augen. Der Malmer war dazu geschaffen worden zu prüfen. Also sollte es ihn prüfen. Er ließ alle Schranken seines Willens fallen, öffnete seine Tore und lud den Feind in sich ein. Nicht nur ein Stück, wie er es bei den Laarmaschk getan hatte, sondern vollständig. Es war entwürdigend, erniedrigend und höchst unangenehm, aber dennoch ertrug er es und wartete, bis das Wesen sein künstliches Bewusstsein in jeden Winkel von Autemga ausgebreitet und all seine Schwächen, Begierden und Sünden kartografiert hatte. „Du hast nicht bestanden!“, hörte er die mechanischen Worte des Malmers in seinem Geist urteilen.
„Du auch nicht!“, knurrte Autemga. Dann schnappte er zu.

~0~

„Ist das Adrian?“, fragte Pingo, als er sich mit Jarma durch einen Pulk von Soldaten schob, die bislang noch nicht zum Feind zu gehören schienen. „Sieht ganz so aus“, sagte Jarma und tatsächlich lief ich den beiden einige Momente später förmlich in die Arme.
„Hallo Adrian“, begrüßte mich Pingo freudig, „wie schön, dass du noch lebst.“
„Ich bin auch froh, dass ihr es bis hierhin heil überstanden habt“, erwiderte ich freundlich lächelnd, wurde dann aber sofort wieder ernst. „Jarma, hast du noch etwas von dem Mittel, mit dem du Nojun lähmen wolltest?“, fragte ich atemlos.
„Ja“, sagte sie und schien sofort zu verstehen, „du willst es beim Geistspiegel verwenden?“
Ich nickte.
„Dann werden wir sehr viel davon brauchen“, überlegte Jarma.
„Gib mir alles, was du hast“, bat ich sie.
„In Ordnung“, sagte Jarma, wählte eine besonders große Spritze und füllte sie bis zum Anschlag mit der Flüssigkeit.
„Das sollte hoffentlich reichen“, meinte Jarma, „aber ich kann es ihm nicht verabreichen. Ich bin nicht schnell genug.“
„Keine Angst“, sagte ich keuchend, „ich kümmere mich darum.“
„Du bist doch völlig außer Atem“, sagte Pingo, „ich werde es machen. Ich bin ein schneller Läufer.“
„Nein, Pingo“, widersprach ich, „überlass das mir oder Karmon, wir …“
„Sag mir nicht, was ich zu tun habe. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen“, sagte Pingo ungewöhnlich scharf, riss der überrumpelten Jarma die Spritze aus der Hand und stürmte los.
Jarma und ich sahen uns ratlos an. „Hast du ihm irgendetwas gegeben?“, fragte ich sie. Jarma schüttelte den Kopf. „Schon, aber daran liegt es nicht“, sagte sie mit einer Mischung aus Sorge und Stolz, „das steckte schon immer in ihm.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, meinte ich lächelnd. Dann rannten wir beide ihm hinterher.

~0~

Pingo hatte Angst. Schreckliche Angst. Ein Teil von ihm hielt das hier noch immer für eine unheimlich schlechte Idee. Und die seelenlosen Laarmaschk, die mit ihren Händen, Klauen und Hirtenstäben Tod und Schmerzen verteilten, fütterten diese Überzeugung genauso wie die unerbittlichen Scyonen und die weinenden und schreienden Soldaten, die sich ihre teils grausamen Wunden hielten. Oder wie der schwarze Malmer, der sich in einem titanischen Kampf mit dem nicht weniger furchterregenden Autemga befand, welcher zu allem Überfluss auch noch etwas von ihm in sich trug, was Pingo fast das Gefühl gab, selbst mit dieser Kreatur zu kämpfen.
Nicht zuletzt natürlich hatte er auch Angst vor dem gewaltigen, seelenfressenden Geistspiegel. Doch er rannte dennoch weiter und das lag zum einen an seinem altruistischen Charakter und der Sorge um seine Freunde und Verbündeten, zum anderen aber auch am wieder zunehmenden Einfluss des Steins, der praktisch von ihm verlangte, verrückte Dinge zu tun. Letzterer war auch dafür verantwortlich, dass er hysterisch lachte, wann immer er knapp einer zustechenden Schwertspitze entging, Krallen oder Schüssen auswich oder einen Sterbenden erblickte, gleich ob Verbündeten oder Feind.
Dennoch gelang es ihm einigermaßen bei Verstand zu bleiben und der Geistspiegel rückte immer näher. Als er ihn schon beinah erreicht hatte, baute sich ein bulliger Rorak mit leeren Augen vor ihm auf, bei dem er sich sicher war, dass sein ursprünglicher Besitzer dessen Körper verlassen hatte. Zum Glück verfügte der Rorak über keine Waffe, aber als er versuchte, an ihm vorbeizugelangen, packte er Pingo am Arm, der trotz seiner der Versteinerung geschuldeten Widerstandsfähigkeit ungesund knirschte.
Pingo versuchte sich loszureißen, doch der Rorak ließ das nicht zu und dann traf dessen Faust Pingo ins Gesicht. Ein heftiger Schmerz schoss durch seinen Kopf und seinen Nacken und für einen Moment wurde alles in ihm dumpf und kraftlos. Er öffnete die Hand und ließ die Spritze auf den Boden fallen. „Nein“, sagte er verwaschen als die Faust des Kriegers ein weiteres Mal auf ihn zuraste. Jedoch traf sie nie ihr Ziel, denn unter den Füßen des ehemaligen Rorak verwandelte sich der Boden in einen rutschigen Strudel aus Moorschlamm, als der Zauber eines der Scyonen seine Wirkung tat. Der Mann ließ ihn los und Pingo bückte sich sofort nach der Spritze. Endlich fand er sie. Sie war nicht zerbrochen, aber er stellte zu seinem Erschrecken fest, dass sie schon halb im Matsch versunken war. Er streckte sich danach und schaffte es sie zu greifen, fiel dabei jedoch der Länge nach in das künstlich erschaffene Moor. Er versuchte sich aufzurappeln, aber der Sog des Scyonen-Zaubers zog ihn immer tiefer und er besaß nicht die nötige Kraft, um seinen schweren Körper hochzustemmen. Na toll, dachte Pingo, das hast du ja fantastisch hinbekommen. Ein finsteres, zynisches Lachen drang aus seiner Kehle und wurde von einem lauten Knurren übertönt.
„Besser im Bestienbauch zu stecken, als ohne Luft im Schlamm verrecken!“, reimte Pingo gackernd. Dann senkte sich Autemgas auf die doppelte Größe angewachsenes Maul über ihn, packte ihn behutsam und zog ihn aus der zähen Flüssigkeit heraus. „Danke“, sagte Pingo, dem es endlich wieder gelang ernst zu werden.
„Du bist einer meiner Väter“, brummte Autemga, „du sollst deinem Willen folgen können.“
„Das werde ich, mein Sohn“, sagte Pingo entschlossen, wenn auch wieder etwas schmunzelnd, kämpfte sich nach oben und rannte auf den Geistspiegel zu, der nun von niemandem mehr beschützt wurde. Die letzten Meter überwand Pingo mit einem Sprung und rammte dem Wesen die Spritze in den Unterleib. Bevor er ihren Inhalt jedoch in ihn entladen konnte, versteinerte Pingo – nicht durch das Narrengold, sondern durch pure Angst – als ihn die Augen des Geistspiegels erfassten. Ein dunkles, öliges Glimmen lag in den Augen des Laarmaschk-Herrschers und Pingo rechnete fest damit, dass er ihn nun seiner Seele berauben würden, die er trotz seines Zustands gerne noch eine Weile behalten hätte.
Bevor der Laarmaschk-Anführer jedoch seine entseelenden Fähigkeiten zum Einsatz bringen konnte, sprang Autemga ihm direkt ins Gesicht. Pingos Mut kehrte zurück, als er dies sah. Er überwand seine Lähmung und entleerte den gesamten Inhalt der Spritze im Körper des Wesens. Einen Moment lang geschah nichts, dann erstarrte die Gestalt des Geistspiegels von einem Augenblick auf den anderen zu einer reglosen Statue.
Jubel erklang unter unseren Leuten, die sich sofort mit neuem Mut über die verbliebenen Laarmaschk hermachten, welche von der Niederlage und Einkerkerung ihres Anführers wie gelähmt waren.
Pingo spürte eine Hand auf seiner Schulter. „Du hast es geschafft“, sagte ich zu ihm, „du hast uns alle gerettet.“
Pingo drehte sich zu mir um und trug ein irres Lächeln zur Schau, welches sich jedoch binnen Sekunden in ein Glückliches verwandelte. Trotzdem wirkte vor allem Jarma sehr besorgt.
„Sieht ganz so aus“, sagte Pingo und strahlte, als ihn die Gesunderin plötzlich in die Arme schloss.
„Du wirst dich infizieren“, warnte er, obwohl er die Umarmung sehr genoss.
„Das werde ich nicht“, widersprach Jarma und löste sich dann wieder von ihm, „ich bin Medizinerin. Ich weiß, wie lange ich mich einem Infizierten aussetzen kann, ohne ein Risiko einzugehen.“
„Ihr habt es geschafft“, hörte ich Karmon hinter mir sagen.
„Nein, das war Pingos Verdienst“, widersprach ich.
„Und Autemgas“, fügte Pingo hinzu und zeigte auf die Kreatur, die bereits damit beschäftigt war die Energie weiterer Laarmaschk in sich aufzusaugen, „ohne ihn wäre es mir nicht gelungen.“
„Sieht so aus, als wäre es gut, dass ich ihn erschaffen habe“, meinte Jarma, „auch wenn ich mich noch immer für das schäme, was ich euch angetan habe.“
Ich sah Jarma neugierig an.
„Wir hatten Anfangs ein paar … Missverständnisse“, erklärte Pingo, „es ist eine lange und unangenehme, aber interessante Geschichte, die wir dir vielleicht ein anderes Mal erzählen sollten. Jedenfalls enthält Autemga Teile von meiner und von Karmons Seele. Und von Kolloms.“
War die Tatsache, dass ich und Karmon getrennt waren schon schwer genug zu akzeptieren, so verstörte mich der Gedanke, dass etwas von dem Kwang Grong und damit praktisch auch von mir in dieser Bestie steckte, regelrecht. Trotzdem schob ich ihn vorerst Beiseite.
„Kollom ist ein gutes Stichwort“, sagte ich, „ich traue ihm nicht und mir gefällt es nicht, dass er bei Garwenia und Treva ist und auch Sandra befindet sich wahrscheinlich immer noch in seinem Koffer. So wie es aussieht, ist dieser Kampf so gut wie gewonnen. Ich werde lieber in der Halle der Prüfung nach dem Rechten sehen. Karmon, wirst du mich begleiten?“
Der Kwang Grong nickte, „natürlich, ich werde Sandra nicht im Stich lassen.“
Etwas an seinem Tonfall bestätigte einen Verdacht, den ich ohnehin schon länger hegte. Karmon empfand etwas für Sandra.
„Wir kommen auch mit dir“, bot Pingo an.
„Nein, ihr kümmert euch um etwas anderes“, sagte ich.
„Moydrur!“, rief ich. Als nichts geschah, nahm ich den Fehlstein in die Hand und drehte ihn zweimal. Kurz darauf erschien der Scyone. Offenbar hatte ich hier so etwas wie die Flasche eines ziemlich bösen Dschinns in der Hand, dachte ich in einem Anflug von Galgenhumor. Das hier wurde wirklich immer mehr wie in einem finsteren Märchen.
„Ja, Adrian?“, fragte Moydrur, „was willst du? Ein Kind kann ich nirgendwo entdecken und falls du mit mir zusammen den Sieg feiern willst, ist es dafür noch etwas zu früh. Es gibt noch immer genügend Nachahmer zu erledigen. Auch wenn ich wenig Bedenken habe, dass es uns gelingt.“
„Darum geht es nicht“, sagte ich zu Moydrur, „wir haben einen Deal geschlossen und ich fordere dich nun auf deinen Teil zu erfüllen und jeden von hier fortzubringen, der es möchte.“
„Ich halte mein Wort, Oberkarzon“, antwortete der Scyone, „und meine Geschwister sind grundsätzlich bereit euch zu helfen, wie du ja schon daran erkennen wirst, dass sie bis zuletzt kämpfen. Aber es wird dauern. Ich habe viel Kraft verloren und brauche die Hilfe aller überlebenden Scyonen auf Uranor, um deinem Wunsch zu entsprechen. Erst müssen wir aber diese Schlacht gewinnen, dann werden wir euch helfen.“
„Gut“, sagte ich, „Pingo, Jarma? Könnt ihr alle zusammentrommeln, die mit Moydrur und den Scyonen reisen wollen?“
„So machen wir es“, versprach Jarma.
„Klar“, stimmte auch Pingo zu, „wo treffen wir uns, wenn wir die Reisegruppe zusammenhaben?“
„Wir treffen uns vor der Halle der Geheimnisse“, erwiderte Moydrur mit seiner rauen, unheimlichen Stimme, „es gibt kaum einen passenderen Ort, um in den Zwischenraum einzutauchen, oder nicht?“
Er sah die Unsicherheit, die er in Pingos und Jarmas Gesicht auslöste. Dann verschwand er wieder.
„Gruseliger Kerl“, sagte Pingo und niemand widersprach ihm.
„Was ist mit dir, Adrian?“, fragte Pingo mich, „und mit Karmon? Werdet ihr mit uns kommen?“
Der Gedanke, bei einer Reise einmal nicht dem Katalog unterworfen zu sein und hingehen zu können, wohin ich wollte, war verlockend. Andererseits mochten sich in dem Katalog auch Welten verbergen, die ich auf anderen Wegen nie erreichen würde und sei es nur, weil ich von ihrer Existenz keinen blassen Schimmer hatte. Außerdem wollte ich wissen, was der Weg, den ich schon so lange gegangen war, noch für mich bereithielt. Es war wie bei einem interessanten und sehr langen Buch, welches man nicht einfach weglegen wollte, bevor man das Ende kannte. Dann wiederum war da aber auch Karmon, den ich nicht so einfach mitnehmen konnte, nun wo doch noch die Aussicht bestand, Sandra ihren Katalog zurückzugeben.
„Wir werden sehen“, sagte ich, „erst einmal stellen wir sicher, dass Kollom keinen Unsinn anstellt.“
„Aber wir werden uns verabschieden?“, fragte Pingo, „ich meine, falls du nicht mit uns kommst.“
„Natürlich“, versprach ich Pingo. Dann machten Karmon und ich uns auf den Weg.

~0~

„Du hast Gefühle für Sandra“, sagte ich zu Karmon, während wir so schnell wie möglich auf die Halle der Prüfung zugingen. Der Himmel war inzwischen so dunkel geworden, dass man vorsichtig sein musste, um nicht über Bruchstücke der Treppe oder der Wolken zu stolpern. Gleichzeitig war inzwischen es wirklich kalt geworden. So kalt, dass ich zu frieren begann und mein Gewand enger um mich wickelte. Auch das Anti-Om war trotz der Niederlage des Geistspiegels nicht verstummt. Es erfüllte die Festung noch immer wie ein übler Geruch, der sich einfach nicht vertreiben ließ.
Karmon stritt es nicht ab. „So ist es“, sagte er lediglich, „vielleicht stammen sie noch von unserer Verbindung und unserer gemeinsamen Zeit in Konor, vielleicht kommen sie auch aus mir selbst. Das weiß ich nicht. Ich weiß lediglich, dass sie existieren. Ich hoffe, du bist nicht eifersüchtig.“
Ich schüttelte den Kopf, „meine Beziehung zu ihr war ohnehin immer mehr als schwierig und davon abgesehen habe ich inzwischen jedes Recht auf Eifersucht verwirkt, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Ominee?“, fragte Karmon.
Ich nickte traurig und dachte erneut an das schreckliche Schicksal der Jyllen. Trotzdem trauerte ich vor allem um mich selbst, wie es oft die Eigenart der Überlebenden ist. Sie hätte nicht nur eine gute Partnerin abgegeben, sondern war auch so etwas wie meine Chance auf Erlösung gewesen. Zumindest hatte ich mir das einbilden können.
„Erwidert Sandra deine Gefühle?“, fragte ich den Kwang Grong.
„Ich glaube nicht“, sagte Karmon und der Schmerz in der Stimme des Kwang Grong war nicht zu überhören, „wahrscheinlich hasst sie mich sogar. Immerhin habe ich ihren Katalog gestohlen, um sie an der Flucht zu hindern und davon abgesehen entspricht dieser Körper ganz sicher nicht ihren ästhetischen Ansprüchen.“
„Wahrscheinlich mehr als dein alter“, erwiderte ich mit gutmütigem Spott, wurde dann aber gleich wieder ernst.
„Es tut mir leid mein Freund“, sagte ich, „Unerfüllte Sehnsucht ist etwas Grauenhaftes. Ich fühle mit dir.“
„So wie ich mit dir“, antwortete Karmon, „was seltsam ist, da wir nun getrennt sind. Dennoch vermisse ich unsere Verbindung. Sie war um so vieles …“ Karmon schien nach Worten zu suchen.
„… vollständiger“, ergänzte ich.
„Genau“, sagte Karmon.
„Vielleicht finden wir einen Weg unsere Verbindung zu erneuern. Nach all dem, was ich schon erlebt habe, scheint es mir, dass das Multiversum voller Möglichkeiten steckt“, versuchte ich Karmon zu ermuntern.
„Da hast du sicherlich recht“, entgegnete Karmon, „und ich will sie alle auskosten. In gewisser Weise bin ich Autemga nicht unähnlich. Ich bin vielleicht nicht so hungrig wie er, aber auch ich will noch viel erleben und bewirken in dieser Welt.“
„Ich weiß“, sagte ich und dachte an die Träume von Herrschaft und Größe, die wir geteilt hatten.
„Zunächst aber werde ich Kollom in den Arsch treten und ihn zwingen Sandra freizulassen. Er hat schon viel zu lang seine Spielchen mit ihr gespielt“, sagte Karmon, als wir endlich die Eingangstür des unterirdischen Turmes erreicht hatten.
„Da bin ich dabei“, antwortete ich grinsend. Dann traten wir gemeinsam ein.

~0~

„Hallo Adrian, Hallo Karmon“, begrüßte uns Kollom höflich, der es sich auf einer der Liegen bequem gemacht hatte und ein schlankes Glas mit einer klaren Flüssigkeit in der Hand hielt. Er war ganz alleine in dem Raum. Abgesehen von jenen wenigen, die Kolloms „Angebot“ mangels Lebenswillen abgelehnt hatten und die apathisch an der Wand lehnten und saßen, ohne sich für ihre Umgebung zu interessieren.
„Wo sind Garwenia und Treva?“, fragte ich mit Nachdruck.
„In Sicherheit“, sagte Kollom entspannt und tippte auf seinen Manifestor, den er wie einen Schild vor seine Brust gestellt hatte, „wollen Sie vielleicht auch einen Thought-Shot? Nicht, dass ich Ihnen einen schenken würde. Die sind viel zu teuer. Aber für … sagen wir eintausend Dominanten gehört er Ihnen.“
„Wenn sie Garwenia, Treva und insbesondere Sandra nicht aus ihrem Koffer holen, werden Sie nie wieder etwas trinken“, stellte Karmon drohend fest.
„Versuchen Sie ruhig, mich mit Ihrem Schattenstrahler anzugreifen. Ich bin gespannt, wie es Ihren Freunden bekommt“, sagte Kollom lachend und nahm einen großen Schluck von seinem Getränk.
Karmon sah wütend zu Kollom und ermordeten ihn mit Blicken, verstand aber, dass er tatsächlich nichts tun konnte, ohne Sandra zu gefährden.
„Ist ihr Wort überhaupt nichts wert?“, versuchte ich den Mann bei dem bisschen Ehre zu packen, dass er womöglich im Leib hatte. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich den Mann damals noch nicht so gut kannte. Sonst hätte ich gleich gewusst, dass er keine Ehre besaß.
„Durchaus“, sagte Kollom, „nur ist es leider so, dass in Deovan die älteren Verträge mehr gelten, wenn sie nicht aufgelöst oder erfüllt wurden.“
„Was für Verträge? Was meinen Sie damit?“, fragte ich, „Wollen Sie uns erpressen? Ist es das? Verlangen Sie etwas für ihre Freilassung? In dem Fall gelangen wir vielleicht zu einer Übereinkunft.“
„Normalerweise weiß ich eine solche Denkweise zu schätzen“, lobte Kollom, „aber Astrera sieht das leider anders als ich. Und in einem Punkt muss ich meinem Auftraggeber zustimmen. Ihre Investition hat sich wirklich nicht sehr gut entwickelt. Es wird höchste Zeit für einen Exit.“
Noch bevor er diese Worte ganz ausgesprochen hatte, betätigte Kollom einen Schalter an seinem Manifestor und die beiden Amulette an Karmons und meinem Hals explodierten.

~0~

„Was für eine Verschwendung von Ressourcen“, sagte Kollom zu sich selbst, während er unsere zerstörten Körper begutachtete, „aber notwendig. Leider notwendig.“
Große Teile meines Gehirns lagen frei oder lagen um meine Leiche herum verstreut, während Karmon zwar ebenfalls reglos auf dem Boden lag, aber keine so schlimmen Verletzungen davongetragen hatte.
Kollom überlegte einen Moment, ob er sicherstellen sollte, dass auch der Kwang Grong wirklich tot war, aber von ihm war ohnehin nicht die Rede gewesen und kein Deovani tat mehr als das, wofür er bezahlt wurde oder was unbedingt notwendig war. Karmon auszuschalten hatte lediglich seiner eigenen Sicherheit gedient. Hauptsache die Zielperson war vernichtet worden. Sollte der Kwang Grong erwachen, konnte er ruhig toben und wüten, so viel er wollte. Er wäre dann schon lange fort. Kollom trank sein Glas aus, griff zum Manifestor und machte sich mit einem simplen Knopfdruck auf den sofortigen Rückweg nach Deovan. Seinen Koffer und alle neuen und alten Angestellten nahm er selbstverständlich mit.
~0~

„Wir können nicht länger warten“, sagte Moydrur finster und ungeduldig. Inzwischen hatten sie die letzten Laarmaschk, abgeschlachtet oder ins Geflecht zurückgetrieben, auch wenn der Sieg bei all den Opfern und inmitten dieser siechenden Welt schal schmeckte. Daran änderte auch die Statue des ehemaligen Allrichters nicht, die wie ihr eigenes, lebendiges Grabmal im Innenhof der zerstörten Festung stand, mit dem Leib des besiegten schwarzen Malmers zu seinen Füßen.
„Aber Adrian und Karmon sind noch nicht hier und Kollom, Sandra, Treva und Garwenia auch nicht“, widersprach Pingo, der zusammen mit Jarma vor Moydrur und den anderen überlebenden Scyonen stand.
Auch Autemga, Korf, Scavinee und etwa vierzig Mitglieder ihres aus Ungeprüften und „Träumern“ notdürftig zusammengewürfelten Heeres hatten sich für eine Reise im Zwischenraum entschieden. Der Rest war entweder tot oder zog es vor sein Glück auf dem dunklen, kalten Planeten oder in dessen Untergrund zu versuchen, anstatt sich den Launen der Kinderfresser auszuliefern. Pingo und Jarma hatten ihnen den Zugang zur Unterwelt gezeigt und ihnen sogar von den Raumschiffen erzählt, welche Treva erwähnt hatte.
„Wir MÜSSEN auf Sie warten!“, brüllte Pingo, „oder nachsehen, ob Ihnen etwas passiert ist.“
„Was maßt du dir an, du Insekt?“, empörte sich eine Scyonin, „wir sind kein Transportunternehmen. Wir gewähren euch die einmalige Chance euch an den Ort eurer Wahl zu bringen und das, obwohl der, mit dem die Vereinbarung geschlossen wurde, nicht hier ist. Nennt uns euer Ziel oder bleibt hier. Das allein ist eure Wahl. Trefft sie jetzt!“
Pingo war noch immer unsicher. Er wollte Adrian nicht im Stich lassen, aber er hasste diesen Ort. Er wollte nicht in dieser sterbenden Welt zurückbleiben.
„An deiner Stelle würde mich nicht so quälen, mein Freund“, sagte Scavinee freundlich, „Treva wird sich sicher in den Untergrund zurückgezogen haben. Immerhin ist das ihre Welt. Vielleicht sucht sie auch nach der Raumflotte, von der sie gesprochen hat. Was diesen Kollom Nehmer betrifft, so bin ich fast sicher, dass er sich Garwenia und Sandra unter den Nagel gerissen hat und mit ihnen in seine Heimat geflohen ist.
Dazu hatte er absolut kein Recht, und ich verspreche dir, dass ich versuchen werde die Beiden zu finden und Kollom für seine Taten zu bestrafen. Jedenfalls, sobald ich einen Weg gefunden habe, meine Leute wieder zu dem zu machen, was sie einst waren und sie von der Unterdrückung durch die Rorak zu befreien. Aber gerade können wir nichts für Garwenia und Sandra tun. Was Adrian betrifft … nun, er mag dich nicht so schlimm behandelt haben wie mich oder den Rorak, aber er ist und bleibt ein Egoist. Wenn du hierbleibst, wirst du nur feststellen, dass er seinen Katalog benutzt hat, um sich wieder einmal aus der Verantwortung zu ziehen.“
„Ich sag’s ja nur ungern“, knurrte Korf, „aber die Jyllen-Braut hat recht. Also zumindest was Adrian angeht. Er is‘n Kameradenschwein. Er mag seine lichten Momente haben und man kann ’ne gute Zeit mit ihm haben, aber wenn’s drauf ankommt, kneift er oder fällt einem gleich in den Rücken.“
Pingo sah das nicht so. Für ihn war Adrian ein guter Kerl. Trotz all seiner Fehler. Korf hingegen war ein rachsüchtiger Krieger und auch wenn er Scavinee mochte, waren die Lücken in ihrer Argumentation größer als Autemga. Letztlich war auch sie eine Egoistin, die ihre Chance auf Rache oder zumindest eine Heimkehr nicht verspielen wollte und sie zog sich mindestens genauso aus der Verantwortung wie sie es Adrian vorwarf.
Er wollte ihnen all das um die Ohren hauen. Aber dann sah er zu Jarma. Die Gesunderin hatte ihm versprochen, ihn nach Rihn zu begleiten und gemeinsam mit ihm nach einer Heilung zu suchen. Vielleicht würde auch sie hier bei ihm in Uranor bleiben, wenn er sie darum bat. Aber Pingo wusste nicht, ob das wirklich der Fall war und wenn, dann hätte er das niemals von ihr verlangen können.
„Bringt uns nach Rihn. Mich und Jarma“, sagte er schweren Herzens und die Gesunderin drückte dabei tröstend seine Hand.
Die Scyonin nickte und da Pingo und Jarma die letzten waren, die den Sumpfhexern ihr Ziel genannt hatten, taten die Scyonen nun gemeinsam einen Riss in der frostigen, toten Luft Uranors auf. Nach und nach begannen die Reisenden einzutreten. Jarma und Pingo warteten bis zuletzt, ob Karmon und ich noch nachkommen würden, aber er so sehr Pingo auch seine Augen anstrengte – er konnte nichts weiter entdecken als Trümmer, Staub und Dunkelheit.
„Leb wohl, Adrian!“, flüsterte Pingo. Dann trat er zusammen mit Jarma durch den Riss, der sich sofort darauf schloss.

~0~

Diesmal hatte Karmon seine Ohnmacht nicht simuliert. Er war tatsächlich für eine ganze Weile ohne Bewusstsein gewesen und als er erwachte, wünschte er sich, er wäre es noch. Seine Glieder waren steif gefroren und ließen sich kaum bewegen, während sein Hals brannte und drückte, was ihm das Luft holen ziemlich erschwerte. Vor allem jedoch machte ihm das zu schaffen, was ihm seine Augen zeigten. Direkt neben sich sah er Adrian liegen. In seinem Hals klaffte eine riesige Wunde. Sein Gesicht war eine unidentifizierbare Ruine und der Inhalt seines gesprengten Schädels hatte sich beinah in der gesamten Umgebung verteilt. Karmon brüllte seinen seelischen Schmerz in einem unmenschlichen Schrei hinaus, den auf dem fast toten Planeten niemand mehr hörte. Selbst diejenigen „Träumer“, die sie in der Halle zurückgelassen hatten, waren bereits zu traurigen, leblosen Statuen gefroren. Alles Leben, was es hier noch gab, spielte sich nun weit entfernt im Untergrund ab. Die Temperatur auf der Oberfläche sank weiterhin rapide. Schon bald würde es selbst für Karmon zu kalt sein, um sich hier noch aufhalten zu können.
Doch im Moment bereitete ihm das wenig Sorgen. Das einzige, was für ihn zählte, waren der zerfetzte Körper, der neben ihm lag und die Taten von Kollom Nehmer, der ihm auf einen Schlag die beiden Personen weggenommen hatte, die für ihn zählten. Wie er diesen schmierigen Typen dafür bestrafen würde, hatte er noch nicht entschieden, aber das konnte warten. Wichtig war erst mal, dass er das hier überlebte. Bevor er hier erfror, würde er versuchen müssen einen der Kataloge in seinem Inneren zu verwenden, auch wenn er nicht wusste, ob ihm das überhaupt möglich war. Außerdem machte ihm der Hunger zu schaffen. Seitdem er – mehr versehentlich als bewusst – die Kannibalin aus Dank Qua verspeist hatte, hatte er nichts mehr zu sich genommen. Die Laarmaschk und Scyonen zu konsumieren war ihm nicht geheuer gewesen und die Ungeprüften und Träumer wollte er nicht anrühren, weil es eben nicht seiner Natur als Symbiont entsprach. Wenn er es sich zur Gewohnheit machte, Unschuldige zu verspeisen, bestand die Gefahr, dass er ein „Kwang Anan“ wurde, ein rücksichtsloser Seelentöter und das musste er verhindern. Jedoch wusste er, dass er dem Drängen früher oder später würde nachgeben müssen. Doch vorerst noch nicht. Im Moment erlaubte er sich erst einmal um Adrian zu trauern.
Hätte ihm jemand noch vor einigen Jahren erzählt, dass er einmal so um einen ehemaligen Wirt würde trauern können, hätte er ihn ausgelacht. Aber es war so. Er liebte Adrian, wenn auch nicht auf die Art wie er Sandra liebte, sondern eher wie er sich selbst liebte. Zärtlich fuhr er über den hart gewordenen, zerbrochenen Körper, der bereits mit Raureif überzogen war, glitt über die eigenartige, bravianische Uhr und den blutbesudelten Rilandi-Umhang. Als er etwas Hartes in dessen Tasche berührte, glaubte er ein Flüstern zu hören. Zuerst dachte er, dass es das Knacken der unter der Kälte ächzenden Mauern des Turmes wäre. Dann jedoch glitt seine Hand zurück, griff in die Tasche und fand darin den Fehlstein, den Moydrur Adrian gegeben hatte.
„Karmon!“, rief ich, wie ein Ertrinkender, der in letzter Sekunde einen menschenförmigen Schatten auf der Wasseroberfläche entdeckte.
Karmon erschauerte. Beinah hätte er Adrian hier zurückgelassen. Eingeschlossen in ein Artefakt. Ganz allein auf einem sterbenden Planeten. Mir ging aus naheliegenden Gründen derselbe Gedanke durch den Kopf.
„Adrian, du lebst?“, fragte Karmon erleichtert.
„Das tue ich“, antwortete ich ihm durch den Fehlstein, „wenn man es so nennen will. Moydrurs Stein muss meine Seele aufgefangen haben, wahrscheinlich damit ich seinen Vertrag erfüllen kann. Mein Körper ist kaum mehr, als ein Haufen Matsch, oder?“
„Ja“, bestätigte Karmon.
„Kollom!“, brüllte ich körperlos, „wenn ich den in die Finger kriege – falls ich dann wieder Finger habe – wird er mehr als nur ein paar finanzielle Verluste erleiden.“
„Da sind wir einer Meinung, Grong-Shin“, sagte Karmon und selbst durch den Stein hindurch spürte ich seine Wut, die meiner gleichkam, „Kollom wird bluten. Wir werden einen neuen Körper für dich finden und wenn nicht, wird meiner als Instrument unserer Rache genügen müssen. Aber zuerst müssen wir von hier fort.“
„Da hast du recht“, stimmte ich zu, „vielleicht können wir mit den Scyonen reisen. Sie könnten uns direkt nach Deovan bringen, wo er sicher auch Sandra, Garwenia und Treva hingebracht hatte.“
„Sie sind längst fort“, sagte Karmon niedergeschlagen.
„Woher weißt du das?“, fragte ich, „hast du nachgesehen?“
„Noch nicht“, erwiderte Karmon, „aber sie müssen gegangen sein, falls sie nicht sterben wollten. Dieser Planet ist ohne Licht viel zu kalt für Leben. Selbst der Körper, den mir Pingo verschafft hat, erträgt das nicht mehr lange. Siehst du nicht das Eis, das sich überall bildet?“
„Ich sehe leider überhaupt nichts“, sagte ich niedergeschlagen, „deine Stimme ist alles, was ich wahrnehme. Ansonsten gibt es nur Gedanken.“
Scavinees Racheplan hat sich schon wieder fast erfüllt, dachte ich bitter, fast so als wäre es ein Fluch, den sie auf mich gelegt hat. Zwar war ich noch nicht schwachsinnig und emotionslos, aber zumindest meine körperlichen Empfindungen waren gänzlich verschwunden. Wenn Karmon mich verlieren oder fallen ließ, war ich abgeschnitten von allem. Für immer gefangen in einem steinernen Käfig, der noch enger war als jeder Verwahrer. Dass es dem Geistspiegel ebenso ergehen musste, tröstete mich kaum.
„Ich habe eine Idee“, sagte Karmon, wobei ich seine Stimme zittern hörte. Er durfte nicht erfrieren. Nein, auf keinen Fall.
Ich spürte die Bewegung nicht, aber irgendwie ahnte ich, dass er meine Position änderte und plötzlich fühlte und sah ich ein bläuliches und doch warmes Licht, welches in regelmäßigem Takt an- und abschwoll. Unmittelbar darauf sah ich die Hallen der Prüfung vor mir, hörte das Knacken des gefrierenden Gesteins und spürte den Boden unter meinen Füßen. Ein wohliger Schauer schoss durch eine Brust, die nicht die Meine war, die ich aber dennoch fast auf dieselbe Art wahrnahm.
„Was hast du getan?“, fragte ich und konnte die Freude in meiner Stimme kaum zurückhalten, „ich kann nun wieder alles sehen und spüren!“
„Ich habe dich an meinem Herz befestigt“, sagte Karmon laut, denn ich hörte seine Stimme durch seine Ohren, „es hat quasi-magnetische Eigenschaften in seiner unmittelbaren Nähe. Ich weiß nicht genau warum, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es funktionieren könnte.“
„Das hat es“, sagte ich, „Jetzt bin ich DEIN Symbiont.“
Auch wenn ich meine eigene Handlungsfreiheit vermisste, war das weitaus besser, als einsam in diesem Stein gefangen zu sein.
„In gewisser Weise“, antwortete Karmon nachdenklich, „auch wenn unsere Verbindung unvollständig ist und leicht getrennt werden kann.“
„Wir werden wieder eine echte Verbindung erreichen“, sagte ich zuversichtlich, „doch jetzt sollten wir keine Zeit mehr verschwenden. Auch ich spüre jetzt, wie verflucht kalt es hier ist. Wenn die anderen fort sind, bleiben uns nur noch zwei Optionen.“
„Trevas Raumflotte …“, begann Karmon.
„… oder der Katalog“, ergänzte ich, „allerdings halte ich die Suche nach der Flotte für zu zeitaufwendig und riskant. Wer weiß, ob es sie überhaupt noch gibt und ob sie noch funktionsfähig ist. Und wer weiß, was sonst noch in den Tiefen von Uranor auf uns wartet, dem wir lieber nicht begegnen wollen. Nein, dieser Weg würde uns wahrscheinlich nur in Schwierigkeiten bringen. So sehe ich das zumindest.“
„So sehe ich es ebenfalls“, erwiderte Karmon.
„Dann bleibt nur noch der Katalog für die Flucht. Egal in welche Welt er uns bringen wird, wir werden schon einen Weg finden Kollom aufzuspüren. Ich hoffe, du hast den Katalog noch. Und ich hoffe, du kannst ihn gemeinsam mit mir benutzen.“
„Ich habe beide Kataloge. Deinen und Sandras“, antwortete Karmon. Dann griff er sich in seine Brust – was seltsam war, da ich die Bewegung spürte, sie aber in keinster Weise kontrollieren konnte –, holte meinen Katalog hervor und blätterte die leeren Seiten fort. Als er die nächste, beschriftete schwarze Seite aufschlug und wir das Wort lasen, welches darauf geschrieben stand, mussten wir beide innerlich lächeln.

Deovan.

~0~

Es gibt Momente, in denen ein jeder erkennen sollte, dass Zögern keine Option mehr ist. In denen man einem Lebensabschnitt Lebewohl sagen muss, an den man sich lange verzweifelt festgeklammert hat, selbst wenn dessen einziger Wert in der Gewohnheit lag. Als ich Tarena erblicke, die vollgepackt mit Jagdbeute am Höhleneingang erscheint, wie eine Heldin aus urzeitlichen Tagen, wird mir klar, dass nun solch ein Moment gekommen ist.
Sie trägt große Mengen von verschiedenen Früchten, Wurzeln und Käferfleisch in einem improvisierten Sack aus zusammengenähten, großen, violetten Blättern über ihren Schultern. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Tarena in der Lage sein könnte mit ihren Klauen so eine beachtliche Handarbeit Zustande zu bringen. Entsprechend stolz bin ich auf sie. Und ja, das wird mir in diesem Moment erneut bewusst, ich liebe sie, wahrscheinlich intensiver und aufrichtiger, als alle Frauen oder Männer, denen ich auf meinen vielen Wegen begegnet bin. Es ist keine naive, kindliche Romantik und auch keine abgeklärte, nüchterne Vernunft, die uns verbindet. Es ist das erhebende Gefühl zu wissen, dass es niemanden im gesamten Multiversum gibt, mit dem man lieber durch die flüsternde Finsternis schreiten würde.
Ihr geht es genauso. Das sehe, rieche, fühle ich, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort schreibt. Ich klappe die Aufzeichnungen über meine turbulenten Tage in Uranor zu und verstaue sie in meinem Rucksack. Dabei kommt mir der Gedanke, dass ich diese letzten Schilderungen meiner Reise nie bis zum Ende hätte niederschreiben können, wenn sie dabei in meiner Nähe gewesen wäre. Es gibt Geheimnisse, die man einer Mutter lieber nicht offenbaren sollte. Zumindest noch nicht. Nicht bevor ich vielleicht doch noch einen Weg finde diesen dunklen Fleck, den die Taten meiner Vergangenheit auf meiner Seele und meiner Zukunft hinterlassen haben, zu tilgen. Flucht wird nicht der Ausweg sein, nach dem ich suche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Moydrur mich selbst hier finden würde, wenn er es darauf anlegt.
Leise seufzend nehme ich Andy auf den Arm, der zum Glück noch längst keine sieben Jahre alt ist. Ich hatte den Pakt mit Moydrur bislang erfolgreich verdrängt. Erst meine Aufzeichnungen haben ihn wieder in mein Gedächtnis gespült.
Ich versuche die verräterischen Schatten von meinem Gesicht zu vertreiben und nicke Tarena zu.
Sie erwidert das Nicken und gemeinsam gehen wir auf das „schlimme Loch“ zu, wobei sie die Führung übernimmt. Wir beide wissen, dass wir schon in wenigen Stunden unfreundlichen Besuch bekommen werden und es wäre gut, dann längst außer Reichweite zu sein. Es gibt kein Abwarten mehr. Keine Ausflüchte. Kein kontemplatives Sinnieren über die Vergangenheit. Meine Aufzeichnungen sind noch längst nicht beendet. Es gibt die Geschichte von Deovan zu erzählen und von noch so vielem mehr, das zwischen Uranor und Xakraschidaa passiert ist, und ich hoffe sehr, dass ich noch dazu kommen werde, von diesen Erlebnissen zu berichten. Doch nun ist es an der Zeit ein neues, frisches Kapitel aufzuschlagen.
Die letzte Seite hängt weiter als Möglichkeit in meinem Kopf und das Fernweh verlangt leise, aber beständig danach sie aufzuschlagen. Doch dieser Symbiont, der sich auch lange nach dem Verschwinden von Karmon noch einen Körper mit mir teilt, muss sich noch etwas gedulden. Denn welche Schrecken auch immer in diesem Gang auf uns warten, sie werden immer noch weniger grausam sein, als die Einsamkeit.
Mit diesem Gedanken tauche ich gemeinsam mit meiner kleinen Familie hinein ins Unbekannte.

~0~

Der Tunnel ist eng und stickig, doch da ich mich in meinem Leben schon genug im Untergrund aufgehalten habe, komme ich damit klar. Was mich weit mehr beunruhigt ist das Gefühl, dass dieses „schlimme Loch“ ausdünstet wie ein Pesthauch. Es träufelt einem die Überzeugung in die Seele, dass jeder weitere Schritt sinnlos ist, dass es ein schlimmer Unfall war, dass man überhaupt je in diese Welt hinein gekrochen ist, die doch aus nichts weiter besteht als aus bedeutungslosen Wegen, leeren Worten und grauen, gleichförmigen Stunden. Tristesse und Langeweile, nur unterbrochen von Grausamkeit und Schmerz. Während meiner ersten Schritte bin ich mir noch bewusst, dass diese grauenhaften Emotionen von außen kommen und nicht aus mir selbst, doch bereits nach wenigen Minuten kommen mir daran erste Zweifel. Ja, es erscheint mir zunehmend naiv und dumm, überhaupt je anders gedacht zu haben. Wenn ich noch einen Fuß vor den anderen setzte, dann nur, weil mir das Stehenbleiben oder Umkehren nicht weniger sinnlos erscheint und wegen Tarena und Andy. Sie scheinen es ebenfalls zu spüren. Andys harter, kleiner Körper drückt sich Hilfe suchend an mich und Tarenas Schritte wirken unsicher und abgehackt. Es ist allein das Mitgefühl mit den beiden, dass mich zumindest etwas aus meiner Trübsal auftauchen lässt. Wenn auch mein Leben bedeutungslos sein sollte, denke ich, so ist es ihres doch nicht. Wie ein Fallender auf der Suche nach einem Halt greife ich nach Tarenas Klaue und umschließe sie so fest, dass ich mich dabei schneide.
Es stört mich nicht. Denn der Schmerz hilft ebenfalls dabei die niederdrückende Taubheit zu vertreiben und mich wieder zu spüren.
Gemeinsam kämpfen wir uns voran, wie durch ein zähes, unsichtbares Netz und in der Ferne erblicke ich ein blasses, gelbliches Licht.
Das ist die Hölle, denke ich und freue mich fast auf die Aussicht mich von einem ziegenfüßigen Sadisten mit dem Dreizack quälen zu lassen. Immerhin kann das nicht schlimmer sein, als diese völlige Sinn- und Orientierungslosigkeit, die meine Muskeln schwächt, meine Gehirnwindungen verklebt und meine Sinne stumpf macht.
Doch was ich sehe, als wir endlich dieses Licht erreichen, ist nicht die Hölle. Es ist etwas viel Unglaublicheres.
Das Licht stammt nicht von schwefeliger Höllenglut, sondern von einer schmutzigen, nackten Glühbirne, die von einer niedrigen, grob verputzten Steindecke baumelt. Der Boden, den sie beleuchtet, wird von einstmals wohl hellen, aber nun staubigen und verschmierten Holzbalken gebildet. Links und rechts von uns stapeln sich alte Plastikkisten und aufgeweichte Kartons, an deren Rändern manchmal kleine Risse zu sehen sind. Fenster gibt es keine, doch am Ende des langen, mit Gerümpel vollgestopften Raumes, durch den nur eine schmale Gasse führt, die kaum breiter ist als zuvor der Gang, gibt es eine kleine hölzerne Tür.
Ein Dachboden, denke ich und die Ungeheuerlichkeit dieser Erkenntnis reißt mich ein Stück weiter aus meiner Lethargie, ohne das eklige Gefühl vollständig zu verscheuchen. Was macht ein anscheinend vollkommen irdischer Dachboden hier am Ende des Multiversums? Eine Antwort darauf finde ich nicht. Doch trotz der klaustrophobisch niedrigen Decke, die das Gehen so unbequem macht, dass wir uns aufs Kriechen verlegen, ist ein Zweifel ausgeschlossen. Dies hier IST definitiv ein Dachboden, wie es ihn in einem Haus meiner Heimatwelt geben könnte. Aber gewöhnlich ist er dennoch nicht.
Die Atmosphäre, die hier herrscht, wirkt wie das Konzentrat aller vergessenen Dachböden und verwahrlosten Kellerräume, die je existiert haben. Ein Versprechen ewiger Einsamkeit, eine Erwartung unbeachteten Verfalls, ein Massengrab verstoßener Erinnerungen, gestohlen dem Leben und entrissen vom Strom der Zeit.
All dies ist ekelhaft, niederschmetternd und entmutigend und ein Teil von mir will sich einfach in den Staub setzen und gemeinsam mit Tarena und Andy hier verrotten. Doch als ich mich schon bereitmache, mich niederzulassen und vergessen zu werden, durchzuckt mich das Fernweh. Plötzlich und unvermittelt wie ein Sonnenstrahl, der trotzig durch die Wolkendecke durchbricht und ein grimmiges Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Ich bin ein Fortgeschrittener. Mein Leben und mein Tod liegen stets in der Ferne, und wo immer es eine Tür zu öffnen gibt, werde ich hindurchgehen.

3 thoughts on “Fortgeschritten: Die blendenden Himmel von Uranor 8

  1. Hallo lieber Angstkreis,
    nach dem beenden dieses sehr langen, aber fulminanten letzten Kapitels in Uranor, kann ich dir gar nicht sagen, was ich gerade fühle. Ich habe ja geahnt, dass dieses Kapitel mit einem Knall endet, aber so einem Knall?! Das hatte ich jetzt nicht erwartet! Du bist ein Meister des „verschlimmbesserns“!
    Wahnsinnig gut geschrieben, du gehst auf die einzelnen Charaktere gut ein, man merkt ihre Entwicklung und warum sie die eine oder andere Entscheidung treffen und kann das gut nachvollziehen. Beim lesen (ich habe übrigens mehrere Tage dafür gebraucht, da die Zeit es nicht anders zugelassen hat) bin ich so tief in die Geschichte eingetaucht und habe auch mal alles um mich herum ausgeblendet und vergessen. Dafür wurden die Bilder in meinem Kopf immer größer, bunter und gewaltiger, die deine Geschichte erschaffen hat!
    Außerdem habe ich einen (oder mehrere) Freudensprünge gemacht als altbekannte Charaktere (sorry ich muss spoilern, aber Korf ist einfach der größte!) wieder mitgemischt haben!
    Ich freue mich schon wie es mit unserem „leicht“ verändertem Adrian in Deovan weiter geht. Kann es also kaum abwarten, die aus deiner Feder entsprungenen neuen Kapitel zu lesen.
    Ich verneige mich vor dir und diesem Meisterwerk! Danke für’s Schreiben und Zeit investieren für deine Leser.
    P. S.: Nur eines würde ich gerne sehen – das ungläubige Gesicht von Sahkscha bzw. Kora wenn sie Korf wieder sieht! 😀

    1. Hallo Wolfsrain,

      Wow, danke dir vielmals! Toll, dass das Kapitel so viel Eindruck bei dir hinterlassen hat und dass die Entscheidungen der Charaktere für dich nachvollziehbar waren. Geb mir zumindest immer Mühe mich in sie reinzudenken. „Meister des Verschlimmbesserns“ finde ich großartig ;). Vielleicht sollte ich Adrian mal ein T-Shirt mit dieser Aufschrift spendieren. Ja, ich habe mich auch darüber gefreut Korf wiedererwecken zu können. Ich will jetzt nicht zu viel spoilern, aber Über sein Schicksal und das von Kora wird man im späteren Verlauf der Geschichte auch noch etwas erfahren. Danke auch dir, dass du dir die Zeit genommen hast zu kommentieren. Solche Feedbacks sind es, die einem immer wieder das nötige Fünkchen Motivation geben seinen Hintern zur Tastatur zu bewegen ;D.

      Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
      Angstkreis

      1. Nichts zu danken!
        Schließlich kostet mich das lesen deiner Geschichte nur ein bisschen
        Zeit, um in deiner Geschichtenwelt meinen Spaß zu haben. Du hingegen hast die ganze Arbeit gemacht und das verdient nun mal Lob! 🙂
        Das klingt vielversprechend, was Korf betrifft! Na da bin ich ja noch viel mehr auf den weiteren Verlauf der Geschichte gespannt!
        Und ja ich finde auch, dass „Meister des verschlimmbesserns“ ein sehr passender Titel für Adrian ist! Denn für jedes Problem, welches er (wie auch immer) löst, hat er sich (bewusst oder unbewusst) gefühlt 3 neue aufgehalst! 😀
        Und das mit dem T-Shirt wäre doch eine tolle Merch-Idee! 😉

        Auch dir ein schönes Wochenende und viele liebe Grüße aus den dunkelsten Ecken des Multiversums! 😛

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