Knochenwald: Der Zorn der Maden

Ehrgeiz war eine Todesfalle. Jedenfalls kam es Doktor Jameson so vor. Er war der Leiter der fünf Wissenschaftler, die bei Elvira Djarnek in Ungnade gefallen waren und nun das Massaker an diesem kleinen Städchen live protokollieren mussten.

Vom Leiter des Instituts für Biochemie zum Leiter der Verdammten. Das war es wohin sein Ehrgeiz ihn geführt hatte. Er hätte damals mit seiner Situation zufrieden sein sollen. Er hatte nicht schlecht verdient und hatte seine Arbeit im Großen und Ganzen geliebt. Aber als er die mysteriöse Einladung zu diesem Top-Secret-Projekt erhalten hatte, hatte er einfach nicht widerstehen können.

Er hatte sich einen Platz in den Geschichtsbüchern erhofft. Nun würde er eher im Magen eines der madenartigen Geschöpfe landen, die gerade die Stadt entvölkerten, oder er würde – zusammen mit seinen Kollegen – von den verrückten Kindern zerfetzt werden, die die Tiere zu befehligen schienen. Das war zwar noch immer besser als ein Tod in der Folterkammer von Dr. Kiving, aber er konnte dennoch nicht behaupten, dass er sich auf ein solches Ende freute.

Gerade sah Jameson durch seinen Feldstecher, wie einem älterem Mann, der seinen Hund Gassi führte, der Kopf von den Schultern gerissen wurde. Die Täterin war ein dunkelhaariges Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Der Kopf des Mannes purzelte herunter und landete im Mund einer besonders fetten Made. Eine weitere holte sich seinen Körper. Der Hund – ein winziger Pudel – versuchte noch zu fliehen, aber dann rannte ein kleiner blonder Junge ihm hinterher und packte ihn am Schwanz. „Hallo mein Kleiner.“ rief er so laut, dass Jameson ihn selbst hier in ihrem Versteck gut hören konnte. „Willst du ein Leckerchen? Oder bist du ein Leckerchen?“ er lachte hysterisch und warf den zappelnden Hund der nächstbesten Made zu. Er sah wie die Hände von Dr. Bovier, der das Geschehen auf seiner Hochleistungskamera festhielt, zitterten. „Das ist nicht richtig …“ flüsterte er immer wieder. „Ich ertrage das nicht. Wir müssen hier weg!“ Jameson hielt ihm grob seine Hand auf den Mund. „Reissen Sie sich zusammen, Mann. Sie wissen doch was passiert, wenn die Übertragung endet.“

Das war natürlich eine rhetorische Frage. Sie alle wussten es. Dr. Kiving hatte es ihnen genau erklärt, bevor er sie aus seinem Folterlabor entlassen hatte. Die Kamera verfügte nicht nur über eine hervorragende Auflösung, eine schnelle Datenverbindung und über die Fähigkeit messerscharfe Nachtaufnahmen anzufertigen. Sie besaß darüber hinaus auch einen hochpotenten Sprengsatz, der alles in einem Radius von einem halben Kilometer mit Sicherheit auslöschte. Sollte die Kamera mehr als fünf Sekunden den direkten Kontakt zu den Händen eines noch lebenden Wissenschafters verlieren, würde sie explodieren. Sollte die Kamera beschädigt werden oder der Akku leer sein und nicht innerhalb von zwanzig Sekunden ausgetauscht werden, würde sie explodieren. Sollte sich einer der Wissenschaftler nicht mehr im Umkreis von 100 Metern um die Kamera aufhalten, würde sie explodieren. Dabei hatte Dr. Kiving ihnen versprochen, dass der Mechanismus aus der Ferne deaktiviert werden würde, wenn sie ihre Sache gut machten. Das war ihre einzige Chance zu überleben.

„Schon gut. Ich … ich reiß mich zusammen.“ sagte Bovier. Aber das Zittern seiner Hände hörte nicht auf. Wenn er sie fallen ließ, konnte das ihr Ende bedeuten. Aber auch wenn die Kamera in seinen Händen wackelte wie bei einem Erdbeben der Stärke 8, hielt er sie weiter auf die Maden und die verrückten Kinder gerichtet. Inzwischen hatten sie die halbe Stadt massakriert.

„Wie können Kinder so etwas tun?“ sagte Dr. Steinbach sicher schon zum zwanzigsten Mal. Dass diese Worte aus dem Mund eines renommierten Verhaltenspsychologen kamen, zeigte überdeutlich wie wenig diese Kinder noch mit normalen Menschen gemein hatten.

Plötzlich bemerkte Jameson etwas. Auf der anderen Seite der kleinen Kreuzung an der sie standen, hatte sich ein Dutzend Frauen und Männer mit Pistolen, Gewehren, Schrotflinten, Eisenstangen und langen Küchenmessern zusammengerottet. Die Gruppe wirkte grimmig und entschlossen, auch wenn sie allesamt hastig aus ihren Häusern gestürmt waren. Einige trugen noch ihre Schlafanzüge. Ein Mann sogar nur seine Unterwäsche. Dennoch war es das erste Mal, dass die Bürger der kleinen Stadt überhaupt so etwas wie Widerstand boten.

Ohne lange zu fackeln eröffneten die beiden Frauen und drei Männer, die über Schusswaffen verfügten, das Feuer auf die vorrückende Gruppe der Kinder und Maden. Die Einwohner waren aller Wahrscheinlichkeit nach keine geübten Schützen, aber angesichts der Masse der Gegner fanden drei der Projektile tatsächlich ihr Ziel. Zwei davon schlugen klatschend in die massigen Körper zweier Maden ein. Doch obwohl aus den entstandenen Wunden weißer Schleim tropfte, bewegten die albtraumhaften Geschöpfe sich mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Die dritte Kugel traf eines der Mädchen. Eine wild aussehende Zehnjährige mit einem rosafarbenen, zerrissenen Kleid, dunkelbraunen Locken mit einigen fehlenden Haarsträhnen, dicken weißen Adern in ihrem zerbrechlich wirkenden Gesicht und Augen die ständig zwischen flammendem Rot und tiefen Schwarz wechselten.

Sie strahlte eine solche Autorität aus, dass Jameson sofort wusste, dass sie die Anführerin dieses höllischen Kindergartens war. Als die Kugel das Mädchen mitten ins Gesicht traf, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Mehr noch: Das Projektil schlug nicht einmal eine Wunde, sondern prallte wirkungslos von ihrer Haut zurück.

Jameson konnte kaum glauben, was er da sah. Neben sich hörte er Dr. Bovier wimmern und schluchzen. „Das ist nicht richtig. Das widerspricht allen Naturgesetzen. Wir sind in der Hölle gelandet. In der verdammten Hölle! Ich muss hier weg… ich muss hier raus …“ Dann ließ der Idiot die Kamera auf den Boden fallen und begann wegzurennen. Nun geschah alles gleichzeitig.

Jameson und die anderen verbliebenen Wissenschaftler sahen entsetzt zu, wie die Kamera zu Boden sank, die – sollte sie beschädigt werden – ihr aller Schicksal besiegeln würde. Das gleiche würde passieren, wenn Bovier sich mehr als Hundert Meter von ihnen entfernte.

Glücklicherweise zeigte sich, dass sie auch jenseits des Labors ein gut eingespieltes Team waren. Noch bevor das empfindliche Gerät auf dem Boden aufschlug, fing Dr. Sörgard – der Genetikexperte des Team – die Kamera sicher mit beiden Händen auf und begann sofort damit weiterzufilmen. Gleichzeitig drehte sich Jameson zum panisch fliehenden Dr. Bovier um und schoss ihm eiskalt in den Rücken. Als dieser getroffen auf die Knie sank, gab er ihm mit einem gezielten Schuss in den Kopf den Rest.

Drei Kugeln noch. Sie hatten nur eine einzige Waffe bekommen. Mit fünf Schuss. Nicht etwa für die Maden, sondern für sich selbst, wenn es nötig wurde allem schnell ein Ende zu setzen. Das war Elviras Vorstellung von Gnade.

Inzwischen war das unverwundbar scheinende kleine Mädchen mit den Locken ganz nah an die hastig gebildete Bürgerwehr herangekommen. Ihr zur Seite stand eine punkig aussehende Teenagergöre mit Undercut und Piercings, unter deren Gesichtshaut sich ebenfalls weiße Schlangen wanden. Die anderen Kinder und auch die Maden waren zurückgeblieben, wodurch die Dorfbewohner den beiden Mädchen rein mathematisch 6:1 überlegen waren.

Aber manchmal war Mathematik nutzlos. Schneller als Jameson erwartet hätte, wurde das kleine Mädchen von zwei muskulösen Typen in Motorradkleidung attackiert, die beide massive Eisenstangen schwangen, während die Teenagerin von einem dürren, jungen Kerl und einer beleibten Frauen mittleren Alters mit langen Küchenmessern in die Mangel genommen wurde.

Die dunklen Locken des Mädchens flogen wild umher, während sie geschickt auswich und die erste Eisenstange nutzlos auf den Boden knallte. Die andere hingegen fing sie mit bloßen Händen auf und rammte sie ihrem schreienden Angreifer direkt in den Bauch. Dann packte sie die Stange mit beiden Händen und schwang den aufgespießten, bulligen Körper des Bikers wie das Blatt einer gewaltigen Axt gegen den Kopf sein Kollegen, der von der Wucht ihres Schlages buchstäblich vom Hals heruntergeschlagen wurde. Dabei schrie sie laut „Kopf ab! Kopf ab!“ und klang wie ein freudig erregtes Kleinkind, dass gerade ein Geburstagsgeschenk in Empfang genommen hatte.

Das Teenagermädchen hingegen nahm die Messerstiche, die ihre Kontrahenten ihr zufügen, unbeeindruckt hin. Aus beiden Wunden sickerte rotes Blut mit weißen Schlieren, aber die Messerattacken schienen ihr keine nennenswerten Schmerzen zu verursachen. Denn ohne ihr Tempo zu verlangsamen, griff sie sich den Arm des dürren Mannes und drehte ihn mit solcher Wucht um, dass er aus dem Gelenk sprang und er sofort sein Messer fallen ließ. Dann vergrub sie die Finger ihrer anderen Hand in seinen Augenhöhlen und riss seine Augäpfel mit einem kräftigem Ruck heraus. Der Mann schrie wie von Sinnen und hatte mit einem Mal jedes Interesse am Kämpfen verloren.

Die Frau hingegen holte erneut aus und zielte diesmal auf den Kopf des Mädchens. Diese aber trat ihr mit solcher Wucht gegen ihr linkes Knie, dass die Kniescheibe zersplitterte und die Frau jeglichen Halt verlor. Sie brach mit Tränen in den Augen zusammen, woraufhin das Mädchen sich herunterbeugte, sie auf die gleiche Weise wie zuvor den Mann um ihre Augen erleichterte und begann entspannt mit allen vier Augäpfeln zu jonglieren.

Bei diesem grotesken Anblick verließ den Rest der kleinen Gruppe jeglicher Mut. Sie ließen ihre Waffen fallen und versuchten zu ihren Autos zu fliehen. Jameson wunderte sich, dass bisher noch niemand auf diesen Gedanken gekommen war. Aber angesichts einer solchen Bedrohung war es wohl von einfachen Bürgern ein bisschen viel verlangt, rational zu handeln.

Da sie allesamt mit einer Geschwindigkeit flohen, wie sie einem nur reine Todesangst ermöglichte, hätten sie es vielleicht sogar geschafft vor den Kindern zu fliehen. Doch die Kinder waren nicht die einzige Gefahr.

„Fresst Sie!“ rief das Mädchen mit den Locken und die Maden gehorchten. Sie bewegten sich viel schneller als Jameson es für möglich gehalten hatte, auch wenn er die Berichte zu den verschiedenen Experimenten in ihren unterirdischen Laboren aufmerksam gelesen hatte. Dennoch wäre eine Flucht vor ihnen noch möglich gewesen, wenn man sich auf eines der Häuser rettete. Zwei der Flüchtenden waren sogar so schlau es zu versuchen.

Aber keiner von ihnen hatte mit seinen Bemühungen Erfolg. Denn kurze Zeit später fegte eine gewaltige Wolke an krankmachende Gasen über die kleine Stadt hinweg. Zuerst bewegte sie sich nur in Richtung der flüchtenden Einwohner. Eine junge Frau, die schon fast ihr Auto erreicht hatte, sank kaum dass die Wolke sie berührte hatte, fiebergeschüttelt und Blut hustend zu Boden und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Ein sportlicher junger Mann, der bereits die Hälfte eines dreistöckigen Hauses erklommen hatte, fiel mit einem Mal herunter wie eine erschlagene Fliege und einen weiterer Mann, der gerade über einen herumstehenden Müllcontainer hinwegsprang, verließ plötzlich alle Kraft, wodurch er sich mit Fuß in dem Hindernis verfing und hart mit dem Kopf auf den Boden aufschlug.

Es war schrecklich mitanzusehen. Was aber wirklicher Schrecken war, erfuhr Jameson erst, als er bemerkte wie sich die giftige Wolke langsam auch auf ihr Versteck zubewegte. Er reagierte instinktiv und fast ohne nachzudenken. Kurz versicherte er sich, dass die Blicke seiner Kollegen allesamt auf die grauenhaften Geschehnisse in der Stadt gerichtet waren. Dann hob er seine Waffe und schoss dreien seiner Kollegen direkt in den Kopf.

Erst als der letzte von ihnen tot auf den Boden fiel, bemerkte Dr. Sörgard, der noch immer die Kamera fest umklammert hielt, dass etwas nicht stimmte. Da hatte Jameson aber schon die Hände um seine Kehle gelegt.

Sörgard wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung und grub die Fingernägel seiner rechten Hand fest in Jamesons muskulöse Pranken. Mit der anderen Hand hielt er weiter die Kamera fest. Professor Jameson ließ seinen Hals aber trotz der Schmerzen und des austretenden Blutes nicht los. Während sich Sörgard nach allen Regel der Kunst wehrte und immer wieder röchelte „Sie haben Sie getötet. Warum?“ hatte Jameson nur Augen für den näherrückenden Nebel. „Warum stirbst du nicht schneller!“ beschwerte er sich laut.

Als sie die Ausläufer des tödlichen Nebels schon fast erreicht hatten, tat ihm Dr. Sörgard endlich den Gefallen. Jameson nahm die Kamera aus seinen erschlaften Händen und richtete sie wieder auf die Stadt, während er so weit wie möglich von dem gefährlichen Gas zurückwich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihm sein Massenmord wenig gebracht hatte.

Da er die einzige lebende Person im Radius der Kamera war, musste er zwar keine Rücksicht auf den Standort der anderen mehr nehmen, aber sobald er die Stadt nicht mehr filmte, würden Elvira oder Dr. Kiving mit Sicherheit den Sprengsatz auslösen. Seine einzige Chance war es auf das Haus neben ihrem Versteck zu klettern und dort auszuharren, bis die verrückten Kinder und ihre Höllentiere abgezogen waren. Er musste nur schneller als das Gas sein und hoffen, dass es ihn dort oben nicht erreichen konnte.

Also rannte er zur Regenrinne des Gebäudes und schlang seine Beine und seinen rechten Arm um das Fallrohr. Die Kamera besaß keine Schlaufe, weswegen er sie mit der linken Hand weiter festhalten musste.

Zuerst lief es ganz gut. Jeder Wissenschaftler, der in Elvira Djarneks Diensten stand, musste zumindest ein grundlegendes körperliches Training absolvieren, um mit den eher unkonventionellen Forschungsgegenständen halbwegs Schritt halten zu können. Aber als Jameson ungefähr die Hälfte der Höhe geschafft hatte und der Nebel sich bereits direkt unter seinen Fußsohlen befand, bemerkte er, dass ihn seine Kräfte verließen und er mit einem Arm nicht weiterkam. Umso mehr, da seine Hände noch immer von Sörgards Fingernägeln bluteten. In seiner akuten Angst vor dem gefährlichen Dunst vergaß er völlig die Bedeutung der Kamera, fasste mit der linken Hand nach und ließ das Gerät dabei fallen.

Er schaffte es mit letzter Kraft auf das Gebäude. Und erst als er den Asphalt unter seinen blutigen Händen spürte, realisierte er, was er getan hatte. Gleichzeitig sah er hinunter zum Nebel auch wenn er sich darum wahrscheinlich keine Sorgen mehr machen musste. An den Stellen, an denen sich der krankmachende Dunst noch nicht ausgebreitet hatte, sah er, wie sich die Maden über die Toten und Kranken hermachten, während die Kinder freudig erregt umhersprangen und sie anfeuerten.

Dabei zählte Jameson die Sekunden mit und erwartete jeden Moment, dass das Gebäude in die Luft gesprengt werden und er in seinen Tod stürzen würde. Nach all den Morden, die er begangen hatte, hatte er das wahrscheinlich auch verdient. Als er bei dreißig angelangt war, dämmerte ihm, dass die Explosion auf die er wartete, nicht kommen würde. Wäre die Kamera beschädigt worden, wäre der Sprengsatz darin schon direkt beim Aufprall detoniert. Andernfalls hätte die Zündung nach fünf Sekunden stattgefunden. Er glaubte nicht, dass die Techniker bei der Konstruktion einen Fehler gemacht hatten. Deshalb gab es nur eine Erklärung, die ihn wie ein Hammerschlag traf:

Es gab gar keinen Sprengsatz. Jameson hatte seine Kollegen umsonst ermordet.

~o~

„Fühlst du auch diese Leere?“ fragte Carina Lucy, die sich gerade die Schussverletzungen von Annabelle und Dennis begutachte, während die anderen Schneidmaden die Körper der Kranken, Verletzten und Toten aus ihren Häusern und Verstecken zerrten und verspeisten.

Zuerst beachtete sie Carina gar nicht. Lucy sprach stattdessen lieber zärtlich mit den beiden verletzten Maden und streichelte ihre schleimigen Körper. „Das wird schon wieder, meine Kleinen. Die Kugeln gingen glatt durch. Eure Wunden werden sehr bald heilen.“

Erst als sie ihren Schützlingen ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt hatte, blickte Lucy das Punkmädchen mit Augen an, die mit einem mal weder schwarz noch rot waren, sondern weiß wie polierte Knochen. Sie sah die Antwort auf ihre Frage in diesen Augen. Doch eine ganz andere verließ Lucys Mund. „Leere ist für uns nicht neues.“ sagte sie betont gleichmütig.

Carina nickte .“Das stimmt. Aber diese Leere ist etwas anderes. Sie ist nicht nur die Abwesenheit von Gefühlen. Sie schmerzt auf ihre eigene Art. Und sie geht tiefer. Wie bei einer Schatztruhe, die nicht nur geleert, sondern der sogar der Boden genommen wurde. Ihre Form. Ihre Funktion. Ihr Sinn.“

Lucy leugnete es nicht länger. „Das ist der Preis für unsere Macht. Und für das Geschenk des Zorns.“

„Ein hoher Preis.“ erwiederte Carina und betrachtete dabei die Augäpfel, die sie den beiden Dorfbewohnern ausgerissen hatte. „Und keiner den ich zahlen wollte. Ich kannte viele von denen, die wir umgebracht haben. Manche waren miese Wichser, aber viele waren durchaus in Ordnung und einige habe ich früher sogar gemocht. Sie hätten nicht sterben dürfen. Vielleicht ist es keine Reue, die ich empfinde. Aber womöglich nimmt diese Leere ihren Platz ein. Wie bei einem Phantomscherz.“

Lucy sah sie skeptisch an. Die weißen Adern zuckten über ihre Haut wie ein Gewitter. „Phantomschmerzen vergehen. Und bis dahin halten wir sie aus. Wir sind nun mal was wir sind. Oder willst du etwa auf den Rausch des Zorns verzichten? Auf das Einzige was sich für uns gut anfühlt?“

Carina schüttelte den Kopf. „Nein. Aber es gibt besser Ziele als wehrlose und unschuldige Menschen. Das hat nichts mit Sentimentalität und Mitgefühl zu tun, wie du sehr gut weißt. Es ist reine Physik. Es gibt Menschen, die anderen Schlimmes angetan haben. Die ein Ungleichgewicht erzeugt haben. Und wir können das Gleichgewicht wiederherstellen. Es ist wie bei Stürmen. Stürme entstehen durch Druckunterschiede. Durch ein Ungleichgewicht. Lass uns der Sturm sein, der jene hinwegfegt, die das Gleichgewicht stören. Dann – da bin ich mir sicher – wird diese schreckliche Leere von selbst verschwinden.“

Diesmal wirkte Lucy etwas überzeugter von Carinas Argumentation. „Klug gesprochen. Aber wo bitte kann dieser Sturm wüten?“

Carina ließ die Augäpfel auf den Boden fallen, wo sie etwas auf dem Asphalt herumrollten, bis sie mit den Pupillen nach oben liegen blieben. „Ich denke du kennst Menschen, die es verdienen.“

Lucy nickte. Carina hatte recht. Die kannte sie durchaus

Plötzlich hörten die beiden mit ihren verstärkten Sinnen ein Schluchzen, welches vom Dach eines nahen Gebäudes kam.

Sie wechselten einen Blick und Carina flitzte augenblicklich los, kletterte geschickt wie eine Spinne an dem Gebäude hoch und trug kurze Zeit später einen apathischen, weinenden Mann ende Dreißig mit beginnender Glatze und in einem weißen Kittel zu ihr, der sie ängstlich anblickte. Carina behielt ihn fest im Griff.

„Wer bist du?“ fragte Lucy. Ihre Stimme war wie geschliffenes Eis.

„Dr. … Dr. Jameson.“ stotterte er.

„Du gehörst eindeutig nicht zu den Einwohnern.“ sagte Lucy und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dabei entdeckte sie eine zerknickte Plastikkarte an seinem Kittel und nahm sie an sich. „Infinite Technologies“ laß sie den Text des Logos vor, welches über dem Namen des Wissenschaftlers aufgedruckt war. Das Logo selbst bildete eine liegende Acht aus DNA-Strängen. Lucy sah es nicht zum ersten Mal. Sie sprach mit einem mal mit einer hohen Kinderstimme zu dem Mann, der vor Angst zitterte. „Du gehörst zu Elviras Leuten, mein Hübscher. Habe ich recht?“

Der Mann nickte.

Lucy zog eine Schnute. „Und du solltest dieses kleine Kaninchen und sein Rudel ausspionieren?“

Sie war sich fast sicher, dass er es leugnen würde, aber der Mann war anscheinend klüger als sie erwartet hatte. „Ich hatte keine Wahl. Sie hätte mich ansonsten umgebracht.“

Lucy lächelte ein zynisches Lächeln. „Also hattest du doch eine Wahl!“

Sie beugte sich wieder zu Annabelle herunter und tätschelte ihr den hässlichen Kopf mit den messerscharfen Zähnen. „Haben wir dir eine gute Show geboten?“

Der Wissenschaftler wusste offensichtlich nicht, was er darauf antworten sollte. „Ja. Also ich meine ihr … Werdet ihr mich jetzt töten?“

Lucy wechselte einen raschen Blick mit Carina. „Wie ist dein Name?“ fragte sie den Mann, anstatt auf seine Frage zu antworten.

„Dr. Jameson. Dr. Steve Jameson.“

„Nun. Dr. Jameson. Heute sterben Sie nicht. Doch von nun an werden Sie mein Dr. Steve Jameson sein. Ist das ein Deal?“

Der Mann nickte eifrig. Offenbar gehörte er zu der Sorte Mensch, denen ihr eigenes Wohl stets am wichtigsten war.

„Sehr schön. Und als erstes kleines Doktorspielchen begleiten sie mich zu Elvira Djarnek und sehen zu, wie ich mich für ihre Liebenswürdigkeit revanchiere. Unterwegs können sie mir alles erzählen was sie über all die feinen Experimente wissen, die Infinite Technologies zum Wohle der Menschheit durchgeführt hat.“ verlangte Lucy.

Dr. Jameson schluckte schwer. „Das würde ich sehr gerne. Allerdings weiß ich nicht wo Frau Djarnek sich befindet. Sie hat mich hier zurückgelassen und ist mit dem gesamten Team geflohen.“

Plötzlich schoss Lucys Kopf vor wie der einer Viper. Nur noch Millimeter trennten sie vom Entsetzten Gesicht des Doktors. „Sie lügen!“ schrie sie ihn an. Ihr heißer Atem flutete über seine Haut und ihre Schlangenadern tanzten wie in Ekstase.

Jameson wäre sicher zurückgewichen, aber Carina hielt ihn unbarmherzig fest. Also blieb ihm nichts anderes übrig als zu antworten. „Nein. Ich lüge nicht. Ich begleite Sie zurück zum Gelände. Dann sehen Sie es selbst!“

„Also gut.“ flüsterte Lucy nun sanfter, aber in nicht minder unheimlichem Ton. „Begleiten Sie uns. Aber wenn Sie mich täuschen, werde ich ein kleines Brainstorming für Ihre Folter veranstalten. Wie sie sehen, habe ich viele kreative Köpfe in meinem Team, die mir ganz bestimmt hervorragende Ideen liefern werden.“

Jameson nickte.

„Wunderbar. Na dann mal los. Übrigens …“ Lucy streckte ihm ihre bleiche, geäderte Hand entgegen. „… da wir jetzt auf der gleichen Seite stehen, können wir uns ruhig duzen. Ich heiße Lucy.“

~o~

Als Lucy mit Dr. Jameson, ihren dreiundreißig Gefährten und ihren Schneidmaden zurück zu dem Wäldchen marschiert war, in dem alles angefangen hatte, hatte sie sich trotz der Worte des Doktors eigentlich auf einen Kampf eingestellt. Aber der Mann hatte nicht gelogen. Die Forschungstation war tatsächlich verlassen. Weder in den verschiedenen Feldlagern noch in den unterirdischen Laboren gab es noch irgendwelches Leben. Auch die meisten Geräte und Wertgegenstände waren fortgebracht worden. Die Station war nun nicht viel mehr als eine leere Hülle. Genau wie sie selbst.

Das einzige lebendige Wesen in diesem Teil des Waldes war die gigantische Schneidmadenkönigin, die bereits wieder ein großes Gelege voller stinkender weißer Eier hütete. Sie fanden Sie am Eingang zu der unterirdischen Forschungseinrichtung in der Lucys Verwandlung einst begonnen hatte.

Die riesenhafte Monarchin hatte weder gegenüber Lucy noch gegenüber einem der anderen Jungen und Mädchen irgendwelche Aggressionen gezeigt. Ihre einstigen Kinder hatte sie aber nicht wiedererkannt, sondern schlicht ignoriert. Für sie hatten sie keine tiefere Bedeutung, die über einen dumpfen Beschützertrieb und einen flüchtigen Mutterinstinkt hinausging. Anders als für Lucy, die für jedes ihrer Madenkinder eine tiefe Verbundenheit empfand. Auch für die menschlichen.

Größer noch als diese Verbundenheit war allerdings ihr Hass auf Elvira Djarnek und die Vorstellung, dass sie einfach so davon kommen würde. Das durfte nicht passieren. Sie hatte während ihres Gemetzels in der Stadt das Wesentliche aus den Augen verloren und hatte sich zum Spielball von Elviras Plänen machen lassen. Die Schlampe hatte sie und vor allem ihre Maden benutzt. Darauf gab es nur eine Antwort. Sie stellte sich auf eine kleine Anhöhe zwischen den verlassenen Ruinen der Station, atmete noch einmal tief durch und sprach zu ihren Kindern.

„Werte Kaninchen. Die Ziele unseres Hasses sind feige geflohen. Sie denken, dass sie uns überlegen sind, mit ihren lächerlichen Maschinen und Technologien. Dass sie uns benutzen können wie kleine, willige Spielfiguren und uns einfach in die Ecke schmettern können, wenn sie unserer überdrüssig werden. Sie könnten sich nicht mehr irren. Wir mögen Kinder sein. Und doch sind wir es, vor denen sie sich versteckt haben wie ängstliche Babys. Aber es gibt kein Versteck, dass wir nicht entdecken können. Keinen Ort, an dem wir sie nicht erreichen können, und wenn wir dafür die ganze Welt zu unserem Bau machen müssen.“

Sie machte eine kurze Pause, in der ein kalter Lufzug die Äste der allgegenwärtigen Knochenbäume zum Rasseln brachte, begutachtete ihr Publikum und blickte fast ausnahmslos in entschlossene Gesichter. Selbst in den schwarzen Knopfaugen ihrer Schneidmaden glitzerte Ergebenheit. Es gab nur zwei Ausnahmen. Dr. Jameson stand zitternd und verängstigt neben ihr und Carina hatte den selben skeptischen Blick aufgesetzt, mit dem sie auch schon vor ihrer Verwandlung alles auf der Welt betrachtete. Dennoch hörten auch sie aufmerksam zu.

„Unsere besondere Freundin hier …“ sie zeigte auf die riesenhafte Madenkönigin, deren gewaltiger Körper den Mond verdeckte „… wird uns dabei helfen eine Armee aufzustellen, mit der wir Elvira und ihre Schergen aufspüren und sie unseren Zorn ausliefern. Doch auch ihr anderen könnt etwas tun. Ihr werdet mir mehr Jungen und Mädchen bringen und sie zu Soldaten in unserer Gemeinschaft machen. Wir werden Elvira in einem Meer aus Zähnen und Klauen ertränken und jede Erinnerung an sie auslöschen. Ich weiß – das ist eine große Aufgabe. Aber wir werden und können nicht scheitern. Denn in uns brennt der reine Zorn der Maden.“

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