Knochenwald: Muttergefühle

Elvira Djarnek fühlte sich geradezu berauscht als sie die Körper der zwanzig Sicherheitsleute betrachtet, die reglos am Boden des Versuchsareals lagen. Sie waren zum Teil kaum noch als Menschen zu erkennen. Sie waren zerfetzt, von üblen Wunden entstellt, von Kugeln durchlöchert und von Fingernägeln und Zähnen zerissen.

Elvira empfand kein Mitleid mit diesen Menschen. Sie hatte ohnehin vorgehabt ihnen zu kündigen und auf diese Weise bestand nicht das Risiko, dass sie ihre Geheimnisse ausplauderten oder irgendeine Abfindung verlangten. Sie waren schwache Glieder in der Kette ihrer Organisation gewesen, die allesamt viel zu oft gezweifelt und Fragen gestellt hatten. Es war gut sie loszuwerden.

Ohnehin stand der einzige Kämpfer, der sie wirklich interessierte in der Mitte des transparenten Versuchsraumes. Er hatte einen wilden, hasserfüllten Ausdruck in seinen Augen, die fast aus den Höhlen zu treten drohten. Sein Körper und ganz besonders sein Gesicht waren von dicken, weißen Adern gezeichnet die im hektischen Rhythmus pulsierten. Die Muskeln in seinem Hals zuckten nervös und er machte ganz sicher nicht den Eindruck berechenbar und kontrollierbar zu sein.

Aber anders als zuvor Lucy war er es. Das misslungene Experiment, dass sie nur deswegen mit einem Kind durchgeführt hatte, um mögliche Schäden an der Einrichtung zu minimieren, hatte dennoch seinen Nutzen gehabt. Dadurch hatten sie immerhin gelernt, dass sie das Schneidmadenfleisch bei zukünftigen Experimenten niedriger dosieren mussten. Zusätzlich hatten sie mit Hypnose und einigen Kniffen aus der Trickkiste der Verhaltenspsychologie gearbeitet und letztendlich den perfekten Soldaten erschaffen. Er hatte Reflexe, die mehr als zehnmal so schnell funktionierten wie bei normalen Menschen, er besaß geradezu titanenhafte Körperkräfte, die über die jedes Lebewesens auf dieser Welt hinausgingen und er hatte eine große Widerstandskraft gegen Verletzungen, wie die vielen folgenlosen Einschusslöcher in seiner Haut bewiesen. Sein Körper besaß die interessante Fähigkeit Schäden an lebenswichtigen Organen in wenigen Sekunden zu reparieren. Lediglich Fleischwunden erforderten für die Heilung etwas mehr Zeit. Alles in allen eine beeindruckende Schöpfung, die zwar innerlich zerstört war und für nichts anderes mehr lebte als Zorn und Gewalt, aber – und das war das wichtigste – dennoch Befehle befolgte. Zuverlässig und ohne Fragen zu stellen. Dieser Umstand verwandelte ihn von einem wilden, unberechenbaren Monster in eine hocheffektiven Waffe.

Eine Waffe, die Elvira mit Sicherheit zu ordentlichen Preisen an die Staaten und Milizen dieser Welt verkaufen konnte. Eine Gruppe aus hundert dieser Soldaten konnte es gewiss ohne große Probleme selbst mit der größten Übermacht aufnehmen. Und auch um Ärgernisse wie Skrupel und Befehlsverweigerung brachte man sich in Zukunft nicht mehr zu kümmern. Niemand könnte so einer Versuchung widerstehen.

Insofern spielte es kaum eine Rolle, dass Jonathan und dieser vollgepisste Polizist aus ihrer Obhut entkommen waren. Sie hatte alles von ihnen bekommen, was sie wollte. Und das betraf nicht nur ihren Supersoldaten.

Darüber hinaus wusste sie nun, dass sie auch aus der wundersamen Pflanze – dem Glasstrauch, wie Jonathan sie genannt hatte – Profit schlagen konnte. Sie hatte auch schon einen ganz konkreten Plan, wie sie das anstellen würde, auch wenn das natürlich ein wenig Vorbereitungszeit benötigte.

Und zu guter letzt bestand ja auch noch die Chance, dass ihr persönlicher Kopfgeldjäger Parker diesen ominösen Professor finden und zu ihr bringen würde. Mitsamt einer Fülle von neuen lukrativen Geheimnissen. Sollte Parker allerdings dabei versagen … nun, ihr neu geschaffener Supersoldat konnte immer noch etwas Training gebrauchen.

~o~

Das Kaninchen war problemlos auf geheimen Wegen zurück in den Bau gehoppelt. Nichts hatte sie aufhalten und niemand sie entdecken können. Sie war nicht mehr als ein Schatten ihres einstigen Selbst und als solcher fiel es ihr nicht schwer unbemerkt an den Augen der Menschen vorbeizuhuschen. Natürlich hätte sie die Wachen auch einfach töten können, aber das hätte Aufsehen erregt und nicht ihren Absichten gedient. Sie würde noch früh genug für Aufruhr in der Einrichtung sorgen.

Jetzt stand sie vor der riesigen durchsichtigen Kuppel, in der sich die gewaltige Madenkönigin und dutzende kleinerer und größerer Schneidmaden befanden. Die Tiere reagierten sofort auf sie. Die gewaltige Madenkönigin wurde unruhig und schlug mit ihren Klauen gegen die Kuppel, da sie in Lucy eine Konkurrentin um die Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Nachkommen sah. Und damit hatte sie auch nicht unrecht. All die Maden krochen in ihre Richtung und pressten sich mit ihren weißlichen Körpern gegen das glasartige Material. Sie wurden von ihr angezogen wie Motten von einer Kerze und dennoch konnten sie nicht zu ihr durchdringen. Einige von ihnen gaben schrilles Fiepen von sich, das schmerzhaft in Lucys Ohren stach. Doch auch den Maden bereitete es offensichtlich körperliche Schmerzen nicht bei ihr sein zu können. Dieser Zustand würde aber nicht lange anhalten.

Lucy sammelte all ihre Kraft und schmetterte ihre kleine Faust gegen die Kuppel. Die Kuppel erbebte und bereits bei diesem ersten Schlag zeigten sich breite Risse in dem eigentlich unzerstörbaren Material. Ein weiterer Fausthieb ließ das durchsichtige Gefängnis zerbersten.

Sofort strömten die weißen Leiber auf Lucy zu. Sie wurde förmlich begraben von schleimigen, geringten Körpern. Sie ertrank fast in einem Meer aus Maden. Und doch fügten sie ihr kein Leid zu. Es handelte sich vielmehr um eine Geste der Zuneigung. Und auch wenn Lucy nicht daran geglaubt hatte noch einmal irgendeine positive Emotion zu empfinden, empfand sie beim Anblick der Schneidmaden doch tatsächlich so etwas wie Mutterliebe. Diese Geschöpfe gehörten zu ihr. Und sie würde sie einsetzen. Doch zunächst musste sie vermeiden zu ersticken.

„Geht runter von mir!“, befahl sie den Maden im schroffen Ton und wie von Geisterhand gezogen, ließen die Tiere von ihr ab und versammelten sich stattdessen in etwa einem Meter Entfernung. Dennoch sahen ihre kleinen schwarzen Augen sie sehnsuchtsvoll an.

Lucys Blick schweifte zu der Madenkönigin, die sie wütend belauerte, sich aber trotz ihrer titanischen Größe ganz offensichtlich vor ihrer Macht fürchtete. „Du wirst neue Kinder haben.“ sagte sie versöhnlich. „Diese hier brauche ich für mich.“

Sie verbeugte sich vor dem monströsen Geschöpf und groteskerweise neigte auch die Königin ihren Kopf zu einer Art Verbeugung. Anscheinend hatte sie den Verlust ihrer Kinder akzeptiert.

Als Lucy die nun befreite Königin wieder verließ, folgten ihr mehr als vierzig Maden, von denen zwanzig mindestens so groß wie Hunde waren. Auf die gleiche Weise wie einst dem Rattenfänger von Hameln die Ratten gefolgt waren … und die Kinder. Dieser Gedanke brachte Lucy auf eine Idee. Sie hatte ursprünglich vorgehabt, die Armee der Maden direkt gegen die Forschungseinrichtung und vor allem gegen Elvira zu richten. Jetzt aber kam ihr ein besserer Plan in den Sinn. Sie würde sich eine andere Art von Armee schaffen. Eine Armee aus Kindern. Kindern, die so waren wie sie und die sie mit dem Fleisch ihres Madenrudels an sich binden und stark machen würde. Gemeinsam konnten sie sich an Elvira und ihren Schergen rächen. Und sie könnte wenigstens für einige Zeit die Leere in ihrer Seele mit einem Ziel füllen. Einem roten und blutigen Ziel.

Von einer neuen Bestimmung erfüllt, verließ sie den Wald in Richtung der kleinen Stadt, die still und unschuldig im Tal lag. Ihre neu gewonnenen Kinder folgten ihr. In der Ferne hörte sie das Brüllen der Madenkönigin.

~o~

Ein gewaltiges, lautes Brüllen riss Elvira aus ihren erfreulichen Gedanken. Es war ein Brüllen, wie sie es noch nie gehört hatte und das von keinem ihr bekannten Tier stammen konnte. Eine ungute Vorahnung machte sich in ihr breit. Und diese wurde noch bestätigt als einer ihrer Sicherheitsleute – Brian – panisch zu ihr gerannt kam. „Die Madenkönigin ist ausgebrochen!“ stammelte er völlig aufgelöst.

„Was!“ schrie Elvira ihn an. „Das ist doch wohl ein übler Scherz.“

Brian schüttelte den Kopf. „Dieser ‚üble Scherz‘ hat schon acht unserer Leute getötet. Und zwei sind verletzt.“

„Was haben diese inkompetenten Wissenschaftler an dem Wort ‚bruchsicher‘ nicht verstanden?“ tobte Elvira. Ihr Gesicht lief rot an vor Wut. Sie atmete kurz durch und zählte innerlich bis zehn. “Wir werden neue Forscher brauchen. Schaffen sie die Verantwortlichen sofort in Dr. Kivings Labor. Er soll sein ganze Kreativität spielen lassen. Keine Grenzen.“

„Ja, Mam.“ Brian nickte. Wahrscheinlich war er froh selbst nicht bei dem Foltermeister zu landen.

„Gut. Was ist mit den Maden?“

„Sie sind verschwunden.“

„Verschwunden?“ fragte Elvira ungläubig.

„Ja. Ihre Spuren führen in Richtung Stadt.“

Elvira war kurz davor endgültig die Beherrschung zu verlieren. Dabei schien alles gerade noch so gut zu laufen. Aber sollten die Viecher ruhig in das verschlafene Kaff entkommen. Eine bessere Feldstudie hätten sie sich kaum wünschen können. Natürlich würde zwangsläufig die Öffentlichkeit etwas von der Existenz dieser Geschöpfe erfahren. Im Zeitalter der Smartphones und der sozialen Medien ließ sich das kaum verhindern. Das wäre aber zunächst einmal kein Problem, solange kein Konkurrenzunternehmen etwas von den nützlichen Besonderheiten der Maden erfährt.

Sie wären zunächst einmal nichts als furchterregende Monster. Umso wichtiger war es, dass sie diesen Professor Wingert herschafften, bevor jemand anders ihn und sein Wissen durch einen dummen Zufall in die Finger bekam. Und sie mussten Jonathan wiederbekommen. Dringend. Dieses Blag Lucy war zwar auch ein Sicherheitsleck, aber zum einen würde es zu viele Resourcen verschleißen sie aufzuspüren und gefangenzunehmen und zum anderen war das Mädchen mehr als nur halb wahnsinnig. Niemand würde ihr Geschwätz glauben oder ihm irgendetwas sinnvolles entnehmen können.

„Brian. Ich habe einen neuen Auftrag für Sie. Bringen Sie mir Dr. Jonathan How zurück. Und zwar so schnell es geht. Am besten wäre es, wenn Sie ihn lebend fassen. Aber tot soll mir auch recht sein. Immer noch besser als wenn er seine Geheimnisse woanders verbreitet.

„Wie sie wünschen. Aber was ist mit der Madenkönigin? Sie kommt mit jeder Sekunde, die wir hier reden der Einrichtung näher.“, erwiederte Brian.

„Das ist nicht mehr ihre Angelegenheit.“ sagte Elvira. „Machen sie sich auf den Weg und bringen Sie mir Dr. How. Ich kümmere mich um die Königin.

„Zu Befehl.“ Mit diesen Worten entfernte Brian sich und ließ Elvira allein, während sie von Draußen wieder dieses verdammte Brüllen hörte.

Elvira ging zur Tür des Sicherheitsbereiches, in dem ihr Supersoldat gerade seine Heldentat vollbracht hatte und drückte auf den Öffnungsmechanismus.

„Gefährlicher Organismus im Inneren. Nur teilweise menschlich. Bitte Öffnungsroutine bestätigen.“ ertönte eine mechanische Frauenstimme aus dem Lautsprecher.

„Bestätige“ sagte Elvira. Sie hatte keine Angst vor dem Supersoldaten. Er hatte seinen Gehorsam bereits unter Beweis gestellt. Sofort öffnete sich die Tür und der Mann, der irgendwann einmal „James“ genannt worden war, den sie aber jetzt nur noch als „Supersoldat“ oder „Madensoldat“ bezeichnete, sah sie mit lodernden Augen an. Die Adern an seinem Hals führten einen grotesken Tanz auf. „Komm mit mir!“ befahl sie ihm. Und er folgte. Wie Elvira es erwartet hatte. Diese Madenkönigin würde bald ihr blaues Wunder erleben.

Als sie draußen ankamen, fanden sie ein Bild der Verwüstung vor. Überall lagen tote Sicherheitsleute und Mitarbeiter. Die überirdischen Feldlager und die Gitter der Gefangenen, waren eingedrückt. Die riesige Kuppel, die den Schneidmaden als Gefängnis gedient hatte, war tatsächlich aufgeschlagen worden wie ein Ei und nicht weit von ihr befand sich der Grund für all das Chaos. Die riesenhafte Schneidmadenkönigin griff sich gerade einen fliehenden Sicherheitsmann, dessen Waffe wie ihm Wahn wirkungslose Kugeln in ihre Richtung spuckte, hob den schreienden Mann an ihr Maul und schabte mit hren scharfen Zähnen Fleisch von ihm ab, wie von einem gegrillten Maiskolben. Der Mann schrie wie am Spieß. Es war an der Zeit einzugreifen.

„Zerfetze sie!“ befahl sie dem Madensoldaten, der Anstelle eines Gewehrs eine große Machete bekommen hatte. Damit konnt er seine überlegene Kraft und seine übermenschlichen Reflexe besser ausspielen.

Aber der Mann rührte sich nicht. Stattdessen drehte sich nun die Königin zu ihnen um und wuchtete ihren gewatigen Körper erstaunlich schnell auf sie zu. Ein paar lose Hautfetzen hingen an ihrem Leib herunter, wo sie von den Kugeln ihrer Sicherheitsleute getroffen worden war. Aber ernsthafte Wunden waren nicht zu erkennen.

„Ich sagte: Zerfetze sie. Töte die Schneidmadenkönigin!“ befahl sie dem Madensoldaten erneut. Aber sie erntete keine Reaktion. Stattdessen fiel er auf die Knie, während dieses Ding immer näher und näher kam. In seinen Augen stand Freude. Beinah auch Verzückung. Die Adern an seinem Hals waren abgeschwollen.

Der Kerl betete diese Monster an! Als Elvira das begriff, nahm sie ihr Funkgerät heraus. „Rückzug. Macht die Hubschrauber startklar. Bringt alles an Material und Personal, dass noch intakt ist nach Standort 7B. Ganz besonders die Proben und die Pflanzen. Lass den Rest hier. Auch die Verwundeten. Wir brauchen keinen Ballast. Was unsere inkompetenten Forscher betrifft: Wir haben leider keine Zeit für ihre Folter. Führt Routine 48 mit ihnen durch und gebt ihnen den Auftrag das Wirken der Maden in der Stadt zu beobachten. Vielleicht überleben sie ja. Wenn nicht: Auch gut. Sollten sie fliehen, werden wir ihre Köpfe sprengen. Sagt ihnen das. Und jetzt weg hier!“

Die Erde bebte bereits während sich die gewaltige Königin auf sie zuschob. Ihre Arme waren jetzt fast in Reichweite. An ihrem Mund klebte noch das Blut des Sicherheitsmannes, den sie gerade heruntergeschluckt hatte. Elvira wandte sich erneut an den Madensoldaten. „Folge mir, verdammt nochmal!“

Dann rannte sie so schnell sie ihre Beine trugen in Richtung des Hubschrauberlandeplatzes. Ein kurzer Schulterblick zeigte ihr, dass der Madensoldat ihr diesmal gehorchte. Das war immerhin etwas.

3 thoughts on “Knochenwald: Muttergefühle

  1. Das ganze Spektakel nähert sich einem Ende.
    Die Madenkönigin ist nun wieder frei, Jonathan und Gera suchen nach Arnold, während dieser einem Gebeinen des Knochens dient, der nach Anhängern sucht, Davok und seine Freunde wollen diese stoppen, Lucy will diese Welt mit ihren Maden terrorisieren und Elvira entwickelt Pläne.
    Ich bin sehr gespannt

    LG OrangenSyndrom

    1. Hallo OrangenSyndrom,

      ganz am Ende sind wir noch nicht. Die Geschichte nimmt doch größere Ausmaße an als ich anfangs dachte. Es werden also sicher noch einige Kapitel folgen bis zum (vorläufigen) Ende.

      LG Angstkreis

Schreiben Sie einen Kommentar zu OrangenSyndrom Antworten abbrechen

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert