Desinformation

Ich habe immer gedacht, dass mich die Wahrheit befreien würde. Aber so ist es nicht. Jetzt, wo ich sie kenne, liegt sie wie ein tonnenschwerer Stein auf meiner Brust, macht jeden Atemzug zu einer Qual, macht meinen Kopf zu einem Gefängnis und jeden Augenblick meiner Existenz zu einem Martyrium. Aber wahrscheinlich sollte ich mich nicht beschweren. Niemand hat je behauptet, dass es leicht ist, gegen den Strom zu schwimmen, gerade wenn die Kräfte, gegen die man sich wendet, so verdammt übermächtig sind.

Auch wenn natürlich das meiste gelogen ist, was man uns über die Geschichte erzählt, so gab es doch mit Sicherheit vor mir viele Freiheitskämpfer, Rebellen, aufrechte Seelen, die sich für ihre Überzeugungen haben verachten, töten oder sogar foltern lassen. Sie haben es dennoch ertragen und sind bis zuletzt für das Gute und Richtige eingetreten. Deshalb darf auch ich nicht ins Wanken geraten, mich nicht anpassen und in der Masse der blökenden Schafe untertauchen, auch wenn die Lage so aussichtslos scheint.

Alles um mich herum ist eine Lüge. Die Luft, die ich atme, die mich am Leben erhalten sollte, ist voller Gifte. Das Smartphone in meiner Tasche, das mich eigentlich informieren sollte, steuert meine Gedanken und verfolgt jeden meiner Schritte nach. Selbst meinen Erinnerungen kann ich nicht vertrauen. Sie sind voll von den Lügen, die SIE verbreitet haben, mit denen Sie mich gefüttert haben, seit ich auf die Welt gekommen bin. Aufgesogen und nachgeplappert habe ich sie, wie ein dummes, unmündiges Kind, selbst als ich mich bereits für ach so erwachsen gehalten habe. Jedenfalls so lange, bis ich endlich die Wahrheit erkannt habe.

Selbst den wenigen vermeintlich unschuldigen Erinnerungen kann ich nicht vertrauen. Erinnerungen, die mir sagen, dass ich mich in Melinda verliebt, sie geheiratet, Jahre an ihrer Seite gelebt und mit ihr tausend Schicksalsschläge überstanden habe. Dass sie unseren kleinen Thomas unter Schmerzen zur Welt gebracht und ihn mit mir zusammen zu einem aufgeweckten, neunjährigen Jungen herangezogen hat. Das alles glaube ich zu wissen, aber wer sagt mir, dass das nicht falsche Erinnerungen sind? Dass das mehr als ein schlecht aufgeführtes Puppentheater der neuen Weltordnung ist?

Sie tun das immer wieder. Das kann man überall nachlesen. Bei allen, die sich nicht durch entsprechende Vorsichtsmaßnahmen schützen. Sie schleichen sich in deine Träume, Sie hacken sich mit ihrer verdammten Strahlung in dein Bewusstsein, knacken deine Gedanken und pflanzen dir das in den Kopf, was du glauben sollst, damit du weiter ruhig zur Arbeit gehst, dein Maul hältst und sie sich an der Macht halten können und all diese konformistischen Idioten dort draußen sind einfach nicht in der Lage das zu begreifen. Statt sich uns anzuschließen, machen sich auch noch über mich und die alle anderen Aufgewachten lustig, wenn wir sie davor warnen. Es sollte mich nicht wundern. Selbst den aufgestiegenen Meister Jesus hat man für seine Hingabe verhöhnt. Die Menschen sind einfach so. Schon als diese finstere Scheibe von einem gehirngewaschenen Planeten vor sechstausend Jahren entstand wird das nicht anders gewesen sein. Aber dennoch wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass sie es endlich erkennen. Vielleicht hätten wir dann eine Chance gegen SIE.

Doch die schlafende Masse ist gerade nicht meine Sorge. Jetzt nicht. Im Moment geht es allein um Melinda und Thomas. Wie schön es wäre, wenn es diese beiden wirklich geben würde. Wenn es jemanden geben würde, der mich liebt, der zu mir steht, obwohl ich nicht in der Lage bin mich an dieses verschissene Sklavensystem anzupassen. Aber ich bin allein. Dort im Internet gibt es zwar viele, die wie ich wissen, was wirklich abgeht, aber hier, in diesem Haus, in diesem durchwanzten Gefängnis, in dieser steingewordenen, lügenverseuchten Ausbeulung des Systems bin ich allein. Natürlich, dort unten höre ich Stimmen.

Die Stimmen eines Jungen und einer Frau, die sich über das Abendessen unterhalten, während im Hintergrund die Lügenmaschine läuft. Ich habe sie vorhin gesehen. Sie hatten an meiner Tür geklopft und gefragt, wann ich endlich aus meinem Arbeitszimmer herauskomme. Sie wollten mich aus diesem Rückzugsort, aus dieser letzten Oase der Sicherheit locken, um mich der Regierung und ihren außerirdischen Verbündeten zu übergeben, damit sie mich umwandeln oder Experimente mit mir durchführen können. Dabei sahen sie so unschuldig aus, so gefährlich liebenswürdig. Fleischgewordene Abbilder der falschen Erinnerungen in meinem Kopf. Ganz sicher halbrobotoide Klone, die man aus Echsen-DNA und Aliengenen gekreuzt und ihnen durch Shapeshifting diese Form verliehen hat.

Doch vielleicht irre ich mich ja auch, schießt es mir durch den Kopf. Eine verzweifelte Hoffnung, ich weiß. Aber vielleicht sind meine Erinnerungen doch echt. Immerhin habe ich meinen Kopf schon seit längerem vor dem Einfluss der Weltregierung abgeschirmt. Doch selbst, wenn das stimmen sollte, muss ich dennoch handeln. Die beiden lassen sich nicht überzeugen. Auch das sagen mir meine Erinnerungen. Ihre Gehirne sind von dem, was sie über die Luft und durch das Wasser verbreiten und die Lügen, mit denen der Mainstream sie füttert, schon bis zur Unkenntlichkeit verseucht. Sie sind keine Menschen mehr. Nur noch Schafe. Debil lachende Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, auf die sie sich irgendwann freiwillig begeben werden, um der Regierung für ihre satanischen Rituale zu dienen, bei denen sie jedes wertvolle Quentchen Leiden aus ihnen herauspressen, abfüllen und trinken, um ihr eigenes, widerliches Leben weiter in die Länge zu ziehen. Doch ich werde das nicht zulassen. Sollten Melinda und Thomas doch noch aus Fleisch und Blut sein, könnte ich es nicht ertragen zu wissen, dass man ihnen so etwas antut. Ich weiß zwar, dass ich sie nicht aufhalten kann – zu sehr sehnen sie sich nach dem Schlachter – aber wenn das Schlachten unausweichlich ist, sollte es wenigstens jemand übernehmen, der sie kennt. Jemand, der es schnell, schmerzfrei und präzise macht. Jemand, der sie als Menschen sieht und nicht als Futter für die eigene reptiloide Unsterblichkeit. Jemand, der das Beil mit Liebe führt. Mit diesem Gedanken öffne ich die Tür. „Ich komme“, rufe ich und lege meine Hand fester um das große Messer in meiner Hand.

~o~

„Haben Sie den angeforderten Bericht?“, fragte Secret General Johnson Dorming, ein etwa fünfzigjähriger, drahtig gebauter Mann mit grauem Kurzhaarschnitt und faltigem, finster dreinblickenden Gesicht.

„Ja. Stolze fünfundneunzig Seiten“, sagte Boris Kern, ein übermüdeter dunkelhaariger Mann Mitte dreißig, der gerade einen hastigen Schluck aus seiner Kaffeetasse genommen hatte und seinen Vorgesetzten nun etwas ängstlich über seinen Monitor hinweg anblickte, „ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet. Soll ich Ihnen den Bericht zuschicken oder ausdrucken?“

„Seh ich so aus, als hätte ich die Zeit, mich durch ihren Buchstabensalat zu wühlen?“, knurrte der General, wobei sein saurer, warmer Atem zusammen mit ein paar feinen Speicheltropfen in Kerns Gesicht schlug, „geben Sie mir einfach die Kurzzusammenfassung. Mit den Details sollen sich die Nerds in unseren Labors beschäftigen.“

Kern nickte, „Fast alle Versuchspersonen, die wir mit dem Gas in Kontakt gebracht haben, haben Symptome entwickelt, die mit denen einer paranoiden Schizophrenie vergleichbar sind. Gleichzeitig wurde ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum logischen Denken deutlich vermindert. Etwa 5 % von ihnen begingen Tötungsdelikte in ihrem weiteren oder näheren Umfeld, allerdings liegt das wahrscheinlich an der niedrigen Dosierung, die wir gewählt haben, um nicht zu viel Aufsehen zu vermeiden. Weitere 10 % begingen Selbstmord und etwa 27 % übten nicht-lethale Gewalt gegenüber anderen aus. 55 % von ihnen verursachten zumindest erhebliche Sachschäden. Nur etwa 3 % zeigten sich bislang vollkommen resistent. Aber daran arbeiten wir noch.“

Secret General Dorming lächelte zufrieden, was bei ihm nur äußerst selten vorkam, „also meinen sie, dass die Technologie für den strategischen Einsatz geeignet ist?“

„Auf jeden Fall“, sagte Kern, der es wirklich genoss einmal nicht zusammengeschissen zu werden, „wir können damit nicht nur Chaos stiften, den inneren Frieden stören um Zielland stören und die Moral und Kampfkraft des Feindes untergraben, sondern auch ganz gezielte Maßnahmen lancieren.“

„Reden Sie Klartext, Kern“, sagte der General ungeduldig, „was genau meinen Sie damit?“

Nun musste auch Kern grinsen, trotz des barschen Tons, den sein Vorgesetzter anschlug, „das Gas macht sie empfänglicher für einfache Botschaften. Wenn wir unsere Bot-Netzwerke, Troll-Armeen und Fake-News-Seiten entsprechend instruieren und dafür sorgen, dass die richtigen Nachrichten den Weg auf ihre Smartphones, Laptops und Tablets finden, dann können wir sie praktisch alles glauben lassen. Wir können Biowaffen einsetzen und der gesamten Bevölkerung der feindlichen Gebiete zuvor einreden, dass ein etwaiges Gegenmittel vergiftet ist. Wir können Atomangriffe starten und ihnen erzählen, dass ihre Regierung grausame Menschenexperimente in den öffentlichen Schutzbunkern durchführt. Wir können sie gefährliche Gift schlucken lassen und sie glauben lassen, dass es ihrer Gesundheit zuträglich ist. Verdammt, wir könnten ihnen sogar erzählen, dass unsere Armeen kommen, um sie von einer fiesen Diktatur zu befreien oder dass sie sich nicht gar nicht erst gegen uns zu verteidigen brauchen, weil fünfköpfige, graue Echsenaffen aus dem Zentrum des Erdkerns aus dem Boden hüpfen und unsere Panzer und Drohnen für sie zerschmettern werden, wir könnten …“

„Ihr Punkt ist klar geworden“, sagte General Dorming verschmitzt, „und ich bin sehr zufrieden. Auch meine Vorgesetzten wird das freuen. Sobald die letzten Kinderkrankheiten ausgemerzt worden sind, können wir den weiteren Einsatz des Mittels diskutieren. Eine Frage bleibt jedoch noch offen: Wie verbreiten wir das Zeug im großen Stil?“

Ein spitzbübischer Ausdruck erschien auf Kerns Gesicht, „Wie wäre es mit Flugzeugen.“

Das Lachen der beiden Männer hallte noch lange durch die kalten Flure des Bürokomplexes.

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