Die Gedanken sind frei

Die Gedanken sind frei. Seit dem Anbeginn der Menschheit war das eine unumstößliche Gewissheit gewesen. Eine Konstante des menschlichen Daseins, so sicher wie sonst nur der Tod. Und auch wenn es schon etliche Versuche von Neurowissenschaftlern und Philosophen gegeben hat uns zu erklären, dass dem nicht so ist, so galt diese Wahrheit doch in einem Sinne ungebrochen: Denn unabhängig davon, woher die Gedanken stammen, die in unserem Kopf herumgeistern und wie frei oder unfrei wir darin sind, sie zu denken, so sind sie doch immerhin frei von der Beobachtung durch andere. Kein neugierigen Nachbarn, keine selbst ernannten Telepathen, keine raffgierigen Konzerne und keine autoritären Regierungen konnten in Erfahrung bringen, welcher Gedanke im Augenblick X durch den Kopf Y rauscht.

Sie haben es natürlich versucht. Immer wieder. Mit Workarounds. Mit Umfragen, mit Folter, mit Befragungen in düsteren, muffigen Hinterzimmern, mit Browser-Cookies, mit Spionagesoftware, mit sozialen Netzwerken, die uns dazu ermutigten uns selbst zu entblößen und sogar mit totaler Überwachung durch Spitzel, Drohnen und intelligente Kameras. Dadurch haben sie eine Menge erfahren. Sie haben sich ein Bild von uns gemacht, einen digitalen Zwilling, den man analysieren, zum Konsum anregen oder für vermeintliches oder wirkliches Fehlverhalten bestrafen konnte. Doch so detailliert dieses Abbild von uns auch wurde, es blieb dennoch ungenau. Unvollkommen. Unidentisch mit uns. Auch wenn es zunehmend anstrengender wurde: Wir konnten nach wie vor lügen, fantasieren und einige, wertvolle Geheimnisse vor jedem Zugriff bewahren. Denn an den Kern unseres Wesens, an das kleine gallische Dorf hinter unserer Stirn, an diese letzte Widerstandszelle, kamen sie dennoch nicht heran.

Bis vor zwei Monaten. Die Technologie für dieses Verfahren hatte es streng genommen schon früher gegeben, jedoch war sie umständlich gewesen, extrem teuer und hatte zwingend erfordert, dass man den „Verdächtigen“ erst einmal einfängt, ihn auf einen Stuhl schnallt und Elektroden an seinen Kopf anbringt, was für die gesamte Bevölkerung dann doch ein wenig zu aufwändig gewesen wäre. Doch vor zwei Monaten, am ersten Mai 2037 hatten es den technologischen Durchbruch gegeben. Schon vorher hatten natürlich Gerüchte kursiert, dass die Regierung an so etwas arbeiten würde, aber in einer schon vor Beginn der Diktatur von Fake-News und Halbwahrheiten rettungslos verseuchten Informationslandschaft waren Gerüchte in etwa so viel Wert gewesen, wie unsere Grundrechte. Spätestens nach der vollkommenen Gleichschaltung der Medien und der Abschaffung der Meinungs- und Pressefreiheit waren den kritischeren Geistern nur noch zwielichtige, kompliziert zu erreichende Chatrooms geblieben, in denen sich in den meisten Fällen mehr Drogendealer, Kinderschänder, Bots und Regierungsagenten als Widerständler getummelt hatten.

Doch selbst die Besten davon waren bestenfalls Selbsthilfegruppen für Menschen gewesen, die zu störrisch waren, das Unvermeidliche einzusehen: nämlich, dass das unruhige Pendel der Menschheitsgeschichte nach ein paar verirrten Zuckungen in Richtung „Licht“ nicht nur einen ordentlichen Schwung in die „Dunkelheit“ gemacht, sondern dort unrettbar steckengeblieben war. Wir waren zwar noch nicht ganz in der absoluten Dystopie angekommen, aber fast und das auch noch in Rekordzeit. Auf einer Welle von demokratiefeindlichen Wirtschaftsliberalen, reaktionären Nationalromantikern und überdrehten Verschwörungstheoretikern, die erst aufhörten, ihre Heimatländer als Diktaturen zu bezeichnen, als sie welche geworden waren, gelangten mehr und mehr menschenfeindliche Irre in die Regierungssitze der Welt.

Schon bald wurden sie von deutlich rationaleren aber nicht minder unsympathischen Technokraten abgelöst, die meinten, dass es für jedes nur erdenkliches Problem, welches das menschliche Zusammenleben mit sich bringt, nur eine einzige Lösung geben konnte: totale Kontrolle. Praktisch bedeutete das: Grenzschließungen, Polizeistaat und Überwachung, Überwachung, Überwachung. Auf öffentlichen Plätzen, dem Arbeitsplatz, in Toiletten, unseren Wohnungen, Autos, öffentlichen Verkehrsmitteln, einfach überall. Passend dazu wurden Regeln aufgestellt, die uns neben Kritik an der Regierung so ziemlich alles verboten, was zum freien Denken ermutigte, den sozialen Zusammenhalt förderte oder auf irgendeine Weise Spaß machte. Das lief ziemlich schnell auf einen sehr konkreten und simplen Lebensentwurf hinaus. Wir durften arbeiten (möglich lang und hart), konsumieren (möglichst viel), Regierungsnachrichten schauen (möglichst unkritisch) und schlafen (möglichst kurz). Das Internet wurde – auf Basis der schon lange vorher geschaffenen Filtertechnologien – bis zur Unkenntlichkeit zensiert. Die Fortpflanzung wurde vollkommen auf künstliche Reproduktion umgestellt. Sexuelle Kontakte wurden genauso verboten wie alle anderen, irgendwie vermeidbaren Kontakte zu Mitmenschen. Freundschaften standen unter Strafe, Beziehungen und Ehen wurden getrennt, Wohngemeinschaften aufgelöst. Auch bei der Arbeit wurde menschlicher Kontakt auf ein Minimum reduziert und von jeder zwischenmenschlichen Färbung befreit. Jede Kommunikation wurde digitalisiert. Das bisschen Freizeit, das uns zugestanden wurde, galt allein dem Erwerb und Gebrauch von Konsumgegenständen und billigster, geistlosester Unterhaltung.

Zugegeben: Laut den letzten halbwegs freien Presseberichten, die noch ins Land gesickert waren, war zumindest noch nicht jeder Staat in die totale Käfighaltung abgerutscht. Aber gut zwei Drittel der Welt steckte bis zum Hals im faschistischen Matsch und der Rest war nicht nur zerstritten und militärisch und wirtschaftlich hoffnungslos unterlegen, sondern auch von Armut, Angst und Ratlosigkeit völlig gelähmt. Widerstand war also eigentlich nicht zu erwarten, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen und genau dazu – und natürlich zum Identifizieren von Oppositionellen – waren diese Chats da gewesen. Auch ich hatte sie genutzt, wenn auch eher als stiller Mitleser auf der Toilette mit einem der veralteten, noch nicht so gut überwachbaren Handys, die auf dem Schwarzmarkt bald wie Gold gehandelt wurden. Doch vom Ende unserer Gedankenfreiheit hatte ich dann auch weder in den Chatrooms, noch von den Regierungsmedien erfahren, sondern von einer Stimme in meinem Kopf, die mich auf dem Heimweg von der Arbeit quasi überfallen hatte. Zuerst hatte ich vermutet, schlicht verrückt geworden zu sein, aber als ich die Botschaft vernahm, war mir klar geworden, dass „verrückt sein“ künftig keine Option mehr war, die die Regierung akzeptieren würde:

„Lieber Bürger, Steven Kensington. Einwohnernummer 2302394-XF. Wir möchten Sie informieren, dass von diesem Augenblick an das Gesetz zur staatlichen Gedankenhygiene in Kraft tritt. Wir werden fortan Ihre Gedanken auf terroristische oder kriminelle Absichten, gesetzeswidrige Haltungen, negative Einstellungen, neurologische Normabweichungen, unproduktive, tagträumerische Abweichungen und jedwede Tendenzen hin untersuchen, die einen schädlichen Einfluss auf Sie oder das Funktionieren unseres wunderbaren Staates haben könnten. Auf Verstöße gegen diese Regeln werden wir mit einer der folgenden vier Stufen von Sanktionen reagieren, die sich nach der schwere und Häufigkeit des Fehldenkens richtet. In einer ersten Stufe werden wir Sie verwarnen und über Ihr Verbrechen informieren. Bei erneuten oder schwereren Verstößen, werden die ihnen verabreichten, intelligente Nanobots Sie mit nicht-letalen Stromstößen, abgestimmt auf Ihre persönliche Schmerzgrenze, bestrafen. Stufe drei umfasst Ihre Inhaftierung inklusive intensiver medizinischer Analyse und persönlicher Betreuung durch unser speziell geschultes Resozialisierungsteam. In der letzten Stufe werden die Nanobots, die wir Ihnen mit Ihrem Trinkwasser verabreicht haben, angewiesen, Ihren Körper und Ihr Gehirn zu dekonstruieren. Jedoch können Sie durch produktive und förderliche Gedanken auch Bonuspunkte sammeln, die sie nutzen können, um Ihr Fehldenken wiedergutzumachen. Ihren Punktestand können Sie sich jederzeit durch einen bloßen Gedanken mitteilen lassen. Noch ist es uns zwar technisch nicht möglich jede einzelne Ihrer emotionalen Regungen fehlerfrei einzuordnen, wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass wir durchaus in der Lage sind Sarkasmus, Zynismus oder andere starke Abweichungen zwischen Gedankeninhalten und Empfindungen zu erkennen und bitten Sie nachdrücklich von solchen Täuschungsversuchen abzusehen.

Uns ist bewusst, dass diese Regeln Sie vor große Herausforderungen stellen. Deshalb werden wir uns in einem einmonatigen Testzeitraum auf die Sanktionen der Stufe 1 und 2 beschränken, um Ihnen die nötige Zeit zu geben, sich an Ihren neuen Alltag zu gewöhnen. Zudem arbeiten unsere Wissenschaftler und Experten bereits mit Hochdruck an einer Methode, die Konformität Ihres Denkens automatisiert sicherzustellen und Sie von zentraler Stelle mit den zu den ihnen zugewiesenen Aufgaben passenden Gedanken, Absichten und Gefühlen zu versorgen. Bis dahin sind wir jedoch auf Ihre Kooperation angewiesen. Helfen Sie mit, unser Gemeinwesen zu stärken und unsere Gesellschaft in ein besseres Morgen zu führen. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Regierung.“

Ich brauche wahrscheinlich nicht zu erwähnen, dass mir die Gedanken, die mir zu dieser Ankündigung kamen, eine ganze Reihe von freundlichen Ermahnungen und weniger freundlichen Elektroschocks einbrachten. Hätte es die Testphase nicht gegeben, würde ich sicher schon jetzt nicht mehr leben. Die Stromstöße waren wirklich schlimm gewesen. Die ersten Stunden schwamm mein Gehirn in einem ständigen Dämmerzustand aus Schmerz und Benommenheit und es hätte mich nicht gewundert, wenn ich eine Glühbirne durch bloße Berührung hätte zum Leuchten bringen können. Oft weinte ich, nicht nur wegen der Schmerzen, sondern um den nun verlorenen Rest meines ohnehin schon jämmerlichen Lebens, aber auch um die Welt, die irgendwann sicher einmal die Chance gehabt hatte, zu einem wirklich lebenswerten Ort zu werden, jedoch inzwischen wirklich endgültig in den Abgrund gerauscht war, jedenfalls was uns Menschen betraf. Diese Gefühlsausbrüche wurden jedoch zwangsläufig von Gedanken begleitet und die gefielen den neuen Herren in meinem Kopf ganz und gar nicht, was sie mich nicht nur wissen, sondern vor allem spüren ließ. Irgendwann, in diesen kurzen, klaren Momenten zwischen zwei Stromstößen, schlitzte ich mir mit einem Küchenmesser die Kehle auf. Es war kein wirklicher Gedanke, sondern eine derart spontane Handlung, dass sie keine Strafe nach sich zog. Das heißt: In gewisser Weise wurde ich dennoch bestraft. Denn was als ein Ausweg aus meiner Misere dienen sollte, endete bereits nach wenigen Augenblicken, als die in mir wohnenden Nanobots die Wunde an meiner Kehle in kürzester Zeit schlossen. Man bestrafte mich mit dem Weiterleben und machte mir klar: Auch ob ich lebe oder sterbe, war nun nicht länger meine Entscheidung.

Da mir dieser Ausweg also ebenfalls versperrt war, begann ich mich zwangsläufig mit meinem Schicksal zu arrangieren. Müde von dem unablässigen Gequatsche in meinem Kopf und absolut nicht scharf darauf, weiter gegrillt zu werden, begann ich mein Denken nach und nach anzupassen. Meistens versuchte ich einfach an gar nichts zu denken und wenn das nicht ging, an irgendetwas möglichst Unverfängliches wie meine Arbeit, eines der simplen Computerspiele, die ich in meiner verbliebenen Freizeit spielte oder an die Farbe der Autos, die ich auf der Straße sah. Wenn mir gar nichts anderes einfiel, begann ich Sekunden zu zählen, einfache mathematische Rechnungen durchzuführen und gewöhnte mir schließlich sogar an, die Regierung und ihre Vertreter zu loben. Ich pries sie für ihre Weisheit und ihre wunderbaren, menschenfreundlichen, fortschrittlichen Gesetze oder schlicht dafür, wie unglaublich schön die schulterlangen braunen Haare unseres Regierungschefs im Sonnenlicht glänzten, wenn ich ihn in den Nachrichten sah.

Natürlich waren das am Anfang Lippenbekenntnisse, die ich zwangsläufig mit ironischer Distanz oder zumindest ohne jegliche Überzeugung dachte. Aber ich bemerkte mit der Zeit, wie sich das nach und nach änderte und ertappte mich dabei, wie ich mich fragte, ob diese Maßnahmen nicht tatsächlich gut für mich waren und mich zu einem besseren Menschen machten. Immerhin wusste ich nun immer ohne jeden Zweifel was richtig oder falsch war, kam nicht mehr ins Grübeln und hatte praktisch keine Chance mehr, mich mit den negativen Aspekten meines Daseins zu belasten. In gewisser Weise war ich dadurch doch noch viel freier als zuvor. Der steigende Punktestand zeigte mir, dass das mehr waren als nur bloße Gedankenspiele. Zugleich wurden meine Verstöße immer seltener und ich brauchte meine Punkte fast nur noch, um eine ganz bestimmte Art von Sünden auszugleichen: Mitgefühl. Denn wenn ich doch einmal einen anderen Menschen traf und sah, wie dieser grausam von der durch seinen Körper rauschenden Inkarnation des Systems bestraft wurde, hielt ich das immer noch für unangemessen.

Sicher hätte ich mir aber auch diese Angewohnheit schon bald abtrainiert und wäre zu einem ameisenhaften Diener des Systems geworden, wenn nicht die Kugel in mein Leben getreten wäre. Eines Morgens lag sie beim Aufwachen einfach in meinen Armen. Ein leuchtender, wabernder Ball aus reinster, blau glitzernder Energie dessen Konsistenz irgendwo zwischen Plasma und Feststoff lag, der sich dabei doch angenehm kühl anfühlte und bei jeder Berührung meiner Fingerspitzen ein leichtes Kribbeln verursachte. Das war jedoch längst nicht alles, was er vermochte. Ich habe nicht den blassesten Schimmer wer mir – wer uns allen – diesen Gegenstand geschickt hatte, ob eine höhere Macht, die sich das Elend nicht länger hatte ansehen können, eine ultra-geheime Widerstandsgruppe aus dem Untergrund, ein unbekannter Superheld oder eine wohlmeinende Alienrasse, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, geknechtete Völker von ihren Tyrannen zu befreien. Jedenfalls hatte offenbar schon die bloße Berührung der Kugel ausgereicht, um wieder allein in meinem Kopf zu sein. Als ich die Augen aufgeschlagen hatte, war ich zum ersten Mal seit Wochen nicht von der Regierung begrüßt worden. Und nicht nur das.

Als ich testweise einen harmlosen, aber verbotenen Gedanken dachte, wurde ich nicht dafür bestraft. Dieser Effekt hielt sogar dann noch an, als ich die Kugel testweise ablegte. Es ist kaum zu beschreiben wie sich das anfühlte. Ein wenig, wie als das Kind überfürsorglicher Eltern aus heiterem Himmel zu erfahren, dass man für mehrere Wochen sturmfrei hat. Man wusste vor lauter Überraschung kaum, was man mit dieser Freiheit anfangen sollte, war aber dennoch unheimlich glücklich darüber, sie endlich zu besitzen. Doch auch, wenn ich mich mit der Situation anfangs fast überfordert fühlte, wie ein bettlägriger Patient, der seine Muskeln zu lange nicht gebraucht hatte und erst wieder gehen lernen musste, fand ich durch dieses wundersame Geschenk doch überraschend schnell wieder in mein altes Selbst zurück, von dem ich eigentlich vermutet hatte, dass man es ausgelöscht hätte.

Noch schien die Manipulation meiner Gedanken, allerdings noch zu oberflächlich gewesen zu sein, um meine Persönlichkeit nachhaltig zerstören zu können. Anfangs hatte ich noch befürchtet, dass dies alles nur ein perfider Test meiner Loyalität sein würde, aber nachdem selbst radikal regierungskritische Gedanken keine Strafe nach sich gezogen hatten, gelangte ich allmählich zu der Überzeugung, dass dieses Wunder real war. Der Preis für meine wiedergewonnene Freiheit, war, dass ich mir wieder des Elends bewusst wurde, in dem ich mich zusammen mit meinen Mitmenschen befand. Doch das deprimierte mich nicht länger nur, sondern fachte vielmehr meinen Widerstandsgeist an. Ich hatte dieses Geschenk bekommen, von wem auch immer, und es lag allein an mir, es an andere weiterzugeben. Und genau das tat ich. Wann immer ich zur Arbeit ging oder beim Einkaufen einem anderen Menschen begegnete, versuchte ich ihn unauffällig mit der Kugel zu berühren und bemerkte dabei – als würden die Wunder niemals aufhören – dass sie sich dabei vervielfältigte.

Das hier, begriff ich, würde sich schon bald nicht mehr aufzuhalten lassen, egal welche finsteren Tricks die Partei noch aus ihrer faschistischen Trickkiste hervorzaubern würde. Und so kann es auch. Bald bildeten sich die ersten Widerstandsgruppen, die mich zu ihrem Anführer auswählten. Gemeinsam trotzten wir mutig den widerlichen, unmenschlichen Tyrannen, die uns unsere Leben, unsere Rechte, ja sogar die Freiheit unseres Geistes gestohlen hatten. Die Zeit des Gehorsams war nun endgültig vorbei. Wir alle würden unsere Gedankenfreiheit zurückerlangen und dann würden die erwachten Menschen so wütend auf ihre Regierung sein, dass sie sie gemeinsam mit uns stürzen und sich an jedem einzelnen der Verantwortlichen blutig rächen würden. Endlich würden wir uns unser Geburtsrecht zurückholen und dann …

Plötzlich stach ein helles, kaltes Licht in meine Augen. Ein bebrillter, in einen weißen Kittel gekleideter Mann Ende dreißig mit Kinnbart und kurzem schwarzen Haar erschien in meinem Blickfeld und blickte mich neugierig an. Zugleich stellte ich fest, dass ich mich nicht mehr in meiner kleinen Wohnkabine befand, sondern festgeschnallt auf einer Liege in einem sterilen, weiß gekachelten Raum. An meinem Kopf spürte ich etwas Kaltes, Metallisches. Neben mir hörte ich ein EKG piepsen.

„Faszinierend“, sagte der Mann, „so eine starke Traumaktivität habe ich selten erlebt. Die negativen, schädlichen Denkmuster, die Sie sich im Wachzustand schon fast abgewöhnt hatten, scheinen sich einen Weg in Ihr Unterbewusstsein gebahnt haben, um sich dort hemmungslos auszutoben.“

„Was?“, fragte ich benommen, „Wo ist die Kugel? Was ist mit dem Widerstand?“

Der Mann sah mich fast mitleidig an. „Ach, kommen Sie! Eine blaue Kugel, die Batman ihnen persönlich in die Arme gelegt oder die Aliens Ihnen in die Wohnung gebeamt haben? Ernsthaft? Das ist doch nun wirklich eine sehr unrealistische Fantasie. Und in ihrer Unterkomplexität erbärmlich. Gefährlich zwar, aber dennoch erbärmlich.“

Endlich begriff ich, was das alles bedeutete, „Ein Traum?“, fragte ich verwundert, „aber wo ist dann die Stimme in meinem Kopf hin?“

„Hier im Labor ist die Gedankenhygiene unnötig.“, erklärte der Mann, „wir wollen Ihre bewussten und unbewussten Gedanken genauestens analysieren. Da wären externe Eingriffe kontraproduktiv. Sie würden unsere Ergebnisse verfälschen.“

„Ein Labor?“, fragte ich erschrocken, „Aber warum? Ich habe doch nichts …“

„Oh doch, sie haben gerade eine ganze Menge Verstöße vom Stapel gelassen, Mister Kensington. Eigentlich sind sie sogar einer der schlimmsten Gedankenverbrecher, die uns je untergekommen ist, seit das neue Gesetz in Kraft getreten ist. Gerade deshalb sind Sie das ideale Untersuchungsobjekt. Durch Sie wollen – und werden – wir herausfinden, wie wir auch das Unterbewusstsein und die unbewussten nächtlichen Gedanken unserer Bürger in den Griff bekommen.“

„Sie wollen unsere Träume kontrollieren?“, fragte ich fassungslos und spürte förmlich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Auch wenn ich nie ein großer Träumer gewesen war und mich nur selten an meine nächtlichen Erlebnisse hatte erinnern können, hatte ich doch im Schlaf immer etwas Erleichterung erfahren und hatte den vagen Verdacht, dass dieser kleine Freiraum der Grund dafür gewesen war. Wenn Sie diese letzte Zuflucht auch noch zerstören würden – da war ich mir sicher – hätten sie unsere Seele getötet. Dann hätte jede Pflanze, jeder Stein, jeder Putzroboter mehr Recht, sich als Mensch zu bezeichnen.

„Selbstverständlich“, sagte der Mann, der sicher ein hoher Parteifunktionär war, dessen Gedanken nicht von Oben kontrolliert wurden, mit einem unterkühlten Lächeln, „was würde es für einen Sinn ergeben, die Menschen tagsüber zu erziehen, wenn sie Nachts sofort wieder ihren schlechten Einflüssen erliegen? Das wäre nachlässig. Und aus Nachlässigkeiten werden Revolten geboren, Mister Kensington. Auch ohne blaue Kugeln aus dem All.“

„Warum tun Sie das alles?“, fragte ich, „Warum tun Sie uns das an? Warum wollen Sie die Menschheit zu solch einer Hölle verdammen?“ Nun, wo ich wenigstens für den Moment wieder ungestört denken konnte, verstand ich noch viel weniger, warum Menschen so eine Freude daran empfanden, einander zu quälen und einzusperren und sich in Ihren Potenzialen einzuschränken.

Der Wissenschaftler hob abschätzig eine Augenbraue, bevor er sich dazu herabließ mir zu antworten. „Wir haben unsere Gründe“, sagte er schließlich, „Aber darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Mister Kensington. Sie sind ohnehin nicht gut darin. Das haben unsere Analysen ergeben. Gemessen am nationalen Bevölkerungsdurchschnitt liegt Ihre Denkleistung höchstens im unteren Mittelfeld. Sie sind widerspenstig, ja. Aber schlau sind Sie nicht. Insofern sollten Sie froh darüber sein, dass wir Sie beim Denken unterstützen.“

„Bin ich aber nicht“, sagte ich trotzig. Was hatte ich jetzt noch zu verlieren? „Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht. Vielleicht wäre es ja besser, wenn Sie mich mit Stufe vier bestrafen. Dann muss ich nicht länger Ihre Visage ertragen und auch nicht die kaputte Welt, die Sie erschaffen haben und Sie haben ein Problem weniger.“

„Tz, Tz, Tz“, sagte der Mann empört, „Ihr ungehobeltes Verhalten enttäuscht mich, als jemand, der das Gedanken-Assistenzprogramm mitentwickelt hat, zutiefst. Dabei schienen Sie sich anfangs wirklich hervorragend zu entwickeln. Anscheinend sind diese Träume noch viel gefährlicher, als ich dachte.“

Er ließ einen tiefen Seufzer hören und fuhr dann fort, „Aber was Ihren Vorschlag betrifft, so kann ich Ihnen erfreulicherweise mitteilen, dass wir Ihrem Wunsch entsprechen werden. Das hätten wir natürlich auch getan, wenn Sie es sich nicht gewünscht hätten, denn wer sich ernsthaft den blutigen Sturz unserer weisen und gütigen Führung wünscht, kann natürlich nicht mehr als resozialisierbar betrachtet werden.“

Er nahm eine gefüllte Spritze von einem kleinen silbernen Tisch zu seiner linken, drückte Sie mir in den Arm, was ich angesichts meiner Fesseln nicht verhindern konnte und entleerte ihren klaren Inhalt in meine Adern. Fast sofort spürte ich, wie mich eine bleierne Müdigkeit überkam.

„Doch bis wir Sie in die traumlose Leere schicken, Mister Kensington werden Sie noch viele Träume für uns Träumen. Aber Sie müssen keine Angst haben. Selbst wenn es düstere Träume sein sollten …“

Sein nun breites Grinsen füllte mein gesamten Blickfeld aus, während meine Lider plötzlich noch schwerer wurden als die Last meiner Existenz.

„… werden Sie darin nicht allein sein.“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert