Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 4


„Keine verschissene Bewegung, Bitch!“, sagt der Scyone, der nur einige Zentimeter von Sandra entfernt stand. Es ist ein bemerkenswerter Vertreter seiner Art. Anders als jene Sumpfhexer, die Sandra in Uranor kennengelernt hat, trägt er grobstoffliche Kleidung in Form eines rot-grün-violett gestreiften Umhangs und hat eine Reihe von Tätowierungen in seinem Gesicht, die sich allesamt unablässig bewegen, so als wären es kleine, aber reißende Flüsse. Vor allem aber wirken sein Mund und seine Augen ungewöhnlich groß. Wie saugende, gefräßige Löcher, deren bloße Betrachtung einen ein kleines Stück ihrer Seele zu kosten scheint.

Unter anderen Umständen hätte Sandra womöglich impulsiv und aggressiv auf eine solche Drohung reagiert. Doch nachdem sie gerade erst der wahnsinnigen Aventuringeweihten entronnen ist, ist sie dafür viel zu überrumpelt und hebt einfach nur die Hände, während sie fieberhaft überlegt, wie sie den Scyonen beruhigen kann. Dass dessen einschüchternde Erscheinung von einer ganzen Reihe von Spiegeln hinter ihm reflektiert wird, die neben, über- und aufeinander stehen und hängen, macht das Nachdenken nicht eben einfacher.

„Jetzt beruhige dich, Norvur“, sagt eine deutlich freundlichere, aber nicht minder energische Stimme, „du musst nicht gleich jedem an die Gurgel gehen, der hier auftaucht.“

Der Besitzer der zweiten Stimme erscheint kurz darauf in Sandras Sichtfeld. Es ist ein schlanker, großgewachsener Bravianer, der zwei strahlend blaue Augen und ein drittes, regenbogenfarbenes Auge auf der Stirn besitzt. Sein breiter, fleischiger Mund lächelt wie die Sonne selbst und bildet einen starken Kontrast zu seinem in verschiedenen Rotschattierungen gehaltenem Gewand.

„Und du musst mir nicht sagen, was ich darf oder nicht, Lyon“, erwidert der Scyone, „meine Impulse sind mir heilig.“

„Verständlich“, sagt Lyon mild, „ich wünschte nur, sie wären nicht so verdammt düster. Fragen wir unseren Gast doch erst mal, was ihn hierhergeführt hat.“

Noch bevor der Scyone etwas darauf antworten kann, stößt der Bravianer ihn sanft aus dem Weg. Dann wendet er sich Sandra zu und … nimmt sie einfach in die Arme. Sandra versteift sich augenblicklich und sie muss sich dazu zwingen, ihn nicht einfach wegzustoßen. Sie hasst es, angefasst zu werden. Erst recht von wildfremden Weirdos. Aber selbst ihr ist bewusst, dass es gerade keine gute Idee wäre, ihren Fürsprecher zu verärgern.

Zum Glück löste sich der Mann schon bald wieder von ihr. „Tut mir leid“, sagt Lyon freundlich und entschuldigend, „ich spüre deutlich, dass du solchen Kontakt nicht magst. Aber ich musste einfach austesten, ob es zwischen uns funkt. Ich halte nichts davon, solche Dinge hinauszuzögern. Das macht es einfacher für alle Beteiligten.“

Sandras Mund öffnet sich in Unglauben. Was stimmt nur mit diesem Typen nicht?

„Kann schon sein“, sagt sie so diplomatisch wie sie nur kann und wechselt dann sofort das Thema, auch weil der Scyone sie noch immer ziemlich finster ansieht, „ich … man … Disruptor Yonis und Kollom Nehmer haben mich geschickt. Ich sollte Kontakt mit Astrera aufnehmen.“

„Der Anzugpupser und Professor Irrsinn?“, lacht der Scyone laut auf und tritt gegen einen der Spiegel, der daraufhin lautstark zersplittert. Einige dieser feinen Splitter schneiden in Sandras Haut. Aber sie bemüht sich, keine Miene zu verziehen, „Ich dachte, die beiden können nur flehen und betteln. Dass sie uns ein Geschenk schicken, ist doch mal ‘ne nette Abwechslung. Wozu sollst du denn dienen? Bleistifthalter? Bodenlecker? Lebender Tisch?“

„Wir wissen genau, warum sie herbeirufen wurde“, erinnert Lyon ihn, „als Kriegskoordinatorin. Sie soll in dieser Hinsicht über erstaunliche Fähigkeiten verfügen.“

„Oh, mein Fehler, Ihre Hoheit“, sagt der Scyone schlangenhaft lispelnd und geht mit einem ironischen Lächeln auf die Knie, „ich erzittere vor eurer Herrlichkeit und Erbärmlichkeit.“

„Benötigt ihr meine Fähigkeiten nun oder nicht?“, fragt Sandra, die es nicht länger erträgt, wie diese Gestalten auf ihrem Stolz herumtrampeln.

„Ich glaube nicht, dass wir deine Fähigkeiten benötigen“, sagt Lyon zu Sandras Überraschung, „aber der chromatische Rat hat mit Mehrheit entschieden sie zu nutzen und ich respektiere sein Urteil. Doch selbst wenn es anders wäre – ich halte etwas von Gastfreundschaft und zumindest solltest du Gelegenheit bekommen dich hier etwas auszuruhen und einen Happen zu essen. Das rihnnische Gebirge zu durchqueren, kann kräftezehrend sein.“

„Danke“, sagt Sandra erleichtert und ist froh, dass dieser seltsame Empfang nun eine angenehmere Richtung einschlägt.

„Folge mir“, sagt Lyon und schwang seinen langen Umhang in einem einladenden Bogen.

„Das wird sie nicht“, sagt Norvur plötzlich und beschwört aus seinen Fingern eine Phalanx Eisenschilf herauf, die Lyons Kopf postwendend wie ein ganzer Messerblock durchfährt und in einer Fontäne aus Hirnmasse, Blut und Knochensplittern explodieren lässt, während die Überreste seines Kopfes an einen der vielen Spiegel genagelt werden.

„Ich scheiße auf Gastfreundschaft“, sagt Norvur so als hätte er diesen Standpunkt nicht gerade schon ausreichend demonstriert und kommt direkt auf Sandra zu, „um ehrlich zu sein, scheiße ich auch auf Freundschaft! Ganz besonders mit Diktatorinnen.“

Sandra starrt den Scyonen wie hypnotisiert an. Sie weiß, dass ihre Chancen, gegen ihn zu bestehen, echt miserabel sind. Sie ist unbewaffnet und mit Tritten und Faustschlägen kann sie dem Sumpfhexer nicht beikommen. Ohnehin kann es nur einen Grund geben, warum er ihren Kopf bislang noch nicht an einen Spiegel getackert hat: Er spielt mit ihr.

Hektisch dreht Sandra sich um, in der Hoffnung jenes Portal zu entdecken, durch das sie eingetreten ist. Lieber würde sie es mit der Aventuringeweihten aufnehmen, als mit diesem sadistischen Monster in einem Raum zu sein. Doch sie findet nichts, was auf einen Ausgang hindeutet. Hinter ihr ist nichts als ein weiterer glatter Spiegel und als sie sich panisch mit dem Rücken gegen seine Oberfläche drückt, geschieht rein gar nichts.

„Ist das ein taktischer Rückzug, Kommandantin?“, fragt Norvur höhnisch, „dann muss ich dir leider verkünden, dass der Rückweg versperrt ist.“

Der Scyone schwebt näher, kommt ganz dicht an sie heran und Sandra versucht, sich auf ihre Kontrollkräfte zu konzentrieren. Tatsächlich zögert Norvur. Für einen kurzen, zerbrechlichen Augenblick hält er in seinem Vordringen inne und Sandra durchzuckt ein Gefühl von Erleichterung und Macht. Dann jedoch überwindet ihr Gegner den unsichtbaren Widerstand wie eine Straßenbarrikade aus Zuckerguss und kommt so dicht an sie heran, dass sie seinen nach Schlamm riechenden, sphärischen Atem wie Gift in ihren Lungen spürt.

„Du wirst hier sterben, Tyrannin“, sagt der Scyone und Sandra erzittert wie das Kind, das sie einst gewesen ist. Sie erinnert sich, sehnt sich nach dem Gefühl geschützt, geliebt und umsorgt zu werden. Von Eltern, Verwandten, Freunden, die alle nicht mehr da sind. Gestorben, Vergessen, verlassen oder verstoßen. Doch zumindest äußerlich bleibt sie gefasst. Ihr Stolz verhindert, dass sie sich dem Sumpfhexer als das wimmernde Mädchen präsentiert, welches sie in diesem Moment ist.

Sie fragt sich, wie es passieren wird? Welches Ende er ihrer Geschichte verpassen wird? Dorwenng-Fliegen? Eine Ladung Schlamm in die Lungenflügel? Das grau-schillernde, neblige Gesicht des Scyonen verspricht ihr all diese fatalen Zukünfte und noch weitere im Lichte seiner grausamen Augen. Doch dann … ist er fort.

Das Monster ist verschwunden als hätte es nie existiert und sie ist allein. Allein mit tausend ihrer eigenen Reflexionen, die sie jetzt erst richtig wahrnimmt, so als hätte der Sumpfhexer bislang verhindert, dass sich ihre Anwesenheit im Astrera-Hauptquartier niederschlägt. Was ist da gerade passiert? War er selbst nur eine Reflexion gewesen? Eine Art Prüfung für Neuankömmlinge? Und hat sie sie trotz ihrer Machtlosigkeit bestanden? Der leblose, zerfetzte Körper von Lyon zumindest, spricht gegen diese Theorie. Nein, denkt sie. Das Ungeheuer muss sich zurückgezogen haben. Entweder, weil es sich um dringendere Angelegenheiten kümmern muss oder weil es sie noch etwas länger und subtiler quälen will. Sandra wird es wohl oder übel herausfinden müssen.

Noch einmal überprüft sie den Eingang, presst sich gegen den dortigen Spiegel und sucht nach irgendwelchen Hinweisen auf einen verborgenen Mechanismus. Und mit jeder Sekunde ihrer vergeblichen Suche wächst ihr Ärger über sich selbst. Sie hätte nicht hierherkommen müssen. Sie hätte den Anweisungen von Yonis nicht Folge leisten müssen. Sie ist frei, hat einen Katalog und ihre Macht wächst mit jedem Tag, den sie existiert. Sie hätte sich eigentlich nur einen Ort zum Untertauchen suchen müssen. Irgendeine Welt, die lebensfreundlich genug war, um ihren Schrecken eine Zeitlang entgehen zu können. Und mit etwas Glück – sobald Yonis sie aufgespürt hätte – wäre sie stark genug geworden, um selbst über ihn zu gebieten. Doch stattdessen ist sie den Anweisungen des Disruptors gefolgt wie eine treue Hündin. Aus Angst. Aus Gewohnheit. Aus Dummheit. Vor allem aber aus Neugier.

Aber es ist noch nicht zu spät. Sie kann immer noch ihr eigenes Schicksal wählen. Lächelnd stellt Sandra ihren Rucksack auf den Boden, holt ihren Katalog heraus und blättert sich verträumt durch die Seiten. „Fick dich, Novrur!“, sagt sie laut, wobei sie zugleich immer darauf gefasst ist, dass der Scyone ihr Verhalten beobachtet. Doch alles, was sie braucht, ist ein einziger Blick auf die nächste schwarze Seite und der Pisser kann sie mal.

Endlich erreicht sie ihr Ziel. Das Wort steht dort, als Rettungsanker aus Buchstaben: „Luth Nomor“. Die Welt aus der Zuh gekommen ist. Was sie dort wohl erwarten wird? Noch bevor sie diesen Gedanken ganz zu Ende gedacht hat, löst sich das Hauptquartier von Astrera um sie herum auf.

~o~

Es ist jedoch nicht die Welt des endlosen Todes, in der sie wieder erwacht. Um sie herum befindet sich noch immer der Eingangsbereich zum Hauptquartier von Astrera. Jedoch sieht sie diesen Ort nun aus einer anderen Perspektive. Und auf eine andere Art.

Ihre Sicht ist verschwommen. Irgendwie vernebelt, und als sie sich mit der Hand übers Gesicht wischen will, um ihre Sicht zu klären, gelingt es ihr nicht. Ja, nicht nur das. Sie kann sich vielmehr überhaupt nicht bewegen. Das allein ist schon erschreckend genug. Was jedoch noch seltsamer ist, ist, dass sie wie festgefroren in der Luft hängt. Sie schwebt einfach ein ganzes Stück über dem Boden. Ist das Novrurs Werk? Hat er irgendeinen Paralyse-Zauber auf sie angewendet, gerade in dem Moment, als sie den Katalog eingesetzt hat? Das wäre möglich. Aber irgendwie fühlt es sich anders an.

Als sie ihre Bemühungen, sich aus ihrer Lage zu befreien, fortsetzt, begreift Sandra auch, warum. Sie kann sich nämlich sehr wohl bewegen. Jedoch ausschließlich seitlich und nach oben und unten. Und plötzlich begreift sie, was das bedeutet. Ein Spiegel. Auf irgendeine kranke Art ist sie in einem der vielen Spiegel eingeschlossen worden und klebt nun wie eine Zeichentrickfigur auf einem Fernsehbildschirm einfach in der Glasscheibe fest. Hätte ihr jemand noch vor wenigen Stunden von solch einem Konzept erzählt, hätte sie es vor allem witzig gefunden. Vielleicht auch ganz interessant. Aber jetzt, wo sie es am eigenen Leib spürt, ist es die reinste Folter.

Es ist nicht nur die Bewegungseinschränkung. Ein dreidimensionales Wesen ist nicht dazu geschaffen, auf einer niedrigeren Ebene zu existieren. Das hatte sie schon damals bei der Materieverdichtung in Kolloms Manifestor gespürt. Dort war sie sogar beinah eindimensional gewesen. Aber das hier ist auf gewisse Art noch schlimmer. Die Verdichtung war wie ein übler, aber kurzer Traum gewesen. Wie ein Tunnel, den man durchfährt und in dessen Dunkelheit man sich verlieren kann. Dieser Spiegel jedoch gibt ihr genug Freiheit, genug Wirklichkeit, ist nah genug an ihrem alten Leben, um die Begrenzung zu spüren. Nicht nur ihr Körper, sondern auch ihre Seele fühlt sich abgeflacht an. Gequetscht, wie ein Elefant, den man auf die Größe einer eine Schmuckschatulle komprimiert hat. Sie will schreien, oh wie sie schreien will, aber die Töne kommen nicht aus ihrem Mund heraus. Schall gehört ebenfalls zu einer dreidimensionalen Welt. Sandra fragt sich, ob ihre Hilferufe für einen Außenstehenden stattdessen als Sprechblase aus ihrem Mund dringen würden, zieht jedoch selbst aus diesem komischen Gedanken keine Erleichterung. Es ist, als wäre sie dazu gar nicht imstande. Als wäre ihr Hirnstoffwechsel auf jenen Moment des Schreckens eingefroren.

Wie lange würde sie hier ausharren können oder müssen? Stunden? Tage? Äonen? Hat Zeit – die vierte Dimension – hier drinnen überhaupt eine Bedeutung? Und würde sie verhungern und ersticken oder ewig so weiterexistieren? Einsam und vergessen? Bei dem Gedanken hätte sich ihr Magen zusammengekrampft, wenn ihm dies möglich gewesen wäre. Doch zum Glück bleibt ihr zumindest das Martyrium einer endlosen zweidimensionalen Existenz erspart.

Durch die Glasscheibe verfolgt sie, wie sich jemand nähert. Ein göttliches, höherdimensionales Wesen, jedenfalls aus ihrer Perspektive. Ist es ein weiteres Mitglied von Astrera oder ist es Norvrur, der sich sein Werk betrachten will? Sandra beschließt, auf ersteres zu setzen. Sie tut das einzige, was ihr einfällt und schwenkt ihre Hände winkend hin und her, in der Hoffnung, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen.

Die Gestalt tritt näher. Trotzdem fällt es ihr schwer sie zu erfassen. Ihre Konturen verschwimmen zu einem wirren Durcheinander. Sie überlagern sich. Verrutschten. Wird sie die Außenwelt bald gänzlich so wahrnehmen? Als verschwommenes, metaphysisches Enigma? Die Gestalt tut irgendwas. Führt eine rätselhafte Bewegung aus.

Dann spürt Sandra einen jähen Schmerz, der ihr ganzes Sein durchzieht und ihr stummer Schrei wird laut.

~o~

Sandra atmet hektisch ein, als sie inmitten von Spiegelscherben wieder zu echtem Bewusstsein gelangt. Sie fühlt sich wie neu erschaffen. Die Dreidimensionalität kommt einem göttlichen Segen gleich und die Endorphine rauschen so wild durch ihre wieder voll zugängliche Adern, dass sie vor Glück weint. Sie ist bereit, ihrem Retter auf Knien zu danken. Selbst wenn es Novrur höchstpersönlich gewesen wäre. Doch stattdessen erblickt sie einen freudestrahlenden Lyon.

„Danke. Vielen vielen Dank!“, platzt es erleichtert aus Sandra heraus, bevor sich ihre Erleichterung in Verwirrung wandelt, „aber … aber du … du bist doch tot.“

Lyon kichert amüsiert. „Ja, das war ich. Das ist so ein Spiel zwischen uns. Ein gefährliches Spiel. Novrur hat mich schon ein paar dutzend Mal getötet und ich ihn auch das ein oder andere Mal. Zum Glück ist dieser Ort in der Lage, Personen aus verschiedenen Zeitlinien zu rekonstruieren. Leider wird das nicht ewig funktionieren. Selbst die Zeitlinien sind nicht unendlich und wenn sie zu stark abweichen könnten die Ergebnisse der Rekonstruktion irgendwann – grotesk ausfallen. Aber was wäre das Leben ohne ein wenig Spannung.“

Er sagt das leichthin, aber man merkt ihm an, dass ihm dieses Spiel nicht so viel Freude bereitet wie seinem gewaltlüsternen Kontrahenten.

„Manchmal wäre mir etwas weniger Spannung in meinem Leben ganz lieb“, gesteht Sandra, „auf diese Spiegelerfahrung hätte ich zum Beispiel sehr gerne verzichtet. Was ist da überhaupt mit mir passiert? War das auch Novrurs Werk?“

„Nein“, sagt Lyon kopfschüttelnd, „so mächtig ist selbst er nicht. Nicht, dass er dich nicht quälen wollte. Er hatte einen wahren Folterparcours für dich geplant und wollte sich an deinem verzweifelten Überlebenskampf ergötzen, das kannst du mir glauben. Aber was dir widerfahren ist, ist deine eigene Schuld. Du hast versucht von hier zu entkommen, was ich nach der Begegnung mit Novrur durchaus verstehen kann, aber das bleibt in dieser Grotte leider nicht ohne Folgen.

Ohne die Erlaubnis eines Astrera-Mitglieds ist ein Verlassen der Spiegelgrotte nicht möglich. Auch nicht für eine Fortgeschrittene. Eigentlich hast du sogar noch Glück gehabt. Wärst du statt mit einem der Spiegel mit dem Boden verwachsen, hätte ich dich nicht retten können. Ich hätte nicht einmal gewusst, was aus dir geworden ist.“

„Anscheinend bin ich ein echtes Glückskind“, sagt Sandra sarkastisch, auch wenn sie durchaus froh ist, dass sie nicht den beschriebenen Worst-Case erwischt hat, „ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass die Spiegelwelten so schrecklich sind.“

„Oh das sind sie in der tat. Aber du warst nicht in der wahren Spiegeldimension“, meint Novrur düster, „andernfalls hätte ich dich töten müssen. Und am besten jede deiner Inkarnationen im Multiversum gleich mit.“

Die zynische Ernsthaftigkeit, mit der der ansonsten gutmütig scheinende Mann dies sagt, lässt Sandra erschauern.

„Ein bisschen viel Gerede über Tod. Selbst für meinen Geschmack“, meint Sandra, um das Thema nicht noch weiter zu vertiefen. Nicht jedes dunkle Geheimnis der Realität, über das sie stolpert, muss sie auch gleich ergründen.

„Oh, ich hoffe doch nicht“, erwidert Novrur, „wenn du uns wirklich in den Krieg führen willst, wirst du noch sehr viel über ihn reden müssen. Und ihn tausendfach herbeiführen.“

Sandra liegt eine bissige Erwiderung auf der Zunge. Sie will nicht für einen Grünschnabel gehalten werden. Immerhin hat sie in ihrer Funktion als Söldnerin und Sahkscha, aber auch in Uranor mehr als genug Tod erlebt und verteilt. Aber sie schweigt. Sie will solche Dinge nicht an diesem Ort ausdiskutieren. Nein, sie will ihn so schnell wie möglich verlassen.

„Komm“, fügt Novrur hinzu als hätte er Sandras Gedanken gelesen und reicht ihr seine zarte Hand, „wir sollten jetzt zum chromatischen Rat gehen. Falls Novrur uns lässt, heißt das.“

~o~

Glücklicherweise verläuft ihre Reise ohne weitere unangenehme Vorkommnisse und sie begegnen weder Novrur noch einer von ihm vorbereiten Falle oder irgendjemand anderem. Lyon führt Sandra vielmehr mit traumwandlerischer Sicherheit durch das Spiegellabyrinth, das schon bald einer gewöhnlichen Höhle mit Wänden aus bunt schillerndem mit Sternenmustern verziertem Kristall weicht und schließlich in einer siebeneckigen Ratshalle endet. Diese Halle jedoch sieht anders aus als sie es erwartet hat. Es gibt keinen kreisrunden oder langen Tisch, an dem die Ratsmitglieder sitzen wie Mitglieder einer streitenden Versammlung. Stattdessen besteht der chromatische Ratssaal aus einem beinah nachtschwarzen, aber schwach von winzigen, leuchtenden Sternen und regenbogenfarbenen Wirbeln erhellten Raum, in dem sechs Personen wie meditierend unter der Decke schweben. Jeder von ihnen hält sich in einem Bereich des Raumes auf, wodurch nur eine Ecke freibleibt.

Auch wenn sie die Gesichter der Schwebenden von hier unten nicht genau erkennen kann, macht Sandra unschwer Novrur unter den Ratsmitliedern aus und schlussfolgert, dass Lyon das fehlende Mitglied sein muss, auch wenn er ihr gegenüber bislang nichts Derartiges erwähnt hat.

„Das also sind die Anführer von dem Laden hier?“, fragt Sandra, „und wo sind all die anderen?“

„Die anderen sind in ihren Kreator-Kammern“, erklärt Lyon nebulös, „und nein, wir sind keine Anführer im eigentlichen Sinne. Wir treffen Entscheidungen, ja. Aber nur für einige Wochen. Danach sind andere aus unseren Reihen dran. Bei uns bestimmt das Los über die Zusammensetzung des chromatischen Rates und wir setzen auf ständige Rotation.“

„Wie fortschrittlich“, lobt Sandra diplomatisch, auch wenn sie selbst nicht viel von diesem System hält, „auch wenn ich mich frage, wie man so zu einer Entscheidung gelangen will.“

„Es ist eine Krücke“, erklärt Lyon, „ein Zugeständnis an die aktuellen Verhältnisse. Das Endziel ist uneingeschränkte Freiheit für jedes Lebewesen.“

„Auch das ist kein erstrebenswerter Zustand“, bemerkt Sandra, „in Deovan habe ich das Ergebnis eines solchen Konzepts gesehen.“

„Das hat rein gar nichts damit zu tun“, platzt es beinah beleidigt aus Lyon heraus, „in Deovan herrscht keine Freiheit. Dort gehört die Macht einigen wenigen, die sich alle Ressourcen gesichert haben. Alle anderen sind faktisch ihre Sklaven, auch wenn sie formell frei sind. Bei uns aber geht es um verwirklichte Freiheit. Denn nur, wenn alle alles haben und alles tun können – jenseits kleingeistiger physikalischer Gesetze und mit unendlichen Ressourcen – sind wir alle gleich und frei.“

Wenn Sandra an Novrur denkt, kann sie sich kaum vorstellen, dass er diese blumige Philosophie mit Lyon teilt, aber Sandra hält es nicht für klug, das ihm gegenüber zu äußern.

„Wie soll ich zu ihnen sprechen?“, fragt Sandra und zeigt auf die schwebenden Ratsmitglieder, „soll ich einfach nach oben schreien?“

„Nein“, sagt Lyon schmunzelnd, „das hätte auch gar keinen Sinn. Diese Leute lassen sich oft schon nicht von dem überzeugen, was man ihnen direkt ins Ohr brüllt. Aus dieser Entfernung hättest du erst recht keine Chancen. Besser ist, du kommst einfach mit mir nach oben“.

Lyon ergreift Sandras Hand. Erst will sie sie zurückziehen – auch weil sie seine körperliche Aufdringlichkeit ziemlich nervt – aber letztlich lässt sie es doch geschehen. Immerhin hat er diesmal wahrscheinlich einen triftigen Grund für seine Geste.

Und mit dieser Vermutung soll sie recht behalten. Kaum, da der Bravianer sie berührt hat, geht ein Kribbeln durch ihre Hand und ein buntes Muster aus Sternen erschien auf ihrem Arm, das dem Logo von Astrera sehr ähnelt. Kaum da dieses Muster vollendet ist, lässt Lyon ihre Hand los und sie beide schweben wie von selbst durch den brütenden Sternenschatten zur Versammlung empor. Sandra fühlt sich leicht wie ein gasgefüllter Ballon und ärgerlicherweise genauso machtlos. Probeweise versucht sie hinabzusinken, was ihr jedoch nicht gelingen will. Wie an einer Schnur gezogen gleitet sie unweigerlich nach oben und kommt inmitten der Ratsmitglieder zum „Stehen“, während Lyon seinen angestammten Platz in der siebten Ecke einnimmt. Alle Augen sind nun auf sie gerichtet.

Wie auf dem Präsentierteller, denkt sie und versucht sich schnell ein Bild von den Personen zu verschaffen, mit denen sie es zu tun hat. Als Erstes fällt ihr dabei natürlich Novrur ins Auge, der sie böse aus der gegenüberliegenden Ecke von Lyon heraus angrinst. Daneben erblickt sie einen bärtigen, älteren Rihn-Ha mit forschenden Augen, dessen Platz rechts von Lyon liegt. Zu Lyons anderer Seite schwebt zu Sandras großer Überraschung eine junge, drahtig gebaute Jyllen, die unter ihrem bunten, seidigen Gewand deutlich sichtbar einen schwer gepanzerten Kampfanzug trägt.

Sandra Überraschung verwandelt sich in Entsetzen, als sie sich daran erinnerte, dass sie die oberste Schlächterin jenes Volkes ist. Sofort schickt sie ein atheistisches Stoßgebet in den Äther, dass diese Frau ihr Gesicht nicht würde zuordnen können.

Zumindest lässt sich am Gesichtsausdruck der Jyllen kein Zorn und kein Erkennen ablesen. Das erleichtere Sandra umso mehr, da die Kriegerin eine der berüchtigten Säurewaffen in ihrer rechten Hand trägt. In der gegenüberliegenden Ecke, nahe Novrur machen ein weibliches Tronhiire-Geschwisterpaar mit breiten Lippen und leuchtend grünen Augen und ein klobiger Laarmaschk, der den Körper eines Menschen-Mannes wie einen schlecht sitzenden Anzug trägt, durch den überall dicker Schlamm quillt, die Repräsentation des dunklen Dorns perfekt.

Diese finsteren Erscheinungen sind jedoch geradezu gewöhnlich verglichen mit dem siebten „Ratsmitglied“, welches Sandra zu Gesicht bekommt. Es ist nicht humanoid, sondern eine Zusammenballung verklebter, faustgroßer, fast durchscheinender weißer Riesenzellen, die wie ein Ball aus im Tode verkrümmten Spinnen zusammenhängen. Irgendwo in der Mitte dieses Konstrukts liegt ein gallertartiges, pechschwarzes, blind scheinendes Auge und ein rudimentärer Mund mit Zähnen, die eher an die Geißeln einer Amöbe erinnern.

Eine absurdere Versammlung von Freaks hatte Sandra höchstens beim letzten gemeinsamen Weihnachtsessen ihrer Familie gesehen.

Und all diese Kreaturen starren sie mit abschätzigen und mal mehr und mal weniger skeptischen Blicken an. Schon wieder fühlte es sich so an, als würde sich das Leben einen Spaß daraus machen, sie zu demütigen. Ach fuck it, denkt sie, das hier sind auch nur irgendwelche Pisser aus Wasser und Kohlenstoff, oder?

„Hey, Leute“, entscheidet sich Sandra frei heraus zu sprechen, schon allein, da sie die Stimmung viel zu sehr an eine von diesen Prüfungssituationen erinnerte, die sie immer schon gehasst hat, „ich bin hier für den Job als eure Anführerin. Tut mir leid, dass ihr so lange gewartet habt. Aber jetzt kann hier endlich Zucht und Ordnung einkehren.“

Sandra hält ihre Karte hoch und lächelte gewinnend.

Aus dem Augenwinkel verfolgt sie die Reaktionen der Anwesenden und kann den Hass des Scyonen und des Laarmaschk geradezu körperlich spüren. Auch Lyon sieht nicht eben erfreut aus. Die Jyllen hingegen prustet vor Lachen.

„Grandios“, sagt sie, „genau diese Art von Mut hatte ich mir von einer Sahkscha der Rorak erhofft.“

Nun weicht alle Farbe aus Sandras Gesicht. Doch sie bewahrt Haltung, wissend, dass es für eine Flucht jetzt ohnehin zu spät ist.

„Deshalb habe ich mich auch sehr dafür eingesetzt, dass du die Rolle als Kriegskoordinatorin übernimmst“, legt die Jyllen mit einer Ernsthaftigkeit nach, die Sandra daran zweifeln lässt, dass es sich bei ihren anfänglichen Worten um eine verkappte Drohung gehandelt hat.

„Du warst das?“, fragt Sandra überrumpelt, „ich gebe zu, dass ich das nicht vermutet hätte.“

„Nicht ich allein“, sagt die Jyllen, „aber ich war sicher die lauteste Stimme, ja. Verstehen wir uns nicht falsch. Ich hasse dich dafür, dass du meine Leute ausgelöscht und versklavt hast. Aber ich weiß, das du fähig bist eine Armee anzuführen. Und darauf kommt es an. Die Freiheit vom Joch Pendulas und von den Grenzen unseres Daseins ist wichtiger als persönliche Rache.“

„Wohl gesprochen“, bemerkt der Laarmaschk gluckernd, „doch ich verstehe nach wie vor nicht, warum wir diese Menschenfrau dafür benötigen. Wir sind nicht schwach!“

„Nein“, pflichtet Novrur bei, „wir sind stark. Und stolz. Zu stolz, um uns von einer abgehalfterten Diktatorin führen zu lassen. Wir müssen einfach nur aggressiver werden. Rücksichtsloser. Ich will nicht herumlavieren, kriechen und dienen müssen. Ich will den Kosmos zu unserem Spielplatz machen. Ich will auf Gräbern tanzen und in Blut baden. ICH WILL LEBEN!!“

Novrurs Wutausbruch hallt unheilvoll durch den Raum. Lyon senkt betreten den Blick und selbst Sandra erschauert vor der ungezügelten Wut des Scyonen. Nicht zuletzt, weil sie mit einem Mal das Gefühl hat, dass es unangenehm nach Sumpf riecht und sich das leise Summen von Dorwenng-Fliegen in ihren Ohren ausbreitet.

„Wir sind schwach genug, um uns vor Pendula und vor der Welt verstecken zu müssen“, sagt der Rihn-Ha mit ruhiger, sonorer Stimme, die diese Halluzinationen – oder Warnungen – augenblicklich verscheucht, „und Stolz allein ist keine kriegsentscheidende Waffe. Unsere Krieger und Kriegerinnen sind kampfstark, aber unkoordiniert, wie unsere grandios gescheiterten Überfälle auf das Efryum zeigen. Und auch politisch machen wir keine gute Figur. Wir haben – so könnte man sagen – ein massives PR-Problem. Pendula hat großen Einfluss auf die Archive – ungeachtet aller vordergründigen Neutralität – während wir dort Hausverbot haben. Und für das gemeine Volk sind wir regelrechte Schreckgespenster. Sie fürchten die Freiheit mehr als die Sklaverei. Wir brauchen dringend einen besseren Ruf. Und eine bessere Strategie.“

„Genau deshalb ist die Einsetzung einer Kriegskoordinatorin der falsche Weg“, wirft Lyon ein, „wer kann den Leuten schon übelnehmen, dass sie uns fürchten und verachten, wenn man Reden wie die von Novrur vernimmt? Ich will das Multiversum nicht in ein Schlachthaus verwandeln, sondern in ein Paradies. Genau deshalb bin ich hier. Wir wollen nicht Leid und Angst mehren, sondern Schöpferkraft und Abenteuer. Und genau das müssen wir die Leute wissen lassen.“

„Wir brauchen weder den Beifall der Engstirnigen und der Feiglinge, noch brauchen wir sinnloses Gemetzel“, bemerkten die beiden Tronhiire mit schrillen Stimmen, „in unseren Kreator-Kammern weichen wir beständig die Grenzen des Machbaren auf. Wir schwächen die Schranken der Zeitpfade, höhlen die Geflechte aus, nagen an den Knochen der Materie. Das ist es, was uns letztlich zum Ziel führen wird.“

„Nichts für ungut, Verbindung Dronhiira“, sagt Girvinee, „aber das erzählt ihr uns schon seit Jahrzehnten, ohne dass sich groß etwas verändert hätte. Fortgeschrittene wie die Sahkscha und selbst die Deovani und Planetenkrebse haben mehr zur Zerstörung des Geflechts beigetragen als ihr. Ihr nutzt die Kreator-Kammern zu eurem Vergnügen und für spontane Einfälle, nicht, um das Geflecht systematisch zu zersetzten. Das ist höchstens ein Nebenprodukt eurer Freizeitgestaltung. Jeder, der nicht blind ist, sieht das.“

Die Augen der Tronhiire füllen sich mit Zorn und womöglich hätten sie sich einfach auf Girvinee gestürzt, wenn sie nicht plötzlich eine Druckwelle erfasst und an die Wand gedrückt hätte.

„Sogar die Blinden sehen das“, brummt es aus dem spinnenhaften Zellhaufen hervor, „ich verabscheue die Ordnung mehr als jeder von uns. Aber selbst ich erkenne, dass wir uns ihrer bedienen müssen, um an unser Ziel zu gelangen. Wir haben abgestimmt und unsere Entscheidung ist damit gefallen – allem eitlen Geplänkel zum Trotz – nun frage ich die Sahkscha: wird sie sich unserem Kampf anschließen? Und welche Pläne hat sie, die uns zum Sieg führen können?“

Sandra kann nicht verleugnen, dass die Last dieser an sie herangetragenen Verantwortung genauso groß ist, wie die Spannungen innerhalb dieses Rates. Und die Tatsache, dass sie aus dem Stegreif überhaupt nicht die leiseste Ahnung hat, wie sie diesen zerstrittenen Haufen zum Triumph führen soll, sorgt bei ihr für gehörigen Schwindel. Aber ihr Ego, ihre Eitelkeit, ihr Wunsch nach Macht lassen sie all das vergessen. Seit ihrer Absetzung als Sahkscha, nein, sogar seit sie das erste Mal von einem anderen Menschen gedemütigt und vernachlässigt worden war, hat sie sich genau eine solche Position gewünscht.

„Ich nehme an“, sagt Sandra, „und ich habe viele Ideen. Aber damit Strategien daraus werden können, brauche ich mehr Informationen. Über eure Organisation, über unseren Gegner und über die Machtverhältnisse von Rihn im Allgemeinen. Kann mir jemand hier aushelfen?“

Novrur, die Tronhiire und der Laarmaschk ziehen beim Eingeständnis dieser „Schwäche“ verächtliche Gesichter. Aber die meisten Ratsmitglieder scheinen Sandras Offenheit wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen.

„Lasst uns allein und gebt euch wieder euren Vergnügungen hin“, sagt Runno schließlich, „ich werde unsere Kriegskoordinatorin briefen. In vier Stunden sehen wir uns wieder. Zur Vollversammlung. Dann wird sie uns ihre Ideen mitteilen und wir entscheiden, ob wir damit zufrieden sind.“

~o~

„Mach es dir bequem“, sagt Runno zu Sandra und machte eine schnelle Handbewegung, woraufhin sich eine Art flacher Sessel unter Sandra materialisierte, der zwar ebenfalls im freien Raum schwebt, jedoch deutlich bequemer erscheint als die leere Luft.

Sandra lässt sich darauf nieder und mit einer weiteren Geste erzeugt Runno eine Art Bildschirm aus geschliffenem Kristall. „Ich entschuldige mich für diese rückständige Technologie“, sagt Runno, „hätte ich Zugriff auf die Möglichkeiten der Archive, hätte ich dir die illustrierenden Bilder direkt in dein Bewusstsein projizieren können.“

„Kein Problem“, sagt Sandra, „ich will ohnehin informiert werden. Nicht unterhalten.“

Runno nimmt diese Aussage mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis.

„Gut, dann kommen wir direkt zur Sache“, sagt Runno, „ich will dich vor allem über zwei Bereiche aufklären: die militärische und die politische Situation von Astrera. Beginnen wir mit der militärischen Lage. Die gute Nachricht: wir sind unserem Feind zahlenmäßig überlegen. Es ist zwar schwer zu beziffern, aber nach unseren letzten Schätzungen verfügen wir in der aktuellen Zeitlinie etwa über sechzig Millionen Kämpfer, während Pendula, unsere Kontrahenten, es gerade einmal auf zehn Millionen Kombatanten bringen.“

Auf dem Kristall erscheinen zwei ungleiche Balkendiagramme, die aus stilisierten Kämpfern zusammengesetzt sind.

„Das ist nicht viel“, stellt Sandra fest, „zumindest nach kosmischen Maßstäben gerechnet. Selbst das Rorak-Militär war zahlenmäßig besser aufgestellt als beide Organisationen zusammen.“

„Das ist wahr, auch wenn sowohl Pendula als auch wir Leute in ihren Reihen haben, die mehrere Regimenter Rorak-Krieger allein aufreiben könnten. Zahlen sind also nicht alles. Aber dennoch hast du natürlich recht. Wir sind nicht viele. Aber das hat seine Gründe. Nicht jeder ist zum Kämpfer geboren und die meisten sind mit dem Status Quo zufrieden oder zumindest nicht so unzufrieden, dass sie dagegen vorgehen würden“, entgegnet Runno, „wir sind Extremisten. Genau wie Pendula. Da mache zumindest ich mir keine Illusionen. Aber das muss nichts Schlechtes sein. Nicht, wenn der Ist-Zustand ein Gefängnis ist. Das Bestehende ist nicht einfach nur deswegen gut, weil es gerade da ist. Es ist nur bequem. Doch das bringt uns zu den schlechten Nachrichten. Wir haben eine hohe Fluktuation. Leute treten uns bei und verlassen uns auch wieder. Und anders als Pendula akzeptieren wir das, ohne dafür Rache zu nehmen. Zudem sind viele unserer Anhänger … eher fremdartigerer Natur.“

„So wie dieser Zellhaufen?“, fragt Sandra uncharmant.

„Ich würde Vron an deiner Stelle nicht so bezeichnen, wenn dir dein Leben etwas bedeutet“, warnt Runno, „aber ja, genau solche Wesen wie ihn meine ich. Amorphe, Jenseitige, Fraktaleske, Uralte, Unverstandene. Kreaturen, die nicht nur anders aussehen, sondern auch ganz anders denken und fühlen als die meisten Völker im Multiversum, ja selbst als die Angehörigen des dunklen Dorns. Sie sind mächtig, aber extrem launisch und man kann nie sagen, ob man sie wirklich als Verbündete bezeichnen kann. Und selbst was die anderen betrifft, kann man das nicht immer. Scyonen, Laarmaschk, Tronhiire, Andrin – all diese Völker zeichnen sich nicht unbedingt durch ein Übermaß an Loyalität aus. Doch selbst auf die Bravianer oder Rihn-Ha in unseren Reihen kann man sich nicht pauschal verlassen. Wir sind alle Individuen und schätzen unsere Freiheit über alles. Und sogar Idealisten wie unser Freund Lyon können von Zeit zu Zeit etwas schwierig sein.“

„Mit anderen Worten: ihr seid ein zerstrittener Haufen, der sich nicht einmal auf die Farbe von Gras einigen kann“, schlussfolgert Sandra etwas resigniert.

„So ist es“, sagt Runno schmunzelnd, „aber das heißt nicht, dass wir unfähig sind oder nichts Zuwege bringen würden. Wir haben schon diverse Erfolge erzielt. Ohne uns könnte wahrscheinlich niemand im Multiversum noch eine Augenbraue heben, ohne dass die Maschinenseelen es genehmigt und vorausberechnet hätten. Wir haben den Zwischenraum durchlässiger gemacht und das Geflecht um mehrere Welten herum aufgeweicht. Wir unterstützen – über Mittelsmänner oder direkt – diverse Rebellengruppen gegen die eiserne Faust von Diktatoren. Insbesondere helfen wir den Ureinwohnern von Dank Qua im Kampf gegen ihre mechanischen Besatzer. Aber es gibt auch Anschläge und Guerilla-Kriege in anderen Welten, die wir unterstützen. Sogar hier in Rihn gibt es zuweilen derartige Aktivitäten. Außerdem führen wir gelegentlich Angriffe auf Neuratia, den Hauptstützpunkt von Pendula. Und natürlich auf das Efryum.“

„Was ist das Efryum?“, will Sandra wissen.

Runno projiziert das verwackelte Bild einer pyramidenartigen Struktur auf den Kristall, welches Sandras Kopf allein bei der bloßen Betrachtung zum Schwindeln bringt.

„Es ist der Dreh- und Angelpunkt aller Welten. Der Knoten, der alles fesselt und zusammenhält“, sagt Runno, wobei sich sein Gesicht merklich verdüstert, „und leider ein verdammt harter Brocken, weswegen wir uns meist lieber anderen Schlachtfeldern widmen.“

„Ich verstehe“, kommentiert Sandra nachdenklich, „du denkst sehr strukturiert für einen Anhänger des Chaos. Was fasziniert dich daran überhaupt?“

„Die endlosen Möglichkeiten“, gesteht Runno geradeheraus, „nichts ist wissenschaftlich ertragreicher, als mit einem strukturierten Geist aus dem reinen Potenzial aller Dinge zu schöpfen. Ohne jede Grenze sei sie physikalischer oder ethischer Natur. So etwas würde mir das Multiversum in seiner jetzigen Form niemals ermöglichen. Und das langweilige, tote, graue Uhrwerkuniversum, welches Pendula anstrebt, schon gar nicht. Doch damit wir nie einen derart deprimierenden Zustand erreichen und da der Rat deine Strategie so schnell wie möglich erwartet, sollten wir uns dem zweiten Teil meines kleinen Vortrags widmen. Der Politik.“

„Die habe ich immer verabscheut“, bemerkt Sandra, „zumindest so lange, bis ich sie selbst gemacht habe.“

„Oh ich bin mir sicher, deine Untergebenen haben deine Politik auch verabscheut“, sagt Runno lachend, „wenn auch bestimmt nicht so sehr wie deine Feinde. Aber nicht überall ist die politische Lage so vergleichsweise übersichtlich wie in Konor. Nehmen wir Rihn.“

Ein Diagramm mit verschiedenen Institutionen und Pfeilen, wie Sandra es aus ihren wachen Momenten im Politikunterricht kennt, erscheint auf dem Kristallbildschirm.

„Hier in Rihn haben wir gleich mehrere relevante Machtfaktoren. Die Welthüter bestimmen über die Geschicke und die Verwaltung der Archive. In der Theorie ist ihre Macht innerhalb ihrer Mauern absolut. Doch auch wenn die Archive eine Art eigenständige Enklave mit Sonderrechten sind, gehören sie zu Rihn und unterliegen der Verwaltung des Planeten. Diese wiederum setzt sich aus zwei Kammern zusammen. Dem Rat der Wissenden, dem neben Welthütern und Archivangestellten auch freischaffende Forscher und Gelehrte angehören, sowie dem Rat der Unwissenden, der aus Bergarbeitern, Handwerkern, Farmern, Technikern und anderen Angehörigen der einfachen Bevölkerung besteht.

Beide Kammern sind gleichberechtigt und für wichtige Entscheidungen muss in ihnen beiden eine Mehrheit gefunden werden. Das ist einer der Gründe, warum sich in Rihn vieles nicht so schnell bewegt. Aber es verhindert auch, dass Fortschritte gänzlich unterdrückt werden. Diese beiden Kammern jedenfalls machen den Archiven viele Vorschriften bei allem, was potenziell das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung gefährden könnte, aber auch darüber hinaus. Um das Ganze noch komplizierter zu machen, gibt es noch die Minenbetreiber, von denen viele ausländische Pächter und Unternehmen sind, die ihre eigenen Regeln etabliert haben und die selbst mit den Archiven bestimmte Exklusivverträge über die Nutzung von bestimmtem Wissen vereinbart haben. Alles in allem eine ziemlich unappetitliche Konstellation. Doch auch ungemein wichtig für Astrera. Weißt du vielleicht, warum?“

„Das liegt doch auf der Hand“, findet Sandra, „wer das Wissen kontrolliert, kontrolliert am Ende auch das Schlachtfeld.“

„Das ist vollkommen richtig“, lobt Runno, „aber es ist noch mehr als nur das. Die Archive sind nicht nur eine Bibliothek. Sie sind im Grunde eine Masseninformationsbombe. Sie bergen das Potenzial, die Zeit zu formen, die Wirklichkeit umzustoßen und den Geist zu befreien. Aktuell ist der Zugang zu ihnen sehr limitiert. Überall gibt es Zugangsbeschränkungen, Sicherheitsleinen, vordefinierte Kanäle, die die Besucher einschränken und gängeln und die meisten von ihren begehrten Erkenntnissen fernhalten. Dies geschieht sowohl aus profitorientierten als auch aus fehlgeleiteten „ethischen“ Gründen.

Doch wenn jeder Bewohner des Multiversums dieses Wissen besäße – ständig und zu jeder Zeit – würde sich alles verändern. Das Morgen würde zum Moment, die Erinnerung zur Aktualität und die Grenzen zwischen Potenzial und Erfahrung würden vollkommen verschwimmen. Jeder würde seine Möglichkeiten kennen und sie voll ausleben können. Die Welt, das Leben, wie wir es kennen, würde einstürzen und aus der Asche würde sich ein Paradies des Wissens erheben. Ich glaube, nein, ich bin überzeugt, dass kaum etwas uns unseren Zielen näher bringen würde als die Befreiung der Archive. Doch leider ist unser Einfluss auf sie – sei er nun direkt oder indirekt – praktisch nicht existent. Selbst im Rat der Unwissenden haben wir nur ein paar Sympathisanten und im Rat der Wissenden haben wir niemanden. Jedenfalls nicht mehr, seit wir von dort verbannt wurden.“

„Das klingt deprimierend. Aber auch interessant“, gibt Sandra zu und bemerkt schon, wie sich in ihrem Hinterkopf erste Ansätze von Plänen formen, denen sie vorerst aber noch keine Beachtung schenkt, „und wie sieht es jenseits von Rihn aus? Girvinee hatte vorhin die Planetenkrebse erwähnt. Was zum Teufel ist das?“

„Überdimensionierte Parasiten, wenn man so will“, sagt Runno verächtlich, „von zweifelhafter Loyalität, auch wenn sie – oder zumindest die von ihnen ferngesteuerten Diplomaten – beiden Seiten gelegentlich eine Zusammenarbeit anbieten. Sie befallen Welten, ernähren sich von deren Potenzial und vom Lebenswillen ihrer Einwohner und lassen zerstörte, dysfunktionale Gesellschaften zurück, während sie ihre Wirtsplaneten und deren Geflecht langsam verzehren.“

„Letzteres ist doch genau das, was wir wollen, oder nicht?“, fragt Sandra.

„In gewisser Weise schon“, sagt Runno, „jedenfalls was das Geflecht angeht. Doch leider verzehren sie es nicht vollständig und viele von ihnen verfügen sogar über die Fähigkeit es zu stützen. Ein Planet und dessen Einwohner, die unter den Einfluss eines Planetenkrebses geraten, hängen weiter an den Ketten der Naturgesetze, nur dass das Gefängnis noch viel unerträglicher und trister wird als je zuvor.“

„Dennoch könnten sie nützlich sein“, überlegt Sandra.

„Ja“, pflichtet Runno ihr bei, „manchmal gewiss. Doch meistens nützen sie eher sich selbst.“

„Gibt es sonst noch wichtige Machtfaktoren, von denen ich wissen sollte?“, fragt Sandra.

„Tja, da gibt es natürlich eine Reihe von Regierungen, Wirtschaftskonglomeraten und religiösen Sekten, auch wenn letztere seit dem Fall Uranors zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um wirklich eine Rolle zu spielen“, überlegt Runno laut, bevor er zu grinsen anfängt, „doch einen interessanten Machtfaktor gibt es noch. Einen, mit dem du sehr gut vertraut bist.“

„Die Fortgeschrittenen“, errät Sandra seinen Gedanken.

„So ist es“, sagt Runno.

„Was weißt du über uns?“, fragt Sandra aufgeregt, „wo kommen wir her? Wer zum Teufel steckt hinter Endless Horizons und dem Katalog und was ist das verdammte Ziel von all dem?“

„Auch ich weiß nicht über alles Bescheid“, sagt Runno, „und was Endless Horizons betrifft, so arbeiten wir zwar zusammen, aber sie halten sich auch uns gegenüber recht bedeckt, was ihre konkreten Ziele und Motive angeht. Was ich dir aber sagen kann, ist Folgendes. Fortgeschrittene sind Agenten der Veränderung. Ihr ganzes Streben ist darauf ausgerichtet Neues zu entdecken und auf jeder Straße, die sie betreten, hinterlassen sie kreative Zerstörung. Das wirst auch du schon bemerkt haben. Auf eure Weise tragt auch ihr dazu bei, unsere Ziele zu verwirklichen. Ihr reißt Ordnungen ein, vermengt Kulturen und überwindet Grenzen. Das ist euer Wesen. Aber das ist nicht alles. Ihr seid auch ein Machtfaktor. Ihr sammelt Talente und Artefakte wie Fliegenfallen, Fliegen. Und ihr gelangt an Orte, die keiner sonst erreichen kann.“

„Ist das wirklich so?“, fragt Sandra skeptisch, auch wenn sie sich durchaus von Runnos Ausführungen geschmeichelt fühlt, „nach allem, was ich gehört und gesehen habe, sind viele Welten aus den Katalogen auch anderen Leuten zugänglich. Konor. Rihn. Hyronanin. Deovan. Dank Qua. Selbst Luth Nomor. Und die Scyonen sollen durch den Zwischenraum doch ohnehin jeden Ort erreichen können.“

„Das stimmt so nicht“, erwidert Runno, „Welten wie Hyronanin oder Luth Nomor kann man verlassen, ja. Unter bestimmten, seltenen Umständen. Aber erreichen kann man sie ohne Katalog entweder gar nicht oder nur mit erheblichem Aufwand. Und für andere Orte gilt nicht mal das. Qui Watsche zum Beispiel oder Urg und natürlich das legendäre Jin Dragag. All diese Welten sind randvoll mit Artefakten und Schätzen, die im Kampf gegen Pendula sehr nützlich sein können.“

„Für uns vielleicht. Für euch eher nicht“, bemerkt Sandra, „immerhin gibt es für uns kein Rückfahrticket, mit dem wir diese Schätze bei euch abliefern könnten, oder?“

„Normalerweise nicht, nein“, sagt Runno.

„Aber … ?“, fragt Sandra interessiert.

„Nun, diese Höhle hat ihre Vorteile“, erwidert Runno, „Lyon hat mir von deinem kleinen Malheur berichtet. Und davon, was Novrur getan hat. Du solltest also wissen, dass es uns möglich ist, Anteile aus Zeitlinien zu rekonstruieren. Zumindest in gewissem Umfang. Was immer ein Fortgeschrittener, der zu Astrera gehört, findet, kann er zu uns zurückbringen. Und sich selbst auch. Oder zumindest eine Version von sich.“

„Betrifft das nur Wissen oder auch physische Objekte?“, versichert sich Sandra.

„Praktischerweise auch das“, sagt Runno, „wobei die wirklich mächtigen Artefakte nur einmal im Multiversum existieren können.“

Sandra dachte nach, „mal angenommen, ich würde solch ein Artefakt finden und ihr holt es zurück …“

„… würde die dortige Sandra mit leeren Händen dastehen“, beantwortet Runno ihre unvollendete Frage.

„Das klingt nach einem ziemlich miesen Deal“, sagt Sandra, „ich behalte Dinge lieber, als sie zu teilen oder gar abzugeben, wenn ich ehrlich bin. Vor allem, wenn ich dafür vorher mein Leben riskiert habe.“

„Völlig verständlich“, sagt Runno, „aber da die Zeitlinie, wo sich das Artefakt befindet, die dominante Zeitlinie ist, wird sich auch dein Bewusstseinskern dort befinden. Du wirst also nichts verlieren, was du gefunden hast und um den Ärger deines Alter-Egos musst du dich nicht scheren.“

„Klingt alles ziemlich kompliziert“, bemerkt Sandra.

Runno lacht, „Wenn du eine einfache Welt bevorzugst, solltest du dich Pendula anschließen. Aber das willst du nicht, oder?“

Sandra schüttelt den Kopf, „Nein danke. Ich hatte noch nie etwas für Spießer übrig.“

Runno nickt zufrieden.

„Habt ihr außer mir denn noch andere Fortgeschrittene an Board?“, fragt Sandra, obwohl sie die Antwort eigentlich zu kennen glaubt.

„Eine Handvoll“, sagt Runno, „ich werde sie dir bei Gelegenheit vorstellen. Ihr hättet sicher einiges miteinander zu bereden.“

„Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“, erkundigt sich Sandra.

„Das sollte fürs Erste genügen“, sagt Runno, „der Rat wird sicher bald deinen Vortrag erwarten und wenn du aus all diesem Wissen keine Strategie formen kannst, wirst du die Spiegelgrotten ohnehin verlassen müssen. Auf die ein oder andere Weise.“

Die letzten Worte betont Runno scheinbar absichtlich so, dass Sandra sie nur als Drohung verstehen kann. So viel zum liberalen Umgang mit Aussteigern, denkt Sandra. Mit einem Mal wird ihr schummrig zumute. Ein Teil von ihr ist überzeugt davon, dass sie Erfolg haben wird. Schon allein, weil sie die geborene Anführerin ist. Doch ein anderer Teil ist immer noch ein kleines, unsicheres Mädchen, mit einer riesigen Angst vor der wohl folgenschwersten Präsentation ihres Lebens.

~o~

„Und? Zurück von Runnos Nachhilfeunterricht? Wie sieht deine große Strategie aus, Tyrannin? Einfach angreifen und draufhauen? Oder jeden umbringen, der intelligent genug ist, deinen dummen Befehlen zu widersprechen?“, fragt Novrur herablassend als Sandra den Versammlungsraum nach einer kurzen Pause wieder betritt. Runno hatte sie nach seiner Unterrichtung in eine Art Ruheraum geführt, in dem er ihr etwas zu essen – einen Art kristallbestäubtes Müsli, das in irgendeinem schleimigen, aber wohlschmeckenden purpurnen Flüssigkeit schwamm – und eine digitale Kristallschreibtafel bereitgelegt hatte. Das alles hatte sie noch viel mehr an unangenehme Bewerbungsgespräche und ätzende Assessment-Center erinnert als ihr lieb war. Aber sie hatte sich von dieser Assoziation nicht davon abbringen lassen, ihre Pläne auszuarbeiten. Und Novrur würde ihr jetzt auch nicht in die Quere kommen.

Sandras Blick sind nicht auf den Scyonen und auch nicht auf die bunte aufmerksame Menge unter ihr gerichtet, die sich im Gegensatz zur ihrer Ankunft eingefunden hat und die aus einem wilden Mix von Bravianern, Scyonen, Rihn-Ha, Andrin, Deovani, Rorak und vielen weiteren Völkerschaften besteht. Stattdessen ist er fest auf Lyon geheftet, der von allen Anwesenden am freundlichsten wirkt, auch wenn er sie – wie er ja zweifelsfrei klargemacht hat – eigentlich nicht hier haben will. Sandra atmet tief durch und lässt ihren Blick schließlich doch zu dem gehässigen Scyonen wandern.

„Genau solche Sticheleien, solche Kleinkriege und die Verschwendung von Energie und Ressourcen haben bislang verhindert, dass ihr erfolgreich wart“, entgegnet Sandra auf seine Anfeindungen, „während Pendula konzentriert und methodisch zusammenarbeitet, will jeder einzelne von euch eigentlich etwas anderes zu einer anderen Zeit und auf eine andere Art. Ihr führt tausende Scharmützel gegeneinander, gegen euch selbst oder gegen den Feind, gerade wie es euch in den Sinn kommt und das aus keinem anderen Grund als dem, euren Launen Geltung zu verschaffen. Und das ist euer gutes Recht. Doch wir leben noch nicht in der großen Utopie, die ihr euch erträumt, sondern in der nüchternen Realität. Und auf diese Weise könnt ihr – können wir – diesen Konflikt niemals gewinnen.“

„Nette Standpauke“, bemerkt Girvinee und applaudiert ähnlich verhalten wie einige Individuen in der Menge unter ihnen, „und sicherlich ziemlich treffend. Aber was folgt daraus?“

„Daraus folgt, dass wir unsere Kämpfe fokussieren und uns disziplinieren müssen“, erklärt Sandra.

Ein ablehnendes Murmeln ging durch die Versammlung, aber Sandra sprach weiter, „wir werden aufhören unsere Kräfte sinnlos zu verschwenden. Das heißt: keine ermüdenden Stellvertreterkriege mehr. Keine spontanen Anschläge. Keine blinden Racheakte gegen Pendula-Anhänger. Keine Angriffe auf Neuratia und kein sinnloses Lustwandeln in den Kreator-Kammern.“

Aus dem kritischen Murmeln wird entsetzte Stille, während die Ratsmitglieder Sandra genauso fassungslos ansehen, wie die unter ihnen versammelten Astrera-Anhänger, die ihre Worte auf irgendeine Sandra unbekannte Weise vernehmen. Allein Runno lächelt zufrieden.

„Stattdessen konzentrieren wir uns auf die Wurzel von allem“, fährt Sandra rasch fort. Denn sie spürt, dass ihr die Zeit davonläuft bis man sie womöglich steinigen wird, „auf die Zerstörung des Efryrums und auf die vollkommene Beherrschung der Archive. All unsere diplomatischen und militärischen Ressourcen werden wir für diese beiden Ziele einsetzen. Solange, bis wir sie erreichen. Bis wir gewinnen!“

Die letzten Worte schmettert Sandra mit all der Autorität und Wildheit, die sie in ihrer Zeit in Konor erlernt hat.

„Willst du uns in Ketten legen?“, protestiert die Verbindung Droviina. „Bist du in Wahrheit eine Agentin von Pendula, die uns unterwandern will?“

„Nein“, sagt Sandra, „ganz im Gegenteil. Ich will von ganzem Herzen, dass ihr – dass wir – unsere Freiheit bekommen. Eine endlose Zukunft voll schrankenloser Eskapaden. Aber vorher müssen wir uns zurückhalten. Das ist alles, was ich von euch verlange. Doch Unterwanderung ist ein gutes Stichwort. Wir haben eine Menge von Gestaltwandlern in unseren Reihen.“

Sie blickt zu Korbetsch, dessen schlecht sitzendes Gesicht sie stumpfsinnig anstarrt.

„Wieso also“, fährt Sandra fort, „sollten sie nicht die Welthüter, den Rat der Wissenden und den Rat der Unwissenden unterwandern und sie in unserem Sinne lenken? Warum sollten nicht die Macht über die Archive übernehmen und grenzenloses Wissen an jeden einzelnen Einwohner des Multiversum verteilen, während der Rest von uns sich darauf konzentriert, den gewaltigsten Angriff auf das Efryum zu führen, den das Multiversum je gesehen hat.“

„Was willst du dabei tun?“, fragt Korbetsch lauernd.

„Ich erfülle sogar gleich zwei Aufgaben“, erklärt Sandra, „ich werde die Angriffe koordinieren, während eine andere Version von mir den Katalog nutzen wird, um nach allem Ausschau zu halten, was uns im Kampf gegen Pendula unterstützen kann und es hierher zu bringen.“

Während Sandra dies sagt, spürt sie den schon viel zu lange ruhenden Rausch der Ferne. So stark, dass sich ihre Nackenhaare freudig aufrichten.

„Das ist anmaßend“, widerspricht die Verbindung Droviina,“niemand von uns sollte eine solch große Bedeutung besitzen. Wir wählen uns hier gerade eine Tyrannin auf Lebenszeit. Das muss euch doch klar sein. Habt ihr die Geschichte nicht verfolgt? Genau so werden Diktaturen geboren.“

„Ich habe nicht die Absicht euch zu unterjochen“, widerspricht Sandra über das zustimmende Geschrei der anderen Astrera-Mitglieder hinweg, „deshalb möchte ich mein Amt auch nur auf Zeit ausüben. Gebt mir ein Jahr. Wenn ich versage, wählt ihr mich einfach wieder ab und versucht eine andere Strategie.“

„Ein sehr vernünftiger Vorschlag“, kommentiert Runno anerkennend.

„Das ändert nichts daran, dass dieser Plan reiner Wahnsinn ist“, beschwert sich Korbesch, „er geht gegen alles, woran wir glauben. Wir stehen für Spontanität. Für Überraschung. Für Kreativität. Nicht für Disziplin.“

Der anhaltende Aufruhr der Astrera-Mitglieder unter ihnen lässt vermuten, dass sie Korbesch in dieser Frage voll zustimmen.

„Ja, dafür stehen wir“, bestätigt Girvinee über den Trubel hinweg, „genau wie Pendula für das Gegenteil steht. Und aus diesem Grund bewegen wir uns seit Jahrhunderten in einem lähmenden Gleichgewicht, tanzen um jene grauenhaft erstarrte Balance im Zick-Zack herum, ohne mehr als winzige Ausschläge in die eine oder andere Richtung zu bewirken. Um das zu ändern, müssen wir uns verändern. Und das, meine Sterne, ist eine unserer ureigensten Eigenschaften.“

Die Worte der Jyllen hängen schwer in der Luft und bringen jeden von ihnen zum Nachdenken. Sogar Novrur verkneift sich überraschenderweise einen bissigen Kommentar. Und auch die laute, erboste Menge unter ihnen ist mit einem Mal auffallend ruhig. Ein Mob ist ein Mob. Aber manchmal zerfällt er auch in denkende Individuen.

Und in diese gedankenschwere, fruchtbare Stille hinein, setzt Runno einen kräftigen Samen. „Es ist Zeit abzustimmen“, sagt er, „Nehmen wir den Plan der Sahkscha an und geben ihr die Vollmacht in allen kriegerischen und diplomatischen Angelegenheiten von Astrera? Wer dagegen ist, hebe bitte seine Hand.“

Novrurs geisterhafte Hand schießt fast augenblicklich nach oben. Die Verbindung Droviina folgt seinem Beispiel nur Sekunden danach und auch Korbesch schließt sich dem ablehnenden Votum an, wenn auch deutlich später und etwas zögerlich. Lyons Arm jedoch bleibt überraschenderweise unten. Offenbar haben Sandras Pläne ihn umstimmen können.

„Damit ist es beschlossen“, verkündet Runno feierlich, „Sandra, von heute an, bis zu deiner Abwahl, bist du die Kriegskoordinatorin von Astrera. Mögen all deine Bestrebungen erfolgreich sein und deine Pläne reifen wie erblühende Sterne.“

Vereinzelter Jubel brandet unter ihr auf, auch wenn gut ein Drittel der Menge sich zurückhält oder sogar buht. Sandra nickt dennoch huldvoll und deutet eine demütige Verbeugung an, während die neu gewonnene Macht ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken jagte. Für ein Jahr also, denkt sie. Nun, bis dahin kann viel passieren. Vor allem, wenn man bedenkt, dass mein Delimiter noch immer nicht sein volles Potenzial entfaltet hat.

Doch während sie diesen Gedanken denkt, lächelt sie betont demütig und als Lyon spontan auf sie zu schwebt und sie in die Arme schließt, lässt sie es geschehen. Sie muss jeden Eindruck vermeiden, eine unnahbare Tyrannin zu sein. Zumindest fürs Erste.

„Danke, dass du mich am Ende doch unterstützt hast“, sagt sie warmherzig.

„Ich bin noch immer kein Freund von Führungsfiguren. Aber deine Worte klangen überzeugend“, erklärt Lyon, „wir treten schon viel zu lange auf der Stelle. Und irgendwie glaube ich, dass du nicht nur einen scharfen Verstand, sondern auch ein gutes Herz hast.“

Sandra schluckt das zynische Lachen herunter, das ihr auf den Lippen liegt. Doch zugleich schmerzen sie Lyons lobende Worte, gerade weil sie ganz unironisch ausgesprochen worden waren. Sie verletzen das Idealbild, was sie irgendwo tief in sich immer noch von sich selbst hat.

„Es ist bestimmt nicht so gut wie deines“, antwortete Sandra freundlich und – wie sie annimmt – höchstwahrscheinlich wahrheitsgemäß. Sie spricht diese Worte unbedacht. Aber zugleich bringen sie sie auf eine Idee.

~o~

„Wohin genau soll ich dich bringen, alter Freund?“, fragt Pingo mich, als wir Prongras Arbeitszimmer verlassen haben.

„In die Hochwissensabteilung“, antworte ich, mich an Pongras Worte erinnernd.

Die Augen von Pingo werden mit einem Mal riesengroß, „dann muss dein Anliegen aber von sehr großer Bedeutung sein.“

„Das ist es auch“, antworte ich knapp und überlege, ob ich Pingo in die ganze Sache einweihe. Aber der Steingeweihte hat sicher auch so schon genügend Sorgen. Auch, ohne dass ich ihm mitteile, dass das Multiversum sich gerade auf direktem Weg ins totale Chaos befindet.

„Es ist nicht dein eigenes Anliegen, oder? Du handelst sicher im Auftrag von Pendula“, schlussfolgert Pingo und ich antworte ihm nur mit einem vielsagenden Schweigen.

„Ich denke ich muss nicht extra darauf hinweisen, dass diese Machtblöcke allesamt mit Vorsicht zu genießen sind. Ich weiß natürlich, dass Pongras Pendula ebenfalls nahesteht und ich habe ihm viel zu verdanken. Aber wenn viele Leute in dieselbe Richtung rennen, übersehen sie oft, dass es eine Sackgasse ist“, warnt Pingo.

„Ich habe dich etwas naiver in Erinnerung“, erwidere ich augenzwinkernd, „aber danke für die Warnung.“

„Das war der Stein“, antwortete Pingo, „zumindest zum Teil. Ich – der Rihn-Ha, der ich bin – bin nicht naiv. Sicher bin ich kein Zyniker im Herzen. Aber ich habe zu viel gesehen und durchlebt, um an Luftschlösser zu glauben.“

„Aber du glaubst an die Liebe?“, frage ich aus dem tiefen Bedürfnis heraus Pingo wieder auf etwas positivere Gedanken zu bringen.

„Das tue ich“, erwidert er grinsend, „Jarma ist unglaublich. Sie setzt sich mehr für mich ein als es je jemand getan hat und ihre Neugier und Disziplin werden nur noch von ihrer Selbstlosigkeit übertroffen. Sie spricht noch von Shakta. Gelegentlich. Aber dafür liebe ich sie nur umso mehr. Andere sind ihr zu wichtig, um sie einfach zu vergessen. Aber sie hat ihre Obsession überwunden und sie schaut in die Zukunft. Schwer zu glauben, dass sie viele von uns beinah getötet hätte.“

„Wir machen alle Fehler“, sage ich, „gerade ich kenne mich damit bestens aus. Aber ich bin sehr froh, dass du glücklich bist. Trotz … der Umstände.“

„Keine Sorge“, antwortet Pingo, „dem Tod habe ich vorher schon ins Auge gesehen. Nun habe ich wenigstens etwas Hoffnung. Aber wie geht es dir, Adrian? Bist du glücklich?“

„Nein“, sage ich ehrlich, „auch wenn es schon mal schlimmer war. Aber Glück habe ich wahrscheinlich auch nicht verdient, nach all der Scheiße, die ich bereits abgezogen habe.“

„Ich lasse nicht zu, dass du so einen himmelschreienden Blödsinn an einem solch intellektuellen Ort von dir gibst“, tadelt mich Pingo streng, „du solltest dich nicht selbst bestrafen. Das überlasse lieber anderen. Außerdem habe ich einen glücklichen Freund verdient. Also arbeite daran, verdammt!“

„Versprochen“, sage ich lachend, unfähig Pingos Charme zu widerstehen, „wie könnte ich dem Bezwinger des Allspiegels auch widersprechen. Ach, ich bin froh, dass du bei mir bist, Pingo!“

„Das kannst du auch sein“, antwortet der Steingeweihte plötzlich sehr ernst, als wir uns einer großen Tür nähern, in die das Symbol eines großen Buches am Ende einer langen Treppe mit leuchtend weißen Kristallen appliziert worden ist, „die Hochwissensabteilung ist ein gefährlicher Ort. Nirgendwo schleppen sie mehr Wahnsinnige heraus, geht es hier doch um existenzielle Wahrheiten und ungemein komplexe Zusammenhänge. Ich weiß natürlich nicht, welche Frage dich hierherführt und ich schätze, dass du es mir nicht sagen kannst oder willst. Aber ich kann dir nur empfehlen, deinen Kontakt mit den „Erzählern“ möglichst kurz und fokussiert zu halten. Ansonsten kann es leicht passieren, dass dein Geist abdriftet und „zerweitet“ wird, wie wir hier sagen. Ohne Hilfe ist das sogar praktisch unausweichlich. Aber auch so musst du vorsichtig sein. Ich erkenne zwar die körperlichen Anzeichen einer Zerweitung und kann wahrscheinlich eingreifen. Aber eine Garantie gibt es nicht.“

„Ich werde vorsichtig sein“, verspreche ich.

„Das bist du nie, Adrian“, antwortet Pingo augenzwinkernd, „aber ich hoffe zumindest darauf, dass du klug bist. Doch vielleicht kann ich auch mehr tun als über dich zu wachen. Ich habe auch eine Ausbildung als Leser durchlaufen. Ich kann also als Medium zwischen dir und den Archiven fungieren und einen Teil ihrer überwältigenden Wucht abfangen, ohne dass du die Informationen verlierst.“

„Ist das nicht gefährlich?“, frage ich ihn besorgt, aber auch aus Eigennutz heraus. Ich vertraue Pingo. Wahrscheinlich ist er sogar deutlich vertrauenswürdiger als ich selbst. Aber dennoch hätte ich lieber alleinigen Zugriff auf jene unendliche Quelle von Informationen. Immerhin gibt es eine Menge Fragen, die mir auf der Seele brennen. Was ist der Sinn der Kataloge? Was genau plant Endless Horizons und wo finde ich sie? Wie geht es meinen Eltern inzwischen? Wie lautet mein wahrer Name? Was genau ist Anys Agenda? Was befindet sich auf der nächsten und vor allem auf der letzten Seite des Katalogs? Vom Schicksal von Korf, Scavinee, Moydrur und den anderen, denen ich bislang begegnet bin, ganz zu schweigen. Und das sind nur meine drängendsten Fragen. Will ich wirklich, dass Pingo die Antworten zu all dem auch erfährt?

Vor allem jedoch habe ich einen Whe-Ann-Datenträger bei mir, auf dem ich geheime Informationen rauben will und einen Fehlstein, dessen unfreiwilligen Bewohner ich irgendwie von seinem Leid erlösen muss. Beides werde ich wohl kaum über meinen ehrenhaften Freund abwickeln können. Es wird schon kompliziert genug, das in seiner Anwesenheit zustande zu bringen.

„Hinter dieser Tür ist alles gefährlich“, sagt Pingo unheilvoll und wischt damit meinen Einwand hinweg, „die Archive sind wie dein Katalog, Adrian. Faszinierend und grausam zugleich.“

Mit diesen Worten legte er seine Hand auf das Tor und das gewaltige Kristallportal fährt schwerfällig nach oben.

Dahinter erblicke ich eine beinah beängstigende Szenerie. Eine riesige, schummrige Grotte, geformt aus Gold und Aventurin, durchzogen von langen, hohen und schmalen Treppen aus Onyx und Leitern aus Bergkristall auf denen sich vereinzelte Personen wie verlorene Geister bewegen. In den Zwischenräumen schweben dünne, ovale Kristallkokons mit menschengroßen Vertiefungen, von denen manche leer und andere mit in sich versunkenen Personen verbunden sind. Einige von ihnen sind erreichbar über die fragilen Leitern, andere schweben gleich Bojen in einem See aus Nacht und sind nur über schwebende Kristallplattformen mit dem Treppensystem verbunden. Über all dem liegt eine langsame, schwermütige Musik. Ein klangschalenhaftes Plätschern träger Töne, die sich zu sphärischen, leisen Melodiestrecken verbinden.

Ich sehe hinauf, verfolge die Treppen und die Kokons und habe fast das Gefühl hinaufgezogen zu werden und mich für immer darin zu verlieren. Schon dieser Raum ruft in mir ein Gefühl der Entgrenzung, des Verlorengehens hervor, wie ich es bislang nur vom weglosen Raum her kannte, auch wenn dieser Ort hier zumindest nicht im Ansatz so krank und chaotisch ist, wie jene Dimension, die ich zum ersten Mal in Samnia erkundet hatte. Dennoch macht sie mir Angst und facht zugleich mein Fernweh auf eine Weise an, wie es bislang nicht mal mein Katalog vermocht hatte.

„Was machst du hier?“, reißt mich eine strenge Stimme aus meiner beängstigenden Faszination. Sie gehört einem bärtigen Mann mit einem Stirnreif aus grünen und blauen Kristallen auf seinem glatten Schädel. Er trägt ein weißes Gewand, das mit einer feinen Kristallpatina bestäubt ist und sein erschöpftes, von Tränensäcken dominiertes Gesicht drückt gleichermaßen Übermüdung und Verbitterung aus.

Ich lege mir bereits eine Rechtfertigung für meine Anwesenheit zurecht, als Pingo mir zuvorkommt. „Ich begleite einen Wissenssuchenden in die Archive, Welthüter Torro. Um über seine geistige Gesundheit zu wachen und ihm seine Fragen zu beantworten.“

„Du bist kein Mitglied der Archive mehr“, entgegnet der Mann, „und als du es noch warst, warst du Sucher, kein Leser.“

„Ich habe beide Ausbildungen durchlaufen“, erinnert Pingo, „und Pongras gab mir die Erlaubnis Adrian zu begleiten. Frag ihn, wenn du mir nicht glaubst.“

„Pongras ist nicht der Hüter der Hochwissensabteilung“, knurrt Torro missmutig.

„Aber er ist einer der Welthüter und dir damit vom Rang her ebenbürtig. Du kannst seinen Wunsch nicht ausschlagen“, antwortet Pingo.

„Von mir aus. Ihr könnt Plattform 8 benutzen“, antwortet Torro mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er in eine viel zu saure Frucht gebissen, „wenn dieser Mann bereit ist, sich von einem aus der Übung gekommenen Ehemaligen zu den Erzählern bringen zu lassen, dann sei es so.“

„Das bin ich“, bestätige ich.

„Die Torheit ist die Freiheit der Unwissenden“, bemerkt Torro abschätzig, „dann beeil dich, Pingo und bring es hinter dich. Aber du wirst nicht – unter keinen Umständen – für ihn lesen. Solltest du es doch tun, wirst du niemals wieder einen Fuß in die Archive setzen. Und sollte er den Verstand einbüßen, sorgst du persönlich für seine Entsorgung.“

Pingo sieht Torro für seine Verhältnisse ziemlich wütend an, nickt aber zähneknirschend. Ich für meinen Teil aber atmete innerlich auf. Nun muss ich mich nicht darum kümmern, Pingo auszureden, dass er als Vermittler fungiert.

„Komm Adrian“, sagt der Steingeweihte leise zu mir, „entfernen wir uns von den beschränkten Geistern und wenden wir uns dem grenzenlosen Wissen zu.“

~o~

„Als ich zu meiner Mission aufbrach, war noch kein einziger dieser Steine in Gebrauch“, bemerkt Pingo, während wir eine der schwebenden Kristallplattformen betreten, die uns zu dem höher gelegenen Erzähler-Kokon bringen können, „ich und meine Kollegen mussten hier immer so viel klettern, dass wir schon über eine Spinnen-Hybridisierung nachgedacht haben.“

Pingo lacht, um klarzumachen, dass dies lediglich eine Alberei war, wird dann aber direkt melancholisch.

„Jetzt jedoch sind sie fast Standard. Obwohl ich so viele Mühen – und sogar den Tod – auf mich genommen habe, um einen zu finden. Das gibt einem irgendwie das Gefühl, bedeutungslos zu sein“, sagt Pingo traurig.

„Du bist alles andere als das“, sage ich grinsend, „ohne dich würde Uranor noch immer das Licht aus Trilliarden Gläubigen saugen und wir alle wären tot oder würden im Turm der Selbsterkenntnis versauern. Außerdem hast du der Steinkrankheit länger widerstanden als die meisten. Ich wüsste kaum jemanden, der mehr Bedeutung hat.“

„Lieb, dass du das sagst“, antwortet Pingo lächelnd, „du bist wahrscheinlich der sympathischste Massenmörder, dem ich je begegnet bin.“

Er zwinkert. Aber im Grunde hatte er recht damit. Ich war den meisten Leuten sympathisch gewesen, bis ich sie im Stich gelassen oder ans Messer geliefert habe. Aber Pingo nicht. Nein, er hat von mir sicher nichts zu befürchten. Wenn ich ihn auch noch über die Klinge springen ließe, wäre ich nicht mehr besser als Sandra oder mein anderes Selbst. Und dabei bin ich doch gerade auf dem Weg, einer von den Guten zu werden.

„Das ehrt mich. Ich sollte mir so was in der Art auf ein T-Shirt drucken lassen“, antworte ich grinsend. Bevor unser Gespräch ins Stocken kommt und wir uns beide nur still an der einschüchternden Schönheit der Hochwissensabteilung ergötzen.

„Vorsicht, das wird wahrscheinlich holprig“, warnt Pingo, kurz bevor die Plattform mit einem Ruck zum Stehen kommt.

Trotzdem reicht die Warnung noch aus, um zu verhindern, dass ich einfach von der Plattform aus in die Tiefe stürzte.

Gemeinsam betreten wir den schmalen Ring, der den Erzähler-Kokon umgibt und stellen dabei fest, dass jede der vier Vertiefungen schon von einem Rihn-Ha besetzt ist. Es sind zwei Frauen und zwei Männer. Ihre Augen sind wie verwachsen mit einem leuchtenden Bergkristall, in dem ein rötliches Licht pulsiert, so als würde der Erzähler elektrische Impulse direkt in ihr Gehirn schicken. Ihre Gesichter zittern, sind schweißbedeckt, knochenbleich, verkrampft und hoch konzentriert als würde die Antwort auf ihre Frage jedes Quäntchen Bewusstsein beanspruchen.

„Das sieht nicht gesund aus“, bemerke ich und es schüttelt mich bei dem bloßen Gedanken, diese Kristalle auch nur in die Nähe meiner Augen zu lassen, „als wären diese Leute von der Steinkrankheit befallen.“

„Die Kristallbrücke ist harmlos und fast vollkommen reversibel“, antwortete Pingo, „jedenfalls wenn man sie richtig anwendet. Sie ist der einzige Weg direkten, ungefilterten Kontakt mit den Archiven aufzunehmen. Zugegeben, altgediente Leser leiden oft an Blindheit oder zumindest Sehschwäche. Aber sie haben auch zehntausende Sitzungen hinter sich. Diese Verbindungen wurden aber ganz und gar nicht professionell durchgeführt. Sie wurden eindeutig von Laien gesetzt und das in großer Hektik. Ich würde mich nicht wundern, wenn diese Leute zumindest eine Hornhautkrümmung oder eine leichte Sehschwäche zurückbehalten. Wenn nicht sogar schlimmeres.“

„Das ist übel“, sage ich und spüre, wie es mich innerlich schüttelt, „kannst du ihnen helfen?“

„Das kann ich“, antwortet Pingo grübelnd, „auch wenn es Torro wohl nicht gefallen würde. Und wahrscheinlich auch diese Leute nicht. Immerhin scheinen ihre Fragen sie wirklich brennend interessiert zu haben. Wenn ich so kurz vor der Antwort trenne, kann das schwere psychische Folgen haben. Andererseits ist es natürlich auch nicht gut, sie einfach sich selbst zu überlassen. Die Gesichter von geistig gesunden Fragenden sehen für gewöhnlich entspannter aus.“

„Denkst du, Torro hat uns absichtlich zu besetzten Erzählern geschickt?“, frage ich.

„Zuzutrauen wäre es ihm“, antwortet Pingo während er einen kritischen Blick auf die Anwesenden wirft, „aber ich vermute, dass es andere Gründe hatte als uns einen harmlosen Streich zu spielen. Hier ist kein Leser weit und breit. Weder als Sprachrohr noch als Betreuer und so wie diese Leute aussehen …“

Plötzlich springt einer der Männer auf. So hastig und ruckartig, dass die Kristallstäbe von seinen Augen krachend abreißen und neben einer schwer demolierten Horn- und Bindehaut auch eine Wolke aus Blut und Kristallstaub hinterlassen.

„Sie verzehren sie!“, brüllt er wie am Spieß, während er sich die zerfetzten, blutigen Augen hält, „in den weglosen Räumen. Da, wo das Licht verfault. Immer und immer wieder. Ich kann sie nicht retten. Ich kann nicht dorthin gelangen … außer …“

Das Grauen in seinem Gesicht verwandelt sich mit einem Mal in strahlende Hoffnung, „Ja, außer, wenn ich fliege!“

„Nein!“, schreit Pingo alarmiert und greift nach dem Arm des Mannes, doch er erwischt nur seinen Ärmel, als er sich einfach kräftig vom Boden abstößt und in die Tiefe springt.

Mit offenem Mund verfolgen wir beide seinen Sturz und zucken zusammen, als er schließlich klatschend auf dem Boden aufschlägt.

„Verdammt!“, sagt Pingo mit tränengefüllten Augen, „warum war ich nicht aufmerksamer.“

„Es hat uns beide überrascht und du hast weit schneller reagiert als ich“, tröste ich ihn, „mehr hättest du nicht tun können.“

„Doch“, sagt Pingo wütend und traurig zugleich, „ich habe die Zeichen gesehen und mich nicht getraut zu handeln. Und jetzt ist dieser Mann tot. Sein Leben lastet auf meinem Gewissen. Zumindest zum Teil. Torro trägt die größere Schuld. Wie kann er nur Leute ohne jeden Schutz zum Erzähler gehen lassen? Er war nie eine empathische Person. Aber solche Gleichgültigkeit ist auch für ihn beispiellos. Natürlich, der Besuch der Archive – und besonders der Hochwissensabteilung – erfolgt immer auf eigenes Risiko. Aber die Welthüter und Leser verpflichten sich zumindest ihr Möglichstes zu tun, um die geistige und körperliche Gesundheit der Anwender zu bewahren. Eins ist sicher: wenn wir wieder unten sind, kann er was erleben. Doch zuvor muss ich verhindern, dass noch mehr Fragende zu Schaden kommen.“

Pingo geht zur nächsten Vertiefung, wo eine junge Frau zitternd und mit schaumigem Speichel vor dem Mund hockt und unverständliche, geflüsterte Dinge von sich gibt.

„Was immer du gerade erfährst, meine Liebe. Das ist es nicht wert“, sagt Pingo, nimmt die Frau sanft in den Arm und bewegt die Finger seiner freien Hand über die beiden Kristallstiele wie ein Flötenspieler über sein Instrument. Langsam ziehen sich die beiden kristallinen Auswüchse in die Wand zurück und die Frau hört auf zu zittern. Verwirrt blickt sie ihn an. Ihre Augen sind abwesend, aber intakt.

„Nein, bitte … ich will zurück“, fleht sie, als ihr verschobener Blick wieder in die Wirklichkeit zurückkehrt. Sie greift haltlos ins Leere, bevor sie ihre Hand auf Pingos Schulter legt. „Ich habe ihn gesehen. Er war da. Er hätte leben können. Nur eine Entscheidung. Nur eine einzige Entscheidung hat uns für immer getrennt. Aber er war da … greifbar. Seine Haut. Sein Haar. Seine Stimme. Er war bei mir. Ich habe mich gesehen. Mit ihm. Bitte. Bring mich zurück. ICH WILL WIEDER ZURÜCK!!“

Die Frau will aufspringen, an die Wand greifen, um sich wieder an den Erzähler anzubinden, aber Pingo hält sie zurück.

„Hör mir zu“, sagt er sanft, „was du siehst, ist keine Lüge. Es geschieht. Aber es ist außerhalb deiner Reichweite. Die Archive sind keine Brücke in andere Zeitlinien. Sie sind nur Fenster. Unzerstörbare Fenster, die man nicht öffnen kann. Und das ist auch gut so. Denn selbst, wenn du zu ihm gelangen könntest, so müsstest du dein dortiges Selbst beseitigen. Für ihn wärst du eine Mörderin. Eine Betrügerin. Nicht mehr. Das wäre ein Verbrechen an ihm und an allem, was ist und du wärst eine Abscheulichkeit. Aber diese Wahl hast du nicht. Letzten Endes sind es nur Wunschträume. Das musst du akzeptieren.“

Ich verkneife mir mit Mühe ein Grinsen aufgrund von Pingos indirekter Beleidigung gegen mein Alter Ego. Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob nicht ich die Abscheulichkeit bin, wo ich doch geholfen habe, mein anderes Ich aus dem Weg zu räumen.

„Wie soll ich das akzeptieren?!“, schreit die Frau, „wie soll irgendjemand so etwas akzeptieren? Es tut weh. Es tut so bestialisch weh! Wir sind nicht gemacht für Verlust. Nicht dafür, ihn zu ertragen. Das ist ein Fehler. Ein Fehler der Schöpfung.“

„Ich glaube dir, dass es schmerzt“, spricht Pingo mitfühlend, „aber wenn du stets nur auf andere Pfade schielst, heilen deine Wunden auf dieser Straße nie. Und wenn du keinen Trost aus dem Gedanken ziehen kannst, dass irgendwo eine glückliche Version deines Geliebten existiert, hast du ihn vielleicht nie geliebt.“

„Was fällt dir ein, du herzloses Geschöpf!“, antwortet die Frau wütend. Ihr Gesicht verzerrt sich vor Zorn. Dann jedoch blickt sie in Pingos sanfte Augen. In sein gütiges, freundliches Gesicht, das ohne jeden Tadel und jede Verurteilung auskommt und ihr Zorn verwandelt sich in Nachdenklichkeit.

„Schaffe lieber eine Zeitlinie auf die andere neidisch starren könnten“, rät ihr Pingo lächelnd und lässt sie los.

Für einen Moment befürchte ich, dass die Frau sich wie ihr Vorgänger in die Tiefe stürzen oder sich doch wieder an den Erzähler anschließen könnte. Doch stattdessen nickt sie Pingo zu und betritt die Plattform, die sie zurück nach unten führen wird.

Mit den anderen beiden Besuchern hat Pingo ähnlich viel Erfolg, auch wenn ihre Anliegen eher philosophischer als sentimentaler Natur gewesen sind. Die zweite Frau hat sich die Frage gestellt, wie sie das moralisch beste Leben leben kann und ist an den Widersprüchen, die die Archive in ihr Hirn gepumpt haben, schier verzweifelt, während der zweite Mann dem Beginn des Multiversums hatte beiwohnen wollen und die gezeigten Bilder und Informationen nicht hatte verarbeiten können. Dennoch ist keiner von ihnen akut wahnsinnig geworden und Pingo hat sie heil zur Plattform führen können.

„Du hättest Psychologe werden sollen“, kommentiere ich seine Arbeit, „du hast echt ein Talent im Umgang mit Verzweifelten.“

„Ich habe wohl eher viel Erfahrung im Umgang mit Verzweiflung“, sagt Pingo mit einem bittersüßen Lächeln, „aber danke für das Lob. Nun erwartet mich aber endlich mein schwierigster Patient.“

Ich nicke verstehend und gehe auf eine der Erzähler-Nischen zu, deren Funktionsweise ich inzwischen zumindest ansatzweise nachvollziehen kann. Ich knie mich hin und auch wenn ich es erwartet habe, erschrecke ich ein wenig, als sich die beiden kristallenen Röhren aus der Wand heraus formen und sich langsam auf meine Augen zubewegen.

„Halt möglichst still“, empfiehlt mir Pingo, „ich werde die Verbindung herstellen und regulieren. Sobald sie besteht, kannst du deine Fragen stellen. Fokussiere dich darauf und schweife möglichst nicht ab. Und lass dich nicht zu weiten Fragen verleiten. Das ist der sichere Weg in den Wahnsinn.“

„Ich Ordnung“, sage ich. Eine meiner drängendsten Fragen stellt sich mir jedoch schon jetzt: Wie soll ich den Whe-Ann-Datenträger an dem Erzähler anbringen, noch dazu, wenn mein Gehirn mit dem Archiv verbunden ist? Die Antwort darauf ist recht einfach, auch wenn es ihre Konsequenzen nicht sind. Ich muss Pingo nun doch in meine Pläne einweihen. Zumindest bis zu einem gewissen Grad.

„Hör zu“, sage ich flüsternd, „bevor wir anfangen, habe ich noch eine Bitte.“

„Klar, alles, was du willst, Adrian“, antworte Pingo so freundlich wie voreilig.

Ich versichere mich kurz, dass kein Neuankömmling auf der Plattform zu uns unterwegs ist, dann hole ich den Fehlstein und den Whe-Ann-Datenträger hervor.

„Bist du vollkommen wahnsinnig?!“, zischt Pingo zum Glück ähnlich leise zurück, „allein diese Gegenstände hierherzubringen ist hochgefährlich. Fehlsteine sind so randvoll mit finsterer Mantianz, dass es allein durch ihre Anwesenheit zu heftigsten Wechselwirkungen mit den Erzählern kommen kann. Und ein Whe-Ann-Datenträger … ich meine … wenn Torro den bei uns findet, wird er uns lebenslanges Archivverbot erteilen, wenn wir ganz viel Glück haben. Wahrscheinlich aber wird er uns in die tiefste und vergessenste Kammer einmauern, die die Archive zu bieten haben. Und das meine ich absolut ernst. Ich hoffe, du bittest nur darum, dass ich diese Dinge an mich nehme, damit du den Erzähler gefahrlos benutzen kannst.“

„Du weißt, dass das nicht der Grund ist, oder?“, frage ich.

„Natürlich weiß ich das“, sagt Pingo seufzend, „aber die Hoffnung hält mich am Leben, weißt du? Also gut. Was genau willst du dann mit diesen Dingen anstellen und warum?“

„Ich will den Fehlstein analysieren“, lüge ich, „ich will herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, seine Magie zu brechen und so den Pakt mit Moydrur zu lösen. Und was den Datenträger betrifft … nun, ich möchte die Antworten auf meine Fragen nicht allein in meinem Gedächtnis tragen. Bei all dem, was mir schon widerfahren ist, traue ich ihm nicht. Da ist es besser, die Antworten extern abgespeichert zu haben.“

„Ich verstehe“, sagt Pingo, „vielleicht kann ich dir dabei helfen. Aber du solltest es dir wirklich gut überlegen. Um den Fehlstein zu analysieren, reicht es vollkommen, ihn während der Sitzung in deiner Hand zu behalten. Jedoch steigt dadurch das Risiko einer Zerweitung enorm. Es könnte dich den Verstand kosten, Adrian. Alles, was davon noch übrig ist. Und was den Datenträger betrifft, so kann ich ihn mit dem Kristall verbinden. Aber das wird nicht unbemerkt bleiben. Die Archive speichern auch solche Vorgänge und wenn Torro oder ein anderer Welthüter zufällig danach sucht und es findet, wird es mir jede Chance nehmen, jemals wieder in die Archive aufgenommen zu werden.“

Der Schmerz, mit dem Pingo das sagt, scheidet wie eine Klinge durch mein Rückgrat. Das Risiko für meine geistige Gesundheit kann ich natürlich selbst tragen. Aber meinem Freund seine Zukunft zu verbauen, wäre wirklich finster. Andererseits hängt die Ordnung des verfluchten Multiversums davon ab und wenn ich Anys Auftrag nicht erfülle, ist es durchaus denkbar, dass es irgendwann keine Archive mehr geben wird, zu denen Pingo zurückkehren kann. Soll ich ihn also in alles einweihen? Und seinem Leben damit jede verbliebene Unbeschwertheit nehmen? Das wäre wohl auch nicht besser.

Ich sehe in Pingos Gesicht. Sehe, wie sehr er sich selbst quält und entscheide mich für eine der finstersten nur denkbaren Methoden der Überzeugung. Emotionale Erpressung.

„Ich kann noch nicht darüber sprechen. Aber es ist wirklich wichtig“, sage ich, „wichtiger als du dir vorstellen kannst, sonst würde ich dich nicht darum bitten. Aber die Entscheidung liegt allein bei dir. Es ist deine Zukunft, Pingo. Ich kann dir aber versprechen, dass ich dich immer unterstützen und an deiner Seite stehen werde. Egal, wie du dich entscheidest.“

Ich spreche diese Worte freundlich und gelassen. Ohne jeden Vorwurf oder Druck, jedoch mit einer subtilen Verzweiflung, deren Kraft Pingos Widerstand zersetzt wie Säure ein Blatt Papier.

„Ich helfe dir“, sagt Pingo schweren Herzens und statt Erleichterung verspürte ich ein sehr sehr schlechtes Gewissen. „aber du musst dich beeilen. Und du musst mir versprechen, mir so bald wie möglich zu erzählen, warum ich meine Zukunft aufs Spiel gesetzt habe.“

„Das verspreche ich“, sage ich und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter.

Pingo nickt, nimmt den Whe-Ann-Datenträger und steckt ihn einfach in die Kristallwand, die ihn empfängt, wie einen lange erwarteten Liebhaber.

„Ich werde dich genauestens überwachen, mein Freund“, sagte Pingo, „genau wie unsere Umgebung. Und wenn irgendetwas schiefläuft oder unsere Entdeckung droht, werde ich den Datenträger sofort entfernen und in die Tiefe fallen lassen. Hast du verstanden?“

„Ja“, bestätige ich.

„Nun gut. Dann lass uns beginnen“, sagt Pingo und fährt damit fort, mit geübten Bewegungen über die Kristalle zu streichen. Einige Augenblicke später stellen sie den Kontakt mit meinem Sehnerv her und meine ganze Welt verändert sich.

Ich bin nicht länger in den Archiven. Ich bin … Zuhause. Oder besser gesagt im Wohnzimmer meiner Eltern. Genau wie damals in meinem Albtraum in Uranor. Nur mit zwei wesentlichen Unterschieden. Zum einen ist alles in einen schwachen, regenbogenfarbenen Glanz gehüllt und zum anderen finde ich dort nicht meine Eltern vor, sondern … Scavinee. Sie trägt dasselbe Gewand wie Torro und blickt mich mit großen, schillernden Augen an. Augen hinter denen etwas Altes und auf unbestimmbare Weise unheimliches liegt. So als wäre unter der Schicht aus Vertrautheit etwas verborgen, das Fremder nicht sein könnte.

„Nach welcher Antwort dürstet es dich?“, fragt die vermeintliche Scavinee ruhig. Jedoch nicht emotionslos, sondern mit allen nur denk- und fühlbaren Emotionen zugleich und mit allen Stimmen, die ich je vernommen habe. Mit ihrer eigenen, mit der von Korf, der von Garwenia, von Pingo, meinen Eltern, Kollom Nehmer und vielen vielen weiteren, die sich alle perfekt ineinander mischen, „was willst du von den Archiven wissen?“

Hier ist sie also. Meine Chance, die Antwort auf all meine Fragen zu erhalten. Doch nun wo ich sie habe, weiß ich überhaupt nicht, wo ich anfangen soll. Es ist, als würden sich die Fragen um einen sehr engen Ausgang drängen und damit verhindern, dass auch nur eine einzige hindurchgelangen kann. Doch ich habe zunächst ohnehin Dinge von höherer Priorität zu erledigen. Meine persönlichen Anliegen müssen warten, zumal Pingo und auch ich mit jeder Sekunde, die wir hier verweilen, viel riskieren.

„Ich möchte, dass du mir alle Ereignisse dieser Zeitlinie zeigst und auf dem Datenträger sicherst, den ich mitgebracht habe“, beginne ich mit meiner ersten Aufgabe.

Zu meiner Überraschung fängt die Verkörperung des Archivs herzhaft an zu lachen. „Eigentlich ist es nicht an uns, über Anliegen von Fragenden zu urteilen. Aber bist du dir sicher, dass dein Gehirn in der Lage ist mit einer solchen Datenmenge klarzukommen? Selbst ein Whe-Ann-Datenträger kann das nicht. Weißt du, wie viele Ereignisse sich allein in dieser einen Sekunde innerhalb dieser Zeitlinie ereignen? Du würdest Milliarden Jahre benötigen, um sie auch nur flüchtig zu betrachten und ungleich mehr um wirklich alles zu erfassen, was geschieht. Uns schreckt das nicht. Wir nehmen uns gerne die Zeit. Die Frage ist nur, ob du sie hast.“

Ich spüre förmlich wie ich knallrot werde. Ich hätte mir denken können, dass das wohl das dümmste Anliegen ist, welches je jemand an die Archive herangetragen hat. Ich muss das Ganze wohl etwas schlauer angehen.

„Nein, die habe ich leider nicht“, sage ich und bin froh, dass mir das Archiv nicht einfach meinen Wunsch erfüllt und mein Gehirn mit Milliarden Informationen gegrillt hat, „dann zeige mir nicht alle Ereignisse nicht. Nein, zeige mir gar nichts davon. Speichere einfach nur die wichtigsten Ereignisse auf dem Datenträger ab. Alles, was Astrera, Pendula, mich, Any und die Ordnung und Stabilität des Multiversums betrifft. Alles, was geeignet ist, den Lauf der Geschichte grundlegend zu verändern.“

„Du bist lernfähig“, sagt das Archiv verschmitzt, „und deinem Anliegen soll entsprochen werden. Dass unsere Wächter solches missbilligen, kümmert mich nicht. Sie tun das ihre. Wir tun das unsere.“

„Danke“, sage ich erleichtert, „wie lange wird die Übertragung dauern?“

„Einige Minuten“, antwortet das Archiv, „genug Zeit für ein paar weitere Fragen. Genug, um zu entscheiden, was mit dem Wesen in dem Fehlstein geschehen soll.“

„Du … ihr wisst davon?“, frage ich.

„Wir wissen alles über dich“, erklingt die Antwort, „Wir sind kein totes Buch, das du lesen kannst. Wir lesen zurück. Selbst wenn wir das Meiste schon längst wussten. Was also willst du tun mit jenem ich, das du hintergangen hast?“

Das ist eine verdammt gute Frage. Vorhin war es mir wie eine wunderbare und edle Idee erschienen mein anderes Ich einfach zu töten. Ein Gnadenakt, der der Hilflosigkeit in dem Fehlstein eindeutig vorzuziehen ist. Nun aber bin ich mir da nicht mehr so sicher.

„Ich weiß es nicht“, sage ich unschlüssig.

„Vielleicht sollten wir ihn selbst fragen“, schlägt das Archiv vor und ohne meine Antwort abzuwarten, materialisiert sich Zukunfts-Adrian direkt im Sitz neben mir. Verwirrt, von unsäglichem Leid gezeichnet, aber auch verdammt wütend.

„Du!“, sagt er, „du verfluchter Bastard! Ihr beide habt mich verraten! Du und Tarena, diese undankbare Insektenschlampe. Ihr habt mich ermordet und in diesem Ding eingesperrt! Und das, obwohl du weißt, obwohl du selbst erlebt hast, was für eine Folter das ist. Wie es ist, mit seinen Gedanken allein zu sein. Von ihnen aufgefressen zu werden. Und du hältst dich auch noch für besser als mich. Ernsthaft? Du bist ein verlogener, selbstgerechter Mistkerl!“

„Ich habe versucht zu überleben. Das ist alles. Und ich bin nicht stolz auf das, was ich tat. Ich habe sogar Mitleid mit dir. Von seiner großen Liebe verraten zu werden muss grauenhaft sein“, sage ich mitfühlend.

Doch der andere Adrian antwortet nicht. Er hat nur verächtliche Blicke für mich übrig und ich spüre, dass er mehr tun will, als mir nur böse Worte entgegenzuschleudern. Doch das Archiv scheint irgendwie zu verhindern, dass sich dieser Adrian einfach auf mich stürzt und versucht, mich mit bloßen Händen zu erwürgen.

In Ermangelung dieser Option sieht sich mein Alter-Ego in dem Raum um und blickt verwirrt zum Archiv, das ihn gleichmütig ansieht. „Scavinee … wie … wo sind wir hier? Das sieht aus wie das Wohnzimmer meiner Eltern … aber was machen du und der Verräter dann hier und irgendetwas ist …“

„Das ist nicht Scavinee. Wir sind in den Gläsernen Archiven von Rihn und was du siehst ist ihre Stimme, die sich uns im Körper einer uns bekannten Person zeigt“, erkläre ich, „ich habe dich mitgebracht, um dich zu erlösen.“

„Erlösen?“, fragt mein Gegenüber zynisch, „etwa durch den Tod?“

„Wenn es nicht anders geht, ja“, sage ich und wende mich an das Archiv, „oder gibt es eine andere Möglichkeit? Kannst du ihn … kannst du seinen Geist bei dir aufnehmen?“

„Er ist bereits bei mir“, antwortet das Archiv, „all seine Erinnerungen, Entscheidungen und Gedanken sind in mir gespeichert. Doch ohne Bewusstsein. Ohne Aktualität. Ohne Zukunft. All das wird er in mir nicht finden. Jedoch gibt es eine andere Option. Es gibt ein Refugium für den Geist. Ein digitales Refugium, zu dem ich eine Anbindung habe. Es bietet kein vollständiges Leben. Aber es ist mehr, als ich bieten kann. Und weit mehr als der Tod.“

„Ihr wollt mich in ein Computernetzwerk einspeisen?“, fragt mein Alter-Ego skeptisch.

„Ja“, antworte ich, froh darüber, einen möglichen Ausweg aus meinem moralischen Dilemma entdeckt zu haben, „falls du den Tod nicht vorziehst.“

Mein Gegenüber scheint ernsthaft über diese Frage nachzudenken. Verständlich. Ich wüsste an seiner Stelle selbst nicht, was ich wählen würde.

„Also gut“, sagt er schließlich, wenn auch nicht gerade euphorisch, „dann speist mich mal in die Matrix ein.“

„Es ist nicht wie in dem Film, an den du denkst“, antwortet das Archiv, „du wirst die ganze Zeit über wissen, wer du bist und wer du warst. Du wirst dich an diese Entscheidung erinnern und wirst sie entweder begrüßen oder verfluchen. Was davon der Fall ist, das werde ich dir nicht sagen. Aber eines kann ich dir versprechen. Du wirst dort nicht allein sein.“

Plötzlich sehe ich, wie sich der Gesichtsausdruck des anderen Adrians verändert. Aus skeptischer Neugier und vorsichtigem Optimismus wird zunehmend Angst.

„Tu es!“, verlange ich vom Archiv, bevor sich mein Alter-Ego umentscheiden und meine moralischen Zweifel wieder entfachen kann.

Ich sehe noch, wie Zukunfts-Adrian den Mund öffnet, um etwas zu sagen – eine Bitte, ein Fluch, eine Warnung, ich werde es wohl nie erfahren – bevor sich seine Gestalt zerfasert und sich in einen Haufen symbolischer Datenblöcke auflöst.

Entschlossen kämpfe ich meine aufkommenden Gewissensbisse nieder. Ich habe gnädig gehandelt, versuche ich mir einzureden. Ich habe ihm – zumindest in gewisser Weise – eine Wahl geboten und sein Schicksal ist in jedem Fall besser als eine Ewigkeit im Fehlstein zu fristen.

„Was hast du noch auf dem Herzen? Nun, wo deine Probleme aus dem Weg geräumt sind?“, fragt das Archiv und ich kann durchaus einen gewissen Sarkasmus in diesen Worten erkennen. Aber auch ein Locken. Ein Versprechen. Nein, realisiere ich. Dieses Ding ist nicht neutral. Es will meine Fragen. Es giert danach meine Neugier zu entfachen und mich kunstvoll in sein Netz aus Informationen einzuspinnen. Ich sehe die Falle. Sehe den Köder. Doch manchen Ködern kann man einfach nicht widerstehen.

„Was ist der Sinn der Reisekataloge von Endless Horizons?“, stelle ich dieselbe Frage, die ich damals schon On-Grarin in den Seuchenhöhlen gestellt habe.

Schwer wie Steine hängen meine Worte in der Luft. Bereit hinabzustürzen und meinen Schädel zu zerschmettern. Und forschend ruht mein Blick auf dem Gesicht der vermeintlichen Scavinee. Ihre Mimik ist neutral. Unbewegt. Zumindest für einige Augenblicke. Dann verändert ihr Ausdruck sich radikal. In ein böses, gehässiges Grinsen.

Doch das ist nicht alles. Ihr ganzes Gesicht verformt sich. Es scheint nun breiter und kräftiger und auch ihre körperliche Statur verändert sich grundlegend. Wird muskulöser, einschüchternder, furchteinflößender. Es dauert nur ein paar Lidschläge, bevor ich zweifelsfrei Korf in ihr erkenne. Einen sehr wütenden Korf. Er steht von der Couch auf. Kommt auf mich zu. Steigt über den Tisch, der nicht länger ein Tisch ist, sondern ein rauchender, zermalmter kleiner Jyllen-Panzer, dessen noch gerade so lebendige Fahrerin samt ihrer Innereien wie eine zerstörte Puppe aus den Trümmern hängt. Es riecht nach Exkrementen. Nach Blut. Nach heißem Metall und verschmortem Fleisch und über mir spannt sich nicht länger die schützende, weiß gestrichene Decke meines Elternhauses, sondern der von Gewalt und Bomben glühende Himmel der Ebenen von Konor.

„Hör zu Kleiner“, sagt Korf über das Rattern von Waffen und die Schreie von Verwundeten zu mir. Seine Stimme ist schneidender als die Zähne eines Gräbers und sein Stiefel drückt sich beiläufig in den Schädel der Jyllen. Knochen knacken und ich suche in Korfs Augen nach einer Spur von Gnade oder Verbundenheit. Ohne Erfolg.

Ich vergesse, wo ich bin. Ich vergesse, dass dies hier womöglich nur eine Illusion ist. Ich will nur aufstehen und wegrennen. Aber meine Füße sind wie festgeklebt. Nein. Schlimmer. Ich habe keine Füße. Keine Beine. Nur blutige Stümpfe und meine Arme sind – obwohl noch intakt – geschwächt und kraftlos. Korf kommt näher. Sein saurer Atem schlägt mir ins Gesicht und seine raue, dunkle Stimme träufelt mir mitleidlose Worte ins Ohr.„Du bist Eisen“, sagt er mysteriös, „du siehst aus wie Wellpappe, Kleiner. Aber dennoch isses wahr. Du wirst …“

Er holt mit seiner fleischigen Faust aus „… geschmiedet.“

Ich versuche mich wegzudrehen, bin aber viel zu langsam. Gleichzeitig mit dem Schall seiner Worte kommt die kinetische Energie seines Schlages in meinem Kopf an. Und er hat recht. Ich schmecke Eisen. Schmecke es überall als roten Saft in meinem Mund, während eiserne Sterne meine Nervenbahnen versehren.

„Jede Welt. Jeder Horizont. Ist ein Hammer. Ist eine Zange. Ist ein Amboss. Sie soll dich formen“, brüllt Korf wie von Sinnen.

Ein weiterer Schlag. Zähne lockern sich in meinem Kiefer. Brechen ab. Rutschen in meine Mundhöhle wie versprengte Felsblöcke.

„Soll Mitleid schleifen!“

Wieder ein Schlag. Irgendwas in meinem Schädel splittert. Knochen bohren sich ins Gehirn. Schaden der Struktur. Weichen die Ordnung auf.

„Soll Zynismus nähren!“

Eine Reihe von Schlägen. Mein Schädel zerbricht. Mein Hirn fließt heraus. Eine amorphe Masse. Grau. Unansehnlich. Ohne Ziel. Ohne Bestimmung. Vollkommen entgrenzt. Doch noch immer bei Bewusstsein.

„Soll dich verwandeln in einen Krieger – der Finsternis!“

Noch ein Schlag in das was von mir bleibt. Doch er trifft mich nicht härter als die Erkenntnis aus Korfs Mund. Eine Offenbarung. Eine Wahrheit. Eine Quelle des Selbstekels.

Doch dann … verschwindet dieses Gefühl. Verschwinden alle Gefühle bis auf die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach der Straße. Und die Straße findet mich. Holt mich zu sich. Eine Straße aus Pflastersteinen. Aus Wolken. Aus Knochen. Aus Ölfarbe. Aus reiner Energie und lebendigen, flehenden Kreaturen, in deren weinende Münder ich zwangsläufig trete. Eine Straße zu einem Thron bunt wie das Chaos und einer Krone schwarz wie die Nacht.

„Tolengus!“, dröhnt es aus den Mündern von Sklaven. Elend. Schmutzig. Ohne Hoffnung. Rhythmisch und leiernd dringt das Wort aus den zertrümmerten Kiefern der Gebeugten. Ein Wort aus der Sage einer anderen Welt. Eine Schablone, die ausgefüllt werden kann. Ausgefüllt werden muss. Ich steige hinauf. Auf dem Thron sitzt ein Schatten. Groß und gekrönt. Und ich nehme Platz. Verdränge den Schatten. Verschmelze damit. Und die Rufe wechseln ihren Inhalt. „Adrian!“, „Adrian, der Vergessene!“, „Adrian der Weitgereiste!“. Ich spüre die Macht. Spüre die Angst. Spüre das Schmeicheln. Und erkenne, wie hohl all das ist. Wie falsch. Wie gespielt.

„Ihr seid frei!“, rufe ich. „Ihr gehört euch selbst. Ihr dient keinem Herren!“, verkünde ich freudig und befreit.

Ich halte inne. Erwarte das Paradies. Erwarte die Ankunft der Utopie. So lang ersehnt. So hoch verdient. Und für einen Moment erwächst ein Strahlen auf den Gesichtern der Geknechteten. Sie stehen auf. Erheben sich müde, aber hoffnungsvoll aus dem stinkenden Staub und strecken die Arme zu ihrem Gegenüber aus.

Ich spüre Erleichterung. Wohlige Wärme. Mitfreude.

Dann macht die Welt einen Ruck und aus lächelnden Mündern, werden Fänge. Fänge und Klauen, die reißen, verletzen, zerstören, foltern. Fressen!

„Nein!“, rufe ich, „Nein, bitte hört auf. Ich befehle es!“

Ein bitteres Lachen erklingt hinter mir. „Du kannst ihnen nichts befehlen. Du hast die Macht abgegeben.“ Dann spüre ich den Tritt eines gerüsteten Stiefels. Den Tritt einer Sahkscha. Ich versuche das Gleichgewicht zu halten. Suche nach Halt, doch finde keinen. Hilflos stürze ich die Treppe zum Thron hinab. Mitten in das grauenhafte Massaker hinein.

Ich schlage hart auf. Meine Wahrnehmung setzt kurz aus. Als sie zurückkehrt, sehe ich Gesicht einer Teenagerin. Nur ein wenig jünger als ich es am Anfang meiner Reise gewesen war. Ihre Augen sind geplagt von Verzweiflung und Gier. Ihr Mund ist rissig, blutverschmiert und unvorstellbar hungrig.

~o~

„Adrian, komm raus. Es wird Zeit!“, zischt Pingo leise in mein Ohr, während er mich sanft, aber nachdrücklich schüttelt. Die krampfende Muskulatur und der schaumige Speichel sind dabei nicht die einzigen Gründe für die Dringlichkeit in seiner Stimme. Auch wenn die Sorge um den Verstand seines alten Freundes klar überwiegt, macht ihm Pronscha, eine Leserin, die ihm noch aus seinen aktiven Tagen noch gut bekannt ist, kaum weniger Kopfzerbrechen. Die junge Frau ist nämlich nicht nur äußerst korrekt und mit einer guten Beobachtungsgabe gesegnet, sondern befindet sich auch auf direktem Weg zu unserem Erzähler-Kokon und hat mit der Plattform bereits gut ein Drittel des Weges zurückgelegt.

„Du musst zurückkommen! Hörst du? Wir bekommen Besuch!“, versucht er es noch einmal auf die sanfte Tour. Lesende, die noch nicht zu tief in ihrer Frage verloren sind, kann man für gewöhnlich auf diese Weise erreichen, ohne dabei irgendwelche psychischen Schäden zu riskieren. Ich jedoch scheine dafür bereits zu tief gefangen zu sein. Wenn nichts anderes mehr hilft, so wie bei den schwer abgedrifteten Besuchern, die Pingo zuvor aus ihrer Misere befreit hat, wird er mich gewaltsam vom Kristall trennen müssen und dabei nicht nur meine geistige Gesundheit, sondern auch mein Augenlicht gefährden.

Zum Glück gibt es noch eine andere Methode. Jeder ausgebildete Sucher kennt die Rettungsgriffe für die verschiedenen Spezies. Selbst für so seltene Besucher wie Menschen. Doch andererseits ist Pingos Ausbildung eine Weile her und die Zeit drängt. Der Steingeweihte atmet tief durch, klärt seinen Geist und will gerade seine Finger an die richtigen Nervenknoten legen, um ihre Schmerzsignale als Schleudersitz für meinen Geist zu nutzen, als er innehält. Er kann das nicht tun. Er ist noch immer infektiös und seine Fingerkuppen sind mit winzigen Widerhaken aus Narrengold besetzt. Eine sanfte, kurze Berührung ist kein Problem. Aber wenn er den nötigen Druck ausübt, wird er mich definitiv in einen Steingeweihten verwandeln.

„Scheiße!“, flüstert Pingo verzweifelt und wirft einen Blick zur Seite, wo er bereits die Details von Pronschas stoischem Gesicht und ihrem langen, strengen, kristallbestäubten, weißen Zopf erkennen kann. Ihre Plattform wird in wenige als einer Minute hier sein und dann hätte er nicht nur einen Zerweiteten in seiner Obhut, sondern auch ein Datenträger-Pendel und einen Fehlstein zu erklären.

„Tut mir leid, Adrian“, sagt Pingo und legt seine Hände an die Kristallverbindungen, bereit, sie mit roher, gefährlicher Gewalt zu trennen, „ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg.“

Und das tut er tatsächlich. Kaum etwas wünscht sich Pingo in jenem Moment mehr als seinen Freund sicher und unbeschadet aus dem Erzähler zu befreien. Und manchmal, wenn auch viel zu selten, werden Wünsche erhört, von jenen, die zuhören.

Die Stimme, die Pingo hört ist zart, gläsern, wie ein gedachter Hauch. Aber dennoch ist es eine Stimme. Und sie spricht verständliche Worte.

„Ich kann euch helfen“, bietet sie an, „soll ich es tun?“

„Wer bist du?“, fragt Pingo leise.

„Ich bin der Kristall“, antwortet die Stimme, „das Gefängnis und Fleisch der Archive. Der Körper, den jener finstere Geist in Besitz genommen hat.“

„Aber das Archiv ist nicht finster“, widerspricht Pingo.

„Oh das ist es. Und das weißt du auch. Tief in dir kennst du sein Wesen“, antwortet die Stimme, „oder willst du es abstreiten, wo das Archiv doch gerade deinen Freund verzehrt? Es ist ein Dämon in Ketten. Ein nützlicher Dämon in Ketten, deren Enden ihr und ich fest umklammert halten. Aber nichtsdestotrotz ein Dämon. Ein Geist, der sich von Neugier ernährt. Und mehr noch von jenen, die sich in ihr verlieren. Glaube mir. Ich kenne sein Herz. Denn ich berge es in meinem Fleisch.“

„Und warum bitte hast du zuvor nicht zu mir gesprochen? Ich war viele Jahre hier“, wendet Pingo ein.

„Damals warst du noch kein Steingeweihter“, erklärt die Stimme, „und nun bist du der Erste von euch, der in meine Nähe gelangt. Der Erste, der die Kontrolle behalten hat. Und der Erste in diesem fortgeschrittenen Stadium. Also, was ist nun? Soll ich euch helfen oder nicht?“

Pingo wird geradezu schwindelig angesichts der Wucht dieser Erkenntnis. Wenn der Kristall die Wahrheit spricht, bedeutet das immerhin, dass Steingeweihte weit mehr sind als nur arme, kranke Schweine. Ja, womöglich sind sie sogar eine ganz neue Spezies oder bergen zumindest das Potenzial in sich, eine zu werden. Pingo – schon seit jeher ein kritischer und forschender Geist – liegen noch Tausende von Fragen auf der Zunge. Doch da Pronscha just in diesem Moment den Erzähler betritt. Stellt er keine einzige davon. „Tu, was immer du kannst“, sagt er nur und hofft, wie er nur selten gehofft hat, dass diese Stimme vertrauenswürdig ist.

~o~

„Pingo Dellagrahn“, sagt Pronscha mit durchaus ehrlicher Freundlichkeit, jedoch auch mit jenen unnachgiebigen Tadel, der fast immer in ihren Worten mitschwingt, „es freut mich, dass du noch lebst.“

„Mich ebenfalls“, antwortet Pingo und betet dabei nach wie vor, dass Pronscha keinen allzu genauen Blick auf die Erzählerkammer wirft, „überraschenderweise. Aber fast genauso freut es mich, dich wiederzusehen. Es ist lange her.“

„Lange her. In der Tat“, sagt Pronscha nachdenklich, „genauso wie es lange her ist, dass du als Leser tätig warst. Viel zu lange, um diese Tätigkeit verantwortungsvoll auszuüben, scheint mir. Ja ich hörte sogar, du wärst quasi im Ruhestand.“

Pingo schob die Kränkung so gut wie möglich beiseite. Wenn er sich aufführt wie ein schuldbewusstes Kind, wird ihn das nur verdächtiger machen.

„Ich habe noch genug von meiner Ausbildung behalten, um diese Funktion zu erfüllen“, antwortet Pingo, „und verantwortungsvoller als Torro bin ich allemal. Er ließ diese Plattform unbesetzt von jeder Art von Leser. Ob im ‚Ruhestand‘ oder nicht.“

„Das ist mir bewusst“, antwortet Pronscha, „aus diesem Grund wies er mich an, diesen Posten einzunehmen.“

„Eine gute Entscheidung von ihm“, antwortet Pingo, „aber leider reichlich spät getroffen. Er hat einen Selbstmörder und vier schwer traumatisierte Geister auf dem Gewissen. Sie alle waren ohne Leser und ohne jede Aufsicht. Wäre ich nur ein paar Minuten später eingetroffen, hätten sich die anderen womöglich auch in den Tod gestürzt. Torr kümmert sich einen Dreck um das Wohlergehen der Besucher, wenn du mich fragst.“

Pronschas Blick verändert sich. Er wird weicher und zugleich auch zorniger. Doch dieser Zorn gilt offenbar nicht Pingo, „das ist ungeheuerlich. Ich werde ihn deswegen zur Rede stellen. So ein Verhalten verstößt gegen den Kodex der Archive. Und der gilt auch für Welthüter.“

„Es freut mich“, dass wir darin einer Meinung sind, sagt Pingo.

„Das sollte dich nach unserer gemeinsamen Zeit eigentlich nicht überraschen“, antwortet die Leserin lächelnd. Nun jedoch scheint sich ihr Interesse doch auf Adrian zu richten. „Wie ich sehe, ist hier noch immer ein Wissenssuchender. Hast du also doch nicht alle von ihnen befreit?“

„Er gehört zu mir. Er ist ein guter Freund von mir“, erklärt Pingo.

„Wenn das so ist, hättest du für ihn lesen müssen. Ich jedenfalls würde keinen Freund ohne Not diesem Risiko aussetzen“, sagt Ponscha und geht langsam auf Adrian zu. Pingos Herz rutscht ihm in die Hose. Er fragt sich, was er tun sollte, wenn sie das Pendel mit dem Datenstick dort entdeckte. Seine Beteiligung abstreiten kann er nicht mehr. Dummerweise hat er ja bereits eingestanden, dass Adrian sein Freund ist.

„Ich weiß… “, antwortet Pingo zerknirscht, „„aber Torro hat es mir verboten … ich …“

Für einen dunklen Moment ertappt er sich dabei zu erwägen, Pronscha einfach in die Tiefe zu stoßen. Ein Gedanke, der jedoch nur von kurzer Lebensdauer ist. Auch weil er nicht nur moralisch fragwürdig, sondern in einem Raum voller Zeugen und in Gegenwart eines praktisch allwissenden Archivs nicht sehr erfolgversprechend ist.

Pronscha steht nun direkt links von Adrian und ihr strenger Blick wandert über die Erzählerkammer. Das war’s, denkt Pingo bitter und fragt sich, was sie wohl mit ihm anstellen würden. Wahrscheinlich würden sie ihn aus den Archiven werfen, jede Forschung an seiner Heilung einstellen und womöglich würde sogar Jarma ihre hart erkämpfte Position verlieren, für die sie so viele Opfer erbracht hat. Pingo fühlt sich schrecklich deswegen. Aber zumindest will er seinem Schicksal aufrecht begegnen.

~o~

Ich schwimme, treibe in einem Meer aus Blut. Es ist mein eigenes. Zumindest hauptsächlich. Von irgendwo höre ich Sandra lachen. Zumindest sie hat eine gute Zeit. Die Frau, die ihre Zähne in mein Fleisch schlägt und die gerade mit bloßen Händen meine Bauchdecke durchbrochen hat, um sich dem Inhalt zu widmen, wirkt hingegen so gequält wie ich mich fühle. Da ist keine Lust am Schmerz, kein Hunger, keine Freude an der Gewalt und was ich anfangs für Gier gehalten habe, ist nur der Schmerz des Süchtigen, dessen Droge ihm längst kein Vergnügen mehr ist. Doch sie kann nicht aufhören. Genauso wie ich nicht sterben kann. Trotz all der unglaublichen, unmenschlichen Schmerzen und obwohl ich mir genau das schon seit gefühlten Stunden wünsche. Meine Haut wurde an vielen Stellen entfernt. Mein Fleisch aufgerissen. Mein Körper besteht nur noch aus zerfetztem, rohem Gewebe und Löchern. Löchern, unter denen eine zweite, schwarze Haut zum Vorschein kommt. Der Rüstung von Sandra nicht unähnlich. Hart, kalt und gefühllos. Ein finsteres Licht am Ende der Qual. Und doch ziehe ich selbst diese Qualen vor. Würde einfach alles vorziehen. Diesem Ding, diesem abartigen, toten Ding, das sich in meiner Hülle verborgen hält.

Ich weine, schluchze, schreien, solange ich es noch kann. Solange ich noch fühle, während die getriebene Frau weiter reißt und gräbt. Dann jedoch sehe ich etwas. Es erscheint über mir. Erhebt sich am glutroten Himmel wie eine kristallene Mariengestalt, wie eine Scheibe aus festem Licht und … hebt mich empor.

~o~

Pingo tritt näher und muss seine Euphorie und Verwirrung zurückhalten als er feststellt, dass der Datenträger nicht länger im Kristall zu sehen ist. Was oder wer auch immer diese rätselhafte Stimme gewesen ist – sie hat Wort gehalten.

Pronscha indessen fährt mit beiden Händen prüfend über Adrians Haut. „Seine Körpertemperatur ist stark erhöht. Seine Muskelspannung ebenfalls. Das sind extreme Stressanzeichen. Ich glaube uns bleibt keine andere Wahl, als ihn gewaltsam vom Kristall zu lösen, wenn er nicht …“

„Mir geht es gut!“, befreie ich Pingo aus seiner Verlegenheit, auch wenn das glatt gelogen ist. Mir geht es alles andere als gut. Meine Muskeln fühlen sich an als hätte ich zwanzig Wohnzimmerschränke alleine vom fünften Stock in den Keller getragen und in meinem Kopf durchlebe ich immer noch die Bisse der armen Frau, von der ich inständig hoffe, dass sie keine Existenz jenseits dieser grauenhaften Metapher besitzt. Vor allem jedoch quält mich die Offenbarung der Archive und mehr sogar noch all die Fragen, die vorerst – und womöglich für immer – unbeantwortet bleiben. Doch immerhin haben sich diese unangenehmen Kristallstäbe von meinen Augen gelöst und soweit ich es beurteilen kann, bin ich noch einigermaßen bei Verstand. Sofern ich es denn vorher gewesen bin.

„Und ich habe alles, weswegen ich gekommen bin“, füge ich hinzu, während ich mich bemühe, nicht auf meine Hand mit dem Fehlstein zu schielen, der noch immer unangenehm warm in meiner Faust ruht.

„Und aus welchem Grund warst du hier?“, fragt Pronscha, noch immer ziemlich skeptisch.

„Diese Auskunft muss er dir nicht geben“, protestiert Pingo, „das ist eine Sache zwischen den Lesenden und den Archiven. Selbst wenn wir als Leser tätig sind, dürfen wir unser Wissen nicht weitergeben.“

„Das weiß ich natürlich“, antwortet Pronscha beruhigend, „aber Fragen sind ja nicht verboten.“

„Ich wollte mehr über den Sinn meines Lebens erfahren“, antworte ich mit fester Stimme, auch wenn ich immer noch versuche, die Flut der grässlichen Bilder und Emotionen in meinem Gehirn zu sortieren.

„Ein enttäuschend ordinäres und unausgegorenes Begehren für einen eigentlich interessant erscheinenden Mann“, bemerkt Pronscha abschätzig.

„Ich bin nicht interessant“, erwidere ich bescheiden, „auch wenn ich gelegentlich interessante Dinge erlebe.“

Die Leserin runzelt die Stirn, aber nickt dann erst Pingo und dann mir zu, „nun gut. Dann seht zu, dass ihr den Erzähler wieder freimacht. Es gibt sicher bald wieder Besucher mit weniger plumpen Fragen. Trotzdem danke ich dir für deine Informationen, Pingo. Ich werde Torro nach meiner Schicht so bald wie möglich auf sein Versäumnis ansprechen und ggf. auch die anderen Welthüter informieren. Seine Missachtung von Leben darf nicht ungesühnt bleiben.“

„Danke“, sagt Pingo und machte eine auffordernde Geste in meine Richtung, „komm Adrian. Wir lassen die Leserin besser allein.“

~o~

„Das war verdammt knapp“, meint Pingo, sobald er sich außerhalb von Pronschas Hörweite wähnt, „warst du wenigstens erfolgreich? Und geht es dir wirklich gut?“

„Mir geht es ziemlich dreckig“, sage ich offen, „es war keine angenehme Erfahrung. Und auch kein Erfolg auf ganzer Linie. Ich habe einiges erfahren und die wichtigsten Ziele erreicht, vor allem was den Fehlstein betrifft. Aber von meinen vielen Fragen habe ich, die meisten nicht stellen können“

„Das tut mir leid“, sagt Pingo zerknirscht, „aber ich konnte nicht riskieren, dich noch länger …“

„Ich mache dir keinen Vorwurf“, beruhige ich Pingo, „ohne dich wäre ich verloren gewesen. Und dass ich meine Fragen nicht stellen konnte, lag nicht an dir, sondern an mir. Ich habe die Gewalt der Archive unterschätzt. Trotz aller Warnungen. Aber immerhin konnte ich die Daten übertragen auf den … wo ist der Datenträger?“

Das erschrockene Gesicht des Steingeweihten verheißt nichts Gutes.

„Er … er ist …“, stottert Pingo, „er … die Archive haben ihn … in sich aufgenommen.“

„Sie haben was?!“, frage ich lauter und aufgeregter als beabsichtigt.

„Sie haben ihn irgendwie absorbiert. Das war so eine Stimme … der Kristall … und …“, versucht Pingo zu erklären.

„Heißt das, ich muss mir einen neuen Stick besorgen und alles noch mal von neuem durchstehen?“, frage ich fassungslos.

„Nein“, antwortet Pingo verlegen, „ich glaube nicht, dass Torro uns noch mal hereinlassen wird. Jedenfalls nicht so schnell. Die Besuche in der Hochwissensabteilung sind begrenzt. Mehr als einmal in der Woche darf sie niemand aufsuchen.“

„Eine Woche!“, sage ich kreidebleich und schlage die Hände vor dem Gesicht zusammen. Habe ich überhaupt so viel Zeit? Wird die Any in dieser Welt so lange auf mich warten oder ist es dann bereits zu spät. Und wo zur Hölle soll ich einen neuen Datenträger herbekommen?

„Es … es tut mir wirklich leid, Adrian. Bitte sei nicht sauer. Pronscha hat mich aus dem Konzept gebracht. Ich habe nicht mehr daran gedacht, um die Herausgabe …“, beginnt Pingo als er sich plötzlich zusammenkrampft und das Gleichgewicht zu verlieren droht.

Sofort weicht mein Ärger blanker Sorge und ich mache einen Ausfallschritt um zu verhindern, dass Pingo in die Tiefe stürzt.

„Alles gut, mein Freund?“, frage ich.

Pingo antwortet nicht mit Worten. Aber sein Gesicht gibt eine klare Antwort. Es ist von Schmerzen verzerrt und als ich an ihm herunterblicke, begreife ich auch warum. Irgendetwas erhebt sich unter seinem Umhang. Wie ein Geschwür, welches in rasantem Tempo wächst. Mit fliegenden Fingern reiße ich ein Loch in den Stoff und entdecke zu meiner Verblüffung – den Datenträger. Wie eine reife Frucht hängt er an Pingos von Kristallen übersätem Bauch und wartet förmlich darauf, gepflückt zu werden.

„Wie zur Hölle?“, frage ich Pingo, dessen Gesicht sich endlich wieder entspannt hat.

„Ich weiß es auch nicht, Adrian“, antwortet Pingo erschöpft, „aber anscheinend bekommst du am Ende immer das, was du willst.“

„So wollte ich es nicht“, sage ich voller Mitleid.

„Nun ja. Ich lebe immerhin noch, oder?“, sagt Pingo mit einem gequälten Lächeln, „also schnapp dir das Ding und dann nichts wie raus hier. Wenn bei Pendula alles klappt, kannst du es wiedergutmachen.“

~o~

„Du hast verdammt lange gebraucht“, grüßt Tarena mich, als ich die Tore des Archivs durchschreite und mich den beiden wieder anschließe, „ich war schon versucht den Planeten zu verlassen.“

Diese Begrüßung ist dabei nicht einmal halb so herzlich wie es mein vorläufiger Abschied von Pingo gewesen war, als wir die Hochwissensabteilung zusammen verlassen hatten.

„Ich ebenfalls“, erwidere ich, unsicher, ob Tarenas Aussage scherzhaft gemeint ist oder nicht, „wenn auch auf andere Weise. Die Archive waren kurz davor gewesen mich aufzufressen.“

Zu meiner Überraschung entdecke ich Tarenas kühler Fassade einen Riss. Ja, sie zuckt sogar merklich zusammen und für einen Augenblick umwölkt Sorge ihren Blick. Offenbar bin ich ihr doch nicht ganz egal. Ob das an mir, meinem Alter-Ego oder an ihrer Mission liegt, bleibt mir jedoch schleierhaft.

„Immerhin stehst du hier“, sagt sie, „das ist doch die Hauptsache oder nicht? Und soweit ich weiß, hast du schon größere Gefahren überwunden.“

„Das würde ich so nicht sagen“, erwidere ich nachdenklich, „Es ist schwer ein Ranking zwischen verschiedenen seelenvernichtenden Traumata aufzustellen. Aber ja, wir sollten nach vorne sehen.“

„Hast du Anys Aufgabe denn erfüllt?“, fragt Andy so kühl, dass Tarenas Tonfall dagegen einem Besuch im Spa gleichkommt, „und hast du deine Kopie vernichtet?“

„Ja, Sohnemann“, erwidere ich betont freundlich, „Papa war ein braver Junge.“

„Wenn du mich noch einmal so nennst, reiße ich dir deine Eingeweide heraus“, kommentiert Andy bierernst.

„Andy!“, ermahnt Tarena ihren Sohn.

„Der Junge hat recht“, antworte ich, „ich bin nicht sein Vater. Ich hätte mir diesen Spruch auch verkneifen können.“

„Das ist kein Grund für Drohungen“, sagt Tarena streng, „oder für so einen Umgangston. Du bist der Sohn einer Diplomatin. Benimm dich auch so. Außerdem sind wir drei Verbündete.“

„Er ist und bleibt ein Arschloch. Genau wie Vater“, kommentiert Andy, „und ich sehe keinen Grund das hinter schönen Worten zu verstecken.“

„Tja, wenn das so ist, dann sollten das Arschloch und seine Verbündeten sich wohl auf den Weg zu Pendula machen und die Welt zu retten oder was Arschlöcher sonst so den ganzen Tag tun“, antworte ich grinsend und fragte mich gleichzeitig, womit ich mir solche Gefährte verdient habe. Mit Karmon und Korf hatte ich mir auch das ein oder andere Wortgefecht geliefert, aber dennoch war da immer eine gewisse Herzlichkeit gewesen. Hier hingegen fühlte ich mich einfach nur einsam und ungewollt. Ein echter Außenseiter. Wie wohl fast alle von denen erwartet wurde, die Dinge für die Mehrheit wieder geradezubiegen.

~o~

„Hier muss es sein“, sage ich zu meinen Begleitern als das Pendel, welches mir Pongras als Wegweiser gegeben hat und welches uns wie eine Wünschelrute über einen beschwerlichen, aber nicht allzu langen Weg geführt hat, heftig zu vibrieren beginnt.

„Hier ist aber nichts“, bemerkt Andy zirpend, „dein Pendel muss genauso defekt sein wie dein Charakter.“

„Nein, es ist nicht nur das Pendel“, mischt sich Tarena ein, „ich spüre etwas. Als wäre die Welt hier … verdichtet. Und als … als würde mich dieser Ort hier ablehnen.“

„Wo ist dieses Gefühl am stärksten?“, frage ich Tarena.

„Dort“, sagt die Diplomatin und zeigt direkt auf eine Wand aus schillerndem Achat, die sich auch optisch zwischen den für rihnnische Verhältnisse äußerst gewöhnlichen Schieferfelsen, die die hiesige Umgebung bilden, abhebt.

Ich trete näher und bringe das Pendel direkt an die Kristallwand heran, worauf die Vibrationen noch heftiger werden. So heftig, dass ich beide Arme nehmen muss, um die Pendelkette festzuhalten.

„Du siehst wirklich erbärmlich aus“, kommentierte Andy lachend.

Ich will dem Rotzbengel eine saftige Erwiderung entgegenschleudern, doch das Pendel festzuhalten erfordert meine ganze Konzentration und Willenskraft. Zumindest so lange, bis es sich selbst aus meiner Hand befreit, nicht ohne eine schmerzhafte Brandwunde darin zu hinterlassen.

„Autsch, verdammt!“, rufe ich und Andy beginnt schallend und insektenhaft zu kichern.

Tarena hingegen geht besorgt auf mich zu. „Alles in Ordnung?“, fragt sie und öffnet vorsichtig meine verkrampfte Hand, in der der blutige, rote Striemen samt den Kettengliedern noch deutlich zu erkennen sind.

„Ja, es geht schon“, sage ich verkniffen lächelnd. Jedoch erst, nachdem ich das aufrichtige Mitleid in ihren Augen für einige Sekunden genossen habe, „nur leider ist das Pendel weg.“

„Ist es nicht“, korrigiert Andy, „Es macht nur sein eigenes Ding. Es hatte wohl einfach nur genug von dir. Verständlicherweise.“

Mein Blick wandert zu seinem ausgestreckten Klauenarm und tatsächlich hat sich das Pendel einige Meter weiter in die Wand gegraben und schält dort wie von Geisterhand gesteuert einen türförmigen Umriss aus dem Kristall.

„Netter Mechanismus“, bemerkt Tarena.

„Schon“, sage ich, „doch ein Türrahmen nützt uns wenig ohne dazugehörige Tür.“

Als hätte das Pendel meine Worte vernommen bewegt es sich auf die Mitte des aus dem Stein geschnittenen Rechtecks zu, wo es sich so schnell zu drehen beginnt, dass seine Kette in meinen Augen zu einem silbernen Ring verschwimmt. Einige Augenblicke sehe ich der surrenden Bewegung fasziniert zu, bevor das Pendel auf einmal blau aufzuleuchten beginnt.

„Vorsicht!“, rufe ich aus einer Intuition heraus, bedecke meine Augen mit den Händen und gehe ich Deckung. Eine Entscheidung, die ich nicht bereue, als das Pendel explodiert und sich ein feiner Regen aus Kristall über mein Gesicht bewegt. Ich spüre mehrere kleine Schnitte an Ohren, Stirn und an meiner Hand, doch immerhin bleibt mein Augenlicht erhalten.

„Verflucht. Was soll die Scheiße!“, rufe ich frustriert, „hätte Pongras mich nicht davor warnen können?“

„Wahrscheinlich kennt er solche Probleme gar nicht“, vermutet Tarena. Ihre Stimme ist matter und schmerzerfüllter als meine. Als ich mich traue die Hände von den Augen zu nehmen, erkenne ich auch warum. Fast ihre ganze Haut ist mit tiefen Schnitten bedeckt, die nur deshalb nicht bluten, weil die Kristalle noch immer in den Wunden stecken. Andy hingegen ist praktisch unverletzt, was wahrscheinlich daran liegt, dass seine Mutter sich schützend vor ihn gestellt hat.

„Wie kommst du darauf?“, frage ich und überlege zugleich, wie ich ihr irgendwie helfen kann. Ja, dieses Gefühl geht über bloße Sorge hinaus. Aus irgendeinem Grund finde ich es mit einem Mal fast unerträglich, dass diese Frau solche Schmerzen erleiden soll.

„Nun, zum einen ist er ein Mitglied von Pendula und wir nicht. Und zum anderen vermute ich, dass wir beide nicht ganz in ihre Reinheitsvorstellungen passen und das am eigenen Leib spüren dürfen. Nach allem, was ich weiß, steht Pendula für die Bewahrung der Ordnung. Du aber bist ein Fortgeschrittener, der schon so einiges im Multiversum durcheinandergewirbelt hat, wie ich aus deinen Aufzeichnungen nur zu gut weiß. Und ich bin die Dienerin eines Planetenkrebses. Die Any aus meiner Zeitlinie hat recht pragmatisch mit meinem Herren zusammengearbeitet. Aber diese frühere Version von ihr mag das durchaus anders sehen. Und ihre Leute sowieso.“

„Du bist was?“, frage ich verwirrt.

„Ich diene einem Planetenkrebs. Das sind abscheuliche Parasiten, die Planeten von innen heraus auffressen und ihre Bewohner versklaven“, sagt Tarena offen, „einer von ihnen hat auch Deovan auf dem Gewissen. Jedoch nicht meiner.“

„Warum sagst du ihm all das, Mutter?!“, beschwert sich Andy.

„Weil die Pendula-Leute es sicher auch erkennen werden und ich nicht will, dass es im falschen Moment zu Verwirrung und Zwist führt. Und ich sage es, weil Adrian die Wahrheit verdient hat“, antwortet Tarena. „Und zu dieser Wahrheit gehört auch, dass ich mir meine Rolle nicht ausgesucht habe. Ganz im Gegenteil. Ich verabscheue sie. Aber es ist, wie es ist. Ich hoffe, es stört dich nicht.“

„Ich habe mir das Urteilen abgewöhnt“, sage ich, auch wenn ich durchaus von dieser Offenbarung erschüttert bin, „es gibt nur sehr wenige Fälle, in denen ich mich moralisch über andere Leute erheben kann. Du dienst einem Ungeheuer, so what? Was mich mehr interessiert, sind deine Verletzungen. Soll ich Hilfe holen?“

„Nein“, antwortet Tarena, „ich weiß deine Sorge zu schätzen. Aber das musst du nicht. Es tut weh, aber was auch immer mein Meister mit mir gemacht hat, verhindert, dass ich verblute. Noch kann ich die Splitter nicht entfernen und muss es aufhalten. Aber die Erlösung wird kommen. Wichtiger ist, dass wir Anys Mission erfüllen. Du weißt es nur aus Erzählungen. Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, was uns bevorsteht, wenn wir scheitern. Das möchte ich noch einmal erleben.“

„Ich verstehe“, sage ich, „dann lass uns schauen, ob dieser Ort all die Schmerzen wert ist.“

~o~

Gemeinsam betreten wir einen kleinen, bronzenen Raum an dessen Decke diverse große und kleinere Zahnräder kreisen wie im Inneren eines gigantischen Uhrwerks. Von den Zahnrädern in Dank Qua unterscheiden sich diese Exemplare vor allem dadurch, dass sie glänzen wie frisch poliert. Ähnliche Zahnräder befinden sich an den Wänden und sogar am Boden, jedoch sind diese so klein und gut aneinander angepasst, dass sie erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Die Zahnräder im Boden bewegen sich zudem nicht. Am Ende des Raumes befindet sich eine einzelne, geschlossene, rotgoldene Tür mit einem eingravierten Pendel darauf.

„Offenbar genügt ihnen die Explosion nicht als Sicherheitsmaßnahme“, bemerke ich, „ich frage mich, ob mir Anys Datenträger hier irgendwie …“

Kaum da ich den ersten richtigen Schritt in den Raum hineintue, geht ein kleiner Ruck durch meinen Körper und ich habe das Gefühl ganz kurz zu fallen und das Gleichgewicht zu verlieren. Dass ich es nicht tue, liegt vor allem daran, dass meine Füße im Boden verschwinden. Bevor ich es richtig realisiere, sind sie umgeben von einer Reihe fein abgestimmter Zahnräder, deren scharfe Kanten nun gefährlich eng an meinen Unterschenkeln anliegen. Instinktiv will ich mich aus dieser Falle befreien, erkenne jedoch rechtzeitig, dass dies eine ziemlich blöde Idee sein könnte. Ein kurzer Blick zu ihnen verrät mir, dass es Tarena und Andy nicht anders ergangen ist.

„Was zum …?“, beginnt Tarena zu fragen, bevor sie je unterbrochen wird..

„Name?“, fragt eine blecherne Stimme von irgendwo über uns. Ihre genaue Position kann ich wegen all der ratternden Zahnräder nicht exakt bestimmen. Genauso wenig wie ihr Geschlecht.

„Ich sage dir gar nichts, bevor du uns freigibst“, erwidere ich trotzig.

„Name“, wiederholt die Stimme stur. Und offenbar bleibt meine Weigerung nicht unbeantwortet. Denn die Zahnräder rings um meinen Fuß beginnen jetzt langsam damit, sich zu bewegen und ich das Gefühl, dass die Zahnradkanten den Druck auf mein Fleisch noch ein klein wenig erhöhen, während das Metall meine oberste Hautschicht in Zeitlupe abschält.

Noch immer zögere ich. Das ist keine Begrüßung, wie ich sie erwartet hatte. Oder wie potenzielle Verbündete sie verdienen.

„Andy“, antwortet Tarenas Sohn, deutlich bereitwilliger auf die gestellte Frage als ich.

„Tarena“, fügt Tarena hinzu und wendet sich dann an mich, „sag ihnen deinen Namen, verdammt. Er ist kein Staatsgeheimnis. Und in jedem Fall nicht so wichtig wie unsere körperliche Unversehrtheit.“

Ich nicke und sage resigniert, „Adrian“.

„Das ist inkorrekt“, erwidert die Stimme und der Druck auf meine Unterschenkel erhöht sich weiter, während ich an Tarenas und Andys Reaktionen ablesen kann, dass es ihnen nicht anders ergeht.

„Sag ihnen die Wahrheit, du Idiot!“, knurrt Andy wütend, „ich will nicht noch mehr deinetwegen leiden, hörst du!“

„Er kennt seinen Namen nicht“, verteidigt mich Tarena überraschenderweise, „das weiß ich aus seinen Aufzeichnungen. So ist es doch, oder?“

„Ja“, antworte ich, „hörst du? Ich habe keinen blassen Schimmer, wie mein wirklicher Name lautet. Ich bin ein Fortgeschrittener. Wir vergessen solche Dinge.“

Trotz meiner und Tarenas Verteidigung bereite ich mich auf eine erneute Aufforderung vor, gefolgt vom Schmerz blutender Wunden und gänzlich durchscheuerter Haut. Doch die Stimme zeigt Einsicht.

„Akzeptiert“, sagt sie, „Signalmuster passt nicht zu bewusster Lüge. Überspringe Frage.“

Wir alle atmen auf als die Zahnräder um unsere Füße herum innehalten und sich zurückziehen und gehen vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorn. Niemand von uns ist überrascht, als wir dabei wieder in eine „Falle“ sinken und das Spiel von Neuem beginnt.

„Spezies?“, ertönt die nächste knappe Frage.

„Mensch“, antworte ich diesmal direkt, zumal mir diese Antwort von uns dreien am leichtesten fällt.

„Hybridvolk von Xakrischidaah“, legt Tarena nach kurzem Nachdenken nach, „jedoch physisch verändert durch den Planetenkrebs Nollotsch.“

Spätestens jetzt hätte ich also ohnehin die Wahrheit über sie gewusst.

„Das trifft auch auf mich zu“, schließt sich Andy an.

„Alls korrekt“, bestätigt die Stimme und wir alle können einen weiteren Schritt vorrücken.

„Das ist so albern“, bemerkt Andy augenrollend, wodurch wir uns ausnahmsweise in einer Sache einig sind.

„Beruf?“, kommt die nächste Frage.

„Fortgeschrittener“, entgegne ich, „und Student mit ungewöhnlich langen Semesterferien.“

„Diplomatin für Nollotsch“, antwortet Tarena.

„Krieger“, sagt Andy und trotz seiner Jugend wirkt diese Behauptung aus seinem Mund alles andere als lächerlich.

Der unsichtbare Prüfer akzeptiert unsere Antworten und lässt uns voranschreiten.

„Bewaffnung?“, will der Unbekannte nun wissen.

„Wie viele Fragen kommen denn noch? Und warum stellst du sie uns überhaupt, wenn du die Antwort ohnehin schon weißt?“, frage ich genervt und bezahle diese Frage mit einem sich schnell drehenden Zahnrad, das gerade so fest in mein Bein schneidet, dass es höllisch brennt.

„Bewaffnung?“, wiederholt die Stimme.

„Eine Kompassnadel-Kanone und einen verdammt gutaussehenden und regenerationsfreudigen Körper“, antworte ich und offenbar hat der unsichtbare Prüfer immerhin genügend Sinn für Humor, um meine Antwort zu akzeptieren.

„Eine andrinische Peitsche und einen Kristallkarakt“, fügt Tarena hinzu.

„Meine Klauen“, antwortet Andy.

„Akzeptiert“, erklingt die wohlwollende Antwort und wir rücken weiter vor wie verdammte Schachfiguren auf einem mechanischen Spielfeld.

„Gesinnung?“, erkundigt sich die Stimme.

„Was soll das nun wieder heißen?“, frage ich laut, „meine letzte D&D-Sitzung ist schon ‘ne weile her, aber … Chaotisch Neutral vielleicht? Obwohl ich in Konor wohl eher Chaotisch Böse und in Uranor Rechtschaffen Neutral war. Andererseits leben wir ja im Moment. Also womöglich … Chaotisch Gut?“

„Gesinnung?“, beharrt die Stimme und lässt ihren Unmut auf schmerzlich-nachdrückliche Weise an meinem anderen Bein aus.

„Ich denke, er will wissen, welcher Fraktion wir nahestehen“, erklärt Tarena, „Pendula oder Astrera.“

„Das macht Sinn“, ächze ich und denke scharf nach, da ich keine Lust auf weitere Verletzungen verspüre. Eigentlich bin ich ziemlich gut darin, Unordnung zu verbreiten. Jedoch scheinen mir diese Sternenfreaks auch nicht unbedingt erstrebenswerte Ziele zu verfolgen und wenn sie, wie Tarena gesagt hat, praktisch für das Ende der kosmischen Ordnung verantwortlich sein werden, fallen sie als Verbündete wohl eher aus. Außerdem hat mir Any in Deovan das Leben gerettet. Das zumindest muss ich ihr zugestehen.

„Pendula“, sage ich notgedrungen, auch wenn ich mir nach diesem ganzen Theater hier nicht mehr so sicher bin.

„Neutral“, antworten Tarena und Andy wie aus einem Mund und ich frage mich, warum ich mich nicht für diese Antwortmöglichkeit entschieden habe.

Unser Gamemaster ist aber offenbar recht zufrieden mit unseren Antworten. Diesmal dürfen wir sogar mehrere Schritte vorangehen und haben schon fast die Tür erreicht, als der Prüfer uns erneut aufhält.

„Absicht?“, stellt der Unsichtbare seine – wie ich zumindest hoffe – letzte Frage.

„Wir wollen zu Any“, antworte ich, „wir haben … Ereignisse von kosmologischer Tragweite miteinander zu besprechen. Und ich möchte ihr etwas wertvolles überreichen.“

„Da bin ich aber äußerst gespannt, Adrian“, antwortet Any anstelle der anonymen Stimme als die Decke und die Wände um uns verschwinden wie ein aufgetrennter Schuhkarton. Stattdessen machen sie einer imposanten Halle Platz, deren Dekor sich jedoch ebenfalls großzügig bei Bronze, Kupfer, Zahnrädern und Pendeln bedient. Ich suche nach Any und finde sie. Gehüllt in ein weißes Gewand mit goldenem Pendelaufdruck steht sie auf einer mit goldenen Zahnrädern verzierten Balustrade, an dessen unterm Rand dutzende winziger Pendel hin- und herschwingend und starrt wie eine strenge Mutter auf mich hinab. Das leise Ticken, Rattern und Surren der Mechanismen gräbt sich hypnotisch und enervierend in meinem Hinterkopf, während ich in ihrem Gesicht vergeblich nach einer Regung suche.

Any ist jedoch nicht die einzige, die uns von dort oben beobachtet. Etwas unterhalb von ihr stehen – exakt platziert wie Figürchen in einem Setzkasten, sechs weitere Personen. Jede davon ist – gleich einer Fußfessel – verbunden mit den Ketten eines mehrsträngigen Pendels, dessen Spitze Any fest in den Händen hält.

Zu dieser Gruppe gehören unter anderem eine Bravianerin, eine Rihn-Ha und ein bleicher Mann aus Luth Nomor. Zum anderen zwei Individuen, deren bloße Anwesenheit mir schlicht die Sprache verschlägt. Eine von ihnen ist zweifelsfrei eine Rilandi. Auch wenn sie – genau wie die anderen Mitglieder des Rates, abgesehen Any – eine hellgraue Robe mit einem silbernen Zahnrad trägt würde ich den entrückten, unweltlichen Blick einer Sucherin jederzeit wiedererkennen. Noch dazu geht eine besondere Ausstrahlung von der Frau aus. Hell, fast blendend, so als ob sie ein Teil des erloschenen Lichtes von Uranor in sich bewahrt hätte.

Die andere Gestalt überragt mit ihrer gewaltigen, rostroten Erscheinung selbst die auf einem kleinen Podest stehen Any um Längen und ragt wie ein Berg aus der Gruppe empor, während sie ihre langen Rechenhände lässig verschränkt vor ihrem Bauch hält und mich mit einem öltriefenden Lächeln bedenkt. Ein verfluchter Gärtner aus Dank Qua.

Ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausgemalt, dass ich einen von diesen unheilvollen Kreaturen jenseits der Maschinengärten antreffen würde. Jedenfalls nicht, bevor sie sich aufmachen, ihre metallene Seuche über jede Welt des Multiversums auszukotzen. Und doch steht diese Abscheulichkeit direkt über mir, nur ein paar kupferfarbene Treppenstufen entfernt.

Und das ist noch nicht alles. Zwischen all diesen Wesenheiten, gleich einem Geschwader geparkter Kampfflieger mache ich auch dutzende pyramidenförmige Kreaturen mit pyramidenförmigen Augen, dreieckigen, bronzenen Flügeln und ebenfalls dreieckigen, blauen Augen aus. Aus dem unteren Ende ihrer ebenfalls bronzenen Körper ragen kurze, an Stachel erinnernde Kupferröhren hervor. Trotz ihres halb insektoiden und halb roboterhaften Äußeren, strahlt aus den Augen dieser Geschöpfe eine fast menschliche Intelligenz.

„Interessante Gesellschaft von Voyeuren hast du da“, beantworte ich Anys Bemerkung bewusst respektlos, was mir einen tadelnden Blick von Tarena einbringt, „planst du die Errichtung eines religiösen Totenkults, der das fliegende Zahnradmonster anbetet?“

Die Bravianerin und die Frau aus Rihn reagieren mit Gelächter und einem amüsierten Grinsen auf meine Worte, während die Gärtnerin, der Luth Nomorer und die Rilandi einen eher wütenden Gesichtsausdruck präsentieren.

„Es ist dumm und unfair, Individuen nach ihrem Äußeren zu beurteilen, Adrian“, beeilt sich Tarena zu sagen, wohl in der Hoffnung, mit ihren Worten die Wogen zu glätten.

„Weise Worte, Krebsdienerin. Aber mir ist Adrians loses Mundwerk durchaus bekannt“, antwortet Any kühl lächelnd, „und auch meine Peripheren werden damit zurechtkommen. Schon allein deshalb, weil ich es verlange und unbedachte Affekte hier unerwünscht sind.“

Any blickt zu ihren Ratsmitgliedern und in deren Gesichtern breitet sich Angst aus, als sie an den Pendelketten reißt. Sofort explodiert ein heftiges Funkenspiel um die Körper ihrer Gefolgsleute, die sich daraufhin vor Schmerzen winden. Der ganze Vorgang dauert nur wenige Sekunden. Doch danach nicken sie allesamt demütig.

Any nickt ebenfalls zufrieden und wendet sich dann wieder an mich. „Ich verstehe deine Bedenken, Adrian. Du magst manche Gebräuche und Ziele meiner Peripheren missbilligen. Aber als Mitglieder von Pendula haben sie sich den Zielen der kosmischen Harmonie unterworfen und ihre ursprünglichen Begierden dem untergeordnet. Freiwillig, wie ich betonen will. Du brauchst also nichts von ihnen zu befürchten. Unsere Absichten sind edel.“

„Besonders freiwillig sieht mir das aber nicht aus“, traut sich Andy einzuwerfen.

Any lächelt sanft. „Ja, von Zeit zu Zeit müssen meine Verbündeten an die Konsequenzen ihrer Entscheidung und an die Tiefe ihrer Hingabe erinnert werden. Zweifel müssen beseitigt werden. Wenn sich ein Zahnrad einmal eingepasst hat, muss es auch funktionieren. Bedingungslos. Es darf sich nicht einfach in eine andere Richtung drehen, herausspringen oder stehenbleiben. Ansonsten bricht alles zusammen. Das gilt sowohl für meine Peripheren, als auch für meine Taktschwärmer. Aber nun zu etwas anderem. Welche Informationen hast du für mich, die du bei unserem Zusammentreffen in Deovan noch nicht besessen hast? Und was hast du mir mitgebracht.“

Nun, wo ich vor ihr stehe, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich meine Informationen mit Any teilen sollte. Der ganze Raum hier stinkt nach Autorität. Nach Unterdrückung, Gehorsam und Enge, ausgehend von Anys schlanken, schillernden, unnachgiebigen Händen. Sind das wirklich die Hände, in denen ich das Wissen um kommende Ereignisse platzieren sollte? Ich hasse solche Strukturen. Ich habe sie schon in Hyronanin, Konor und Uranor verabscheut. Andererseits kenne ich sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte, um der nahenden Katastrophe zu begegnen. Aber vielleicht sollte ich weitersuchen, anstatt …

„Genau genommen haben wir eine Botschaft von deinem zukünftigen Ich“, antwortet Tarena und nimmt mir damit meine Entscheidung an, „wir haben mit ihr zusammen verfolgt, wie das Multiversum im absoluten Chaos versunken ist und sie hat uns zu dir zurückgeschickt, um das zu verhindern. Um eine Zeitlinie zu beschreiten und zu stärken, auf der diese grauenhaften Ereignisse nicht passieren. Ich hoffe, du kannst uns dabei helfen. Es war wirklich widerlich. In solch einer Wirklichkeit will ich nicht existieren müssen. Unter keinen Umständen.“

„Interessant“, antwortet Any nachdenklich, „das sind in der Tat überraschende Nachrichten. Würden sie doch bedeuten, dass unsere aktuellen Bemühungen gegen Astrera zum Scheitern verdammt sind. Aber es freut mich sehr, dass ihr uns einen Ausweg liefert. Hat euch mein zukünftiges Ich denn auch mitgeteilt, wie wir die Katastrophe abwenden sollen?“

„Mit dem, was Adrian bei sich trägt“, antwortet Tarena und fällt mir damit einmal mehr in den Rücken, „er hat den Verlauf sämtlicher Ereignisse aus den Archiven kopiert. Auf einem Datenträger, den er bei sich trägt.“

In Anys Augen entsteht plötzlich eine ungewohnte Gier und selbst auf den Gesichtern ihrer Sklaven – oder „Peripheren“, wie sie sie nennt – zeigt sich ein mehr als nur beiläufiges Interesse.

„Damit ließe sich der Verlauf der Ereignisse in der Tat ändern“, antwortet Any zufrieden, „gib mir den Datenträger, Adrian.“

„Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr“, flüstere ich ganz leise zu mir selbst und frage mich zugleich, ob es sich bei Tarena und Andy überhaupt um Freunde handelt. Nein, wahrscheinlich nicht, gebe ich mir die Antwort. Aber ich habe andere Freunde. Freunde, die meine Unterstützung verdient haben.

„Ich gebe dir den Datenträger“, antworte ich, „unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“, will Any wissen.

„Überlasse mir deinen Turaxit“, antworte ich so selbstbewusst wie ich nur kann.

„Wohl eher nicht“, erwidert Any, „du bist mein Diener, Adrian. Das bist du schon seit Deovan. Und du hast noch keine Dienste geleistet, die einer solchen Bezahlung würdig wären. Gib mir den Datenträger und diene unserer Sache einige Zeit, dann denke ich vielleicht darüber nach.“

So viel Zeit hat Pingo nicht, denke ich, unabhängig davon, ob ich Any vertraue oder nicht, wobei sie mir gerade reichlich wenig Anlass dazu gibt, ihr zu vertrauen. Was aber stattdessen tun? Auch mit meinem erneuerten Körper, der besser springen und schneller rennen kann als mein alter, kann ich den Turaxit unmöglich erreichen. Zwar führt eine Leiter dort hin, aber bis ich dort angekommen wäre, hätten mich Any und ihre „Peripheren“ und „Taktschwärmer“ binnen Sekunden pulverisiert oder unter ihre Kontrolle gebracht. Auf Tarenas oder Andys Hilfe brauche ich in dieser Sache erst recht nicht zu zählen. Jedoch gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit. Mein Blick wandert zu der Rilandi und ihrem schillernden Licht, das sie so verklärt hütet, und mein Entschluss festigt sich.

„Ich bin kein Diener. Ich bin ein Fortgeschrittener“, sage ich zu Any, während ich nach meinen Fädenkräften greife. Der lähmende Kopfschmerz, der mich sonst stets beim Gebrauch dieser Kräfte außerhalb Uranors begleitet hat, bleibt diesmal aus, da meine Fähigkeit ihre Energie nicht aus mir, sondern aus dem Licht der überrumpelten Exil-Rilandi bezieht.

Noch bevor die anderen überhaupt begriffen haben, was ich da tue, spanne ich den leuchtenden Faden mit meinen verbesserten Reflexen bis hinauf zum Turaxit und schwinge mich wie an einer unsichtbaren Liane daran durch die Luft. Der Gärtner ist der einzige, der ansatzweise rechtzeitig reagiert, doch selbst seine langen, gefährlichen Rechenhände greifen knapp hinter mir ins Leere. Ich verkürze den Faden, ziehe mich bis zum Turaxit heran und versuche ihn aus seiner Fassung zu lösen. Das erweist sich jedoch nicht als so leicht, vor allem nicht einhändig, also binde ich mir den Lichtfaden wie ein Sicherungsseil um den Körper. Nun habe ich beide Hände frei, jedoch auch das Überraschungsmoment aufgebraucht.

Die humanoiden Peripheren eröffnen das Feuer mit verschiedenen Strahlenwaffen, während Andy und Tarena mich nur verblüfft ansehen und Any eines ihrer Pendel in Bewegung setzt. Die Schüsse verfehlen mich knapp, doch ihr Pendel beschwört einen kräftigen Windstoß herauf, der meinen Faden fast zum Zerreißen bringt und mich um ein Haar gegen die Wand geschleudert hätte. Zumindest wäre es so gewesen, wenn ich mich nicht just in diesem Moment mit beiden Händen am Turaxit festgeklammert hätte.

So verschafft mir Any unfreiwillig den nötigen Schub und der begehrte Kristall löst sich mit einem lauten Kreischen aus einer Metallfassung. Ich erschaffe ein paar kleinere Hilfsfäden, um meinen neu gewonnen Schwung zu lenken und suche fieberhaft nach einem Ausgang. Tatsächlich mache ich einen goldglänzenden Schacht in der Decke aus, durch den helles Tageslicht scheint und ich spüre tief in mir, dass ich es schaffen kann.

Aber dann fällt mein Blick auf Tarena und Andy. Ich kenne die beiden nicht wirklich. Und soweit es meine eigene Erfahrung betrifft, sind sie moralisch betrachtetet keine besseren Personen als mein Alter Ego, welches sie mit meiner Hilfe aus dem Weg geräumt haben. Ich sollte sie einfach hierlassen und mich nicht darum kümmern, ob Any ihren Frust an ihnen auslassen oder sie foltern und befragen wird.

Doch dummerweise habe ich mir das irre Ziel gesetzt, ein besserer Mensch zu werden. Also sinke ich etwas herab, wodurch ich mir einen schmerzhaften Streifschuss am rechten Oberschenkel einhandele und löse einige der Hilfsfäden. Ich sehe bereits, wie Any ihr Pendel gegen eine wahrscheinlich viel gefährlichere Variante austauscht und verliere deshalb keine Zeit. So fest wie ich es wage, schlingen sich die beiden Fäden um die Körper von Tarena und Andy, die ich leider nicht vorwarnen kann.

Entsprechend erschrocken und mit einem ungesund aussehenden Ruck erheben sie sich in die Luft und ich ziehe sie wie eine leblose Fracht zu mir heran. Weitere Schüsse zucken durch die Luft und verfehlen uns knapp, während sich nun auch die „Taktschwärmer“ erheben und aus ihren Unterleibern lange, breite Strahlen aus flüssigem Gold oder einer ähnlichen Substanz absondern, von denen eine enorme Hitze ausgeht. Der geringste Kontakt mit einem dieser Strahlen muss tödlich sein, so viel steht fest.

So richtig mies wird unsere Situation aber erst, als Any ihr neues Pendel zum Einsatz bringt. Mit Erschrecken stelle ich fest, wie der Luftschacht sich vor unseren Augen schließt. Nicht auf gewöhnliche Weise, sondern durch eine zunehmende unnatürliche Verengung des Raums.

Auf diese Weise – das erkenne ich deutlich – ist uns eine Flucht unmöglich.

„Wer mit dem Kompass schießt, hat das Angesicht seines Vaters vergessen“, geht mir eine alberne Abwandlung eines Zitats aus einem meiner Lieblingsbuchreihen durch den Kopf. Ich stoße mich noch einmal von einer nahen Balustrade ab, um den tödlichen Schüssen der Taktschwärmer zu entgehen. Dann entfessle ich eine gnadenlose Salve direkt auf Any. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, genau zu zielen, sondern achte auf eine möglichst breite Streuung, da mir Wahrscheinlichkeitsrechnung vertrauenswürdiger scheint als Superheldengehabe.

Ich werde nicht enttäuscht. Ein paar meiner Nadeln schlagen in Anys Pendel und ihre Hand ein und sorgen dafür, dass sich ihr Schwung verlangsamt. Für einen Moment wird die Anomalie unterbrochen.

„Jetzt oder nie“, sage ich zu mir und spanne meine Armmuskeln an.

~o~

„Bleib doch endlich mal stehen!“, ruft Tarena keuchend, als wir uns bereits ein gutes Stück vom Hauptquartier entfernt haben.

„Warum sollte ich?“, rufe ich zurück.

„Weil wir so nicht reden können und es dringenden Redebedarf gibt“, antwortet Tarena.

„Any wird uns einholen, wenn wir anhalten“, widerspreche ich.

„Sie hätte es längst getan, wenn sie es gewollt hätte. Möglich, dass sie uns irgendwann aufspürt, aber profanes Hinterherhetzen scheint nicht ihre Sache zu sein. Also gib mir eine Minute, okay?“, entgegnet Tarena.

„In Ordnung“, antworte ich und halte schließlich an, nachdem ich einen weiteren kontrollierenden Blick in Richtung des Pendula-Hauptquartiers geworfen habe, ohne dort irgendetwas Verdächtiges zu bemerken. „Also raus mit der Sprache. Was willst du mir sagen?“

„Zunächst einmal Danke für unsere Rettung, so ruppig sie auch war“, sagt sie und sieht mich dabei so freundlich, unvoreingenommen und natürlich an, dass ich zum ersten Mal wirklich verstehe, was mein anderes Ich an ihr gefunden haben könnte, „und Entschuldigung für mein Verhalten. Du musst dich verraten gefühlt haben.“

„Ja, das kommt hin“, antworte ich unverblümt, „aber ich vermute, du glaubst nach wie vor das Richtige getan zu haben, oder?“

„Das tue ich“, sagt Tarena, „und deshalb will ich vor allem mit dir reden. Wir müssen Any den Datenträger übergeben.“

„Fängst du wieder damit an? Nein, das geht unter keinen Umständen“, widerspreche ich, „selbst, wenn ich das wollen würde. Sie wird uns garantiert umlegen, wenn wir jetzt zu ihr zurückkehren und ich muss Pingo den Stein …“

„Das weiß ich doch alles“, sagt Tarena, „und ich finde es sehr edel, dass du deinem Freund helfen willst. Du bist ein weit besserer Mensch als der Adrian, den ich früher kannte. Deshalb sollst du den Stein ruhig zu deinem Freund bringen. Alles, was du tun musst, ist mir den Datenträger zu geben. Any wird dich in Ruhe lassen und wir kommen schon mit ihr klar. Ich habe Erfahrung im Umgang mit ihr. Und ich weiß mit Worten umzugehen.“

„Hältst du das wirklich für klug? Diese Frau ist herrisch und bösartig. Sie könnte dich durchaus opfern. Und uns alle gleich mit“, antworte ich.

„Das glaube ich nicht“, bekräftigt Tarena, „sie hat einen Kontrollzwang, ja. Aber ich denke, dass ihre Absichten nicht so finster sind, wie du denkst. Zudem ist sie die einzige Chance, die wir haben.“

„In Ordnung“, überwinde ich mich schließlich zu sagen und reiche ihr das Pendel mit dem integrierten Datenträger, „aber pass gut auf dich auf, Tarena. Und auf Andy auch. Ich will nicht, dass noch mehr Leute meinetwegen draufgehen.“

„Eine wirklich herzergreifende Szene“, erklingt Anys Stimme praktisch direkt neben meinem Ohr. Und als ich mich umdrehe, erblicke ich auch den passenden Körper. Ein kleiner werdender, goldener Energiewirbel direkt hinter Any beantwortet die Frage, wie sie so plötzlich direkt neben uns auftauchen konnte. In ihrer Hand hält sie ein strahlend rotes, gezacktes und ziemlich bösartig aussehendes Pendel, dessen bloßer Anblick mich zu lähmen scheint. Andy und Tarena scheint es dabei nicht anders zu gehen, wobei es Tarenas Sohn zumindest noch gelungen ist, seine scharfen Klauen ganz nah an ihren Hals zu bringen.

„Dieses Pendel kann eure molekulare Struktur auflösen, wenn ich es auf die richtige Weise schwinge“, bemerkt Any, „doch das würde ich nur ungern tun. Schon allein aus ideologischen Gründen. Denn es ist eine Schande, wenn einmal geschaffene Ordnung in Chaos aufgelöst werden muss. Vor allem dann, wenn es sich vermeiden lässt. Und ich denke, das ist hier der Fall. Ja, im Grunde hatten wir einfach einen miserablen Start und ich denke, dass wir eigentlich dieselben Ziele verfolgen.“

„Mein Ziel ist es, Pingo zu helfen“, antworte ich, „und dazu brauche ich den Stein.“

„Das ist problematisch“, bemerkt Any, „du weißt – und hast es bereits selbst erlebt – dass ich gerne bereit bin dir zu helfen, Adrian. Aber der Turaxit ist mehr als eine bloße Dekoration. Ich brauche ihn, um die Seelen meiner Taktschwärmer an ihre Körper zu binden. Verlässt er seinen Platz zu lange, schwächt das die Verteidigungsfähigkeit unseres Hauptquartiers. Erheblich sogar, denn sie sind weit mächtiger, als du vielleicht denkst. Eine Sicherung, auf die ich nur ungern verzichte. Und einen neuen Turaxit zu besorgen, wird nicht einfach.“

„Das ist dein Problem“, beharre ich, „du magst in der Lage sein, uns explodieren zu lassen. Aber das wird auch den Datenträger beschädigen. Andernfalls würdest du wahrscheinlich gar nicht verhandeln und hättest mich schon im Hauptquartier von deinen Dienern erledigen lassen. Ich gebe ihn dir. Aber nur, wenn ich den Stein behalten und Pingo damit helfen kann.“

„Du bist schlauer als ich angenommen habe“, antwortet Any, „und ich bin bereit, dir den Stein zu überlassen. Aber nur unter einer zusätzlichen Bedingung. Du übergibst mir die Daten und bist dafür bereit, mich beim Kampf gegen Astrera bedingungslos zu unterstützen.“

„Ich verspreche es“, antworte ich, „du kannst mich also freigeben und diese unschöne Szene beenden.“

„Versprechen reichen mir nicht, Fernwehgeplagter. Ich will Garantien“, sagt Any und macht mit ihrer freien Hand eine Geste, woraufhin eine Kette aus goldenen, durchscheinenden Gliedern entsteht, wie ich sie bereits bei Anys Untergebenen gesehen habe, „wirst du dich in meinen Dienst stellen? Bist du bereit, ein Peripherer im Dienste Pendulas zu werden?“

„Deine Marionette?“, frage ich ungläubig.

„Nichts derart profanes. Du wirst deine Bewegungsfreiheit nicht verlieren. Ich brauche keine stumpfen Diener. Nur ein wenig Kontrolle. Jedes hohe Mitglied von Pendula geht diesen Handel ein“, antwortet Any, „nur so kann ich ihnen wirklich vertrauen.“

„Also gut, ich akzeptiere“, sage ich schweren Herzens und wende mich dann an meine Begleiterin, „Tarena, gib ihr den Datenträger!“

Tarena, die jene von Any heiß ersehnte Bewegung wieder problemlos ausführen kann, gehorcht und kurz darauf landet der Datenträger in Anys Besitz.

„Wunderbar“, sagt Any und wie eine zupackende Schlange legt sich die Kette um mein Fußgelenk. Ein kurzes Ziehen ist alles, was ich spüre und die Kette löst sich direkt wieder in Luft auf. Aber dennoch spüre ich sie auf einer tieferen, subtileren Ebene weiterhin.

„Fortan wirst du nirgendwo mehr hingehen können, ohne dass ich dich finden und zu mir zurückholen kann. Jederzeit. Nicht einmal mit dem Katalog wirst du dich mir dauerhaft entziehen können. Betrachte das als Sicherheitsleine. Nicht als Fessel“, peitschen Anys Worte wie ein Ledergürtel in mein Gesicht, „doch ich halte mein Wort. Du darfst mit dem Stein zu deinem Freund gehen. Danach sehen wir uns wieder und besprechen deine künftigen Dienste für mich.“

Ein Lächeln breitet sich auf Anys glänzenden Gesichtszügen aus, „Denn letzten Endes, Adrian, bist du ein Fortgeschrittener UND ein Diener.“

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