Remorsis


Dieser Kaffee schmeckt bitter. Bitterer als er sein sollte. Trotz des Milchschaums. Trotz der drei Stück Zucker, mit denen Caroline ihn traditionell verfeinert. Es ist nicht die Röstung. Nicht die dunklen, aromatischen Bohnen, die irgendwo auf einer fernen Plantage unter fragwürdigen Umständen geerntet worden waren. Es ist irgendetwas in Carolines Hinterkopf, dass ihr den Genuss verdirbt. Dass sich zwischen sie und die anderen Menschen in diesem Kaffee legt wie eine verschmutzte, schmierige Brille. Sie zittert. Sie verkrampft und hält das doppelwandige Glas mit beiden Händen fest wie eine Rettungsleine. Ihr Blick wechselt zu der üppigen, gestreiften Zierpflanze in dem roten Topf. Etwas stimmt damit nicht. Irgendetwas. Es liegt ihr auf der Zunge. Schwebt am Rande ihrer Wahrnehmung und doch …

„Ist alles in Ordnung?“, fragt John freundlich, aber doch besorgt. Sein schwarzes, langes Haar fällt dabei über seine Schultern nach vorne und streift beinah die Sahne auf seiner halb aufgegessenen Waffel. Es sieht so sexy aus. So süß. Wie aus einem Film geschnitten. Erinnerungen überfluten Caroline. An einen Tag am Meer. An gemeinsame Uni-Jahre. An ihre nerdige Hochzeitsfeier auf einer Burg in Schweden. Ein verträumtes Lächeln will auf ihren Mund wandern. Doch es gefriert auf halbem Weg. Etwas irgendwas stimmt nicht. Mit ihr. Mit ihm. Mit der Welt.

„Fragst du dich auch manchmal, warum wir all diesen Scheiß hier überhaupt machen?“, fragt sie ihn unvermittelt und erntet ein tiefes Stirnrunzeln, das John hübsches Gesicht zerfurcht, bevor sein Blick erschrocken zum Platz neben Caroline schweift.

Verwirrt blickt sie zur Seite und sieht einen blonden Jungen mit neugierigen Augen. Luca, natürlich, fällt es ihr siedend heiß ein. Und mit einem mal schämt sie sich für ihre depressiven Worte. Das ist natürlich nichts, was man in Gegenwart eines Achtjährigen äußern sollte. Erst recht nicht bei einem so verletzlichen und liebevollen Jungen, der sie jetzt auch mit seinen braunen, unschuldigen Augen ziemlich fragend anschaut. Sie hätte so etwas nicht sagen sollen. Das war absolut dumm gewesen. Dennoch, für einen Moment hatte es in ihr gegärt, und …

„So meine ich das nicht“, beeilt sie sich ihrem Sohn zu sagen und zwingt ein fröhliches Lächeln auf ihr Gesicht, „mit euch beiden ist es wirklich wunderschön und ich freue mich auf jeden neuen Tag, den wir zusammen erleben dürfen. Aber ist es nicht auch seltsam, wie ähnlich diese Tage verlaufen. Wir haben sicher schon ein paar hundertmal …“

Mit einem Mal erfüllt ein infernalisches Krachen ihre Ohren. Sie duckt sich hastig unter dem Tisch weg und zieht den kleinen Luca mit sich, als ein harter Splitterregen auf sie niedergeht. Eine Hitzewelle schwappt über sie hinweg. Sie hört Schreie, riecht verbranntes Fleisch und verschmorte Haare. Die Luft schmerzt beim Atmen und Caroline schließt instinktiv die Augen. Kann es nicht fassen. Will einfach nur weg. Nur weg hier. War das die Strafe? Die Strafe dafür, dass sie ihr kleines Paradies nicht wertzuschätzen weiß? Vorsichtig öffnet sie die Augen. Luca ist da. Er lehnt verängstigt an ihrer Brust. Aber wo ist John? Sie sieht ihn nirgends. Verflucht, durchfährt es sie eiskalt, er ist nicht in Deckung gegangen vor … wovor auch immer.

Sorge verengt Ihre Brust. Beherrscht all ihre Gedanken. Obwohl sie nicht weiß, was überhaupt passiert ist, wagt sie sich vor lauter Sorge doch nach oben. Mitten hinein in das Inferno. Das Café brennt lichterloh. Die Scheiben sind zersplittert und geschmolzen und John … nun, er sitzt noch immer an seinem Platz. Er starrt sie entgeistert an. Sein Kopf ist kahl. Was von seinen Haaren übrig ist, liegt wie ein heruntergerutschtes Toupet samt Kopfhaut auf dem Tisch. Sein Schädel ist nur von blankem Fleisch bedeckt. Seine restliche Haut ist vollkommen verschmort und verbrannt. Mit dicken roten Blasen, dort, wo sie nicht zu Kohle gebraten wurde. Doch er lebt noch.

„Ist das genug Abwechslung für dich?“, fragt er röchelnd, mit blutenden Lippen, zerrissen von einem tragisch-komischen Lächeln. Kaum da er diese letzte, sarkastische Frage gestellt hat, fängt sein Körper an zu zucken. John wölbt sich nach vorne und würgt einen Klumpen aus Erbrochenem, Blut und Lungengewebe auf den Tisch. Dann bricht er zusammen. Ist reglos und leblos. Genau wie die meisten anderen Gäste im Café. Nur jene, die wie sie und Luca unter den Tischen Zuflucht gesucht haben, sind noch lebendig. Nur sie haben noch die Kraft zu schreien und panisch aus den zersplitterten Fenstern zu springen, ohne Rücksicht auf die scharfen Glasstücke, die ihre Füße und Arme zerschneiden, auch wenn keiner von ihnen so unversehrt scheint wie Luca und sie. Wie ist das nur möglich? Fragt sie sich, während der gnadenlose Fakt von Johns entsetzlichem Ableben ihr Herz verwüstet. Was kann so etwas Schreckliches anrichten? Und wie kann eine simple Tischplatte jemanden vor so einem teuflischen Angriff bewahren? Vor allem aber: warum hatte John nicht … warum zur Hölle hatte er nicht …

„Was … was ist los?“, hört sie Luca fragen. Sein Gesicht ist von Furcht gezeichnet, seine dunklen Haare zerzaust. Doch sie weiß es selbst nicht. Sie hat keine Antwort. Keinen Trost für ihn. Gar nichts.

„Es ist alles in Ordnung“, lügt sie schamlos, da ihr nichts Besseres einfällt, „aber wir müssen ganz schnell hier raus, hörst du?“

Luca reagiert nicht. Während die Hitze der Flammen Caroline wie eine Faust ins Gesicht schlägt. Sie fragt sich, ob es nur bloße Hitze ist. Oder mehr als das. Strahlung womöglich? Oder ein anderer, lautloser Killer.

„Aber was ist mit Papa?!“, fragt Luca und macht Anstalten sich umzudrehen, sich aus Carolines Umarmung zu winden, die ihn im Moment noch vor dem widerlichen Anblick seines Vaters abschirmt.

„Es geht ihm gut, mein Schatz“, behauptet Caroline und hält ihren Sohn mit liebevoller, aber unnachgiebiger Härte fest, „aber wir müssen jetzt gehen, hörst du? Ganz dringend!“

Und das ist nicht gelogen. Denn Strahlung hin oder her – das Feuer ist wahrscheinlich ihr größtes Problem. Es breitet sich immer schneller aus.

Doch Luca hat andere Pläne. „Du tust mir weh!“, beschwert er sich und tut dann etwas, womit Caroline nicht gerechnet hat. Er nimmt ihre Hand und beißt fest hinein. So fest, dass es blutet. Caroline schreit auf und lockert ihren Griff, was Luca nutzt, um ihrer Umarmung zu entkommen.

„Bleib hier“, ruft Caroline als der Schmerz etwas nachlässt, doch innerlich weiß sie, dass es schon zu spät ist. Eine Vermutung, die ihr ihre Sinne schon einen Moment später bestätigen.

„Du hast gelogen!“, sagt ihr Sohn wie versteinert, während er auf seinen übel zugerichteten, toten Vater starrt und über die vertrocknete, abblätternde Haut streicht.

„Das stimmt“, gibt Caroline zu, „aber ich wollte dich nur beschützen vor …“

„Du hast gelogen“, wiederholt Luca so als hätte er ihr gar nicht zugehört, „ICH HASSE DICH!“

Diese Worte brüllt er so laut, dass Caroline vor Schreck zusammenfährt.

Doch noch viel mehr erschreckt sie, was ihr Sohn danach tut. Er lässt seinen Vater los und … rennt. Er rennt davon, mitten durch die Flammen auf eins der zerbrochenen Fenster zu.

„Luca, Bitte! Wir müssen zusammenbleiben. Das ist gefährlich!“, versucht sie ihn zur Vernunft zu bringen, während sie hastig die Verfolgung aufnimmt.

„ICH HASSE DICH!“, wiederholt er noch einmal, „LASS MICH IN RUHE!“

Caroline hält inne. Für einen Augenblick steht sie wie gelähmt da. Mitten in dem brennenden Café, zwischen den gierig-knisternden Flammen, umgeben von geschmolzenen Menschen und stinkendem Fleisch und sieht ihrem Sohn hinterher und seine Worte, seine Abscheu brennt noch heißer als jedes Feuer. Sie graben sich tief in Carolines Brust hinein und foltern sie auf eine Weise, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Dann endlich überwindet sie den Schock und nimmt wieder die Verfolgung auf. Luca ist inzwischen auf der Straße angelangt. Soweit sie es erkennen kann, ist er zum Glück unverletzt und auch ihr gelingt es irgendwie heil durch das zerbrochene Fenster zu kommen. Als sie endlich auf der Straße angekommen ist, kann sie ihren Sohn, mit seinem auffälligen gelben SpongeBob-T-Shirt noch immer erkennen.

Damit enden jedoch die guten Nachrichten. Denn die Straße, die sie betreten hat, ist nicht besser als das Café. Sie wirkt viel mehr wie ein Abbild der Hölle selbst. Der Asphalt ist so heiß wie an einem mediterranen Sommertag, obwohl die mit Asche gefüllte Luft, die ihre Lungen quält so kalt ist wie in einer verregneten Herbstnacht.

Das ist ein Wunder, denn am eitergelben Himmel hängt eine gigantisch große Sonne, eingeklemmt zwischen pestgrünen Wolken und defäkiert ein schmierig-widerliches Unlicht auf die erbärmlichen Menschen hinab, die die Frechheit haben, hier zu existieren. Menschen, die allesamt leben, aber leiden. Frauen, Männer und Kinder mit schmerzverzerrten, kranken Gesichtern und zitternden Gliedern, die unsicher voranstolpern als gäbe es irgendeinen Ausweg aus dieser Hölle. Als gäbe es noch irgendeinen Ort, den man erreichen könnte, der auch nur ein Quäntchen weniger grauenhaft wäre als dieser.

Aber Caroline hat dennoch Hoffnung. Sie hat die Hoffnung, zumindest Luca zu erreichen und ihm alles zu erklären. Ihm zu zeigen, dass sie doch eine gute Mutter ist, dass sie immer nur das beste für ihn will, damit zwischen ihnen alles wieder gut wird. Wie sie das anstellen will, davon hat sie nicht den Hauch einer Ahnung. Doch zumindest kann sie rennen. Wie man das macht, weiß sie. Und sie ist gesund genug dafür. Vielleicht der gesündeste Mensch, den es noch auf dieser Welt gibt. Auch wenn sie nicht weiß, warum.

Und während ihre Füße über den kochend heißen Boden fliegen, macht sie tatsächlich Boden gut. Ihr kräftigerer, trainierterer Erwachsenenkörper spielt seinen unfairen Vorteil gegen ihren Jungen aus, dem es an der nötigen Stärke und Rücksichtslosigkeit mangelt, all die verwirrten, leidenden Passanten aus dem Weg zu stoßen, auf zitternde Hände zu treten und sich vom Rücken jener abzustoßen, die keine Kraft mehr haben, sich zu erheben.

„Luca, bleib stehen!“, schreit sie und es klingt selbst in ihren Ohren so liebevoll wie ein Gefängniswärter, der einen Gefangenen zurechtweist. So mütterlich wie ein Drill Instructor, der den Widerstand eines Rekruten brechen will. Aber sie braucht Luca. Sie muss ihn wiederhaben, weil er das Einzige ist, was zu ihr gehört, was ihr in dieser ekelhaften Welt noch ein Gefühl von Sinn geben würde. Und sie hat ihn schon beinah erreicht, ist bereit ihre Hände schützend und fesselnd um seinen kleinen Körper zu schlingen, als ihre Füße auf eine schmierige Substanz treffen. Caroline verliert den Halt.

Noch während sie ausrutscht und hart auf den verschmierten Untergrund aufschlägt, sieht sie in das kalkbleiche Gesicht des Mannes, der sein Erbrochenes auf dem Boden verteilt hat und der just in diesem Moment eine weitere Ladung von sich gibt. Mitten in ihr Gesicht.

Carolines Nase explodiert, während die abartigen Aromen in ihre Nase dringend und muss sich selbst beherrschen, den bitteren Kaffee nicht hochzuwürgen.

„Geht … geht es ihnen gut?“, versucht Caroline dennoch Haltung zu bewahren, nachdem sie sich das stinkende Erbrochene aus dem Gesicht gewischt hat. Und für einen Moment fühlt sie sich schuldig. Sie weiß nicht warum, immerhin hatte sie zumindest diesem Mann nichts getan, aber es ist so.

„Ich … kann ich ihnen irgendwie helfen?“, fragt sie und blickt dem Unbekannten in seine vertrockneten, mit Eiter verkrusteten und wahrscheinlich blinden Augen. Dabei vergisst sie für einen Moment sogar Lucas Verfolgung aufzunehmen.

„Sie sind es …“, sagt der Mann krächzend und voller Abscheu, „sie… sie haben wirklich schon genug getan! Sie sind dafür verantwortlich. Für all das hier sind nur Sie verantwortlich!“

Caroline wollte diesen absurden Vorwurf abstreiten. Wollte die Behauptung auf das Leid und die Verwirrung dieses armen Mannes schieben, aber plötzlich war da wieder dieses Schuldgefühl. Und Erinnerungen. Bruchstücke von ihrer Hand, die auf irgendeinen Kopf gedrückt hat. In irgendeinem Labor. Zu irgendeinem Zweck. Sie erinnert sich nicht an Details. Nicht an Zusammenhänge. Nur an das Gefühl, das Richtige, das in ihrer Lage Alternativlose zu tun und an einen Countdown. Doch das hier sah nicht wie das Richtige aus … ganz und gar nicht. Es war … grauenhaft. Sie ….

„Entschuldigung“, sagte sie lahm zu dem Mann, weil ihr nichts Treffenderes einfiel. Schon allein, weil ihr so vieles so unklar war. Doch warum war das so? Stand sie unter Drogen? War es der Stress nach ihrer absurden Tat? Eine besonders perfide Form der Verdrängung? Diese Frage würde sie nicht klären können. Aber etwas anderes drängte sich dafür wieder mit Macht in ihr Bewusstsein. Lucas Gesicht. „Tut mir leid. Ich würde ihnen ja helfen …“, sagt sie zu dem Mann, „aber ich muss meinen Sohn finden!“

Mit diesen Worten schiebt sie den Kerl von sich herunter, woraufhin er wie ein schlaffer Sack auf die fast glühende Erde aufschlägt. Es zischt kurz und Caroline zuckt schuldbewusst zusammen, verdrängt das Schicksal des Unbekannten aber rasch und macht sich stattdessen ein Bild von ihrer Lage. Luca ist nun nirgends mehr zu entdecken. Überall sind nur Fremde. Fremde mit verkohlten und geschmolzenen Gesichtern, mit fehlenden Gliedmaßen und grauenhaften Verletzungen. Fremde, die dem Leben nachtrauern und sich nach dem Tod sehnen, den sie allein aus Trotz noch nicht willkommen heißen.

Oder aus Rache, flüstert eine Stimme in Carolines Gedanken, von der sie nicht weiß, ob es ihre eigene ist.

Plötzlich hört sie ein lautes Donnern und Zischen. Die Menschen um sie herum, die noch sehen können, blicken nach oben und springen dann panisch zurück. Caroline tut es ihnen sofort gleich, als auch sie sieht, was das auf sie herabstürzt. Ein fast turmgroßer, gezackter Steinsplitter pechschwarzen Gesteins saust vom trüben Endzeit-Himmel herab.

Caroline sprintet so weit weg, wie sie kann. Dann schlägt das Objekt mit einem lauten Geräusch auf der Erde ein. Gesteinssplitter werden abgesprengt und schlagen weitere, grausame Wunden bei allen Umstehenden, abgesehen von Caroline. Lediglich die Druckwelle fegt auch sie von den Beinen.

Als sie wieder aufsteht, sieht sie sich das Objekt genauer an, das es sich auf einem Fundament zerquetschter Leiber bequem gemacht hat, und um das herum der Staub sich langsam verzieht. Dort ist ein großes Wort eingraviert. „Gerechtigkeit!“, umgeben von vielen kleineren Wörtern, die sie nicht direkt entziffern kann.

Und jenes in mehrfacher Hinsicht großes Wort beginnen die Umstehenden nun zu flüstern, zu singen und zu schreien, während ihre Gesichter abwesend und zornerfüllt werden.

Panik wächst in Caroline, doch sie reift erst voll aus als sie eine feine, gehässige Stimme hört.

„Dort ist sie, das ist die Schuldige!“, verkündet die Stimme, die Luca gehört, „Sie hat uns alle zum Leiden verdammt! Sie ist eine böse Frau. Wir müssen sie bestrafen.“

Caroline, die sofort erkennt, worauf das hinausläuft, sucht nach einem Ausweg, sucht nach irgendeiner Lücke in der von Rachedurst geschüttelten, hypnotisieren Menge. Doch es gibt keinen Ausweg. Nur einen eiternden Himmel, einen glühenden Boden und eine Masse aus Menschen, angeführt von ihrem Sohn Luca, die sich torkelnd und schlurfend enger und enger um sie herum schließt.

In ihrer Verzweiflung greift sie sich heiße Steine vom Boden und wirft sie wahllos in die Menge. Aber alles was sie damit erreicht, ist nur mehr sinnloses Leid. Niemand der Anwesenden lässt sich von ihrem Widerstand beeindrucken, selbst wenn ein Stein ihren Kopf oder ein Auge trifft.

Schließlich wird Caroline von vier noch halbwegs kräftigen Männern und Frauen gepackt, hochgehoben und direkt an den dunklen Stein des Splitters gedrückt. Kaum, da Carolines Rücken Kontakt mit dem Objekt herstellt, spürt sie, wie ihre Haut in Flammen steht. Der Stein brennt sich so schnell durch ihre Kleidung bis zu ihrer Haut, dass die Stoffreste mit ihrer Epidermis verkleben und sie praktisch an den Stein festgeschweißt wird. Sie spürt grauenhafte Schmerzen, während sie vergeblich versuchte sich loszureißen, ungeachtet der Wunden, die ihr das zufügen würde, wenn sie Erfolg hätte.

„Bitte“, fleht sie die Umstehenden und vor allem Luca an, „ich habe das hier nicht gewollt … ich weiß nicht einmal wirklich, was passiert ist. Bitte lasst mich frei!“

„Du bist schuldig, Mutter!“, sagt Luca ohne jedes Mitleid und seine bis zur Lieblosigkeit verletzte Seele, die aus seinen harten Augen starrt, vernichtet Caroline innerlich.

Doch das ist noch nicht alles. Denn plötzlich ist Luca nicht mehr das einzige Kind. Jeder einzelne der Menschen um sie herum ist nun eines, ohne dass sie etwas von dieser Transformation mitbekomme hätte. Und sie alle sehen sie anklagend und unfassbar verletzt an.

„Erkennst du deine Schuld an?“, fragt Luca, hebt seinerseits einen großen Steinsplitter auf und tritt damit auf Caroline zu.

„Bitte Luca. Du kannst doch nicht … ich bin deine Mutter“, fleht sie ihren Sohn noch einmal an.

„Und ich bin dein Sohn. Aber ein Schutz ist das nicht oder? Ein Schutz war das nie“, sagte er bitter, fast traurig.

Dann hebt er lächelnd den Stein und rammt ihn Carolines Bauch. Caroline krampft sich zusammen. Sie spürt wie Blut ihre Kehle hochsteigt und ihren Schrei zu einem unartikulierten Blubbern werden lässt.

„Gefällt dir das?“, fragt Luca mit eiskalter Stimme, bevor er erneut zustößt.

„Gefällt dir das?!“, schmettert Luca erneut.

„GEFÄLLT DIR DAS?!“, stimmen alle mit ein, während sich rund um Caroline ein kleiner See aus Blut bildet. Und die auf dem Stein eingravierten kleinen Worte. Die kleinen, wichtigen Namen der vielen Kinder beginnen, in ihrem Kopf herumzuspuken.

Und nein. Caroline gefällt das alles ganz und gar nicht. Und das sollte sich auch nicht ändern bis das letzte kümmerliche Lebensblut ihren Körper verlässt.

~o~

„Na, war das nicht ein Ritt?“, fragt Dr. Stan Ravant stolz grinsend und lehnt sich entspannt zurück als seine Präsentation endet, „Zugegeben, das Design ist ein wenig surrealistisch geraten. Aber der Schlampe haben wir es ordentlich gegeben, oder?“

„Ich verbitte mir solch einen Tonfall“, ermahnt ihn Premierministerin Rita Winston, „wir sind hier nicht auf dem Schulhof, sondern in einem Justizforschungslabor, finanziert von Regierungsgeldern. Und die Frau, in deren Verstand wir hier hineinschauen ist immer noch ein Mensch.“

„Ach kommen sie schon, ersparen sie mir ihr gutbürgerliches Getue“, antwortet Dr. Ravant, „dieser ‚Mensch‘ hat den eigenen Sohn und viele weitere Kinder zur Prostitution freigegeben und ein regelrechtes Bordell gegründet. Wir haben ein verfluchtes Geständnis von ihr. Und unzählige Beweise. Wir brauchen kein Mitleid mit ihr zu haben und ich hätte noch ganz andere Worte für sie.“

„Trotzdem dürfen wir uns in einem Rechtsstaat nicht von Rachegelüsten leiten lassen“, mischt sich der Ethik-Beauftrage Jonathan Thompson ein, „es geht bei diesem Programm um Rehabilitation. Um Schulderkenntnis und Besserung. Nicht um barbarische Rache.“

„Da muss ich Mr. Thompson beipflichten“, sagt die Ministerin, wenn auch mehr pflichtschuldig als wirklich überzeugt.

„Die Kameras sind ausgeschaltet, Frau Premierministerin“, antwortet Dr. Ravant, „und ich kann ihnen versichern, dass wir keinen von diesen Leuten jemals freilassen oder rehabilitieren werden.“

„Wie bitte?!“, fragt Thompson fassungslos, während Ministerin Winston diese Neuigkeit überraschend gelassen hinnimmt.

„Das ist wahr“, springt Dr. Kim Vannet ihrem Kollegen zu Seite, ohne dem Ethikbeauftragten Beachtung zu schenken, „doch das hat nicht primär moralische, sondern vor allem technische Gründe. Die tiefe affektive und sensorische Kopplung, die für dieses Verfahren unabdingbar ist, bring es mit sich, dass die Probanden bei einer Abkopplung von ‚Remorsis‘ eine komplette Dissoziation von ihren gewohnten Sinnen erleben. Mit anderen Worten: Sie werden taub, blind, stumm und verlieren selbst ihren Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Dieser Effekt ist momentan irreversibel. Das Einzige, was wir geläuterten Tätern als Rehabilitation anbieten könnten, wäre eine angenehmere, simulierte Realität. Aber ich glaube niemand von uns würde gerne Ressourcen verbrauchen, um solchen Subjekten ein schönes Leben zu ermöglichen.“

„Sie sprechen sich also für die Nutzung des Verfahrens aus, das ihr Kollege entwickelt hat?“, versichert sich die Premierministerin.

„Nein, im Gegenteil“, antwortete Vannet, „ich halte es für das alberne Produkt eines spätpubertären Männergehirns, das mit einem Kondensat aus schlechten Horror- und Sci-Fi-Filmen verklebt ist.“

„Also das ist …“, beginnt Ravant empört.

„… äußerst interessant“, beendet die Premierministerin seinen Satz, „welche Alternative würden Sie denn stattdessen vorschlagen?“

„Stellen Sie sich ein langes Leben vor. Von der Geburt bis ins hohe Alter. Lang und quälend und dennoch ohne ressourcenfressende Großereignisse. Wir beginnen mit einer unspektakulären Kindheit. Mit Eltern, die nett, aber nicht liebevoll, streng, aber nicht psychopathisch, gestresst, aber nicht vollkommen abwesend sind. Mit viel Kälte, etwas Vernachlässigung und kleinen Grausamkeiten, aber genügend Wärme, um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu nähren.

Dazu eine Dosis Mobbing und Ausgrenzung in der Schule. Ein paar unfaire Lehrer. Eine Lernkurve, die niedrig genug ist, um sie gerade so zu bewältigen, aber viel zu hoch, um zufrieden zu sein, zu hoch, um das ständige Gefühl loszuwerden, ein mangelhaftes, minderbegabtes Wesen zu sein. Dann noch ein paar Beziehungen. Dysfunktional, aber ohne nennenswertes Drama. Flüchtige Romanzen, glücklose Ehen und peinliche Affären, die die Leere vergrößern und die Sehnsucht unerträglich machen.

Den Rest des Lebens gestalten wir nach ähnlichem Muster. Ein langweiliger, ungeliebter Job, begleitet von geringer Bezahlung und Abstiegsängsten. Endlose Abende sinnloser Berieselung garniert mit geplatzten Träumen, einsamem Altern und schließlich dem langsamen Dahinsiechen an irgendeiner Krankheit in der Obhut überforderter und abgestumpfter Ärzte und Pfleger.

Kurzum: wir ersticken sie in Mittelmäßigkeit und Kontingenz, bis ein neuer, simulierter, gleichförmiger Lebenszyklus beginnt und wir ihr Gedächtnis wieder löschen, abgesehen von all den Traumata und der Müdigkeit, die wie unsichtbarer Ballast in ihrem Unterbewusstsein verbleiben. Wir können die Dauer dieses Prozesses beliebig ausweiten, abhängig davon, wie fein wir den Zeithorizont kalibrieren. Ein Tag, eine reale Lebensspanne, zehntausend Jahre. Vieles ist denkbar.“

Die Anwesenden sehen Vannet mit einer Mischung aus Entsetzen, Irritation und Überraschung an.

„Das ist totaler Schwachsinn“, beeilte sich Ravant einzuwenden, „ein ganzes Leben zu simulieren, würde ungleich mehr Ressourcen verschlingen als mein Ansatz.“

„Keineswegs“, erwiderte Vannet, „und das können Sie ganz leicht nachprüfen. Ihre albernen Horrorfilme müssten auch kontinuierlich ablaufen, um wenigstens eine gewisse Wirkung zu erzielen. Oder wollen sie die Verurteilte schon nach den paar Vorstellungen wieder vom Haken lassen? Außerdem können wir es sehr günstig gestalten. Wenige Kulissen, wenige Darsteller. Die meisten Menschen sehen nicht viel von der Welt. Sie halten sich die meiste Zeit an ein oder zwei Orten auf und starren in ihre Bildschirme.

Die Zahl der Ausnahmen kann man minimieren mit der richtigen psychischen und materiellen Konditionierung. Soziale Ängste. Introvertiertheit. Risikoaversion. Armut. Obendrein brauchen wir keine Designer. Die Szenarien können KI-generiert werden, wenn man ein Parameter voreinstellt. Lieblos zusammengewürfelt, austauschbar, einfach. Das ist genau, was wir brauchen. Verdammt, es wird sogar so günstig werden, dass wir es problemlos skalieren können. Wir können nicht nur ein paar wenige Schwerverbrecher auf diese Weise versorgen. Wir könnten Tausende an Remorsis ankoppeln. Mörder, Kinderschänder, Vergewaltiger, aber auch Schläger, Einbrecher, Drogendealer. Ja vielleicht sogar Diebe, Betrüger und Kleinkriminelle. Alle eingesponnen in ihre kleine, von uns kontrollierte Blase.“

„Wir können doch unmöglich Kleinkriminelle zur lebenslangen Psychofolter verdammen“, wendet Thompson ein, „das wäre vollkommen unmenschlich!“

„Natürlich würden wir daran arbeiten, den Auswurfschock zu beheben und ein normales Leben nach dem Programm zu ermöglichen. Unsere Forschung ist ja noch nicht abgeschlossen“, versucht ihn Vannet zu beruhigen, „jene, die sich erfolgreich rehabilitieren lassen, sollten natürlich die Chance dazu erhalten. Doch auch ihnen wird diese Erfahrung eine Lehre sein. Vor allem, wenn wir die Erlebnisse am Ende erneut in ihr Langzeitgedächtnis einspielen, damit sie über ihre Erfahrungen reflektieren können.“

Die Premierministerin denkt darüber nach und nimmt einen Schluck von ihrem bitteren Kaffee. Abwägend starrt sie auf die ausgemergelte Frau, die gut festgeschnallt auf ihrem verkabelten Schalenstuhl sitzt. Auf die Täterin, das Monster hinter der dicken Glasscheibe, deren schweißbenetztes Gesicht verkrampft zuckt, deren verdrehte Augen wie in Fieberträumen flackern. Die Rabenmutter, die in der inneren Hölle gefangen ist, über deren künftige Beschaffenheit sie hier gerade diskutieren. Ansonsten blendet sie alles aus. Die beiden Wissenschaftler, die zweifelnden, sorgenvollen Blicke des Ethik-Beauftragten und konzentriert sich allein auf die Täterin und auf ihre Gefühle als Staatslenkerin. Als Frau. Als Mutter.

Schließlich strafft sie sich, stellt ihren Kaffee ab, wendet sich den Wissenschaftlern zu und stellt die einzige für sie noch relevante Frage: „Wie viel würde das kosten?“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert