Drachentöter

Sören stieß sein Schwert tief in das schuppige Fleisch der Bestie. Heißes, fast kochendes Drachenblut quoll stoßweise aus der tiefen Herzwunde hervor auf den glänzenden Hort aus Schmuck, Gold und Edelsteinen, während das Biest seinen Schmerz so laut herausbrüllte, dass sich die Leute, die vor der Höhle standen, ihre Ohren zuhalten mussten.

Sören tat das nicht. Er hätte es auch dann nicht getan, wenn er kein Schwert hätte festhalten müssen. Es war nicht das erste Ungeheuer gewesen, dass er erledigt hatte und er hatte sich das Wachs so in die Ohren gesteckt, dass es sein Gehör schützte, er zugleich aber noch immer den befriedigenden Schmerzensschrei wahrnehmen zu können. Dafür lebte er. Für diesen Moment des Triumphs. Der Kontrolle, der Macht, während er von allen bewundert und gefeiert wurde. Es wäre nicht nötig gewesen, da der Drache bereits im Sterben lag, aber dennoch drehte er sein Schwert in der Wunde und genoss die wachsende Lautstärke des eigentlich schon kraftloser werdenden Schreis. Es war unglaublich, welche Kraftreserven selbst ein sterbender Körper noch mobilisieren konnte. Das Wunder des Lebens, dachte er lächelnd und dieser Gedanke erinnerte ihn an etwas.

Er ignorierte die Bestie, die hilflos mit ihren Krallen in die Luft schlug und schwach mit dem Schwanz auf ihr Bett aus Gold peitschte und wandte sich dem Gelege zu. Ursprünglich waren es fünf Eier gewesen. Aber aus zweien davon waren erst vor wenigen Augenblicken kleine Drachen geschlüpft. Unbeholfen und tapsig taten sie die ersten Schritte ihres Lebens und auch wenn sie noch blind waren, suchten sie bereits die Nähe ihrer sterbenden Mutter, erkannten sie am Geruch. Sören bohrte einem von ihnen sein Schwert in den Schädel, woraufhin ein schrilles Kreischen erklang. Der Bruder oder die Schwester des Jungdrachen – bei diesen Kreaturen ließ sich das nicht so genau sagen – wandte instinktiv den Kopf in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war und ging ein paar Schritte darauf zu. Sören war sofort bei der kleinen Kreatur, packte ihren spitzen Schädel und trennte ihn mit ein paar kräftigen Hieben ab. Er würde eine Trophäe brauchen und der gewaltige Kopf der Mutter wäre zu schwer, um ihn zu schleppen. Als die beiden kleinen Drachen genauso tot waren, wie ihre Mutter, die sich inzwischen nicht mehr regte, ging er zu den Eiern und stach ein paar Mal mit dem Schwert hinein, woraufhin Blut und Eidotter aus der geplatzten Schale hervortraten. Danach zertrat er die Eier und die verletzlichen Drachenembryonen, die sich darin befanden, mit seinen gepanzerten Stiefeln. Lediglich das kleinste der Eier ließ er unberührt.

Er würde es Anna mitbringen. Sie würde sich sicher darüber freuen. Natürlich würde er den Drachen nicht schlüpfen lassen, sondern das Ei kochen und vielleicht bemalen.

Ach Anna. Der Gedanke an sie beflügelte ihn zu jeder seiner Heldentaten. Er holte das blaue, seidene Stück Stoff hervor, welches er unter seiner Rüstung verbarg und das er sich als Pfand mitgenommen hatte. Es roch noch immer intensiv nach ihr und sorgte dafür, dass er sich erst wirklich als Held fühlte.

Er steckte das Stoffstück wieder ein. Dann stopfte er das Ei und den als Belohnung vereinbarten Anteil des Hortes in seinen Rucksack, wo er auch seinen Helm verstaute, der zwar guten Schutz bot, aber viel von seinem Gesicht verdeckte. Er schüttelte sein Haar, damit seine dichten, blonden Locken gut zur Geltung kamen. Zuletzt nahm er den kleinen Drachenschädel in seine linke und das noch blutige Schwert in seine rechte Hand, bevor er seine lange geübte Haltung einnahm und aus der Höhle heraustrat. Es war wichtig, auch wie ein Held auszusehen.

Als das Sonnenlicht auf seine dichte Mähne, das Schwert und den abgeschlagenen Drachenkopf fiel, begann die Menge, die praktisch mit angehaltenem Atem vor der Höhle ausgeharrt hatte, zu jubeln. Fast die halbe Stadt war anwesend. Bauern, Handwerker, Kaufleute, kleine Adlige. Männer feierten ihn oder wollten den Drachenschädel streicheln, Frauen weinten vor Erleichterung und die Augen einiger anwesender Kinder glänzten vor Bewunderung. Schon bald würden sie seine Heldentat mit Holzschwertern nachspielen und davon träumen, so wie er zu sein. Teil der Menge war auch der Herzog, der Sören galant und förmlich dankte und ihm ein goldenes Amulett schenkte, welches ihn für immer als Held und Wohltäter der Stadt auszeichnen sollte. Sie alle waren ihm in diesem Moment zutiefst ergeben. Wenn er ihnen befohlen hätte, für ihn in den Krieg zu ziehen, hätten sie es wohl getan, denn er hatte sie von einer schlimmen Plage befreit. Von einem Ungeheuer, das ihre Schafe gerissen und ihr Hab und Gut gestohlen hatte. Doch das Wissen, dass sie ihn in diesem Moment vergötterten, reichte ihm aus. Eigentlich war alles, was nach diesem Moment kam, nicht von Bedeutung. Sie würden ihn zu einem Fest in der Burg des Herzogs und danach in ihre Schenke einladen und ihm Speisen, Wein und Bier ausgeben, tugendhafte Frauen würden ihm Heiratsanträge machen und weniger tugendhafte würden ihm anbieten in ihr Bett zu kommen. Aber gegessen hatte er bereits, dem Alkohol konnte er nichts abgewinnen und was Frauen betraf, so hatte er seine Anna. Eigentlich hätte er auf all das also gerne verzichtet. Aber er musste mitspielen. Zumindest ein wenig. Alles andere wäre unhöflich gewesen und hätte nur zu unerwünschten Fragen geführt. Die Menschen wollten einen Helden zum Anfassen. Das war Teil seines Jobs.

~o~

Die Feierlichkeiten hatten Sören mehr ermüdet, als der Kampf gegen den Drachen. Nun jedoch hatte er endlich wirklich Feierabend. Den Stadtbewohnern hatte er gesagt, dass er weiterziehen müsste. Zur nächsten Stadt, die Hilfe brauchte. In Wirklichkeit jedoch war er zu seinem Unterschlupf geritten. Nicht auf seinem alten, zuschanden gerittenen Klepper, sondern auf dem nagelneuen, weißen Pferd, das man ihm geschenkt hatte. Trotzdem war es bereits tiefste Nacht und ein blasser Halbmond stand am Himmel, begleitet von den Stimmen der Grillen und Nachtvögel. Aber egal. Er war endlich bei Anna, das allein zählte. Er stieg ab, führte das Pferd in den gut verborgenen Unterstand. Dann suchte er die Stelle, an der sich der Eingang zu seinem Rückzugsort befand. Wie immer war er mit Laub und Reisig zugedeckt, doch da er wusste, worauf er achten musste, fand er die verborgene Treppe selbst im Dunkeln. Er entzündete mit einem Feuerstein eine Fackel, die in einer der Halterungen an der Wand steckte und ging die Wendeltreppe hinab. Endlich unten angekommen, schloss er die gut gesicherte Türe auf und öffnete sie.

Annas liebliche Stimme begrüßte ihn. „Hilfe“, rief sie in der irrigen Hoffnung, dass vielleicht jemand anders als er dieses Verlies gefunden hatte. Ein strahlender Held, der den Drachen töten würde, der sie schon so lange quälte. Zu ihrem Unglück waren beide hier. Held und Drache. In einer Person. Sören sagte nichts. Er wollte diese intimen Augenblicke nicht durch seine eigene Stimme entweihen und diesen Anflug von Hoffnung hatte er schon lange nicht mehr an ihr wahrgenommen. Er zeugte von Wahnsinn, gewiss, immerhin hatte sie gestern schon davon geredet, dass sie die Engel und die Mutter Maria höchstpersönlich sehen konnte und sie dabei wären sie hinauf in den Himmel zu tragen. Aber Wahnsinn oder nicht, es war Hoffnung.

„Bitte, haben Sie Mitleid! Ich bin hier eingesperrt!“, brüllte sie diesmal fast, auch wenn ihre Stimme schwach und brüchig war. Als sie Sörens Gesicht sah, erstarb ihre Hoffnung wie eine ausgedrückte Kerzenflamme. Sören genoss es, dies im Licht der Fackel zu beobachten. Er liebte es, wie sie unterwürfig und entkräftet vor ihm auf dem Boden ihrer Zelle lag in ihrem blauen Kleid an dem ein kleines Stück Stoff fehlte. Auch hier unten war er ein Gott. Auch hier hing von seinen Taten alles ab. Auch in diesem Kerker entschied er über Leben und Tod, wenn auch auf eine viel vertrautere, stillere, intimere Weise als bei seinen Heldentaten. Dennoch gefiel ihm nicht alles, was er sah. Anna war in einem viel schlechteren Zustand als er es in Erinnerung hatte. Sie war ausgemergelt, schmutzig, viel zu schwach und ihre Stich- und Schürfwunden, aber vor allem die Brandwunden sahen ganz und gar nicht gut aus. Auch der üble Geruch wies darauf hin, dass ihr Ende bald gekommen wäre. Er hatte es anscheinend übertrieben. Die letzte Anna hatte noch mehr als zwei Monate durchgehalten. Diese wahrscheinlich nicht mal drei Wochen.

Sören fühlte sich schuldig und entschied nun, doch zu sprechen. „Ich hab dir etwas mitgebracht“, sagte er freundlich und galant mit der charismatischen Stimme, mit der er auch sie damals in seine Fänge gelockt hatte und mit der er in der nächsten Stadt sicher auch eine neue Anna finden würde.

Die Frau wimmerte nur matt und halb abwesend etwas Unverständliches. Aber als er das Drachenei aus seinem Rucksack hervorholte, verfolgte sie es mit trüben Augen, „Es ist etwas Schönes und Einzigartiges. Ein unschuldiges Leben.“

Das Interesse von Anna nahm trotz ihres Zustands weiter zu, als sie im Feuerschein sah, wie sich im Inneren der Schale etwas bewegte. Eine kleine, putzige Silhouette, die bereits prüfend mit ihrer Schnauze gegen die Eierschale drückte. Natürlich faszinierte sie das. Es war seit langem das erste Lebewesen an diesem Ort, welches ihr nichts Böses wollte.

„Siehst du? Es ist noch klein, schutzlos und verletzlich. Aber noch lebt es“, sagte Sören, während er das Feuer in seinem Ofen, der nicht weit von der Zelle entfernt stand, mit der Fackel entzündete.

„Wenn auch nicht mehr lange!“, sagte er grinsend und schob das Drachenei in den Ofen.

Anna schrie, wenn auch nicht so laut, wie das ungeborene Drachenküken.

~o~

Einige Zeit später löffelte Sören glibberiges Eiweiß aus dem großen Drachenei. Der Geschmack war nicht mal schlecht, auch wenn er das gekochte Küken im Inneren bewusst aussparte. Drachenfleisch schmeckte widerlich, wie er wusste. Wie versprochen hatte er das Ei zuerst Anna angeboten. Aber sie hatte es verschmäht, wahrscheinlich aus Mitleid mit dem kleinen Drachen.

Dennoch blickte sie immer wieder so angewidert wie sehnsüchtig zu Sören und schien bei jedem Bissen, den er sich in den Mund schob mit sich zu ringen. Ihre Moral und ihr Ekel rangen mit ihrem Überlebenswillen und einmal mehr war es einer dieser Momente, in denen Sören der Mittelpunkt ihres Universums war. All ihre Gedanken, all ihre Konflikte drehten sich um ihn und das, was er sich erkämpft hatte. Und – so viel wusste er – das würde auch so bleiben, so lange sie noch lebte.

Sören nahm einen weiteren Löffel und grinste zufrieden. Wie sehr er es doch liebte, ein Held zu sein.

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