Fortgeschritten: Die Seuchenhöhlen von Hyronanin (Teil 2)

Nach Ryxahs farbenfrohen Schilderungen hatte ich eigentlich damit gerechnet, bereits nach einigen Metern einer ganzen Schar von wandelnden Kranken in die mit Geschwüren bedeckten Arme zu laufen, aber stattdessen blieb es zumindest die erste halbe Stunde meiner Reise durch die Seuchenhöhlen von Hyronanin auffallend still. Ich weiß nicht, warum das der Fall war, aber womöglich trauten sich die Kranken einfach nicht in die Nähe der Gesunder.

Was auch immer der Grund für die Abwesenheit jeden Lebens war – die Höhlen waren dennoch alles andere als langweilig. Das hatte vor allem vier Gründe.
Erstens war es bereits eine geistig durchaus anspruchsvolle Aufgabe den mal engen und mal riesigen, aber immer verschlungenen und verwinkelten Höhlen zu folgen, die sich in komplizierten Winkeln und Kurven miteinander kreuzten und dabei durchgängig von einem organisch wirkenden, roten Licht erhellt wurden. Ohne den digitalen Kompass an meinem Handgelenk hätte ich wahrscheinlich schon nach kurzer Zeit die Orientierung verloren.

Zweitens rechnete ich bei jeder Kurve mit dem Auftauchen einer erkrankten Kreatur oder sogar mit einem der von Ryxah als so gefährlich beschriebenen Bakteroiden und brachte jedes noch so leise Geräusch und oft genug auch das Echo meiner eigenen Schritte damit in Verbindung.

Drittens hingen von einigen Höhlendecken fleischige, tropfenförmige Säcke aus denen grünliche, gelbliche oder rötliche Sporenwolken entwichen, denen ich trotz größter Mühe nicht gänzlich entgehen konnte. Die meisten dieser Sporen brachten mich heftig zum Husten und auch wenn dieser Husten stets nach einigen Minuten wieder abebbte, hegte ich keinen Zweifel, dass er ohne das Fläschchen Gesundheit, welches ich bei mir trug, nicht so einfach abgeheilt wäre. Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei diesen Säcken um die von Ryxah erwähnten Keimbeutel handelte, auch wenn ich den Seuchenquellen und Siechenden Flechten vorerst noch nicht begegnete.

Viertens waren nicht alle Höhlenwände leer. Von Zeit zu Zeit sah ich Zeichnungen, die in das weiche Gestein getrieben worden waren und auch wenn ich unter Zeitdruck stand und die Höhlen gefährlich waren, konnte ich dem Drang nicht widerstehen, mir die Darstellungen aus der Nähe anzusehen.

Sie zeigten zumeist großgewachsene Kreaturen mit zu vielen Fingern und in Arztmontur (eindeutig die Gesunder), die mit anderen Geschöpfen interagieren. Einige von ihnen erinnerten stark an Menschen oder zumindest an menschenähnliche Wesen. Es gab aber auch Fischwesen, Tenkalgeschöpfe, Käferartige, Vogelkreaturen, Drachenwesen, lebendige Blasen und Dreiecke und Kreaturen, die derart bizarr aussahen, dass ich es hier kaum wiedergeben kann. Viele dieser Kreaturen lagen auf OP-Tischen, die dem auf dem ich aufgewacht war, nicht unähnlich waren und wurden von den Gesundern entweder ihrer Gesundheit beraubt (was sich in gemalten Geschwüren, Ausschlägen, Verwachsungen und dergleichen zeigte) oder damit versorgt (was sich im Verschwinden dieser Merkmale offenbarte). Soweit, so bekannt. Interessanter waren da schon die Zeichnungen, welche die Gesunder in der Nähe von frei stehenden Türen oder Portalen zeigten, durch die sie hindurchgingen oder aus denen sie die verschiedenen Lebewesen herausholten. Anscheinend waren sich die Gesunder früher nicht zu schade dafür gewesen, selber Lebewesen zu “ernten”, bevor sie angefangen hatten, das lieber ihren “Schuldnern” zu überlassen.

Am meisten überraschten – und schockierten – mich jedoch jene Zeichnungen, die zeigten, wie die Gesunder durch eben jene Höhlen streiften, in denen ich mich gerade befand und dort Keimbeutel und andere ungesund aussehende Strukturen herausschnitten und in primitive Karren luden. Diese wiederum brachten sie vor den verschiedenen Portalen in Stellung, von denen jedes mit einem anderem Symbol markiert war.

Ich vermutete, dass diese Symbole die jeweilige Welt oder Ebene symbolisierten, in welche die Portale führten. Jedenfalls ließen die gezeichneten Gesunder den krankmachenden Inhalt der Keimbeutel und der anderen Krankheitserzeuger ganz offensichtlich auf eben jene Welten los. Andere Zeichnungen zeigten sogar wie Tausende oder Millionen von Krankheiten hingerafft wurden, die in ihren Welten bislang unbekannt gewesen waren und gegen die es dort noch kein Heilmittel gab.

All diese Bilder ließen nur einen Schluss zu: Die Gesunder nutzten die in Hyronanin heranwachsenden Krankheiten um damit ganze Völker und Zivilisationen zu verseuchen. So entsetzlich diese Erkenntnis auch war, – umso mehr, da die Gesunder offenbar nicht einmal versuchten diese grausame Praxis zu verheimlichen -, so sehr verwirrte sie mich auch. Was hatten die Gesunder davon Krankheiten zu verbreiten? Lebten sie nicht von Gesundheit? Allerdings erschloss sich mir nach einer genaueren Betrachtung der Zeichnungen der Grund dafür. Zum einen erstreckte sich von den gequälten Körpern der Kranken ein mit blassblauer Farbe gezeichneter Strom, der zurück zu den jeweiligen Portalen führte, was wiederum die Vermutung nahelegte, dass die Gesunder die Gesundheit der Infizierten irgendwie selbst in ihren Heimatebenen anzapfen und nutzen konnten. Zum anderen erkannte ich, dass nicht alle Portale mit Krankheitserregern “versorgt” wurden. Einige Welten ließ man offensichtlich weitgehend in Ruhe. Wahrscheinlich waren das auch diejenigen, aus denen ich meine künftigen Entführungsopfer auswählen sollte. Umso weniger verstand ich, warum sie überhaupt diese Lebewesen brauchten, wenn sie sich doch quasi einen konstanten Zustrom an Gesundheit aus den verseuchten Welten gesichert hatten. Vor allem aber fragte ich mich, ob die Erde auch zu ihren Zielen gehörte. Welche von all den Krankheiten und Epidemien, die die Menschen auf unserem Planeten heimsuchen und heimgesucht hatten, waren natürlich entstanden und welche hatten wir diesen skrupellosen “Ärzten” zu verdanken? Krebs? AIDS? Malaria? Die Pest? SARS? Es war unmöglich das zu sagen, auch wenn ich …

“‘n Vitalmann … Was mach ‘n Vitalmann hier?” hörte ich plötzlich eine röchelnde und schwer zu verstehende Stimme.

Erschrocken drehte ich mich um und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass die Frau, der sie gehörte, nicht mehr als drei Meter entfernt stand. Ich verstehe noch heute nicht, warum ich ihren schlechten Atem nicht vorher gerochen hatte.

Anscheinend war sie ebenfalls ein Mensch. Aber sie sah erbärmlich aus. Ihre Augen waren trübe, dumpfe Zeugnisse des Schmerzes. Ihr Mund, der zu einer schwachsinnigen Grimasse geöffnet war, besaß fast keine Zähne mehr. Lediglich einige schwarze Stummel und ihre geschwürbedeckte Zunge erhoben sich noch aus der Schwärze ihrer Mundhöhle, wie Ertrinkende in einem Meer aus Eiter und und stinkenden Flüssigkeiten. Ein Teil ihrer Unterlippe war weg gefault. An ihrem gelblichen Hals hatte sich eine Reihe dicker Pestbeulen festgekrallt und die Knochen ihres hageren Körpers waren dermaßen verkrümmt und verformt, dass sie sich nur schlurfend fortbewegen konnte. Was sich unter ihrer vor Schmutz starrenden Kleidung verbarg, die das gleiche Tropfensymbol erkennen ließ wie meine eigene, wollte ich erst gar nicht wissen.

“Warum is’n Vitalmann hier?”, fragte sie erneut. “Warum biste nich‘ krank?”
“Wer bist du?”, fragte ich sie angewidert.
“Ich? Bin Frasenia. Aber sach‘ mal, warum biste nicht krank?”, wiederholte sie ihre Frage.
Ihre letzten Worte sprach sie dabei hustend aus und eklige stinkende Speicheltropfen flogen in meine Richtung. Einige davon landeten in meinem vor Schreck geöffneten Mund. Geschüttelt vor Ekel spuckte ich meinerseits aus.

Erleichtert dachte ich daran, dass mich glücklicherweise das Fläschchen von Ryxah vor einer Ansteckung schützen sollte.
Fast im gleichen Moment erklang ein Signal von der seltsam geformten Uhr an meinem Handgelenk: “Jarinlan Dri Kawindor! Neue Dosis erforderlich!” Anscheinend bedeutete das, dass Ryxah eine Erinnerung in die Uhr einprogrammiert hatte und, – was noch wichtiger war –, dass mein Schutz im unpassendsten Moment seine Wirkung verlor.
Und obwohl ich eigentlich davon ausgegangen war, dass dies langsam geschehen würde, spürte ich bereits wie ein überwältigendes Gefühl von Schwäche und Krankheit von meinen beschmutzten Lippen in meinen ganzen Körper kroch. Bereits jetzt begann mein Hals zu schmerzen, ein unangenehmes Jucken erfüllte meine gesamte Hautoberfläche und in meinem Magen explodierte Übelkeit.
Mit zitternden, schwitzigen Fingern kramte ich das Pyramidenfläschchen aus meiner Hose, während Frasenia mich aus ihren Trüben Augen ansah, in die sich plötzlich ein gieriges Funkeln mischte. “Gesundwasser!”, schrie sie mich sabbernd an und ihre verkrüppelten Arme streckten sich unbeholfen in Richtung des Fläschchens. Im gesunden Zustand wäre ihr Angriff lächerlich gewesen. Aber in diesem Moment packte mich ein lähmender Schmerz- und Fieberschub und ließ mich in meiner Bewegung erstarren. Hilflos musste ich zusehen, wie Frasenia das Fläschchen aus meinem schwachen Griff herauswand und sofort mit ihren verbogenen Fingern am Verschluss herumnestelte. “Gesundwasser. Endlich!” rief sie überglücklich.
Ich dagegen sah entsetzt dabei zu, wie aus meinen Armen dicke, eiförmige Geschwüre herausbrachen und registrierte einen überaus ekelhaften Geschmack in meinem Mund. Gleichzeitig merkte ich, wie einige meiner Zähne locker wurden. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich mich bald im selben Zustand befinden würde wie Frasenia und mobilisierte deshalb noch einmal alle Kräfte für einen Angriff.

Tatsächlich schaffte ich es der abgelenkten Frasenia das Fläschchen, welches sie noch nicht geöffnet hatte, zu entwenden, schaffte es aber nicht wegzulaufen oder davon zu trinken, so das Frasenia bald schon wieder ihrerseits danach griff. Ein groteskes Tauziehen um das kleine Fläschchen begann und ich wusste, dass ich die Phiole am Ende verlieren würde, denn meine Kräfte nahmen mit jeder Sekunde weiter ab und bald würde auch reine Willenskraft das nicht mehr kompensieren können. Plötzlich fegte ein lauter Knall durch die Höhle und der Griff meiner Kontrahentin ließ nach. Meine von Fieber gequälten Augen sahen, wie ihre dürren Beine, die ganz offensichtlich von irgendetwas getroffen worden waren, einfach umknickten.
Aber ich fragte mich erst einmal nicht, wer mir so unvermittelt geholfen hatte, sondern lehnte mich stattdessen erschöpft gegen die Höhlenwand, um etwas Kraft zu sparen und öffnete den Verschluss der Flasche mit höchster Konzentration. Trotzdem fiel sie mir zweimal fast herunter, bevor ich die vorgeschriebenen fünf Tropfen von dem Heilmittel zu mir nehmen konnte. Sofort spürte ich, wie das Fieber und die Schwäche verschwanden und sogar die ekelhaften Geschwüre lösten sich praktisch in Nichts auf. Gleichzeitig sah ich, wie Frasenia sich kriechend von mir entfernte. Anscheinend hatte sie genug.

“Dhus Injakla Serkut, Drom Adjoohr?” erklang erneut eine weibliche Stimme.
Sie stammte von einer Frau mit schwarzen, kinnlangen Haaren, die irgendwie … nackt war. Und damit meine ich nicht allein das Fehlen von Klamotten. Zwar trug sie die auch nicht, wenn man von schmutzig-gelben Stoffstreifen um ihre Brüste und ihren Schritt einmal absah, aber vor allem fehlten ihr am ganzen Körper große Stücke an Haut. An dieses Stellen sah man nichts als bloßes, rohes und verkrustetes Fleisch, welches ungeschützt der keimgeschwängerten Umgebung ausgesetzt war. An einigen dieser hautlosen Areale hatten sich auch kleine weiße Fliegen niedergelassen, die ich bislang noch nicht in der Höhle gesehen hatte. Selbst wenn sie sich bewegte, dachten diese Fliegen nicht mal daran ihre warme, blutige Heimat zu verlassen. Sogar die meisten Finger ihrer rechten Hand, in der sie eine an eine seltsame, gezackte und gebogene Schusswaffe mit langem Lauf und aus einem mir unbekannten Material hielt, waren gehäutet. Immerhin ihr Kopf war verschont geblieben und zeigte mir so, dass sie kein Mensch war. Ihr Hinterkopf, um den ein rotes Stirnband gebunden war, war seltsam gestreckt wie bei einigen ägyptischen Pharaonendarstellungen. Ihre Augen, in denen konstant Tränen glitzerten waren ungewöhnlich breit und besaßen stark ovale Pupillen und ihre Lippen, von denen gerade etwas gelblicher Eiter tropfte, waren weitaus wulstiger und fleischiger als bei jedem Menschen.

“Was?”, fragte ich, nun fast wieder bei Kräften.
“Rettung in letzter Sekunde, nicht wahr?”, wiederholte die Frau im besten Deutsch und mit einer Stimme, die trotz ihres entsetzlichen und wahrscheinlich unvorstellbar schmerzvollen Zustandes nur ein leichtes Zittern enthielt. Die Frau musste eine unglaubliche Selbstbeherrschung besitzen.
“Das stimmt!”, sagte ich, “Vielen Dank.” Das meinte ich auch so, auch wenn sich in diese Dankbarkeit sofort Misstrauen mischte. Immerhin war dies kein freundlicher Ort und damit war jeder Fremde auch ein potenzieller Feind.
“Keine Ursache”, sagte sie. “Du sahst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen.” Sie lächelte gequält, aber freundlich.
“Wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?”, fragte ich sie neugierig, “Irgendwie spricht überhaupt jeder hier und in allen anderen Welten meine Sprache während ich meinerseits überhaupt nichts verstehe.”

Sie lachte herzhaft, was bei ihrem Erscheinungsbild zwar grotesk wirkte, aber sie mir dennoch sympathisch machte. Wahrscheinlich kam es in Hyronanin sowieso auf die inneren Werte an. “Das könnte daran liegen, dass du ein Mensch bist. Ihr besitzt so ziemlich das mieseste Sprachtalent in allen Welten und Ebenen.”
Inzwischen hatte sie sich mir auf etwa zwei Meter genähert. Sie roch entzündet. Aber nicht allzu unangenehm.
“Aber immerhin hast du eine Bravianische Uhr, wie ich sehe.” sagte sie und betrachtete interessiert die Armbanduhr, die inzwischen 27:57 Uhr anzeigte.
“Woher weißt du das?”, fragte ich. “Kommst du aus Bravo… Bravian … Bravianiland”?
Sie kicherte. “Braviania heißt das. Und ja, ich komme zufällig von dort.” Sie machte eine komplizierte spiralförmige und weitschweifige Geste mit ihren teilweise gehäuteten Händen. “Garwenia de Granwan, Initiierte des dritten Sektors von Hartalloor.”
“Dir ist schon klar, dass ich kein Wort davon verstehe, oder?” sagte ich trocken.

“Klaro.”, erwiderte sie. “Wie solltest du auch? Aber um dir auch nur ansatzweise die Regeln und die Hierarchie des Bravianischen Kastenwesens zu erläutern, bräuchte ich wahrscheinlich Tage und die habe ich nicht. Und du auch nicht, wenn ich mir das kleine Fläschchen da so angucke. Die Gesunder waren auch schon mal freigiebiger mit ihren Geschenken.”
Ich öffnete den Mund, aber bevor ich irgendetwas sagen konnte, sprach sie schon weiter. “Ich schleppe mich schon lang genug durch diese verfluchten Höhlen und bin genügend Neuankömmlingen begegnet, um zu wissen, welche Fragen du stellen willst, also kürzen wir das ab. Ja, ich sehe nicht so schlimm aus wie die hässliche Schlampe, die dort herumkriecht …”, sie zeigte auf Frasenia, die es nun schon fast in einen der kleineren Höhlengänge geschafft hatte, “… auch wenn fehlende Haut einem nicht unbedingt die besten Karten bei der Partnersuche verschafft. Das liegt daran, dass wir Bravianer extrem widerstandsfähig gegen Krankheiten sind. Außerhalb von Hyronanin werden wir eigentlich gar nicht krank und die Gesunder können uns auch hier nicht alle Gesundheit nehmen. Trotzdem hätte ich mir lieber einen Husten gewünscht. Es tut nämlich genauso weh, wie du es dir vorstellst. Ich habe mich jedoch mein ganzes Leben über in Meditation und Körperkontrolle geübt, weswegen ich die Schmerzen einigermaßen ertrage. Trotzdem würde ich meine Lebensqualität nicht gerade als hoch einstufen.

Außerdem fragst du dich natürlich, warum ich dir helfe, während die gute Frasenia alles daran gesetzt hatte, dir dein hübsches Pyramidenfläschchen zu entreißen.” Sie blickte mir tief in die Augen und nahm dann eine theatralische Kämpferpose ein und boxte spielerisch in die Luft. “Das liegt daran, dass ich zum Widerstand gehöre, Baby!” Ihr Mund verzog sich zu einem schmerzverzerrten Lächeln. Offensichtlich taten ihr ihre Bewegungen doch mehr weh, als sie behauptete.

“Deswegen trage ich auch diesen schönen Kopfschmuck. Das ist unser Erkennungssymbol. Wir sahen keinen Grund darin uns irgendeinen beeindruckenden Namen zu geben, aber wir sind diejenigen, die versuchen die Macht der Gesunder zu brechen. Dafür haben wir jene um uns versammelt, die zumindest noch genügend Gesundheit und genügend Verstand besitzen, um sich zu wehren. Allerdings sind wir leider nicht allzu zahlreich. Die meisten der “Wandelnden Kranken” sind wie Frasenia: Zerstörte, zombieartige Wesen, deren Körper so verseucht oder deren Gehirne so angegriffen sind, dass sie nicht mehr zu koordinierten Handlungen in der Lage sind oder die einfach so desillusioniert sind, dass sie sich von den Gesundern für ihre Zwecke einspannen lassen und sich um die Brotkrumen prügeln, die sie ihnen hinwerfen. Und selbst von jenen, die wir um uns gescharrt haben, verlieren wir immer wieder einige an durchgedrehte Kranke oder an Bakteroiden. Ich hoffe, deine drängendsten Fragen sind damit zufriedenstellend beantwortet.”

“Kannst du Gedanken lesen?”, fragte ich verblüfft.
Garwenia schüttelte den länglichen Kopf. “So ein Quatsch. Seh’ ich etwa aus wie ein Zerebrone? Nein, das ist reine Psychologie. Menschen reagieren auf bestimmte Situationen nicht so individuell wie sie es immer annehmen – Bravianer übrigens auch nicht, was das betrifft – und davon abgesehen sind deine Fragen doch naheliegend gewesen. Nun aber haben wir genug gequatscht. Du solltest nicht den Fehler machen zu glauben, dass Fresenia die einzige “wandelnden Kranke” ist, die dir hier gefährlich werden kann. In Wahrheit ist es ein Wunder, dass hier noch keine Horden von ihnen aufgetaucht sind. Von der direkten Umgebung der Gesunder halten sie sich zwar meist fern, aber in diesem Gebiet tauchen sie schon deutlich häufiger auf. Wir sollten also dringend von hier verschwinden.”
“Wir?”, fragte ich überrascht, “du willst mich begleiten?”

Garwenia zuckte mit den Schultern und setzte sich dann bereits in Bewegung. Ihre hautlosen Füße verursachten auf dem Höhlenboden schmatzende Geräusche. “Warum denn nicht? Du bist ganz sicher unterwegs zur Portalmaschine und sollst für die Gesunder neue Opfer besorgen und da trifft es sich gut, dass unser Stützpunkt auf dem Weg liegt.”
“Woher weißt du das?”, fragte ich, während ich mich bemühte mit ihr Schritt zu halten, was sich – obwohl ich im Gegensatz zu ihr wieder gesund war – schwieriger gestaltete als gedacht.
Sie lachte erneut und diesmal konnte man dabei kam erkennen, wie sehr sie ihre pure Existenz schmerzen musste. “Hör mal zu, Schlaukopf: Warum sonst sollten diese hartherzigen Bastarde dich sonst mit ihrer wertvollen Gesundheitsessenz versorgen? Außerdem liegt unser Lager wie gesagt in der Nähe der Portalmaschine. Wir sind nur krank, nicht blöd und wir haben vor dir schon viele andere nützliche Idioten dort ein und aus gehen sehen.”

Seltsamerweise störte es mich nicht, dass sie mich als Idiot bezeichnete. In Wahrheit mochte ich diese forsche Frau, ganz gleich wie schrecklich sie anzusehen war. Irgendwie hatte ich das Gefühl endlich mal einer von den Guten begegnet zu sein.

“Schön und gut”, sagte ich, während wir eine weitere Biegung nahmen an der uns ein weiterer Keimbeutel mit seinem verseuchten Staub eindeckte, was, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, weder auf mich noch auf Garwenia sonderlich viel Eindruck machte. “Aber wenn du weißt, dass ich im Dienst der Gesunder stehe und ihr gegen sie kämpft, warum hilfst du mir dann überhaupt?”
Sie lächelte so warmherzig, dass mir ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Etwas in mir hatte solche Freundlichkeit schon viel zu lange vermisst. “Erstens bist du nicht freiwillig in ihren Diensten und zweitens sagt ja niemand, dass wir zulassen werden, dass die Gesunder ihre Opfer auch bekommen.”

“Ihr wollt sie wieder zurückschicken?”, fragte ich sie.
“Wenn es uns gelingt.”, antwortete Garwenia.
“Ist es euch denn schon einmal gelungen?”, hakte ich nach.
Garwenia schüttelte den Kopf. “Nein, aber bislang haben wir es auch noch nicht versucht. Erst jetzt haben wir genügend Leute, um überhaupt eine Chance zu haben, die Wachen an der Maschine zu überwinden. Und vielleicht bist du ja auch so vernünftig und mutig, dass du gar nicht erst versuchst Leute hierhin zu entführen.”

“Dir ist schon klar, dass ich kein weiteres Heilmittel erhalte, wenn ich ihnen ihre Opfer nicht liefere”, sagte ich, vor allem um ihre Reaktion zu testen. Ich war mir selbst noch nicht sicher, ob ich es übers Herz bringen würde Leute zu entführen, nur um meine eigene Haut zu retten.

“Natürlich”, sagte Garwenia, “aber du wirst dich eben entscheiden müssen, ob du dich mit uns allen anlegen willst, nur um ein Leben als ihr Sklave führen zu dürfen.”
“Ein gesundes Leben immerhin.” wandte ich ein.

“Ja, ein gesundes Leben. Auf Kosten der Gesundheit Unschuldiger”, antwortete sie trocken, “klingt das nach einem glücklichen Leben?”
Natürlich würde mich als Lohn für meine Dienste kein Sklavenleben, sondern die Freiheit erwarten, zumindest falls Ryxah ihr Wort hielt. Aber das konnte sie ja nicht wissen und wenn ich ehrlich war, wusste ich es auch nicht wirklich. Wer sagte mir schon, dass mich die Gesunderin nicht hinterging oder selbst wenn nicht, dass ich meinem Gewissen würde entkommen können.
“Nein, da hast du wohl recht”, stimmte ich geknickt zu.

“Daran solltest du dich schon mal gewöhnen”, sagte sie lächelnd und fügte dann trauriger hinzu, “leider gibt es keine Alternative.”
War das wirklich so? Ich dachte wieder an meinen Katalog und fragte mich, ob ich sie einweihen sollte. Ich kannte diese Frau erst seit wenigen Minuten, aber immerhin hatte sie mein Leben (oder zumindest meine Gesundheit) gerettet und war mir trotz ihrer abstoßenden Erscheinung sympathisch. Warum also nicht? Die Gesunder wussten ja immerhin auch Bescheid.
“Vielleicht gibt es doch eine Alternative”, sagte ich zögerlich. Ihr Mund verzog sich zu einem schmerzverzerrten Lächeln. Offensichtlich taten ihr ihre Bewegungen doch mehr weh, als sie vorgab.

“Ach ja? Welche denn?”, Garwenia klang gleichermaßen neugierig wie ungläubig.
“Nun, hast du dich denn gar nicht gefragt, wie ich hierhergekommen bin?”, fragte ich sie.
Sie zuckte mit den rot glänzenden Schultern. “Durch die Portalmaschine. Wie alle anderen. Wie auch sonst?”
Diesmal konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. “Nicht ganz. Ich bin selbst hierher gereist, durch einen Reisekatalog.”
“Einen Reisewas?”, fragte sie verwirrt und schien zu glauben, dass ich nur einen Scherz machte. Kein Wunder, sie stammte ja auch aus einer anderen Welt.
“Einen Reisekatalog. Eine Art Buch. Ein mächtiges Artefakt, durch das ich bereits verschiedene Welten besucht habe und mit dem man auch diesen Ort wieder verlassen könnte.”
Nun nahm ihr Gesicht eindeutig einen wütenden Ausdruck an und ihre Stimme stand dem in nichts nach. “Wie lustig! Ich finde es ziemlich geschmacklos, so mit meinen Hoffnungen zu spielen. Ich habe ja nichts gegen Scherze, aber wenn du erst einige Jahre durch diese Hölle geirrt bist, wirst du begreifen, dass man über das Thema Flucht keine Scherze macht. Damit ziehst du jene Träume in den Dreck, die das Einzige sind, dass deinen Verstand noch vom umkippen abhält, wenn du in der Nacht endlich Schmerz- und fiebergeschüttelt einschläfst.”

“Ich mache keine Scherze”, sagte ich.
“Ach ja?”, antwortete sie spöttisch. “Was du nicht sagt. Aber wenn du die Wahrheit sagst, warum bist du dann überhaupt noch hier?”
“Weil die Gesunder mir den Katalog weggenommen haben.”
Ich weiß nicht, ob es an dem lag, was ich sagte oder daran wie ich es sagte, aber ich erkannte in ihren ungewöhnlich breiten Augen, dass sie mir nun doch glaubte. Wenigstens vorerst. “Sie haben ihn dir weggenommen? Sie wissen davon?”
“Ja”, antwortete ich, “ich weiß selber nicht, woher sie davon erfahren haben. Aber sie haben mir auch verraten, wohin sie meinen Katalog gebracht haben. Hast du schon einmal vom Keimpfuhl gehört?”
Ich setzte all meine Hoffnung in ihre Antwort, wurde aber enttäuscht.
“Noch nie gehört. Aber das muss nichts heißen. Vielleicht hat irgendjemand von meinen Mitstreitern eine Ahnung, was dieser Pfuhl ist und wo er liegt. Wenn wir in unserem Lager sind, kann ich sie ja fragen.” In ihrer Stimme schwang nun deutliche Hoffnung mit und das Gesicht über ihrem größtenteils gehäuteten Körper strahlte mit einem Mal wie die aufgehende Sonne selbst. “Meinst du, dass dieser Katalog uns Alle hier wegbringen kann?”

Ich hätte ihr die Wahrheit sagen sollen, nämlich, dass ich genau das nicht wusste. Dass ich es sogar für wahrscheinlicher hielt, dass er nur für mich selbst funktionierte und dass ich darüber hinaus keine Ahnung hatte, ob die anderen Welten, die man darüber erreichen konnte, überhaupt besser waren als diese. Aber ich tat es nicht. Damals habe ich mir versucht einzureden, dass ich Garwenia nicht enttäuschen wollte, aber wenn ich ehrlich zu mir bin, dann habe ich es vor allem getan, um meine Chancen zu steigern, den Katalog wiederzufinden. Wenn sie und ihre Freunde gewusst hätten, dass sie selbst gar nichts davon hätten, wie hätte ich dann noch erwarten können, dass sie mir bei meiner Suche helfen? So viel Selbstlosigkeit gab es selbst in meiner Heimat selten.

“Genau davon gehe ich aus!”, sagte ich und wundere mich noch heute darüber, wie überzeugend ich lügen kann, wenn es darauf ankommt.
“Wenn das stimmt, bist du unser Erlöser!”, sagte Garwenia. Sie war überglücklich. So glücklich sogar, dass sie mich mit ihrem fast hautlosen, rot glänzenden Körper umarmte und mir sogar einen Kuss aufdrückte. Die Mischung aus Ekel, Scham und Freude, die mich damals erfasste, während sich ihr rohes Fleisch feucht gegen meinen Körper drückte, war das Verwirrendste, was ich je empfinden durfte. Dagegen ist sogar meine heutige Beziehung zu IHR noch unkompliziert.

Zumindest dauerte es nicht lange. Ihr schien ihr spontaner Gefühlsausbruch beinah genauso unangenehm zu sein, wie mir. “Das … das wollte ich nicht. War bestimmt eklig für dich, so als gesunder Mensch”, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. “Nein”, sagte ich und es war nur eine halbe Lüge.
“Dann bin ich ja froh”, erwiderte sie verlegen, “jedenfalls sollten wir uns beeilen zu den anderen zu kommen.” Sie ließ sofort ihren Worten Taten folgten und legte einen Zahn zu.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. 28:36. Noch acht Stunden. “Da hast du wohl recht.” stimmte ich ihr zu und bemühte mich, mit ihr Schritt zu halten.

~o~

Für die nächsten zwei Stunden sprachen wir nicht viel, was zum einen daran liegen mochte, dass uns beiden die Umarmung noch immer unangenehm war und zum anderen, dass jeder von uns in seinen eigenen Gedanken versunken waren. Garwenia dachte wahrscheinlich an eine wunderschöne Zukunft ohne Krankheit, an einem helleren Ort fern von Hyronanin und womöglich sogar in ihrer Heimat und ich quälte mich mit Selbstzweifeln, weil ich genau diese falsche Hoffnung in ihr geweckt hatte. Aber mein Gewissen war in dieser ganzen Zeit in keinem Moment stark genug, um mich dazu zu zwingen, ihr die Wahrheit zu sagen. Stattdessen schwieg ich lieber.

Zweimal nahm ich eine Dosis vom Heilmittel der Gesunder, als ich den Alarm meiner Uhr vernahm. Garwenia beäugte mich dabei zwar durchaus neidisch, aber unternahm dennoch keinen Versuch mir das Heilmittel zu entreißen. Heute frage ich mich, wie ich es überhaupt fertiggebracht hatte, mich selbst in Gegenwart einer leidenden Frau zu heilen und ihr eben diese Heilung zu verweigern. Klar, ich hätte stärker unter den Krankheiten von Hyronanin gelitten als sie, aber das änderte nichts daran, dass es egoistisch war.

Dennoch, was Hyronanin mit Lebewesen anrichtete, wurde uns unterwegs nicht nur einmal vor Augen geführt. Dreimal begegneten wir größeren Gruppen von wandelnden Kranken, – einmal sogar mit fast fünfzig Mitgliedern –, die jedoch allesamt zu blind, schwach oder langsam waren, um uns gefährlich zu werden. Einmal jedoch sah die Sache anders aus. Wir kamen in eine großen rot und grün lumineszierenden Höhle, die mit Keimbeuteln derart übersät war, dass in der Luft dort konstant Sporen und mit Krankheitserregern verseuchter Staub in verschiedenen Farben umherwirbelten. Die Keimbeutel hingen wie überreife Früchte in so großer Zahl von der Decke und an den Wänden, dass das Gestein darunter kaum noch zu erkennen war und dennoch konnten wir durch das vielfach gestreute Licht drei schemenhafte Gestalten ausmachen, die zunächst wie finstere Statuen an der Höhlenwand lehnten, sich aber, als sie uns bemerkten, rasch auf uns zubewegten. Je näher sie kamen, desto mehr Details konnte ich erkennen. Humanoide Körper, längliche Schädel, ungewöhnlich breite Augen.

“Das sind Bravianer!”, rief ich und Garwenia nickte. “Ja. Und das bedeutet, dass wir ihnen nicht einfach ausweichen können.”

“Was sollen wir tun?”, schrie ich panisch, während uns die drei immer näher kamen. Eine Gestalt war derart weit aus dem Keimnebel getreten, dass ich weitere Details erkennen konnte. Am einstmals wahrscheinlich schlanken Körper des Bravianischen Mannes hatten sich derart viele dicke Geschwüre und Wasseransammlungen gebildet, dass er ein wenig aussah wie einer dieser bedauernswerten “Elefantenmenschen”. Dennoch bewegte er sich noch erstaunlich flink. Anders als Garwenia besaß er keine Schusswaffe, sondern lediglich ein seltsames, gezacktes Messer. Während er auf sie zulief, rief er mit kratziger Stimme: “Thantargor!!!”

“Was heißt das?”, fragte ich Garwenia während ich mich selbst fragte, was zum Teufel ich jetzt tun sollte. “Das Bravianische Wort für Blutrache. Jedoch hat es hier keinen Sinn, da wir ihm nichts getan haben. Wahrscheinlich hat seine Krankheit einfach nur sein Gehirn befallen.” Während sie mir antwortete, zielte und schoss sie bereits auf den Angreifer, verfehlte ihn aber um Haaresbreite, da die seltsame Waffe in ihren von Blut und Gewebsflüssigkeit glitschigen Händen wegrutschte. “Scheiße!”, rief sie. Inzwischen war der Mann nur noch wenige Meter von uns entfernt und auch die anderen beiden Wandelnden Kranken waren uns deutlich näher gekommen. Es handelte sich um einen weiteren Mann, der so dünn und ausgezehrt war, dass ich jeden Moment erwartete, dass er einfach verschwinden würde, wäre da nicht der Gestank nach den Exkrementen, die förmlich aus seiner schmutzigen Hose hervorquollen und die seine Anwesenheit überdeutlich machten. In seiner Hand hielt auch er ein Messer, welches jedoch nicht gezackt, sondern lang und gerade war. Der dritte Bravianer war eine Bravianerin und sie sah relativ normal aus, wenn man davon absah, dass in ihren Augen mehr Wahnsinn glänzte, als man ihn in hundert geschlossenen Psychiatrien vorfinden mochte und, dass ihre Arme einige Bisswunden aufwiesen, die sie sich – das vermutete ich zumindest – wahrscheinlich selbst zugefügt hatte. Sie trug ebenfalls eine dieser schwarzen Schusswaffen und genau in diesem Moment feuerte sie ihn zum ersten Mal mit einem tierhaften Schrei ab. Der schwarze, schattenhafte, neblige Blitz, der daraus hervorschoss, hatte direkt auf mich gezielt und traf auch direkt sein Ziel. Ich spürte ein grauenhaftes Brennen in meinem linken Lungenflügel und kurz darauf traf mich ein weiterer Schattenstrahl in die andere Seite. Warmes Blut lief meine Haut hinab und Mit einem Mal konnte ich nicht mehr atmen. Egal, wie sehr ich es versuchte, die Luft wollte einfach nicht in meinen beschädigten Lungen verweilen.

Mit einem Blickfeld, das enger und enger wurde, sah ich zu Garwenia herüber, die ihrerseits weitere Schüsse abfeuerte. Dann trafen sich unsere Blicke, irgendetwas – Angst? Sorge? – zeigte sich auf ihrem Gesicht und ich hörte, ohne zu verstehen, wie sie irgendetwas zu mir sagte. Dann drückte sie einen kleinen Knopf an ihrer Strahlenpistole und aus dieser schien sich urplötzlich eine zweite Waffe herauszubilden. Das konnte aber auch daran liegen, dass ich inzwischen schon alles um mich herum doppelt sah. Mein Sichtfeld wurde enger. Ich schwankte, glaubte beinah den verzweifelten Schrei meines Gehirns nach Sauerstoff hören zu können und kippte kurz darauf endgültig in die Ohnmacht, während die S­­chreie der wandelnden Kranken um mich herum erst anschwollen und dann vollkommen verstummten.

~o~

Als ich wieder erwachte, war der Kampf noch immer im vollen Gange. Es konnten also nur wenige Sekunden vergangen sein. Erleichtert stellte ich fest, dass ich wieder atmen konnte. Irgendwie waren meine Lungen anscheinend verheilt.

Garwenia jedoch wurde noch immer von den Monstern bedrängt. Zwar hatte sie es geschafft der bewaffneten, irren Frau ihre Strahlenpistole aus der Hand zu schlagen, jedoch auch ihre eigene Waffe verloren, die nun mehrere Meter entfernt, unmittelbar neben der Waffe ihrer Gegner und damit außerhalb ihrer Reichweite lag. Zudem stachen die beiden Messerträger ihr immer wieder an verschiedenen Stellen in den hautlosen Körper, womit sie sie natürlich nicht töten konnten (“Der Tod hat keine Macht in Hyronanin.”), es ihr aber immer schwerer machten, sich zu wehren. Früher oder später, das Begriff ich, würden sie Garwenia so übel verletzt haben, dass sie sie problemlos in kleine Stücke würden schneiden können.

Ich musste ihr helfen. Aber wie sollte ich das anstellen? Mein Blick glitt umher auf der Suche nach etwas, was ich als Waffe benutzten konnte und blieb an der glänzenden, schwarzen, gezackten Strahlenwaffe hängen, die direkt neben mir auf dem Boden lag. Offensichtlich war meine Beobachtung, dass Garwenia ihre Waffe irgendwie vervielfältigt hatte, nicht dem Sauerstoffmangel geschuldet, sondern ganz objektive Realität. Wie das möglich sein konnte, interessierte mich natürlich brennend, aber gerade hatte ich keine Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen griff ich mir die Waffe, stemmte mich in eine kniende Position und hielt den Lauf des Schattenstrahlers mit der linken Hand fest während ich mit der Rechten den Abzug betätigte. Ich war nun wirklich kein erfahrener Schütze und hatte er recht keine Erfahrung mit dieser fremdartigen Waffe. Aber anscheinend hatten die Schüsse, die sie abfeuerte eine gewisse Tendenz ihr Ziel zu treffen, wenn sich der Schütze nicht allzu blöd anstellte. Der schwarze “Lichtstrahl” flog direkt auf den Oberkörper des mit Geschwüren übersäten Bravianers zu und schnitt sich durch sein unförmiges Gewebe. Der Mann schrie ein mir unbekanntes Wort – “Wydranok!” – das wahrscheinlich in seiner Sprache eine ziemlich üble Beleidigung war und stürmte wütend auf mich zu. In diesem Moment verschob sich irgendetwas in meinem Kopf und ich hatte mit einem Mal das Gefühl, nicht länger selbst zu schießen, sondern gesteuert zu werden.

Das war zwar kein angenehmes Gefühl, andererseits konnte ich mich aber auch nicht beschweren. Denn was auch immer die Kontrolle übernommen hatte, wusste, was es tat. Statt weiterhin sinnlos Schüsse in den Oberkörper des Mannes zu schicken, nahm ich (oder die Waffe) gezielt die Beine des Bravianers unter Feuer und durchlöcherte seine wulstigen Unterschenkel so lange mit schwarzen, nebligen Schattenstrahlen, bis sie nicht länger als Verbindung zwischen Füßen und Knien dienen konnten und der Angreifer samt seines Messers hilflos auf den Boden sank. Zwar versuchte er noch, sich mit seinen Armen vorwärtszuziehen, aber eine wirkliche Bedrohung stellte er nun nicht mehr dar.

Ohne lange darüber nachzudenken, nahm ich den anderen Mann unter Feuer und erledigte ihn auf die gleiche Weise und der Frau, die daraufhin in Panik zu ihrer verlorenen Waffe rennen wollte, wurde von Garwenia, die das Messer des Mannes aufgehoben hatte, eben dieses Messer in ihr linkes Auge gestochen. Praktisch ohne mein Zutun nutzte meine Waffe die Gelegenheit und verwandelte den Kopf der Frau in eine regelrechte Ruine, woraufhin sie wie ein gefällter Baum nach hinten kippte.

Einen Moment lang befürchtete ich, dass die Waffe nicht wieder aufhören würde. Dass sie nun auf Garwenia feuern oder meine eigene Hand gegen mich selbst richten würde. Aber das tat sie nicht. Ich konnte sie sogar aus der Hand legen, als ich es ausprobierte. Dann ging ich zu Garwenia, die gerade die blutenden und wahrscheinlich stark schmerzenden Verletzungen in ihrem Fleisch betrachtete.

“Wydranoook!”, schrie sie wütend und wiederholte damit den Fluch des “Elefantenmannes”.
“Was heißt das?”, fragte ich sie.
“Das ist der Name für einen großen See in dem wir in Braviania all unsere Exkremente sammeln. Es dient aber auch als Schimpfwort für jede Gelegenheit.” antwortete sie gequält. “Und Wydranok, das tut wirklich weh.”
“Kann ich dir irgendwie helfen?”, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. “Nein. Aber ich hab dir ja gesagt, dass man unserem Volk nicht alle Gesundheit nehmen kann. Vielleicht wird es heilen.”
Da ich merkte, dass sie nicht darüber reden wollte, kam ich auf ein anderes Thema, welches mich mindestens genauso interessierte.
Ich zeigte auf die offensichtlich tote Bravianerin. “Ich dachte in Hyronanin kann niemand sterben und doch liegt sie nun da und bewegt sich nicht mehr.”
“Sie ist nicht tot”, antwortete Garwenia. “Aber ohne die motorischen Funktionen ihres Gehirns, die nun hier in kleinen Stücken auf dem Boden verteilt sind, kann sie keine Kontrolle über ihren Körper mehr ausüben. Dennoch bleibt ihr Bewusstsein an ihren Körper gekettet. Auch wenn sie keine Möglichkeit mehr besitzt, ihm noch Ausdruck zu verleihen oder etwas um sich herum wahrzunehmen.”

Das war eine schreckliche Vorstellung. Ich fragte mich, ob sich Koma-Patienten so ähnlich fühlten, kam aber zu den Schluss, dass ich mir gerade nicht den Luxus solcher philosophischen Gedankenexperimente leisten konnte. Ich ging also nicht näher darauf ein und kam zu meiner nächsten drängenden Frage. “OK. Das ergibt Sinn. Aber wie zum Teufel ist mir das hier gelungen?” sagte ich und zeigte dabei auf die fremdartige Schusswaffe.

“Du bist sonst kein guter Schütze, oder?”, fragte sie mit einem verzerrten Lächeln.
“Nein. Nicht wirklich. Ist das irgendeine fortgeschrittene Technik?” gab ich zurück.
“Hat es sich denn nach Technik angefühlt.” wollte Garwenia wissen.

“Eigentlich nicht?”, antwortete ich. “Eigentlich war es eher, als würde irgendjemand anders für mich schießen, als würde jemand in meinen Kopf schlüpfen und dort die richtigen Knöpfe drücken, wenn du weißt, was ich meine.”
Sie nickte wissend. “Was du gespürt hast, war die Berührung eines Kwang Grong. Sie sind … nun, sie sind im Grunde die Geister dieser Waffen. In den meisten Fällen schlafen sie tief und nehmen kaum Einfluss auf ihre Träger, aber manchmal … manchmal ist das anders.”
“Also hat mich dieser Kwang Grong quasi auserwählt?”, fragte ich und konnte mich nicht gegen einen gewissen Stolz wehren. Wenn so ein Aliending mich auserwählte musste ich schon ein toller Hecht sein, oder etwa nicht?
Garwenias Gesichtsausdruck passte aber nicht zu meinem kleinen Ego-Hochgefühl.
“Auserwählt oder verflucht, je nachdem wie man es betrachtet …”
Bevor sie ihren Satz zu Ende bringen konnte, wurde die Höhle von einem lauten metallischen Summen erfüllt.

Ich drehte mich um und entdeckte eine etwa fünf Meter große silberne Kugel, die sich direkt im Höhleneingang befand. Aus ihrem schillernden Metallkörper drangen dutzende von spitzen Auswüchsen, die Mal länger und mal kürzer waren und auf denen sie sich offensichtlich fortbewegte, indem sie irgendwas – womöglich Druckluft – daraus hervorstieß und es als Rückstoß nutzte. Ihre so entstehende Fortbewegung sah verwirrend und chaotisch aus, war aber überraschend schnell. Beim Anblick dieses Dings fiel mir wieder Ryxahs Warnung ein und ich sprach meine Assoziation auch gleich aus. “Ist das ein …” Garwenia nickte, während sie ihre Waffe vom Boden aufhob und auf das Ding zielte. “Ja, das ist ein verdammter Bakteroid.”

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