Geh nicht hinaus

„Mein Kind, Mein Kind das rat ich dir
Leih Fremden nie dein Ohr
Es gab schon manchen, der sich hier
In dieser Stadt verlor

Geh deiner Wege rasch und schnell
Geh eilends durch den Schnee
Acht‘ nicht aufs nächtliche Gebell
Streich’le nicht Hund, noch Reh

Die Männer, Frauen, Kinder gar
Sind hier von bösem Sinn
Und das, was noch die Nacht gebar
Schlacht‘ deine Seele hin“

So sprach die Mutter streng und stark
Vor jedem Einkaufsgang
Wenn von dem Boden, kalt und karg
Sie nicht genug errang

Um uns zu nähren, mich und sie
Seit die Geschwister starben
Und Vater sich von dannen stahl
Weil Frauen ihn umwarben

Und ihre Worte klingen mir
ermahnend noch im Ohr
Doch Einsamkeit, erdrückt mich hier
Und treibt mich doch hervor

So wag ich mutig mich hinaus
Ins wilde Flockentreiben
Das frei sich dreht um jedes Haus
Verschönert alle Scheiben

Heut’ geh ich nicht zum Laden nur
Der jenem Man gehört
Der wortkarg, bitter, boshaft grüßt
Als hätt ich ihn gestört

Nein ich streif’ offen durch die Stadt
Und durch das nahe Land
Bis dämmernd, milchig, hoch und matt
Der Mond am Himmel prangt

In einer Gasse klein und eng
Vernehme ich Gebell
Kurz zitternd mich die Angst empfängt
Doch dämpfe ich sie schnell

Zu sehr giert’s mich nach neuen Ding‘
Egal wie fürchterlich
Nach Jahren, die ich stets nur saß
An Mutters altem Tisch

So bleib ich steh’n, starr in die Nacht
Wo einen Hund ich seh‘
Mit Augen finster wie ein Schacht
Und Fell so hell wie Schnee

Nun holt mich doch die Panik ein
Vor diesem Höllentier
Ich möchte rennen, fliehen, schrei’n
Doch steh ich einfach hier

Er läuft behutsam auf mich zu
leckt schnüffelnd meine Hand
Dann tritt ein Mädchen noch hinzu
Von unbekanntem Stand

Ihr Haar ist dicht, wabert im Wind
Wie Seetang sonst im Meer
ihr Kleid ist rot wie’s Beeren sind
Ihr Lächeln tränenschwer

„Ich habe lang nach dir gesucht“
Sagt sie aus zartem Mund
Wie ich mit Einsamkeit verflucht
Scheint sie und dieser Hund

„Warum?“, so frag ich sie verwirrt
Und sie erwidert frei
„Weil man bei euch die Geister hört
Wie böse Zauberei“

„Ich hör sie rufen, warnen gar
Doch ach, niemand hört zu
Weder dein Muttchen dass dich nährt
Und nein, nicht einmal du“

Werd nicht aus ihren Worten schlau
Und frage nach dem Sinn
Doch sie bleib vage, ungenau
Streckt mir die Hand nur hin

„Ich zeig dir etwas, einen Ort
Wo gute Geister sind
Dort fliehen wir und gehen fort
Wie Flocken mit dem Wind“

Ich packe zu, die Angst, sie schweigt
Und halt mich an ihr fest
Während sie ihren Hund besteigt
Der auch mich reiten lässt

Die Stadt, sie schwindet hinter uns
Und uns empfängt ein Land
Mit Wäldern gleich abstrakter Kunst
An einem weißen Strand

Dort tanzen Feen aus Schnee und Rauch
Und Geister singen Lieder
Sie treiben Glück und Sehnsucht auch
In alle meine Glieder

Manch‘ Hunde spielen, weiß und schwarz
Mit Rehen aus Kristall
Die Luft ist schwer von Tannenharz
Und über uns das All

Schimmert mit naher Sternenpracht
Als wär’s für uns gemacht
Hab‘ nie so herzhaft froh gelacht
Als wär mein Herz erwacht

Und jenseits eines großen Meers
Aus silbrig-weißem Nass
Hör ich Gelächter mehr und mehr
Es klingt nach großem Spaß

„Wo kommt das her?“, das frag ich sie
„Von dort“, das Mädchen spricht
Und zeigt auf eine Insel die
Der Horizont verspricht

„Das ist das Land der Seligkeit
Wo jeder glücklich ist
Auf dem wir spielen alle Zeit
Der Tod uns schier vergisst

Es ist für jene Gäste nur
die dauerhaft hier sind
Die, die geleistet einen Schwur
Dem Eisnachtskönigskind“

Mit diesen Worten streckt sie sich
Wird riesig wie ein Baum
Ihr Antlitz schön und fürchterlich
Als wär’s ein dunkler Traum

Doch ihre Stimme bleibt sehr zart
Als sie mich leise fragt
„Willst du mir schwör’n auf deine Art
Heut und an jedem Tag

Dass du nie bösen Willen zeigst
Und niemals uns verrätst
Dass du auf ewig treu uns bleibst
Und nie in Zorn gerätst?“

Wie sie da steht, packt Grauen mich
So schrecklich groß und fremd
Ich renne fort, zum hellen Licht
Das beide Welten trennt

Hör ihre Stimmen schreien: „Bleib!“
So gütig und so flehend
Und Feen und Tiere allenthalb
Bitten mich, nicht zu gehen

Doch stoß ich sie nach Kräften weg
Und lass mich nicht beirr’n
Bis ich den Übergang entdeckt
Hinaus aus jenen Wirr’n

Ich lande in der Gasse gleich
Renn atemlos nach Haus
In meiner Mutter warmes Reich
Sie sieht mich und kommt raus

Ich sag ihr eilends, was geschehn
Erschüttert und bewegt
Sie hört mir zu, doch kann ich sehn
Wie Wut sich in ihr regt

Ihr Zorn ist groß und fürchterlich
Sie schimpft und schreit, und plärrt
Und einen Gürtel nimmt sie sich
Der übel mich versehrt

Ich weine Trän’ um Träne heiß
Dann ändert sich ihr Sinn
Sie nimmt mich in den Arm leis
Und singt sanft vor sich hin:

„Oh Tochter, Tochter, weine nicht
Will dich nicht leiden seh’n
Wir Menschenkinder müssen doch
Ganz eng zusammenstehen

Will nur nicht, dass du dich verlierst
Bei Geistern und Getier
Dass du bei jenen Schatten frierst
So wie die anderen vier“

Erschrocken bin ich, denn niemals
Hat sie mir dies erzählt
Dass meine Schwestern dort verweil’n
Ist Wissen, das mich quält

Sie küsst mich tröstend, macht mir Tee
Wir trinken ihn zu zweit
Und meiner Leib und Seele weh
Verschwindet mit der Zeit

Wir schmücken gar das alte Haus
Nach weihnachtlicher Art
Und jagen alle Geister raus
Dass Jesus uns bewahrt

Wir fällen auch ein Tännchen fein
Das dort im Garten steht
Und Essen Äpfel, Brot und Käs‘
Nach sorgsamem Gebet

Als ich auf meinem Zimmer bin
Gewärmt, erneut allein
Lang ich in meine Tasche hin
Finde ein Briefchen klein

Es ist ganz weiß, bestäubt mit Schnee
Der trotz der Wärm‘ nicht taut
Und jene Worte, die ich seh
Sich in mein Herz geschraubt:

„Fürchte die Blume und den Trank
Und flieh die guten Wort
Lauf um dein Leben, lauf geschwind
Lauf heute Nacht noch fort

In deiner Mutter Kopf zog ein
Ein Wesen bös und schlimm
Wenn es sie lenkt, dann füllt allein
Die Mordlust ihren Sinn

Sieh in den Schrank, wenn du nicht glaubst
Was ich zu sagen hab
Dort liegt die Wahrheit und verstaubt
Wie ein vergessnes Grab

Das Tor steht offen, wie du weißt
Und jeder, der dich kennt
Dich warm und froh willkommen heißt
Am Feuer, das hier brennt“

Ich will zerreissen jenen Brief
Von der Gespensterfrau
Denn jener Schrecken, er sitzt Tief
Prägte sich ein genau

Doch dann klopfts an der Zimmertür
Und Mutter tritt herein
Sie trägt ein Brett mit Blumenzier
Und dampfend würzig Wein

„Lass es dir schmecken oh mein Schatz“,
sagt sie mit liebem Sinn
Und stellt die Gabe lächelnd ab
Gleich nebem dem Kamin

Ich nicke ihr ganz dankbar zu
Und nehme mir den Trank
Doch hat mein Herz jetzt keine Ruh
Ich denke an den Schrank

Ich tu als ob ich nippen wird
Dann geht sie endlich weg
Der Wein riecht kräftig, nach Gewürz
Doch rasch ich ihn versteck

Ich lausche an der Tür lang
Doch hör ich kein Geräusch
Dann schleich ich raus, mach keinen Klang
Und hoff‘, dass ich mich täusch‘

Sie ist im Wohnzimmer und strickt
So hab ich freie Bahn
Und werfe einen scheuen Blick
Zum Schrank, nie aufgetan

Er ist verschlossen, doch es steckt
Ein Schlüsselchen zum Glück
Ich dreh’s und mich durchfährt ein Schreck
Schnell stolper ich zurück

Meine drei Schwestern und mein Pa
Liegen dort tot und bleich
In ihrem Lieblingskleidern gar
Und Schreckgespensten gleich

Verwest, vertrocknet, knöchern auch
So grinsen sie mich an
Und es rumort in meinem Bauch
Weil ichs nicht fassen kann

Da hör ich Schritte, dreh mich um
Das Mütterchen dort steht
Hält Wein und Messer, droht mir stumm
Fast scheint es mir zu spät

Doch fass‘ ich mir ein wildes Herz
Gebor’n aus Zorn und Wut
Als fühlt ich der Familie schmerz
Und heilig wär mein Blut

Ich stürme vor und stoß sie um
Sie stürzt samt Wein dahin
Sie flucht und heißt mich frech und dumm
Doch weiß ich, wer ich bin

Ich nehm’ das Messer, das sie hält
Stoß es in ihre Hand
Dann lauf ich zu der andren Welt
An jenem fremden Strand

Denn welche Schrecken dort auch sind
Und was mich dort erfasst
Ist nichts monströser für ein Kind
Als seiner Mutter Hass

Und ach wer weiß, vielleicht wirds schön
So ist’s dort draußen halt
Die Welt ist wild und ungesehen
Und oftmals ist es kalt

Doch wer verweilt im alten Trott
Wo Angst und Zwang ihn hemmen
Wird daran sterben, geht zu Gott
Ohne sein Glück zu kennen

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