Knochenwelt: Heimkehr

Als Lucy in ihrem schwarz-weiß gestreiften Kleid an die schlichte weiße Tür des beschaulichen Einfamilienhauses klopfte, musste sie sofort an die letzten beiden Türen denken, an die sie geklopft hatte. Eine davon hatte jener traurigen, einsamen, älteren Frau gehört, die Lucy damals kurz nach ihrer vollständigen Umwandlung um ein Haar getötet hätte, weil sie ihre Wut damals kaum hatte kontrollieren können. Sie hatte sie nicht getötet. Immerhin diesen Mord hatte sie sich nicht zuzuschreiben.

Aber sie hatte den baldigen Tod ihres geliebten Hundes vorausgesehen und sie mit diesem Wissen belastet. Was wohl inzwischen aus der armen Frau geworden war? War sie am Ende auch in einem der CfD-Kerker oder in einer der MannaRed-Produktionsstätten gelandet? Oder war sie einfach nur an ihrer Trauer und Einsamkeit zugrunde gegangen?

Damals hatte sie – dank der unmenschlichen Experimente, die man an ihr durchgeführt hatte – nur wenig Mitleid verspüren können, doch heute fühlte Lucy sich umso schlechter deswegen. Aber was sie wenig später nach dem Klopfen an einer anderen Tür angerichtet hatte, war noch weitaus schlimmer gewesen als eine taktlose Prophezeiung.

Wie hatte unschuldige Menschen abgeschlachtet. Erwachsene, die ihr Leben in den Dienst von Kindern gestellt hatten, die ihre eigenen Eltern verloren hatten. Gute Menschen, die – wie die meisten von uns – vielleicht auch nicht perfekt gewesen waren, die aber auf keinen Fall einen so grausamen Tod verdient hatten. Kurz darauf hatte sie dem nochmal die Krone aufgesetzt und eine ganze Stadt ausgelöscht.

Vielleicht noch unverzeihlicher war die Tatsache, dass sie die armen Waisenkinder und danach noch viele weitere Kinder ihrer Unschuld und ihrer Seele beraubt und sie in hassende Monster verwandelt hatte. Die meisten von ihnen waren es auch jetzt noch. Unter anderem auch Carina, ihre Vertraute und rechte Hand, die in ihrer Abwesenheit ein Auge auf ihr Hauptquartier hatte.

Und bis diese Lichthexe Mara endlich das entsprechende Heilmittel (Geisterglanz, ja so hieß es) in ausreichender Menge hergestellt hatte, würde das auch so bleiben. Alles in allem hatte sie – selbst wenn man berücksichtigte, dass sie ihr Schicksal als Madenkind nicht selbst gewählt und oft kaum Einfluss auf ihre Wutausbrüche gehabt hatte – so viel Schuld auf sich geladen, dass sie sich fragte, ob sie es überhaupt noch verdient hatte, glücklich zu werden.

Andererseits spielte es wohl kaum eine Rolle, ob sie es verdiente oder nicht. Solange wir leben, streben wir nach Glück. Wir können gar nicht anders. Und das war letztlich auch der Grund, warum Lucy sich auf dem haarigen Rücken einer Schneidfliege durch den streng bewachten Luftraum des CfD-regierten Deutschlands gekämpft hatte und nun vor einer weiteren, bedeutenden Tür stand. Diesmal zum Glück mit viel freundlicheren Absichten.

Lucy war nicht naiv – diese Eigenschaft, dieses kindliche Privileg hatten ihr der Knochenwald, Elvira Djarnek und die Geschehnisse der letzten Monate – gründlich ausgetrieben. Lucy besaß zwar wieder das gesamte Spektrum ihrer Gefühle, aber ihre Kindheit war nichtsdestotrotz vorbei. Sie wusste, dass sie nicht einfach wieder als liebe, nette Tochter bei ihren Eltern würde leben können, so als wäre nichts geschehen. Aber zumindest wollte sie ihren Eltern zeigen, dass sie noch lebte und ihnen alles so gut wie möglich erklären.

Sie hoffte nur, dass sie ihr auch zuhören würden. Immerhin war sie nach wie vor kein Mensch, würde es wohl nie wieder sein. Falls ihre Eltern ihre Geständnisse einigermaßen gut aufnehmen würden, würde sie zumindest ein paar Tage bei ihnen verbringen und sie fortan besuchen, wann immer ihr das möglich war.

Ihr wahres Zuhause lag aber jetzt in der Forschungsstation bei ihren Kaninchen und Madenkindern. Dorthin würde sie schon in Kürze zurückreisen und dafür sorgen, dass all ihre Kaninchen ihr wohlverdientes Heilmittel bekamen.

Sollte sich Mara sich bis dahin nicht bei ihr gemeldet haben oder weiterhin Ausflüchte suchen, würde sie höchstpersönlich bei ihr auftauchen und ihr die Wichtigkeit ihres Anliegens nachdrücklich näherbringen. Als sie daran dachte, leuchteten ihre Augen in roter Wut auf. Mara WÜRDE ihr das versprochene Heilmittel geben. So viel stand fest. Und danach würde sie dafür sorgen, dass Elvira Djarnek endlich den angemessenen Lohn für das erhielt, was sie ihr und vielen anderen angetan hatte.

Das jedoch würde ein Kinderspiel werden, verglichen mit der Herausforderung, die nun vor ihr lag. Mit zitternder Hand drückte Lucy die Klingel.

Polly – ihre Lieblingsmade – die versteckt neben der Tür wartete, hob bei dem schrillen Geräusch langsam den liebenswert hässlichen Kopf. Sonst aber tat sich die nächsten Sekunden nichts, wenn man vom heftigen Schlagen von Lucys Herzen und der Anspannung in ihrem Inneren absah. Gefühle waren eben nicht immer nur ein Segen.

Dann aber öffnete sich die Tür und sie blickte in das vollkommen überraschte Gesicht ihrer Mutter. Sie trug tatsächlich dieselbe weiße Bluse und dieselbe blaue Jeans wie in ihrer Vision, damals in Devons Festung. Anders als dort stand heute aber reine Freude in ihren Augen.

„Lucy!!!“, rief sie aufgeregt mit ihrem auch nach all den Jahren noch deutlich hörbaren britischen Akzent. „Bist du das wirklich? Nach all der Zeit?“

Lucy lächelte sanft. „Ja. Ich bin es wirklich und wahrhaftig“, sagte sie. Früher wäre sie ihrer Mutter sicher sofort in die Arme gefallen. Aber auch wenn sie sehr glücklich darüber war sie wiederzusehen, blieb sie vorerst wo sie war. Wahrscheinlich war sie inzwischen einfach zu erwachsen geworden.

„Ich kann es gar nicht glauben, Schatz!“, sagte Lucys Mutter, während warme Tränen über ihr Gesicht liefen. „Ich kann es nicht glauben. Manfred, schlepp’ deinen Hintern hier her. Unsere Tochter ist zu uns zurückgekommen!“

Auch Lucy war von diesem Moment gerührt. Allerdings weinte sie nicht. Stattdessen färbten sich ihre Augen vollständig hellblau. Es war eine schöne, freundliche Farbe, aber das änderte nichts daran, dass Lucys Eltern noch nie zuvor Augäpfel gesehen hatten, die sich bis hin zur Pupille spontan verfärbten.

„Was ist mit deinen Augen?“, fragte Lucys Mutter deshalb auch erschrocken, während die aufgeregten Schritte ihres Vaters rasch näherkamen.

In der Stimme ihrer Mutter schwang eine leichte, aber unüberhörbare Abscheu mit, die Lucy augenblicklich wütend machte. Langsam verfärbten sich ihre Augen vom hellen Blau in ein dunkles Rot. Gleichzeitig deuteten sich die dicken weißen „Schlangen“ unter ihrer Haut an.

„Lucy! Schatz! Was ist mit dir?“, rief ihre Mutter und auch ihr Vater, der nun in seinem Holzfällerhemd neben ihr stand (warum ausgerechnet dieses Hemd? Es hätte doch jedes andere sein können) und der zunächst glücklich gelächelt hatte, sah sie inzwischen regelrecht entsetzt und auch ein wenig ängstlich an. Sein muskulöser, blasser Hals zitterte kaum merklich, aber Lucy entging es nicht.

„Mir geht es gut, Mama.“, knurrte sie. Der Zorn darüber, dass ihre Eltern sie ansahen wie ein Ungeheuer, reicherte sich in ihrem Bauch langsam aber sicher zu einer kritischen Masse an, die jeden Moment unkontrolliert explodieren konnte. Eine Straßenlaterne in der Nähe begann leicht zu flackern. Lucy versuchte ihre Wut mit rationalen Überlegungen einzudämmen. Sie sagte sich, dass die Reaktion ihrer Eltern vollkommen verständlich war, da sie ja für sie auch aussah wie ein Ungeheuer.

Aber damit gelang es ihr nicht wirklich ihren Zorn zu besänftigen. Erst als sie sich an die Liebe erinnerte, die sie für ihre Eltern empfand und die wie eine kühlende Woge über ihren Zorn hinwegschwappte, gelang es ihr, wieder etwas ruhiger zu werden.

„Ich werde euch alles erklären“, versprach sie nun deutlich sanfter, „aber wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich das lieber drinnen tun. Dort gibt es nicht so viele neugierige Ohren und Polly fühlt sich im Haus sicher auch wohler.“ Mit diesen Worten kroch die dicke weiße Schneidmade hinter Lucys Rücken hervor.

~o~

Man hätte zwar technisch gesehen behaupten können, dass ihre Eltern sie hereingebeten hätten, aber es wäre wohl deutlich ehrlicher gewesen zu sagen, dass sie vor ihr und Polly zurück ins Haus GEFLOHEN waren.

So oder so saßen sie nun alle vier im Wohnzimmer. Lucy hatte sich auf dem bequemen hellbraunen Ledersessel niedergelassen, der schon immer ihr Lieblingsplatz gewesen war und streichelte Polly den geringten Körper. Janna Hermann und Michael Hermann hingegen saßen zitternd auf ihrer dunkelgrauen Stoffcouch hinter dem alten Glastisch, hatten ihre Hände förmlich ineinandergekrallt und sahen Lucy und vor allem Polly mit blankem Entsetzen an. Insbesondere ihr Vater warf mehr als nur einen flüchtigen Blick zu seinem Handy, das etwas außerhalb seiner Reichweite auf dem Tisch lag. Lucy war sich ziemlich sicher, dass ihre Eltern vor allem deswegen nicht einfach wegrannten, weil sie Angst vor dem hatten, was die bedrohlich aussehende Schneidmade dann mit ihnen anstellen würde. Oder auch ihre eigene Tochter.

Lucy sah sich aufmerksam im Wohnzimmer um. Seit ihrer Entführung hatte sich kaum etwas verändert. Die Fenster waren noch immer mit weißen Spitzengardinen verhangen, der Fernseher war noch immer das alte, klobige und aus der Zeit gefallene Modell, das vor allem noch im Wohnzimmer stand, weil ihre Mutter dort gerne Fußball oder andere Sportübertragungen schaute, während ihr Vater, der ungewöhnlicherweise eher ein Sportbanause war – zumeist mit seinem Smartphone oder auch mal einem guten Buch Zugange war. Noch raumgreifender als der Fernseher war nur das alte Bücherregal aus dunklem Kirschholz, in dem Lucys Eltern weit mehr Bücher sammelten als sie je selbst gelesen hatten oder würden, auch wenn sie trotzdem sehr stolz auf ihre Sammlung waren.

Selbst die gerahmten Erinnerungsfotos von ihr und ihren Eltern waren noch an Ort und Stelle. Eines davon zeigte sie beim gemeinsamen Strandurlaub in Spanien. Damals war Lucy noch ein Kleinkind gewesen, das glücklich sein gerade erfolgreich erquängeltes Softeis in der Hand hielt. Ein anderes Bild zeigte sie allein in einer Porträtaufnahme erst kurz vor ihrer Entführung. Das unbeschwerte Lächeln dieses Mädchens, das ihr nun wie eine Fremde vorkam, schnitt Lucy tief ins Herz. Sie teilte mit diesem Mädchen zwar die Erinnerungen an die vielen weitaus sorgloseren Stunden, die sie mit ihren Eltern in diesem Haus verbracht hatte, aber nicht viel mehr.

„Ich weiß, dass ihr Angst vor mir habt“, begann sie und klang dabei so normal und menschlich wie wohl schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr.

„Nein, Schatz. Es ist nur so, dass …“, begann ihre Mutter stockend.

„Hör, auf Mama!“, verlangte Lucy und schaffte es irgendwie ihre Augenfarbe nicht erneut zu wechseln. „Ich bin nicht dumm und in gewisser Weise bin ich auch kein Kind mehr.“

Als sie das sagte, spiegelte sich ihr eigener Schmerz in den Augen ihrer Eltern. „Und doch bin ich noch immer eure Tochter. Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen ‚Monopoly‘ und ‚Mau-Mau‘ gespielt haben, wie wir gemeinsam auf dem Spielplatz gewesen waren, wie du, Papa für uns immer mexikanische Wraps gemacht hast und wie ich mit dir, Mama Fußballspiele geschaut habe, bis ich eingeschlafen bin. Das alles gehört noch immer zu mir, genau wie ihr. Ich liebe euch nach wie vor und ihr habt weder von mir, noch von Polly etwas zu befürchten.“

Sie wusste selber nicht, ob das wirklich stimmte, aber ihre Eltern schienen es zumindest halbwegs zu glauben. Sie wurden merklich entspannter.

„Es war diese grauenhafte Frau, diese Elvira, nicht wahr?“, fragte ihr Vater. „Sie hat dir das angetan!“ In diesem Moment wirkt er fast so wütend, wie Lucy es gelegentlich werden konnte.

Lucy nickte. „Ja, das hat sie“, bestätigte sie. Nun verfärbten sich ihre Augen doch. Sie verwandelten sich in neblige, graue Scheiben aus geschliffenem Granit, die tief in die Vergangenheit zu reichen schienen. Selbst Polly schien die veränderte Gemütslage ihrer Herrin zu spüren und robbte unruhig auf dem hellgrauen Teppichboden hin und her.

„Wollt ihr hören, was genau passiert ist?“

Ihre Eltern nickten.

Und Lucy erzählte. Sie erzählte von ihrer Entführung. Davon, wie Elvira und ihre Soldaten sie bei Nacht und Nebel in einen Wagen geschleift hatten. Wie sie sie gefesselt, geknebelt und ihr die Augen verbunden hatten. Wie sie schon während der Fahrt über sie geredet hatten, als wäre sie nichts weiter als ein austauschbares Versuchskaninchen, ein Teststreifen, ein Klumpen formbarer Rohmasse.

Wie sie sie in einem Hubschrauber transportiert hatten und dann stundenlang geflogen waren, ohne auch nur im Geringsten auf ihre erstickten Fragen und Schreie zu achten. Wie sie geweint hatte, weil sie allein war, umgeben von bösen Menschen und ohne die Menschen, die sie liebte. Wie sie sie in diese schreckliche Forschungsstation gebracht hatten, in der es von Soldaten und Wissenschaftlern mit harten Augen und falschem Lächeln nur so gewimmelt hatte. Wie man sie ausgezogen und mit kalten Fingern untersucht hatte. Wie man ihr Dr. Jonathan How vorgestellt hatte, der nett und freundlich zu ihr gewesen war – ganz anders als die anderen Ärzte dort. Und wie doch er es gewesen war, der ihr Verhalten bis ins Detail protokolliert und ihr immer wieder Fragen gestellt hatte. Der tatenlos zugesehen hatte, während Elvira sie mit Schneidmadenfleisch gefüttert und damit ihre Menschlichkeit und beinah ihren Verstand zerstört hatte.

Natürlich hatte Jonathan damals kaum eine Wahl gehabt, denn er war ebenfalls ein Gefangener gewesen, dessen Strafe für Ungehorsam wahrscheinlich der Tod gewesen wäre. Heute wusste sie das, aber damals hatte sie ihn für seinen Verrat gehasst. Doch nicht nur ihn. Sie hatte alle gehasst. Jeden einzelnen Menschen in der Forschungsstation und sogar auf diesem Planeten.

Auch das erzählte sie ihren Eltern. Sie erzählte ausgiebig von jenem Hass, der so groß gewesen war, dass er ihr die Kraft verliehen hatte, durch eine massive Stahltür und durch meterdicken Beton zu brechen.

Lucy erzählte weiter von ihrer Odyssee. Sie berichtete von dem Mann, der Frau und den beiden Mädchen, deren Wagen sie umgeworfen und die sie wahrscheinlich umgebracht hatte, von ihrem Besuch bei der armen älteren Frau, davon, wie die Schneidmadenkönigin ihr ihre Kinder überlassen hatte. Davon, wie sie in das Waisenhaus eingebrochen war, die Angestellten getötet und alle Kinder in Monster verwandelt hatte. Sie vertraute ihren Eltern an, dass sie mit ihnen eine ganze Stadt ausgelöscht und einen von Elviras Wissenschaftlern entführt hatte. Sie erzählte von ihrer Vertrauten Carina, ihrem Kampf gegen Elvira, der Übernahme ihrer ehemaligen Forschungsstation und der Erschaffung der Schneidfliegen und auch vom Angriff auf die MannaRed-Fabriken und von Elviras Flucht.

Zuletzt berichtete sie von ihrem erneuten Zusammentreffen mit Jonathan und seinen Freunden, ihren skrupellosen Racheaktionen und ihrer unerwarteten Heilung, vom Knochenwald, der die Quelle allen Übels war und natürlich vom großen Angriff auf Devons Stützpunkt und der Schließung des Portals.

Ihre Eltern hörten gebannt und fasziniert zu. Und jede Emotion, die sie selbst erlebt hatte, fand sie auch auf den Gesichtern der beiden wieder. Jedes Quäntchen Hass, jeden Funken Zorn, jedes bisschen Freude, Angst und Erleichterung und sogar die graue, bleierne Gefühllosigkeit, die sie so lange beherrscht hatte. Nur eines sah sie darin nicht: Zweifel an ihren Worten, so fantastisch sie auch waren. Sie waren eine Familie, eine Einheit. Selbst nach allem was passiert war. Das wurde ihr jetzt klar.

„Wow!“, sagte ihr Vater nur und alle drei lachten sie daraufhin los, lachten alle Anspannung und auch die Düsternis ihrer Schilderungen weg. Am Ende blieb ein warmes, fast kindliches Lächeln auf Lucys Gesicht zurück und selbst ihre Augen wirkten kurz wie die eines Menschen.

„Ich bin wirklich stolz auf dich“, sagte ihr Vater, „ich wusste zwar, dass wir mit dir ein wunderbares Mädchen großziehen, aber was du erlebt und geleistet hast, hätten selbst die stärksten Erwachsenen nicht zuwege gebracht. Ich meine: Immerhin hast du die Welt gerettet, Lucy.“

Lucy wusste, wie diese Worte gemeint waren. Aber dennoch lösten sie eher Schmerz als Stolz in ihr aus. „Die Welt gerettet?“, sagte sie düster lachend, „seht euch die Welt doch an. Diktatoren und Kriege wohin man sieht, eine schwarzgefleckte Sonne, Monochrome Häuser, Getränke, die aus dem Leid und der Lebenskraft von Menschen gewonnen werden und noch immer läuft eine ganze Menge bösartiger Kreaturen überall herum. Nein, Papa. Gerettet, habe ich gar nichts.“

„Sei nicht so hart zu dir Schatz“, sagte ihre Mutter sanft, „ohne dich wäre alles sicher noch viel viel schlimmer.“

„Das ist schon möglich“, gab Lucy widerwillig zu, „aber ich habe auch eine Menge Gräueltaten verübt. Ich habe mehr Seelen und Leben zerstört als so mancher Serienkiller. Vielleicht habe ich es nicht mal mehr verdient, überhaupt zu leben.“

„Sag so etwas nicht!“, protestierte ihr Vater energisch, fast zornig, „in dieser Familie ist Selbstmord tabu. Hast du mich verstanden?!“

Er wartete nicht erst auf Lucys Antwort, sondern redete sofort weiter. „Außerdem warst du dabei nicht du selbst. Du trägst also keinerlei Verantwortung für deine Taten.“

Lucy lächelte bitter. „Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?“

„Ja“, sprang ihm ihre Mutter bei, „ich kann deine Schuldgefühle verstehen, Kleines. Mir würde es ganz genauso gehen. Aber von deinen Selbstvorwürfen wird niemand wieder lebendig. Und bei allem anderen hast du es in der Hand, die Dinge wieder geradezubiegen. Ich will nicht, dass mein kleines Mädchen sich in Gefahr begibt und wenn das auch nur die geringsten Erfolgsaussichten hätte, würde ich dich am liebsten in deinem Zimmer einsperren bis du volljährig bist, nur um dich nicht noch einmal zu verlieren. Aber die Zeit, wo wir dir etwas vorschreiben konnten, sind vorbei und mir ist vollkommen bewusst, dass du jetzt nicht einfach wieder bei uns einziehen kannst. Aber bevor du dein Leben sinnlos wegwirfst, solltest du lieber deine Rechnung mit dieser kranken Schlampe Elvira begleichen und vor allem jenen helfen, denen du noch helfen kannst.“

Lucy war schwer beeindruckt. Sie wusste, dass ihre Mutter eine intelligente Frau mit einer schnellen Auffassungsgabe war, aber sie ahnte auch, wie schwer es einer Mutter fallen musste, ihrer einzigen Tochter einen Rachefeldzug nahezulegen. Noch dazu, wo sie gerade erst erfahren hatte, dass ihre Tochter noch am Leben war.

„Wie siehst du das, Papa?“, fragte sie ihn.

Für einen kurzen Moment glaubte sie fast, dass die Augen ihres Vaters schwarz wurden, so viel Wut und Entschlossenheit stand in seinem Blick. Dann aber sah sie wieder das gleiche haselnussbraun darin, dass sie schon ihr ganzes Leben über gekannt hatte.

„Kauf dir dieses Miststück, Kleines!“, sagte er vor Zorn zitternd. Und ein finsterer Schatten lag in dem sonst so gütigen, mit schwarzen Stoppeln bedeckten Gesicht des Mannes. Anscheinend hatte sie ihr aufbrausendes Gemüt nicht allein dem Schneidmadenfleisch zu verdanken. „Ich würde sie mir am liebsten selbst vorknöpfen und ihr jeden Finger einzeln ausreißen für das, was sie dir angetan hat …“

Ein sadistischer Ausdruck blitzte kurz in seinem Gesicht auf, dann jedoch kehrte die gewohnte Freundlichkeit weitgehend in seine Züge zurück. „… doch wenn man eine Tochter hat, die Stahltüren einreißen kann, wäre es wohl ziemlich albern, ihr die Show stehlen zu wollen. Aber ich hoffe doch sehr, dass du vorher noch etwas bei uns bleiben wirst.“

„Das war der Plan“, sagte Lucy verschmitzt.

„Eine gute Entscheidung“, sagte ihr Vater lächelnd, „denn Rache fällt einem bedeutend leichter, wenn man ein paar mexikanische Wraps im Bauch hat.“

Lucy kicherte, „da magst du recht haben.“

Ihr Vater nickte ihr zu und verschwand dann praktisch sofort in der Küche. Wahrscheinlich war er bei aller Wiedersehensfreude erleichtert ein paar Minuten für sich allein haben zu können und das lag sicher nicht nur an ihr.

Niemand, der in den letzten anderthalb Jahren in Deutschland gewesen ist, konnte an seinem gewohnten Verständnis von Wahn und Wirklichkeit noch festhalten oder die Existenz des Übernatürlichen leugnen. Aber es gab auch eine Menge Dinge, die die Regierung der Bevölkerung verheimlichte oder über die sie Lügen verbreitete. Die Wahrheit über diese Dinge zu hören, war nicht eben einfach zu verkraften. Angesichts dieser Tatsache nahm ihr Vater das alles noch sehr tapfer hin.

„Isst sie auch mit?“, fragte ihre Mutter, die sogar noch gelassener reagierte als ihr Vater, auch wenn das natürlich auch nur Fassade sein konnte, und zeigte auf Polly, deren Knopfaugen sie aufmerksam fixierten.

„Polly isst am liebsten lebendiges Fleisch. Ich glaube, Wraps wären weniger nach ihrem Geschmack“, antwortete Lucy.

„Ist sie gefährlich?“, fragte ihre Mutter mit einem verständlichen Maß an Beunruhigung. Sie mochten ihre Tochter aufs Neue ins Herz geschlossen haben, aber mit diesem Ding gelang ihr das nicht.

„Ja“, sagte Lucy wahrheitsgemäß, „wäre ich nicht hier, würde sie euch in wenigen Sekunden mit krankmachenden Gasen betäuben, euer Fleisch zerkauen oder in ihren Verdauungssäften auflösen und alle wertvollen Nährstoffe in ihren Leib aufnehmen. Ihr würdet einen sehr schmerzhaften Tod sterben.“ Sofort sah sie die Angst auf die Gesichter ihrer Mutter zurückkehren.

„Aber ich bin hier. Und Polly würde es nie wagen, gegen meine Befehle zu verstoßen. Ihr seid also in Sicherheit“, beruhigte Lucy und in diesem Augenblick wirkte es fast so als wäre sie die Mutter, die ihren beiden zu groß geratenen Kindern die Angst vor dem Monster unterm Bett nahm.

„Gut“, sagte Lucys Mutter etwas erleichtert, „wenn du magst, kannst du in dein altes Zimmer gehen, bis dein Vater mit dem Essen fertig ist. Wir haben dort alles so gelassen, wie es am Tag deiner … deiner Entführung gewesen ist. Wir konnten es einfach nicht übers Herz bringen irgendetwas zu verändern, selbst nachdem die Polizei die Suche nach dir eingestellt hatte und auch wir nicht die geringste Spur von dir finden konnten. Selbst nachdem wir die Hoffnung, dich wiederzufinden, fast aufgegeben hatten.“

Lucys Mutter konnte nicht länger an sich halten und umarmte ihre Tochter so fest, dass Lucy glaubte, sie wolle sie zerquetschen. Nicht, dass das so einfach möglich gewesen wäre. Ihre Mutter bemerkte nicht einmal, dass „Polly“ drohend ihr kreisrundes Maul öffnete, als sie sich ihrer Herrin näherte, bevor das Tier glücklicherweise begriff, dass keine Bedrohung bestand.

Lucy genoss die Wärme und menschliche Zuwendung. Sie war endlich wieder zu Hause. Sie hätte nicht erwartet, dieses Gefühl noch einmal genießen zu dürfen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit löste sich ihre Mutter wieder von ihr. Aus der Küche konnten sie beiden hören, wie ihr Vater die Dosen mit den Kidney-Bohnen und dem Mais öffnete.

„Ich gehe kurz nach oben“, sagte Lucy.

Ihre Mutter nickte. „Tu das, Schatz. Ich decke dann schon mal den Tisch. Wir rufen dich, wenn alles fertig ist.“

Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock. Vorsichtig ging Lucy die schwarze Steintreppe hinauf, während Polly eine Spur aus weißlichem Schleim hinter sich her zog, die zwar leicht unangenehm roch, aber immerhin nicht dazu führte, dass sich die Treppenstufen auflösten. Schneidmaden konnten kontrollieren, wie viel von ihren ätzenden Substanzen sie ihren Sekreten beimischten.

Während Lucy, die sich so unbeschwert und glücklich fühlte wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr, die Treppe hinaufging, kam ihr ein kleines Lied in den Sinn, das sie leise vor sich hinsummte.

„Ein Jungkaninchen trat hinaus

in eine Welt aus Gift und Stahl

Man trieb ihr Herz und Seele aus

Und ließ ihr keine andre Wahl

Als Rache grausam und gerecht

Ein Bad in einem Meer aus Blut

Doch jetzt im lang vermissten Nest

Wird endlich wieder alles gut“.

Sie hatte kaum zu Ende gesungen als sie auch schon vor ihrer Zimmertür stand. Es war eine weiße Holztür, die mit glitzernden, pinken Blumenaufklebern beklebt war. Außerdem hing am Türgriff ein kleines weißes Stoffeinhorn mit großen Kulleraugen, welches wild hin- und hertanzte als sie die Klinke herunterdrückte. Auch innen sah es kaum anders aus. Bilder und Poster von Pferden und Einhörnern, ein Kissen auf dem eine zaubernde Fee abgedruckt war, ein anderes Kissen, welches die Form eines Einhornkopfs besaß, tonnenweise Figürchen von Elfen, Feen, Zwergen und anderen Sagengestalten und jede Menge Glitzer, Plüsch und Pink.

Wenn man das düstere, ernste und beängstigend erwachsene Mädchen sah, welches sie heute war, mochte man es kaum glauben, aber Lucy hatte früher eine extreme Vorliebe für Kitsch gehabt. Sie hatte es geliebt, sich in eine Blase aus Zauber, Glück und Fröhlichkeit zu hüllen und sich insgeheim gewünscht, nie mehr daraus hervorkommen zu müssen. Diese Blase war inzwischen aber nicht nur zerstochen, sondern regelrecht zerfetzt worden. Mehr noch: Man hatte sogar auf ihre Überreste gepisst und sie dann lachend in einem entweihten Friedhof verscharrt. Aber immerhin hier in diesem Zimmer hatte ein kleiner Teil davon überlebt wie in einer Zeitkapsel. So als hätte man ein Gefühl in einer Grabkammer eingeschlossen, damit Archäologen es irgendwann wieder ausgraben konnten.

Lucy legte sich auf ihr Bett, schob sich das Einhornkissen unter den Kopf und hüllte sich in die Reste dieser Wohlfühlblase ein wie in eine Decke. Polly kroch ebenfalls auf das Bett und legte sich an ihr Fußende. Kurz darauf schlief Lucy ein.

~o~

Sie wurde von einem Schrei geweckt. Und sie erkannte sofort, dass dieser Schrei nicht von ihrem Vater stammte, der gerade festgestellt hatte, dass er keine scharfe Sauce für die Wraps mehr im Haus hatte. Bei einem normalen Menschen hätte es vielleicht einige Zeit gedauert, bis er solche Signale in konkrete Handlungen umgesetzt hätte. Nicht so bei Lucy Hermann. Sie verließ augenblicklich die nostalgische Blase ihrer Erinnerung, in die sie sich ein letztes Mal eingehüllt hatte und streifte sie ab wie einen nutzlos gewordenen Mantel oder die abgelegte Haut einer Schneidmade.

„Komm, Polly!“, sagte sie zu ihrer Made, auch wenn sie im Grunde nur nonverbal kommunizieren konnten und rannte dabei bereits die Treppe herunter.

Sie erfasste mit einem Blick zehn in Weiß gehüllte und mit verspiegelten Helmen ausgestatteten Soldaten, die ihre Mutter umzingelt hatten. Zwei von ihnen – die einzigen Soldaten, die keine Sturmgewehre trugen – hatten der zierlichen Frau einfach die Arme abgerissen und hielten sie nun in ihren mit ebenfalls weißen Handschuhen ausgestatteten Händen. Eine der jetzt leblosen Hände ihrer Mutter hielt sogar noch ein Messer. Anscheinend hatte ihre Mutter zumindest versucht, sich zu verteidigen.

Aus den Stümpfen floss viel Blut, aber noch war ihre Mutter am Leben. Sie weinte und schrie vor Schmerzen und warf ihr dennoch einen so liebevollen, einen so flehenden Blick zu, dass es wehtat. In Wahrheit tat es so weh, dass Lucy sich in diesem Moment gewünscht hätte wieder lediglich die Taubheit und den blinden Zorn zu empfinden, die sie nach ihrer Verwandlung ausgemacht hatten.

Anderseits hatte sie letzteren ganz und gar nicht verloren. Sie sprang von der Treppenstufe, auf der sie sich befand, direkt auf die nächstbesten Soldaten zu. Ihre Augen waren von einem derart flammenden Rot, dass sie an die eines Dämons erinnerten. Ihr Gesicht war ganz erfüllt von dicken, pulsierenden, weißen Schlangen und ihr Mund glich einer vom Zorn entstellten Fratze. Alle Lichter und elektrischen Geräte in der Wohnung gaben mit einem Mal ihren Dienst auf und einige Glühbirnen zerbarsten sogar.

Drei der Soldaten nahmen Lucy augenblicklich unter Feuer. Die Kugeln ihrer mit übernatürlichen Reflexen betätigten Gewehre schlugen klatschend durch den dünnen Stoff ihres Kleides hindurch in ihren kleinen Mädchenkörper ein. Mit weißen Schlieren durchzogenes Blut spritzte mit jedem Einschlag in kleinen Eruptionen auf und winzige Hautfetzen flogen umher.

Schon als Lucy die weiß gekleideten Kämpfer das erste Mal vor einigen Monaten auf der Straße erblickt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie so waren wie sie. Nicht ganz, aber doch beinahe. Nun aber hatte sie Gewissheit. Normale Menschen wären nie in der Lage gewesen, so schnell auf ihre Ankunft zu reagieren. Doch auch Lucy war kein normaler Mensch. Und sie spürte sie zwar den Schmerz, der von den Kugeln verursacht wurde. Sie hatte bereits erlebt, dass normale Kugeln ihr nichts anhaben konnten, also musste es entweder an den Soldaten liegen – vielleicht konnten Madenmenschen einander leichter verletzen – oder es waren besondere Kugeln, die sie benutzten.

Trotz der beachtlichen Schmerzen wurde sie aber dennoch kaum von den Schüssen zurückgehalten. Getragen von einer Welle schwarzroter Wut schwebte sie gleich einem geflügelten Albtraum auf ihre Feinde zu und drehte einem der Soldaten, die ihrer Mutter die Arme ausgerissen hatten, mit einer schnellen und zugleich eleganten Bewegung den Hals um.

Es knackte kurz trocken, dann sank der muskulöse Madensoldat (oder die Soldatin, in der dicken Panzerung ließ sich das kaum sagen) in sich zusammen. Dem anderen Soldaten entriss sie das Küchenmesser, welches dieser inzwischen aus der Hand ihrer Mutter entfernt hatte und stach es ihm in den uniformierten Bauch. All das tat sie, während seine Kameraden weiter Kugeln auf sie abfeuerten, die zwar zum Teil in Möbel, Spiegel, Regale und Wände krachten, aber oft genug auch ihr Ziel trafen. Immerhin gelang es ihr, Kopftreffer zu vermeiden. Sie wusste nicht mit Sicherheit, ob das für sie tödlich enden würde, wollte ihr Schicksal aber nicht herausfordern.

Auch wenn ihr Fleisch schneller heilte als bei gewöhnlichen Menschen, spürte Lucy bereits die ersten Anzeichen einer lähmenden Schwäche in sich aufsteigen und auch das Atmen schmerzte sie bereits.

Zu ihrem Glück war sie nicht alleine. Polly hatte sich ebenfalls in den Kampf gestürzt. Die große Schneidmade konnte zwar mit ihren Dämpfen und ihrem Sekret bei den Madensoldaten nicht viel ausrichten, aber dafür sprang sie ihnen einfach auf die Brust, ätzte sich mit ihrem Speichel durch die Kevlar-Westen, durch Haut, Fleisch und Sehnen und biss zuletzt herzhaft in die weiß geäderten Herzen der Soldaten.

Diese wehrten sich nicht einmal. Vielmehr achteten sie sogar sorgfältig darauf, die Schneidmade nicht zu treffen. Das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass nicht alle Soldaten aus vollen Rohren auf Lucy feuerten. Das Risiko, dass ein Querschläger die Made verletzte, war einfach zu groß. Auf diese Weise brachte Polly zwei Soldaten den Tod. Dann sah Lucy – die infolge des massiven Blutverlustes bereits an Sehstörungen und Schwindel litt und deren Bewegungen immer langsamer und unpräziser wurden -, wie zwei der Soldaten ihren offensichtlich bewusstlosen Vater (er durfte einfach nicht tot sein) zur Wohnungstür hinausschleppten. Lucy wollte unbedingt zu ihm, aber zugleich beobachtete sie voller Entsetzen, wie das Leben zunehmend aus ihrer Mutter entwich. Sie konnte sie jetzt nicht im Stich lassen. Zudem kümmerten sich die anderen Soldaten zwar nicht um Polly, aber ihr gegenüber besaßen sie keinerlei Skrupel.

Ein Soldat hatte sein Gewehr zur Seite gelegt und stattdessen ein großes Kampfmesser gezückt, mit dem er nun direkt auf sie zustürmte. Sie wusste, dass das Messer vielleicht sogar gefährlicher für sie war, denn falls es ihre Haut genauso durchdringen konnte wie die Kugeln, würde es Wunden reißen können, die nicht so schnell wieder heilen würden.

Sie wollte den Angriff abwehren, wurde aber von einem so intensiven Schwächeanfall geschüttelt, dass sie ihre Arme kaum mehr hochbekam. Die Attacke wäre womöglich ihr Ende gewesen, aber Polly sprang dem Soldaten auf den Kopf, verbiss sich in seinem Helm und drang unglaublich schnell bis zu dessen Gehirn vor. Als sein zerfetzter Kopf nicht länger Signale an seine Hand schickte, ließ der Madensoldat das Messer fallen.

Lucy, die inzwischen allein von ihrem Zorn noch aufrecht gehalten wurde, dankte Polly still, sammelte noch einmal neue Kraft und schaffte es irgendwie einem weiteren der gesichtslosen Soldaten die Waffe zu entreißen. Dann drehte sie sich zu ihm um und feuerte ihm eine Ladung Kugeln direkt in seinen verspiegelten Helm. Die Kugeln durchschlugen aus dieser Entfernung mühelos das verstärkte Glas und einige der umherfliegenden Splitter schnitten auch in Lucys Gesicht.

Sie spürte warmes, scharf riechendes Blut über ihre Augen laufen. Immerhin würde der Soldat, der kurz darauf in sich zusammensackte, womöglich an seinen Verletzungen sterben, falls ihre Vermutung stimmte und er oder sie nicht so viel Madenfleisch zu sich genommen hatte, wie sie. Seine Wundheilung würde dann sicher weniger stark ausgeprägt sein als die ihre.

Lucy wollte sich gerade nach ihrer Mutter umsehen, als eine ganze Reihe von Kugeln ihr rechtes Knie durchschlugen. Von grauenhaften Schmerzen erfüllt brach sie jetzt doch zusammen und fiel der Länge nach auf den blutgetränkten Teppichboden. Weitere Kugeln schlugen in ihre Beine und Arme ein und Schmerz und Schwäche machten es ihr schließlich unmöglich, sich noch einmal zu erheben. Das Letzte, was sie sah, war der sterbende Blick ihrer Mutter. Dann trafen einige Kugeln ihre Augen und ihr Gehirn und die Welt wurde dunkel.

2 thoughts on “Knochenwelt: Heimkehr

  1. Oh nein, nein, nein – was machst du denn! Soviel Dramatik ist ja kaum zu ertragen…
    Da habe ich mich total gefreut, dass du weiter schreibst, sind mir doch alle so ans Herz gewachsen (ja, auch Gera, der nebenbei bemerkt eine coole Weiterentwicklung durchgemacht hat). Dann folgte Schock auf Schock: die arme Bianca, die ihr Dasein als Knochenhure fristen muss, Hexe auf Gedeih und Verderben einem völlig veränderten Davox ausgeliefert, Jonathan MannaRed abhängig – und nun auch noch das grausame Ende einer so herzerwärmenden Heimkehr in den Schoß der Familie…
    Wehe, Lucy hat das nicht überlebt!
    Ich trau mich ja kaum weiterzulesen…
    Kurz: eine großartige Reihe!
    Ich hab sie erst kürzlich entdeckt und konnte erfreulicherweise alles in einem Rutsch lesen. Und hab lange nicht mehr so mitgefiebert – oder schallend gelacht. Du hast einen wunderbar trockenen schwarzen Humor. Besonders der verbale Schlagabtausch zwischen Bianca und Gera ist einfach köstlich.
    So, und jetzt wage ich mich vorsichtig an den nächsten Teil…

    Viele Grüße,
    Tanic

    1. Hallo Tanic,

      tut mir leid, wenn dich die Dramatik überfordert hatte. Ich glaube es war in ihrer Welt unvermeidlich, das unsere strahlenden Helden keiner ganz so strahlenden Zukunft enntgegensehen. Aber noch ist das letze Wort ja nicht gesprochen ;D. Vielen Dank für deine lobenden Worte. Noch hast du ja ein bisschen was zu lesen, auch wenn die Geschichte leider noch immer nicht abgeschlossen ist. Jongliere mit meiner knappen Zeit immer zwischen Knochenwald, Fortgeschritten und den Kurzgeschichten hin und her und nach dem letzten Schub von neuen Kapiteln liegt der Wald erstmal wieder ein bisschen auf Eis. Ich habe aber schon Ideen wie es weiter geht und werde die ganz bestimmt noch ausarbeiten um dir und den anderen Waldbesuchern eine würdige Fortsetzung zu liefern.

      Herzliche Grüße
      Chrstian

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