Schwäche

Ich finde es so schön ihn hier liegen zu sehen. Gut, seine Haut ist etwas blass. In diesem Licht sieht sie sogar beinah wächsern aus. Ich beuge mich etwas vor und nehme den stechenden Geruch von Schweiss an ihm wahr. Beim nächsten Mal werde ich die Dosis ein wenig verringern müssen. Wenn er stirbt, könnte ich es kaum ertragen. Immerhin liebe ich ihn doch so sehr. Noch mehr als den letzten. Aber ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass er mich irgendwann verlässt. Die Körper von Menschen ertrugen meine Behandlung nie auf Dauer. Selbst kleinere Dosen Gift konnten sie innerhalb weniger Wochen oder Monate zu Fall bringen. Dabei will ich niemanden töten. Ich mag die Menschen und fühle mich zu ihnen hingezogen und einige – wie Thomas zum Beispiel – liebe ich sogar von ganzem Herzen. Aber ich kann meine Liebe nur zeigen, wenn sie schwach sind. Wirklich schwach. Und auf meine Hilfe angewiesen.

Nur aus diesem Grund mische ich ihnen die Substanzen ins Essen und in ihre Getränke. Einen kleinen Spritzer in Ihren Softdrink im Kino oder in ihren Cocktail in der Bar, so lange sie noch in der Lage sind, die Wohnung zu verlassen. Mit der Zeit werden sie dann immer schwächer. Ihre Unternehmungslust schwindet, und sie haben endlich ausreichend Zeit, sich ganz und gar mir zu widmen. Denn auch ihre Freunde haben oft erstaunlich wenig Verständnis für ihren Zustand. Wer zu schwach ist vor die Tür zu gehen, oder auch nur Nachrichten auf Whatsapp oder Facebook zu schreiben, ist keine erfreuliche Gesellschaft und auch der kränkliche Geruch schreckt viele von einem Besuch im Zuhause meiner Auserwählten ab.

Um fair zu sein, muss ich aber auch erwähnen, dass ich da diese Gabe habe. Diese besondere Gabe bei Menschen Desinteresse auszulösen. Wenn ich es will, dann vergessen selbst Familie und engste Freunde eine Person so vollständig, dass sie irgendwann ganz automatisch selbst Bilder oder andere Erinnerungsstücke beiläufig von PCs, Smartphones und Tablets löschen oder in den Müll werfen, so wie alten Tand, der nur noch stört und von dem sie nicht mehr wissen, warum sie ihn überhaupt besitzen. Auf diese Weise habe ich vor vielen Jahrhunderten auch Lords, Pharaonen, Könige und Häuptlinge, die einen Platz in meinem Herzern gewonnen hatten, um ihren Platz in den Geschichtsbüchern gebracht.

Viele sind dann erst einmal traurig, wenn sie merken, dass sie alle Freunde und Verwandten verloren haben. Jeden, dem sie einmal etwas bedeutet hatten. Sie denken dann, dass sie ganz allein auf der Welt sind. Dabei sind sie alles andere als allein. Sie haben die schönste Frau an ihrer Seite, deren Füsse je den Boden dieses Planeten berührten. Oder den schönsten Mann, je nach ihren Vorlieben.

Und ich sorge gut für sie. Ich halte sie in meinen Armen, gebe ihnen alles an Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, was ihre geschwächten Körper noch vertragen können und ich störe mich nicht an den Gerüchen von krankem kalten Schweiß, Eiter oder entzündeten Wunden. Denn ich liebe sie so sehr. Auch Thomas. Ganz besonders Thomas.

Als wir uns kennenlernten, war er muskulös und voller Feuer. Ein richtiger Sunnyboy. Er hatte Basketball gespielt, hatte fast täglich im Fitness-Studio trainiert und hatte nebenbei sogar noch ein Buch veröffentlicht. Er war stark, intelligent und gutaussehend. All diese Eigenschaften werden auf ewig in meinem Herzen weiterleben. In der Realität sind sie nun Vergangenheit. Sein Körper ist ausgemergelt, sein Brustkorb eingefallen und obwohl er erst 25 Jahre alt ist, hat er bereits tiefe Falten, aber auch Akne im Gesicht. Seine Augen, die einst kerngesund und scharf waren, sind nun getrübt und sehen kaum noch etwas. Seine Ohren sind ebenfalls geschädigt. Und auch mit seinem Intellekt ist es nicht mehr ganz so weit her. Er ist unkonzentriert. Er vergisst immer öfter ganze Jahre seiner Vergangenheit. Personen, Orte, Erlebnisse. Die Mittel, die ich ihm gebe, haben sein Gehirn geschädigt und seinen Stoffwechsel schwer gestört.

Aber mich erkennt er immer noch. Seine Göttin würde er nie vergessen. Ich bin – zur Zeit – eine wunderschöne Frau. Ein Körper wie aus einem feuchten Traum. Dichtes, langes, schwarzes Haar. Zarte Wangenknochen. Ein sinnlicher Mund und intelligente, aber stets etwas lasziv blickende Augen.

Nein. Niemals könnte er mich vergessen. Und auch nicht das, was er mit mir erlebt hat. Unser erster Blickkontakt in der Buchhandlung. Unser erstes Date in dieser Shisha-Bar und ganz sicher nicht unseren ersten Sex. Er war so leidenschaftlich. So voller Feuer und Lebenskraft. Und nun ist er es nicht mehr. Nicht einmal im Ansatz. Diese Leidenschaft vermisse ich schon an ihm.

Einst war er so stark. Beinahe ebenso stark wie ich. Aber ich kann Stärke nicht ertragen. Ich will nicht verlassen werden. Starke Personen können Entscheidungen treffen. Auch die Entscheidung, sich von mir zu trennen. Das musste ich einmal erleben. Vor nun fast eintausend Jahren. Und das will ich nie wieder durchmachen müssen. Ein solcher Schmerz ist einem Wesen wie mir nicht würdig. Natürlich verlassen sie mich auch, wenn sie sterben. Aber das ist etwas anderes. Dann weiß ich, dass sie nie mehr jemand anderen haben werden. Das unsere Zeit etwas besonderes bleibt. Ausserdem kann ich mir dann wieder eine neue Liebe suchen. Irendwo da Draussen wartet sie bereits. Vielleicht hört sie sogar gerade meinen Gedanken zu. Eine alberne und romantische Vorstellung, ich weiß. Und dennoch … manchmal habe ich da so ein Gefühl.

Ich wünschte manchmal, dass ich ihren Willen beherrschen könnte. Dann müsste ich sie nicht schwächen und vergiften. Dann würden sie auch so mir gehören. Aber diese Fähigkeit habe ich nicht. Die Gifte sind mein einziger todsicherer Zugang zu ihren Herzen.

Ich sehe zu Thomas. Gerade schläft er wieder und windet sich in unruhigen Träumen. In letzter Zeit kommen leider Zweifel in ihm auf. In seinen wenigen klaren Momenten merkt er irgendwie, dass ich ihm schade. Ich werde wohl die Dosen leider nicht senken, sondern noch ein wenig erhöhen müssen. Zur Not müssen diese klaren Momente vollständig verschwinden. Auch wenn ich sie so sehr herbeisehne. Dann sehen seine Augen beinah ein wenig so aus wie noch vor zwei Monaten, als ich mich in ihn verliebt hatte. Ich bin so froh, dass ich diese Erinnerung in mir konserviert habe. So wie die von all den Männern und Frauen vor ihm. Im Grunde bin ich nichts anderes als ein wandelndes Tagebuch. Eine Zeitmaschine aus Fleisch und Blut. Ein atmendes Museum für unvergessene Stärke und Vitalität. Und doch bin ich mehr. Ich fühle auch. Ich liebe. Und ich leide.

Manchmal frage ich mich, ob es das Risiko wert wäre, Thomas wieder gesund zu pflegen. Aber dann würde er mich sicher hassen. Und das will ich ganz bestimmt nicht. Ausserdem ist es wahrscheinlich schon zu spät. Von dem Mann, der er einst war, ist kaum noch etwas übrig.

Ich höre das leise Rascheln der Bettdecke. Er ist erwacht.

„La…Lass misch geh’n!“ lallt er mit brechender Stimme. Es ist wieder einer der klaren Momente. Er weiß es. Er weiß, was mit ihm geschieht. Er versucht seinen zerbrechlichen Körper aus dem Bett zu rollen. Er will wirklich fort von mir. Das tut so weh. Wie rostige Nägel, die jemand mitten in mein Herz geschüttet hat. Warum nur will mich nur jeder von ihnen verlassen?! Weiß denn keiner mehr, was Liebe bedeutet?

Hart schlägt er auf dem Boden auf und stöhnt. Seine atrophischen Muskeln und geschwächten Reflexe sind nicht länger in der Lage Stürze abzufangen. Wahrscheinlich hat er sich etwas gebrochen. Das ist gut. Nun wird er ganz bestimmt nicht mehr fliehen können. Ich gehe um das Bett herum und schaue ihn an. Er hat schon wieder beinah das Bewusstsein verloren. Wie ein kleines Kind trage ich seinen federleichten Körper in sein Bett zurück. Dann nehme ich einen Strohhalm aus dem Schrank, stecke ihn in das Glas Limonade, das ich extra für ihn vorbereitet habe und halte es meinem halb bewusstlosen Engel hin. Ich lächele ihn dabei liebevoll an, auch wenn er es wahrscheinlich nicht sehen kann.

„Hier, trink mein Liebster. Das wird dir gut tun …“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert