Süßes Grauen


„Ich kann das nicht mehr anziehen, Papa. Was soll ich denn jetzt machen?“, sagte Leon und zeigte auf sein zerrissenes Gevatter-Tod-Kostüm. Das Kostüm war dabei sicher nach das einzige, das zerrissen war. Denn Florian war ziemlich sicher, dass sein Sohn es selbst zerstört hatte. Nicht aus Versehen, sondern mit voller oder besser gesagt, mit halber Absicht. Schon seit einer Woche haderte er mit sich und überlegte, ob es eine gute Idee wäre, mit einigen anderen Jungs aus seiner Klasse auf Süßigkeitenjagd zu gehen. Leon liebte Halloween, aber die Schmähungen und Hänseleien seiner sogenannten Freunde liebte er nicht.

Florian hatte früher selbst einmal solche „Freunde“ gehabt. Sie verbrachten Zeit mit dir und hingen mit dir rum, aber wenn es darum ging auf deinem Aussehen, deiner Stimme, deinem Verhalten oder deinem Charakter rumzuhacken und dich bloßzustellen, waren sie immer ganz vorne mit dabei. Warum das so war, blieb Florian ein Rätsel. Vielleicht fürchteten sich solche Menschen vor ihrer eigenen Verletzlichkeit, vielleicht wussten sie nicht, wie sie ihre Sympathie füreinander auf gesunde Art ausdrücken konnten, womöglich waren sie auch Opfer der Gesellschaft und beschissener Rollenbilder, aber höchstwahrscheinlich waren es einfach nur Arschlöcher.

„Mama kann das bestimmt nähen“, sagte Florian zu seinem Sohn, der eigentlich sein Stiefsohn war, ihn aber inzwischen ins Herz geschlossen hatte.

„Mama darf das nicht erfahren“, sagte Leon und wurde kreidebleich, „bitte sag es ihr nicht. Sie wird total traurig sein.“

Das stimmt womöglich, dachte Florian. Immerhin war Katrin es, die ihrem Sohn das Kostüm gebastelt hatte. Sie würde sicherlich nicht wütend auf Leon werden – so ein Mensch war sie nicht – aber insgeheim würde es sie schon verletzen.

„Ich kann es für dich flicken“, bot Florian an, der sich zumindest leidlich auf solche Dinge verstand. Zwar würde er dreimal so lange dafür brauchen, aber das war es ihm wert, „wenn wir ein paar weitere Knochen über die Nähte machen, wird es kaum auffallen. Außerdem sieht es so eigentlich noch viel gruseliger aus.“

Florian lächelte aufmunternd und Leon erwiderte dieses Lächeln zumindest zum Teil.

„Willst du denn überhaupt gehen?“, fragte Florian Leon nun doch. Er hatte lange abgewartet, da er Angst hatte, seinen Stiefsohn mit dieser Frage in Verlegenheit zu bringen, aber er schien einfach zu verzweifelt, um ihn damit alleinzulassen.

Leon sah mit großen Augen zu Florian auf, so als hätte er nicht mit dieser Frage gerechnet. „Schon“, sagte er nach kurzem Nachdenken, „aber am liebsten ohne die anderen.“

Diesen Wunsch konnte Florian gut verstehen. Andererseits wusste er, welche Gefahren dort draußen lauerten. Ganz besonders für ein Kind, das allein war. Trotzdem ahnte er, wie es in seinem Sohn aussah und welche Gedanken ihn plagten.

„Wenn ich mit dir gehe, wär’ dir das peinlich, oder?“, fragte Florian ihn und der verlegene Blick von Leon sagte ihm alles.

„Also gut“, sagte Florian, „von mir aus kannst du auch alleine gehen, wenn du nur zu Nachbarn gehst, die wir kennen und unterwegs keine Süßigkeiten isst. Die will ich mir erst vorher genau ansehen, okay? Aber …“

Leons Augen leuchteten, nun wo er einen Ausweg aus seinem Dilemma sah, „Danke, Papa!“, sagte er und Florian tat es fast weh, seinen begonnenen Satz zu beenden.

„… ich kann das nicht ohne deine Mutter entscheiden“, schloss Florian.

Leons Mundwinkel gingen sofort herunter.

„Ich werde versuchen, sie zu überzeugen“, sagte Florian augenzwinkernd.

„Danke Papa“, erwiderte Leon nicht mehr ganz so enttäuscht.

„Kein Ding, Großer. Dann mach‘ ich mal mit dem Essen weiter und kümmer mich dann um das schreckliche Gewand des Todes!“, Florian machte einige gruselige Handbewegung und überließ seinen Sohn, der sich direkt seiner Spielkonsole widmete, wieder sich selbst.

Dann ging Florian in die Küche, wo er eigentlich gerade dabei war, das Essen zuzubereiten und ließ sich wieder in die andächtige, vorfreudige Atmosphäre fallen, wie sie nur vor einem Feiertag oder einer Party herrschte.

Dabei fühlte er sich wie in einem Traum. Einem von den guten, die so harmonisch waren, dass sie einem noch im Wachssein verfolgten und bei denen man alles dafür tun würde, um in ihre perfekte Welt zurückzukehren.

Und doch war alles wunderbar real. Der starke, aber noch nicht eiskalte Wind, der die abgeworfenen Blätter wie bunte Schneeflocken um ihr erst kürzlich bezogenes Haus trieb. Der prasselnde Regen, auf den Fensterscheiben, der sich mit dem Geräusch des Popcorns, das er im Topf zubereitete, zu einem Klang reinster Gemütlichkeit vereinigte und natürlich das warme Licht der geschmackvollen, sorgfältig bemalten Keramik-Kürbislampen, die Katrin aufgestellt hatte und die freundliche Schatten auf die von Kevin gebastelten lächelnden Geistergirlanden warfen.

Sogar das ausgelassene, gutgelaunte Gespräch, das seine 17-jährige, als Banshee verkleidete Stieftochter Nina mit ihrer besten Freundin Terry führte, mit der sie schon in wenigen Stunden zu einer Party gehen und wohl erst früh am Morgen zurückkehren würde.

All das war seine Wirklichkeit und Florian bereute es keine Sekunde, dass er fast seinen gesamten freien Tag damit verbracht hatte in der Küche zu stehen und Canapés, Kürbissuppe, Kuchen, Popcorn und andere Köstlichkeiten zuzubereiten, während die von einer waren Albtraumwoche auf der Arbeit gestresste Katrin den Großteil des Tages im Bett verbracht hatte. Auch sie würden bald Besuch bekommen. Nur eine Handvoll guter Freunde, die jedoch, wie er wusste, alle über einen gesunden Appetit verfügten.

Florian liebte das Kochen, er liebte seine Familie und seinen kleinen Freundeskreis, und er liebte Halloween. Das war nicht immer so gewesen. Es hatte auch andere Zeiten gegeben. Zeiten, in denen ihn sein Spiegelbild mehr erschreckt hatte als jeder noch so grauenhafte Geist es gekonnt hätte.

Gedankenverloren strich er über die haarigen Beine einer fetten Plastikspinne, die ihn mit absurd großen und sehr zahlreichen Augen aus ihrem an der Küchendecke aufgespannten Netz beobachtete. Was hatte er solchen Kitsch früher verachtet. Und sicher gab es auch genügend vernünftige – vor allen ökologische – Gründe, die dagegen sprachen, sich so etwas aufzuhängen. Aber seine Ablehnung war nie idealistischer, sondern zutiefst zynischer Natur gewesen. Angst war nicht etwas gewesen, über das man sich lustig machte oder das man verniedlichte. Es war etwas, das man vermied oder benutzte. Je nachdem, wie es sich ergab und welcher Impuls überwog. Ungeliebte Bilder schoben sich in sein Gedächtnis und drohten seine gute Laune zu überschatten. Doch er kannte ein extrem gutes Mittel dagegen.

„Ich muss Katrin wecken“, sagte er leise zu sich selbst, „sie hat nun wirklich lang genug geschlafen.“

Angelockt von der Vorstellung, wie ihn Katrin mit verkniffenen Augen aus ihrem zerknautschten Gesicht ansehen und sich mit schlaftrunken schmunzelnden Mund darüber beschweren würde, geweckt zu werden, schaltete er den Herd aus und überließ das ohnehin fast fertige Popcorn dem Schicksal der Mais-Metamorphose.

Er war jedoch gerade erst im Flur angelangt, als es klingelte.

Florian zuckte zusammen und es war mehr als bloße Überraschung. Eigentlich war es schon lange her, dass er auf diese Weise reagiert hatte, aber nun klopfte sein Herz wie wild und seine Hände wurden leicht schwitzig. Wie um diesen albernen Reflex zu überspielen, griff er sich eine Handvoll Schokotäfelchen und Bonbons aus der bereitgestellten Schale. Keine Supermarktware, sondern teure Produkte aus dem Süßigkeitenladen, was selbst Katrin, die ganz und gar nicht geizig war, ein wenig überrascht hatte.

Doch Florian hatte darauf bestanden. „Für die Kinder nur das Beste“, hatte er gesagt und sie hatte es akzeptiert. Es gab ja sicher auch sinnlosere Dinge, für die man Geld ausgeben konnte, als dafür, Kindern eine besondere Freude zu machen. „Für die Kinder nur das Beste“. In den letzten fünf Jahren hätte Florian diesen Satz ohne zu zögern unterschrieben. Es hatte ihm – trotz gelegentlicher Flashbacks – großen Spaß gemacht, die Kinder in seiner Nachbarschaft zu beschenken und ihre mal mehr und mal weniger kreativen Kostüme zu bestaunen. Ja, es hatte ihm sogar fast schon so gutgetan, dass er es beinah als egoistischen Akt betrachtet hatte.

Doch heute war es anders. Heute bereitete das Klingeln ihm Bauchschmerzen. Die paar Schritte zur Tür erschienen ihm unendlich lang und Florian fürchtete zugleich, zu lange zu brauchen und rechtzeitig einzutreffen, während seine Knie zitterten und die Süßigkeiten in seiner zitternden Hand vibrierten. Was war nur los mit ihm? Natürlich, es war ein wenig früh für hungrige Kinder, aber wen erwartete sein Unterbewusstsein dort vor der Tür anzutreffen? Den Boogieman? Den Teufel? Die Polizei? Nun, zumindest letzteres wäre nicht gänzlich auszuschließen. Aber irgendwie spürte er, dass es nicht das war, was ihn beunruhigte.

Dennoch beherrschte er sein Unbehagen irgendwie und ging mutig auf die schwarze Holztür mit der Schädelgirlande zu. Als er den rauen, metallenen Türgriff berührte, hielt er noch einen kurzen Moment inne. Dann endlich öffnete er die Tür und sah die Verkörperung all seiner unbewussten Ängste vor sich.

Es war nicht die Polizei, auch kein blutsaufendes Monster und nicht mal ein Geist. Es war ein gewöhnlicher, vielleicht sechzehnjähriger Teenager in einem grauen Kapuzenpulli und blauen Jeans, der vor sechs Jahren noch ein Kind gewesen war, dessen Gesicht er aber trotz Pubertät noch immer erkannte.

Sofort war er zurück in jener Nacht. In der letzten Nacht seines alten Lebens. Der junge Mann mit den kinnlangen Haaren sah ihn einfach nur an. Er trug keine Waffe in seiner linken Hand. Nur eine Papiertüte mit einem sorgsam zusammengefalteten, kleinen Werwolfkostüm und der Hass in seinem Blick war so kalt, so gefasst, dass er jedem außer ihm entgangen wäre. Aber sie teilten dieselben Erinnerungen, dieselbe Geschichte, deren Buchdeckel er so lange zu schließen versucht hatte. Das Gesicht des Jungen war starr und ernst. Damals, vor vielen Jahren, an einem anderen Ort hatte es noch geleuchtet, war so mit Vergnügen über den aufregenden Feiertag erfüllt gewesen, dass es Florian fast körperlich weh getan hatte. Nun aber schmerzte ihn die Verbitterung darin viel mehr.

„Hör zu … Ben …“, flüsterte Florian nervös, „… ich weiß nicht wie … es tut mir leid, was mit … aber ich … es ist Jahre her … das …“

Der Junge antwortete nicht. Verurteile nicht einmal. Er streckte nur die rechte Hand aus und öffnete sie. Darin lag ein Bonbon in zerknitterter silberner Cellophan-Folie. „Von Paul“, sagte er nur mit einer traurigen, aber viel zu erwachsenen Stimme.

Florian Lippen waren wie gelähmt und er bemerkte nicht einmal, wie ihm die mitgebrachten Süßigkeiten aus den Händen glitten. Er starrte auf das Bonbon als wäre es eine fauchende Schlange, die sich zum Biss bereitmachte. Er kannte dieses Bonbon. Kannte die Folie. Er wusste noch genau, wo er sie und die anderen Zutaten gekauft hatte. Wenn auch nicht mehr wirklich warum. Was war damals mit ihm los gewesen? War es Verbitterung gewesen? Die beruflichen Probleme? Die unfreiwillige Einsamkeit? Sein nach außen projizierter Selbsthass? Langeweile? Oder hatte schlichtweg ein Dämon von ihm Besitz ergriffen? Florian wusste es nicht. Er wusste nur, dass es ein anderer Mann gewesen war, der zufällig denselben Körper bewohnt hatte. Ein Mann, den er heute gehasst hätte. Ein Mann, den er vergessen und für dessen irre Taten er nicht zur Rechenschaft gezogen werden wollte.

„Du. Ich hatte nichts damit zu tun“, sagte Florian nun wieder etwas gefasster, „das habe ich dir und auch der Polizei gesagt. Und es ist die Wahrheit gewesen. Ich habe Kinder erschreckt, ihnen Scherzartikel untergejubelt und andere Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, die aber niemanden ernsthaft verletzt haben. Trotzdem war es scheiße, ja. Aber all das ist lange her und wenn mein Sohn oder meine Tochter dich so sehen, könnte sie das echt verängstigen. Ich … wir können gerne über die Nacht reden und auch über die tragische Sache mit Paul, aber ich werde dir leider nichts Neues dazu sagen können.“

Ben sah ihn weiter einfach nur an, so als würde er seinen Wortschwall gar nicht bemerken. Die raue Hand mit dem Bonbon hielt er weit von sich gestreckt, blieb aber vollkommen still, während über ihm einige dunkle Wolken über die silberne Mondscheibe zogen.

„Gut, wenn du nicht reden willst, dann würde ich vorschlagen, dass du wieder gehst“, sagte Florian freundlich, aber bestimmt, „es ist Halloween und ich habe noch einiges vorzubereiten. Wir bekommen Gäste, weißt du.“

Auch darauf reagierte der Junge nicht. Es war, als wäre er zu einer Statue erstarrt. Was sollte er jetzt tun? Noch schlief Katrin, Mia telefonierte und Leon spielte in seinem Zimmer an seiner Konsole, aber früher oder später würde einer von ihnen nachsehen kommen und dann würden die Fragen beginnen. Aber er konnte den Jungen auch nicht anschreien oder die Polizei rufen. Das würde erst recht zu unangenehmen Fragen und einer Menge Ärger führen. Er könnte natürlich die Tür schließen, aber er traute dem Jungen durchaus zu, die ganze Nacht mit ausgestreckter Hand dort zu stehen. Selbst dann noch, wenn ihr Besuch eintreffen würde.

So wie er das sah, gab es nur eine Möglichkeit, wie er diese Situation vielleicht lösen konnte: Er musste das verdammte Bonbon entgegennehmen. Wahrscheinlich war das alles nur eine Botschaft. Ein – recht erfolgreicher – Weg sein schlechtes Gewissen zu schüren und die Erinnerung an seine Tat wachzuhalten, wo alle Versuche, das Strafrecht zu bemühen, gescheitert waren. Eine letzte, hilflose Geste des Respekts an seinen verstorbenen Bruder. Und wahrscheinlich war es Florian diesem Jungen auch schuldig, darauf einzugehen. Wenigstens das.

Also streckte auch er die Hand aus und langte nach dem Bonbon. Dabei versuchte er die Hand des Jungen nicht zu berühren. Doch kaum, da seine Finger Kontakt mit dem knisternden Bonbonpapier aufnahmen und die Erinnerungen ihm eine feine Gänsehaut verpassten, schloss der Teenager seine Hand um die seine und hielt sie fest. Nicht mit roher Gewalt, eher mit der Intensität eines festen Händedrucks. Passend dazu schüttelte er sie leicht, wie zu einer Begrüßung oder Verabschiedung, bevor er die Finger wieder öffnete. Florian sah ihn irritiert an und beeilte sich das Bonbon in seine Tasche zu stecken. Er würde es schnellstmöglich im Müll entsorgen. Er brauchte diese düsteren Erinnerungen nicht und ganz gewiss wollte er nicht, dass Leon oder Mia von diesem Bonbon naschten, falls es das enthielt, was er vermutete.

Für einen Augenblick befürchtete Florian, dass Ben trotzdem weiter vor seiner Tür verharren würde, aber diese Befürchtung blieb unbegründet. Der Teenager lächelte nur ein hintergründiges Lächeln, machte eine seltsame drehende Handbewegung und wandte sich dann zum Gehen.

Erleichtert atmete Florian tief durch, schloss die Tür und trauerte doch seiner fast unbeschwerten Festtagsstimmung hinterher, die sich zusehends in Luft auflöste. Eigentlich hatte er sich wahnsinnig auf diesen Abend gefreut und nun würde er sich wahrscheinlich die ganze Zeit mit eigentlich verdrängten Erinnerungen und vagen Befürchtungen auseinandersetzen müssen. Andererseits hätte es auch schlimmer kommen können. Zwar hatte der Junge ihn irgendwie aufgespürt, aber er hatte weder die Polizei mitgebracht, noch irgendetwas Dummes angestellt. Dieser kleine Gruselauftritt war zwar nicht spurlos an Florian vorbeigegangen, aber sobald er Katrin geweckt und in ihr liebevolles Gesicht gesehen hatte, würde dieses kleine Trauma sicher verblassen.

Falls nicht, gab es da noch immer den guten alten Alkohol. Florian trank nicht mehr oft, was gut war, denn so konnte er sich das für Tage wie heute aufsparen. Aber vielleicht wäre das auch gar nicht nötig. Schon jetzt ließ er einen Teil der seltsamen Aura des Jungen draußen zurück und ließ sich stattdessen in den Duft von frischen Popcorn und den Klang von Mias fröhlicher Stimme fallen. Seine Vergangenheit konnte ihn mal. Er ging zum Mülleimer, dessen Deckel er über den Trittmechanismus öffnete und holte das Bonbon hervor.

Zuerst wollte er es einfach unbeachtet wegwerfen. Doch irgendwie war seine Neugier – und vielleicht auch sein Schuldgefühl – dafür zu groß. Also faltete er das Papier auseinander und förderte ein dunkelgraues, klebriges Bonbon zutage, das bei aller Süße noch immer einen feinen, leicht unangenehmen, chemischen Geruch entfaltete. Er schätzte, dass das daran lag, dass sich die beigemischten, appetitlichen Aromen im Laufe der Jahre verflüchtigt hatten und sich das Aroma der Abführ- und Brechmittel dadurch besser durchsetzte. Hätte das Bonbon damals schon diesen Geruch und diese Farbe besessen, hätte Paul wohl darauf verzichtet, es zu schlucken, so wie sein Bruder, der von seiner Vorliebe für Schokolade gerettet wurde. Alles in Florian wünschte sich noch jetzt, er hätte es getan.

Florian hatte niemanden töten wollen. Selbst damals nicht. Aber er hätte auch ahnen müssen, dass die hoch dosierten Mittel stärkere gesundheitliche Folgen bei Kindern auslösen konnten, als die vergleichsweise harmlosen Leckereien mit Salz, Essig oder Urin. Er hätte in Betracht ziehen müssen, dass es Wechselwirkungen geben konnte und nicht nur ein paar wortwörtlich beschissene Tage, die die Blagen davon abhalten würden, ihn im nächsten Jahr zu belästigen. Was mit Paul passiert war, hatte er nicht beabsichtigt, aber offenbar hatte er es in Kauf genommen. Die Scham kroch ihm heiß ins Gesicht und wurde noch größer als er bemerkte, dass etwas im Bonbonpapier niedergeschrieben war.

Paul Könen

„21.06.2009 – 02.11.2017“

Fuck, dachte Florian, das ist kein Bonbonpapier. Das ist ein Grabstein.

„Was machst du da?“, fragte seine Stieftochter neugierig und Florian hatte sofort das Gefühl, dass die Röte seines Gesichts fast der von Hellboy gleichkommen musste.

„Nicht … ich … sortiere nur aus. Einige von den Süßigkeiten waren wohl schlecht“, antwortete er, ohne sich umzudrehen und warf das Bonbon hastig in den Mülleimer.

„Okay“, sagte Mia etwas skeptisch, „das ist seltsam. Die Dinger halten sich doch eigentlich ewig und ihr habt sie doch gerade erst für ’ne ganze Stange Geld gekauft.“

Mia sah neugierig in den Mülleimer und Florian konnte sich gerade noch davon abhalten, etwas Saudummes wie „NEIN!“ zu schreien oder den Mülleimerdeckel zu schließen. Stattdessen atmete er tief durch und drehte sich mit einem Lächeln zu seiner Stieftochter um.

„Stimmt schon“, sagte Florian, „aber du weißt ja, wenn man es nicht ordentlich lagert, kann so ziemlich alles verderben.“

Noch immer sah Mia neugierig in den Mülleimer und fast fürchtete er, dass sie hineingreifen würde. Aber zu seinem Glück war der Mülleimer voll mit Überresten des gestrigen Abendessens – vor allem Reis und Hühnchen und einem Obstsalat – und da Mia sich bereits für ihre Party fertiggemacht hatte, hatte sie verständlicherweise wenig Lust, sich die Finger schmutzig zu machen.

„Kann schon sein“, sagte sie schmunzelnd, „dann lieber weg mit dem Mist. Nicht, dass sich daran irgendein Knirps den Magen verdirbt.“

Florian erstarrte, als sie diese Worte aussprach, schaffte es jedoch irgendwie seine Stimme zu beherrschen. „Genau“, sagte er fest, „wir haben ja noch genügend andere Süßigkeiten.“

„Oh ja“, sagte seine Stieftochter grinsend, „du hast ja Wagenladungen davon angeschleppt. Am Ende bekommt noch die ganze Nachbarschaft Karies. Apropos Nachbarschaft, wer hat da gerade geklingelt?“

Es war eine ganz gewöhnliche und verständliche Frage und dennoch fühlte sich Florian wie bei einem mittelalterlichen Hexenprozess, wobei er die vermeintliche Hexe war.

„War nur ein Paketbote“, improvisierte Florian eine fadenscheinige Erklärung, „er hatte einen Dreher in der Adresse und der Name war auch so ähnlich.“

„Echt?“, fragte Mia überrascht und zog skeptisch eine Augenbraue hoch, „Sachen gibt’s. Aber Hauptsache, das Paket findet seine Bestimmung. Ist ja echt nervig, wenn man seinen Bestellungen hinterherlaufen muss.“

„Absolut“, stimmte Florian zu und war sich ziemlich sicher, dass seine Stieftochter nur deshalb nicht nachhakte, weil sie sich keinen Grund vorstellen konnte, aus dem er sie anlügen sollte.

„Wie auch immer“, sagte Mia, „ich bin dann im Wohnzimmer, falls du mich suchst. Übrigens solltest du Mama mal langsam wecken. Zu viel Schlaf ist auch nicht gesund.“

„Klar“, sagte Florian mit einem Grinsen, das so betont unverkrampft war, dass es dadurch wieder verkrampft wirkte. Aber Mia sah schon gar nicht mehr hin. Anders als für ihn war das hier für sie nur eine unbedeutende Episode. Zum Glück.

Erleichtert beobachtete Florian, wie seine Stieftochter ins Wohnzimmer zurückging und sich mit ihrem Smartphone auf die Couch setzte.

Nun musste er nur noch Katrin wecken und hoffen, dass er sich bei ihr nicht verhielt wie ein besoffener Schwerverbrecher beim Verhör. Bevor er sie jedoch weckte, musste er noch etwas überprüfen. Nun wo er wieder allein war, hatte er nämlich das drängende Gefühl, beobachtet zu werden. Zuerst blickte er durch den Türspion, ohne etwas Verdächtiges zu entdecken. Dann schaltete er die Überwachungskamera wieder ein, die Katrin eigentlich abbauen lassen wollte, weil sie das für paranoid hielt und sah auf das Kamerabild, das via App auf sein Handy projiziert wurde. Als er auch dort nichts bemerkte, öffnete er vorsichtig die Haustür und blickte auf die Straße. Doch dort draußen war absolut niemand. Abgesehen von der Nachbarin, die mit ihrem alten, kranken Schäferhund ihre nachmittägliche Runde machte. Anscheinend hatte sich Ben wirklich verzogen.

Florian schloss die Tür wieder und schwor sich, diese beginnende Paranoia niederzukämpfen, während er nun endlich den Flur hinunter ins Schlafzimmer ging.

Katrin sah genauso aus, wie er es sich ausgemalt hatte. Verschlafen und zerknautscht, mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht, das eingerahmt wurde von dunkelbraunen, verwuschelten Haaren.

„Guten Morgen“, sagte sie mit gähnender Stimme. Offenbar war sie schon mehr oder weniger wach. Florian hoffte nur, dass sie die Klingel nicht gehört hatte. Er war nicht der allerbeste Lügner.

„Der Morgen ist schon eine Weile vorbei“, sagte Florian und bemühte sich um ein unbeschwertes Lächeln, was ihm fast gelang.

„Das sind eh nur willkürliche Kategorien“, meinte Katrin, „Morgen ist dann, wenn man wach wird.“

Sie grinste breit, streckte die Arme von sich und setzte sich mit einer schwungvollen Bewegung auf. Unter anderen Umständen hätte ihr entblößter Oberkörper Florian nicht kaltgelassen, doch gerade hatte er den Kopf nicht frei für solche Dinge und wenn er ehrlich zu sich war, hasste er Ben dafür.

Katrin warf ihm einen halb verpeilten und halb verführerischen Blick zu und Florian wusste, dass er sich zumindest etwas darauf einlassen musste, um unangenehme Fragen zu vermeiden, also schloss er sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Zu seiner Überraschung löste diese Umarmung einen Großteil seiner Sorgen auf. Der Rhythmus ihres schlagenden Herzens, der Geschmack ihrer Lippen und die Berührung ihrer Brust, ließen Ben und Paul wieder zu einer fernen Erinnerung werden und er begrüßte das. Wenn er sich mies fühlte, war doch niemandem geholfen, oder?

Entgegen seines ursprünglichen Vorhabens drückte er Katrin sanft auf die Bettdecke, doch diesmal war sie es, die andere Pläne hatte. „Dafür ist heute Nacht noch Zeit, Schatz. Erstmal muss ich dir noch helfen, die Hölle auf Erden vorzubereiten. Du hast dich ja schon ordentlich ins Zeug gelegt. Das Essen riecht jedenfalls schon teuflisch gut. Tut mir auch echt leid, dass ich dich damit alleingelassen habe.“

Sie schmunzelte und griff sich ihr T-Shirt und auch Katrin zog sich wieder zurück. Florian akzeptierte das natürlich. Ein wenig enttäuscht, aber noch immer mit einem leichteren Gefühl im Herzen.

„Ach, schon gut“, sagte Florian, „Nach der Woche hattest du dir den Schlaf verdient. Aber danke für das Kompliment.“

„Ist ja wohl das mindeste“, meinte Katrin, die sich nun wieder vollständig angezogen hatte, „wie spät ist es überhaupt?“

Wie so oft hatte Katrin ihr Handy irgendwo im Gewirr der Kissen und Decken verlegt.

„16:36 Uhr“, half Florian aus.

„Fuck!“, antwortete Katrin und wurde sofort etwas hektisch, „um 18 Uhr kommen bereits unsere Gäste.“

„Keine Panik“, sagte Florian, „außer Tisch decken und ein bisschen Deko ist schon fast alles fertig. Werd’ erst mal wach und mach dich frisch. Dann kannst du dich um die restliche Dekoration kümmern. Ich mach solange noch die letzten Handgriffe in der Küche. Dann kann ich auch gern dazustoßen.“

„Soweit kommt es noch“, protestierte Katrin resolut, „wenn du heut’ noch einen Handschlag machst, verlierst du diese Hand und wir hängen sie über der Tür auf.“

Sie starrte ihn gespielt finster an und Florian starrte genauso finster zurück, bevor sie beide in fröhliches Gelächter ausbrachen. Nach einem weiteren kurzen, aber liebevollen Kuss, verließ Florian das Schlafzimmer und schloss die Tür, bevor er zurück in die Küche ging, um das fertige Essen in die Teller und Schüsseln zu füllen. Dort angekommen, erstarrte er.

Nicht etwa, weil irgendetwas angebracht war oder sich die Fliegen über die Kürbissuppe hermachten, sondern weil plötzlich ein altmodisch aussehendes und ihm völlig unbekanntes Küchengerät auf der Arbeitsplatte stand. Es war quadratisch, aus schwarz lackiertem, rauen Holz und erinnerte grob an eine alte Kaffeemühle, inklusive einer Kurbel an seiner Oberseite. Dabei war es jedoch viel größer und hatte zwei große Öffnungen. Eine davon befand sich auf der rechten Seite, das andere an der Unterseite. Beide waren sie etwa so dick wie ein Unterarm. Was Florian jedoch noch viel mehr verstörte, als das mysteriöse Gerät, das eigentlich gar nicht hier sein sollte, waren zwei andere Beobachtungen, die er daran machte.

Zum einen die Aufschrift „Candyfactory“, die in kitschiger Gruselschrift darauf prangte und die illustriert wurde von einem grinsenden als Geist verkleideten Kind, das sich bunte Bonbons in den Mund stopfte, zum anderen die Tatsache, dass ein Bonbon, welches exakt so aussah wie das, welches ihm Ben gegeben hatte, oben an dem Gerät befestigt war. Es mag unlogisch scheinen, aber noch bevor Florian sich näher mit dem Apparat beschäftigte, befiel ihn ein merkwürdiger Verdacht, dem er direkt auf den Grund ging. Er ging zurück in den Flur, öffnete die Mülltonne und sah hinein. Das Bonbon, welches er gerade erst dort hineingeworfen hatte, war verschwunden. Und auch, wenn er kurz bei Katrin im Schlafzimmer gewesen war, war er sich ziemlich sicher, dass weder seine Stieftochter noch sein Stiefsohn es dort herausgeholt hatten.

„Verdammte Scheiße!“, flüsterte Florian. Wie in Trance berührte er das sehr reale Gerät und versuchte es hochzuheben, um es von unten zu betrachten. Es ging nicht. Das verdammte Ding war nicht nur aus dem Nichts erschienen, sondern auch bombenfest mit der Arbeitsplatte verwachsen. Florian atmete tief durch und vergrub seine Hände in den Haaren. Er hatte genug Horror- und Mystery-Filme gesehen, um keine Zeit mit den üblichen rationalen Erklärungen zu verschwenden. Wenn solch ein Ding plötzlich im Haus auftauchte, direkt nachdem ihn jemand an die Leichen im Keller seiner Vergangenheit erinnert hatte, musste man schon einen ziemlichen Hirnschaden haben, um eine rationale Erklärung anzunehmen. Vielmehr musste jeder vernünftige und nicht komplett wahnsinnige Mensch in so einer Situation davon ausgehen, dass es zwischen diesen Ereignissen einen Zusammenhang gab.

Florian war ein vernünftiger Mann und deshalb wusste er, dass Ben ihm mit diesem Gerät etwas mitteilen wollte. Die Frage war nur, was das war und was genau er von ihm erwartete. Letztlich gab es nur drei denkbare Motivationen. Rache, Reue oder Wahrheit. In jedem dieser Fälle würde Florian eine ganze Menge leiden müssen. Zwei davon würde er zumindest überleben. Was genau passieren würde, hing wohl davon ab, wie tief Bens Hass auf ihn reichte. Leider war es praktisch unmöglich gewesen, im verschlossenen Gesicht des Teenagers zu lesen.

„Happy Halloween, Florian“, flüsterte Florian zu sich selbst und krallte vor Verzweiflung seine Finger in die Handflächen, bis sich die Spuren der Nägel dort kalkweiß abzeichneten. Seine Festtags-Stimmung konnte er nun wohl vollkommen vergessen. Aber was passierte jetzt? Irgendetwas sollte er doch sicher mit diesem Gerät tun. Entschlossen, es herauszufinden, tat er das naheliegendste und drehte die Kurbel einige Male. Sie war am Anfang recht schwergängig, ließ sich dann jedoch mühelos bewegen. Halb rechnete er damit, eine Stimme oder eine gruselige Melodie zu vernehmen, wie bei einer Spieluhr oder einen Schwarm von Fliegen zu entfesseln, aber alles, was passierte, war, dass ein kleines, seltsam geformtes Bonbon in das untere Fach des Gerätes fiel.

Mit schweißnassen Händen und spitzen Fingern entfaltete er das kirschrote, knitterige Bonbonpapier, nur um in inneren keine Süßigkeit, sondern einen zerknüllten Zettel vorzufinden. Während er nervös über die Schulter sah, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte oder ihn beobachtete, faltete er ihn auseinander und las die Nachricht, die ihm in engen, mit sichtbarer Wut ins Papier gedrückten Lettern entgegensprang.

„Große Opfer, große Freiheit. Kleine Opfer, kleiner Schutz. Ohne Wahrheit sinkt und stirbt dein vorgetäuschtes Glück im Schmutz.“

Na wunderbar, dachte Florian. Was sollte er jetzt tun? Ein Huhn schlachten? Ein Kilo Zucker aus ihrem Vorratsschrank opfern? Und die Wahrheit kam erst recht nicht infrage. Wenn er die Mia, Katrin, Leon oder gar der Polizei erzählte, wäre sein Leben zerstört. „Nein!“, flüsterte Florian trotzig, „egal, welche komische Magie du da in die Finger bekommen hast, ich lasse mich nicht erpressen. Hast du verstanden?!“

Er bekam keine Antwort … wobei … in gewisser Weise doch. Kaum drei Sekunden, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, begann es überall um ihn herum zu rappeln und zu klappern, so als würde ein kleines Erdbeben das Haus erschüttern. Und doch war es anders, denn die Erschütterungen erfolgten nicht nur vertikal, sondern auch horizontal und irgendwie – kreisförmig, wie in einem ruckligen, aber extrem langsamen Karussell. Florian hielt sich an der Arbeitsplatte fest – weniger, weil er nicht in der Lage war den Erschütterungen zu trotzen, sondern vor allem, weil er vollkommen überrumpelt war. Doch das spontane Beben dauerte nicht lange. Und es endete mit einem durchdringenden, im gesamten Haus hörbaren Klicken.

Gerade als dieses Klicken ertönte, vernahm Florian Schritte. Zum Glück reagierte er schnell, denn er hatte gerade noch Zeit, den Zettel einzustecken und die unheilvolle Bonbonmaschine mit einem Topf zuzudecken als schon seine Verlobte und seine Stiefkinder hereingestürmt kamen.

„Florian, ist alles in Ordnung?“, fragte Katrin besorgt, die selber zwar unverletzt, aber kreidebleich aussah. Auch seinen Stiefkindern schien es da nicht anders zu gehen. Sein Stiefsohn sah ihn hilfesuchend an und auch Mia wirkte ziemlich verwirrt.

„Was zur Hölle war das?“, fragte seine Tochter, „ein so kurzes Erdbeben hab ich noch nie erlebt. Aber es war heftig. Ich bin fast von der Couch gekippt.“

„Ich weiß es nicht“, sagte Florian schulterzuckend, was zumindest fast stimmte.

„Ich check‘ mal eben die Warnapp“, sagte Katrin und tippte auf ihrem Handy, „Nicht, dass da irgendetwas Gefährliches explodiert ist.“

Nach einigen Minuten Recherche schüttelte sie jedoch den Kopf. „Nichts“, sagte sie, „weder in der App, noch in den Lokalnachrichten oder bei der Polizei und der Feuerwehr. Wahrscheinlich ist das alles noch zu frisch. Aber Leon, wärst du so gut und schließt alle Fenster? Nicht, dass irgendwelche Gifte freigesetzt wurden.“

Leon nickte und stürmte los.

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber vielleicht sollten wir auch mal draußen nachsehen“, meinte Mia, „womöglich ist bei den Nachbarn irgendetwas hochgegangen.“

Sie griff nach der Klinke, zog an der Tür, rüttelte schließlich daran, doch nichts geschah.

„Hast du wieder abgeschlossen?“, fragte sie Florian und sah ihn tadelnd an.

„Nein!“, antwortete Florian automatisch, während ihm die Angst in alle Glieder kroch. Bis jetzt hatte er all das für ein Psychospielchen zwischen ihm und Ben gehalten, aber nun schien es, als wäre seine gesamte Familie involviert.

„Muss aber. Sonst würde sie doch wieder aufgehen. Ihr alten Leute vergesst sowas eben gern mal“, sagte Mia neckend, jedoch merkte man auch ihr die Nervosität an.

Mechanisch händigte Florian ihr den Schlüssel aus und sie rammte ihn regelrecht ins Schloss und drehte ihn mit nervösen Händen in beide Richtungen.

„Scheiße!“, sagte sie mit nun etwas hysterischer Stimme, „sie geht nicht auf!“

„Ganz ruhig, Schatz“, sagte Katrin, „wahrscheinlich klemmt sie nur. Notfalls müssen wir die Feuerwehr rufen, oder wir steigen über die Fenster raus.“

Im selben Moment kam Leon zurück. Er zitterte am ganzen Körper.

„Papa, Mama … die Fenster … die sind komisch.“

„Was meinst du“, fragte Florian, während Katrin ihren Sohn sofort tröstend in die Arme schloss.

Statt zu antworten, zeigte der Junge auf das kleine Küchenfenster, an das sie alle bisher nicht gedacht haben, das jedoch jetzt zum Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit wurde. Es stand noch immer offen. Und doch konnte man nichts sehen, denn dahinter war alles dunkel. Und das, obwohl eigentlich gerade noch ein zwar gedämpftes, aber immer noch gut wahrnehmbares Spätnachmittagslicht vorgeherrscht hatte. Jetzt jedoch war es nicht nur einer gewöhnlichen Nacht gewesen, sondern einer so vollständigen Schwärze, dass weder Straßenlaternen noch Sterne oder die Beleuchtung oder die blinkende Halloween-Dekoration der Nachbarhäuser sichtbar blieben. Es lag wohl nur an der hellen Küchenbeleuchtung, dass ihnen das nicht früher aufgefallen war.

„Ist das irgendein Scherz?“, fragte Katrin verwirrt, „so wie damals als Mark von schräg gegenüber uns die Plastikskelette vors Fenster gehängt hatte? Hat er sich jetzt einfach eine große, dunkle Plane besorgt?“

„Und die einfach so über unser ganzes Haus gehängt?“, fragte Florian skeptisch.

„Was soll es sonst sein?“, fragte Katrin zurück.

„Eine Sonnenfinsternis vielleicht“, schlug Mia vor, jedoch in einem Tonfall, der klarmachte, dass sie selbst nicht so wirklich an diese Erklärung glaubte. Wie um das zu unterstreichen streckte sie die Hand nach dem Fensterspalt aus und griff mit den Fingern in die unheimliche leicht gräuliche Finsternis. Florian war fast so, als würde die Dunkelheit ihre Finger verschlucken, vielleicht sogar fressen und er musste sich beherrschen, um seine Stieftochter nicht mit Gewalt wegzuziehen.

„Das ist kein Stoff und auch keine Plane“, sagt sie schließlich mit zitternden Lippen, „das fühlt sich feucht an. Und klebrig. Fast wie Zuckerwatte.“

Sie zog ihre Hand zurück und roch daran, „es riecht auch wie Zuckerwatte. Nur in widerlich.“

Als Katrin die Finger daraufhin zu ihren Lippen führen wollte, protestierte Florian lautstark, „nein, nimm das nicht in den Mund! Das Zeug könnte giftig sein!“

Mia gehorchte. Aber man sah ihr an, dass es ihr schwerfiel. Florian sah kurz eine Gier in ihren Augen, die ihm eine scheiß Angst machte.

„Wasch dir den Mist besser ab“, sagte er und drehte den Wasserhahn auf, woraufhin ein klarer Strahl daraus hervorsprudelte. Mia hielt ihre Hände darunter und begann sie zu waschen, stutzte dann aber. „Bäh!“, sagte sie, „das ist auch klebrig“, und sah angewidert auf ihre Hände.

„Wie kann das sein? Ist irgendwas in die Wasserleitungen geraten?“, überlegte Katrin laut, während Florian schnell eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank holte und sie seiner Tochter reichte. Offenbar befand sich darin noch ganz normales Wasser, denn als sie ein paar Tropfen Spülmittel auf ihre Hände träufelte und es darüber schüttete, entspannte ihr Gesicht sich merklich. Auch die seltsame Gier war aus ihren Augen verschwunden und von Ekel verdrängt wurden.

„Ich weiß es nicht“, behauptete Florian, „jedenfalls sollten wir besser die Finger von dem Leitungswasser lassen.“

„Und wie soll das funktionieren?“, fragte Mia, während sie sich die Finger an ihrem Kostüm abwischte, „wir sind ohne sauberes Wasser in unserem verfickten Haus eingesperrt. Schon in ein paar Tagen werden wir bestialisch stinken und dann wahrscheinlich verdursten und ich weiß nicht, welche Vorstellung mir mehr Angst macht.“

Eine Weile herrschte Stille, während jeder von ihnen seinen Gedanken nachhing und versuchte, die Situation zu verarbeiten. Ganz besonders Florian, dessen Schuldgefühle in ihm wuchsen und der sich den Kopf darüber zermarterte, ob er seine Familie zumindest grob einweihen sollte. Nein, entschied er, noch nicht. Es muss eine andere Lösung geben.

„Ich will nicht verdursten“, sagte der kleine Leon schließlich und ergriff die Hand seiner Mutter.

„Das wirst du auch nicht!“, sagte Katrin energisch und strich ihrem Sohn tröstend über die Haare, „wir rufen jetzt nämlich Hilfe!“

„Vergiss es“, sagte Mia, die resigniert auf ihr Handy starrte, „das habe ich schon versucht. Hab weder die Polizei noch die Feuerwehr erreicht und meine Freundinnen auch nicht.“

„Auch nicht per WhatsApp?“, fragte ihre Mutter.

Mia schüttelte den Kopf, „nein, nicht einmal mit einer verdammten E-Mail. Ich kann Webseiten aufrufen, aber ich kann keine Nachrichten raussenden. Kein Social Media, keine Messenger, sogar Chatrooms und Foren werfen Fehlermeldungen aus. So etwas hab ich noch nie erlebt. Du kannst es aber gerne auch versuchen.“

Das tat Katrin. Mit demselben Ergebnis.

„Fuck! Fuck! Fuck!“, rief Katrin und trat in einem für sie ungewöhnlichen Wutausbruch gegen die Spülmaschine, woraufhin ihre gesamte Familie sie überrascht ansah. Allen voran Leon.

„Tut mir leid, Kleiner“, sagte sie, „aber das ist alles ein bisschen viel.“

„Werden wir doch verdursten?“, fragte Leon besorgt.

„Nein, werden wir nicht. Wir finden einen Weg, hörst du?“, sagte Katrin kämpferisch, „und wenn wir ihn uns mit Gewalt bahnen müssen.“

Mit diesen Worten stürmte sie aus der Küche. „Wo willst du hin?“, rief ihr Mia hinterher. Doch sie antwortete nicht. Dafür kehrte sie nach ein paar Minuten mit einer großen, schweren Schaufel und einer Axt zurück. Die Schaufel drückte sie Florian in die Hand, der sie mit geweiteten, fragenden Augen ansah, während sie die Axt mit beiden Händen umklammerte.

„Was …“, begann er, bevor Katrin ihn unterbrach.

„Wir werden die Tür aufbrechen und uns notfalls durch diesen Schmodder graben!“, sagte sie und ihre Augen schienen dabei vor Entschlossenheit fast Feuer zu fangen.

Florian bewunderte ihre Tatkraft, hatte das schon immer getan, aber er hatte so eine Ahnung, dass sie vergebens sein würde.

„Findest du das nicht ein bisschen extrem? Die Tür war ziemlich teuer und in ein paar Stunden kommen ohnehin unsere Gäste und werden bestimmt Hilfe holen, wenn sie sehen, was mit unserem Haus los ist“, wandte Florian ein.

„Es ist meine verdammte Tür! Ich habe sie bezahlt. Und wenn du nicht bereit bist, dich für meine Familie einzusetzen, kannst du bei der nächsten Gelegenheit gerne hindurchgehen und nie mehr wiederkommen!“, sagte Katrin und Florian spürte, wie ihm allein bei dem Gedanken das Blut aus dem Gesicht wich. Die alten Wunden rissen wieder auf und all die Schwierigkeiten und das Misstrauen am Anfang ihrer Beziehung, das sich erst in letzter Zeit so richtig gelegt hatte und sich in eine – wie er bis zu diesem Augenblick gedacht hatte – unerschütterliche Harmonie verwandelt hatte, wurde mit einem Schlag wieder präsent. Allein der Gedanke, dieses Haus verlassen zu müssen … Nein, nie, nie mehr wollte er allein sein. Mit sich selbst allein sein, mit dem, was er gewesen war und was wieder aus ihm werden könnte.

„Ich will nicht, dass Papa geht!“, protestierte Leon und die Worte rannen wie ein sanftes Streicheln an Florian Rücken hinab.

„Komm mal runter, Mom!“, sagte auch Mia, „wir sind alle gestresst, aber so auszuticken hilft uns auch nicht weiter!“

„Deine Mutter hat schon recht“, versuchte Florian zu deeskalieren und schluckte die Kränkung herunter, in der Hoffnung seine Verlobte zu besänftigen, „das war eine dumme Aussage von mir. Wir müssen alles tun, um hier rauszukommen. Türen kann man ersetzen. Leben nicht.“

Florian warf einen kurzen Blick zu Katrin, die diesen grimmig, aber zumindest etwas milde gestimmt erwiderte. Dann schlug er, gewillt sein Engagement zu zeigen, krachend gegen die nagelneue Tür und stellte sich dabei das Gesicht von Pauls verschissenem Bruder vor, als das Holz splitterte wie eingeschlagene Zähne. Auch Katrin schlug mit wilder Kraft zu und schon nach wenigen Minuten hatten sie eine Lücke geschaffen, durch die man bequem gehen konnte. Nun stand nur noch die schwarze, klebrig-weiche Substanz zwischen ihnen und der Außenwelt.

Florian streckte seine Finger danach aus. Anders als an den Fenstern war sie hier nicht so weich wie Zuckerwatte, sondern so hart und fest wie Gelee und wahrscheinlich auch ähnlich flexibel, denn obwohl sie es bei ihrem Massaker an der Eingangstür bereits mehrmals durchdrungen haben mussten, war das Zeug noch vollkommen intakt.

„Vielleicht sollten wir es mit dem Bunsenbrenner versuchen und …“,

Katrin spannte ihre Muskeln an und hieb mit der Axt direkt auf die Masse ein. Eine klaffende Wunde entstand.

„Nimm das, du Mistding!“, rief sie mit grimmiger Zufriedenheit. Dann erklang ein gluckerndes, brodelndes Geräusch und die Masse schoss in einem klebrigen Strahl mit Hochdruck aus dem Riss hervor, direkt auf Katrins Brust. Sie schrie auf und wurde gegen die Wand gedrückt, während der Strahl sie von Kopf bis Fuß besudelte und mit der Härte eines Wasserwerfers auf ihr Fleisch einwirkte. Florian reagierte spät, aber er reagierte, indem er die Schaufel zwischen die Flüssigkeit und Katrin brachte. Der Strahl wurde abgelenkt und klatschte erst gegen die Decke, wo er Stücke aus der Verkleidung rausriss. Doch schließlich gelang es Florian trotz des entschiedenen Protests seiner Muskeln, die Richtung zu verändern und den Strahl direkt gegen die klebrige Substanz zu richten. Die Masse zuckte zusammen wie ein getroffenes Tier und wich schließlich zurück, wenn auch nicht weiter als bis kurz vor den Türrahmen. Dann endlich, als Florian schon dachte, dass seine Muskeln einfach zerreißen würden, hörte das Bombardement auf.

Ihre Wohnung jedoch sah nun aus wie ein besudelter und chemisch süß-stinkender Saustall. Weder Wände, noch Möbel oder Teppiche waren verschont geblieben. Vor allem aber nicht seine Verlobte.

Mia und Leon waren bereits bei Katrin, die bei Bewusstsein war, aber mit schmerzverzerrtem, schweißnassem Gesicht an der Wand lehnte und das begutachtete, was die Masse angerichtet hatte.

Mitten auf ihrer Brust befand sich ein großer, schwarzblauer Fleck, der so übel aussah, als hätte man sie dort mit einem Baseballschläger getroffen.

Florian stürmte zu ihr. „Alles in Ordnung?“, fragte er so dämlich wie perplex.

„Meine Brust … ich glaube, es hat einige Rippen erwischt. Das Atmen ist nicht so einfach … ich …“, brachte sie stoßweise hervor. Der kampflustige Zorn in ihren Augen war erloschen.

„Verfluchte Scheiße!“, rief Florian und kämpfte nun seinerseits mit einem hilflosen Zorn, während ihm die Tränen übers Gesicht rannen. Er empfand Zorn auf sich selbst, aber vor allem auf Ben und seinen elenden kleinen Bruder, „wir müssen Hilfe holen!“

„Wie denn?“, fragte seine Stieftochter zurecht, „ohne Gedankenübertragung wird das nichts.“

„Es … wird schon gehen ….“, sagte Katrin, „ich glaube, es ist nur eine Prellung. Nichts … nichts gebrochen … hoffe ich zumindest. Aber ich brauche Ruhe. Ich muss hier weg. Weg von diesem Zeug. Bringt mich zur Couch, bitte!“

Florian streckte seine Hand aus und zusammen mit seiner Stieftochter half er Katrin in eine aufrechte Position und ging mit ihr zur Couch, wo sie sich sofort erschöpft fallen ließ.

Florian sah zu seiner Frau und dann auf die Uhr über dem Esstisch. „Melanie und Anton sollten in etwa einer Stunde da sein. Sie werden uns helfen“, sagte Florian und in den Augen seiner Verlobten las er, dass sie genau das auch glauben wollte.

~o~

Es wurde sechs, dann sieben und schließlich acht Uhr und weder Melanie und Anton, noch Michaela, Tom oder einer ihrer anderen Gäste ließ sich blicken. Die Wartezeit hatte Katrin mit unruhigem Dösen und Florian, Mia und Leon vor allem damit verbracht, nach einem Ausweg aus dem Haus zu suchen. Aber in jedem Raum und an jedem Fenster – einschließlich des Kellers – ergab sich dasselbe deprimierende Bild süßlich dunkler Hoffnungslosigkeit. Sie saßen also fest, denn einen erneuten Angriff auf die Substanz hätte sich nach dem, was Katrin passiert war, zumindest fürs Erste, keiner von ihnen zugetraut.

Immerhin erholte sich Katrin im Laufe dieser Zeit einigermaßen von ihrem Schock und ihrer Verletzung. Wie sie vermutet hatte, schien sie nicht lebensgefährlich zu sein, weswegen sich die kleine Familie letztlich zu viert am überdimensionierten, ausgezogenen Küchentisch niederließ und lustlos in dem rumstocherte, was Florian gekocht hatte. Die Kinder saßen an den Seiten, während Katrin und Florian jeweils am Kopfende Platz genommen hatten. Dass sie so weit auseinander saßen, war für Florian passend, denn seit dem Vorfall hatte seine Frau kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Es war, als wäre ein unsichtbarer Keil zwischen sie getrieben worden, auch wenn es dafür zumindest keinen objektiven Grund gab.

„Soll ich das Popcorn holen?“, fragte Florian in die Runde, in dem dringenden Bedürfnis, irgendeine Veränderung in den missmutigen Gesichtern zu bewirken, „das Essen scheint euch ja eher nicht zu schmecken.“

„Ich werde in meinem ganzen Leben nie wieder etwas Süßes anrühren“, verkündete Mia schlechtgelaunt, „riechst du das nicht? Diesen süßlichen, chemischen Gestank? Wie kannst du da auch nur an Popcorn denken? Merkst du nicht, wie schlecht die Luft geworden ist? Es ist nicht nur der Gestank allein. Es kommt auch kein frischer Sauerstoff mehr hier rein. Früher oder später werden wir alle ersticken. Vielleicht noch bevor wir verdursten. Nein, Papa, nach Popcorn ist mir ganz bestimmt nicht zumute.“

Leon hingegen war für seinen Vorschlag aufgeschlossener. „Ich will etwas haben!“, sagte der Junge freudig, begann bis über beide Ohren zu strahlen und ließ sofort den Löffel in seine lauwarme Kürbissuppe fallen. Mehrere Spritzer landeten auf Mias Kostüm, was ihr jedoch nicht mehr als ein genervtes Grunzen entlockte. Katrin sagte nichts. Sie blickte nur starr auf das große Esszimmerfenster, hinter dem sich die dunkelgraue, süße Masse wie die Brandung eines halb erstarrten Meeres gegen die Scheiben drückte und diese sogar gelegentlich leise zum Knarzen brachte.

„Alles klar, Champion“, sagte Florian dankbar und stand auf, wobei das Geräusch seines zurückgeschobenen Stuhls wie ein Glockenschlag durch das Wohnzimmer hallte.

So traurig es auch war, Florian begrüßte die Gelegenheit der angespannten Stimmung für einige Augenblicke zu entgehen. Von der Harmonie, die er vor ein paar Stunden noch gefühlt hatte, war rein gar nichts mehr übrig.

Während er auf die Küche zustrebte, versuchte er den Blick auf den besudelten Flur und die zerstörte Wohnungstür zu vermeiden, konnte jedoch nicht verhindern, dass die pulsierende Masse zumindest sein peripheres Sichtfeld streifte. Er konnte sich täuschen, aber er glaubte, dass sie sich wieder etwas weiter nach vorne bewegt hatte. Sie hätten diese Barriere niemals zerstören sollen.

Als er die Küche betrat, wo der allgegenwärtige, süßliche Geruch wenigstens ein Stück weit vom deftigen Aroma des zubereiteten Essens verdrängt wurde, fühlte er sich absurderweise ein klein wenig sicherer, jedenfalls so lange, bis sein Blick auf den Topf und die darunter verborgene Bonbonmaschine fiel.

„Was zur Hölle willst du von mir, Ben?“, fragte er leise in den Raum hinein und wünschte sich, wenigstens mit dem Jungen reden und verhandeln zu können. Doch aus diesem Haus drang nichts heraus, selbst wenn er sich fast sicher war, dass der Lümmel hinter irgendeinem Baum in der Nachbarschaft stand und sich das Spektakel schadenfroh ansah. Wobei, wahrscheinlich sah in den Augen der Nachbarn und Passanten alles ganz gewöhnlich aus, andernfalls würde es hier sicherlich schon von Regierungstruppen wimmeln, die die seltsame Subtanz untersuchen wollten. Auf Hilfe von außen konnten sie also eher nicht setzen. Dieser Gedanke deprimierte Florian nur noch mehr.

Während er abwesend das Popcorn aus dem Topf in eine Schüssel füllte, sah er auf die Geister und Kürbisgirlanden, so als würde er sich von ihnen eine Antwort erwarten. Doch auch wenn ihn das nach den Geschehnissen der letzten Stunden nicht gewundert hätte, antworteten sie nicht.

Es gab nur eine Möglichkeit, mit Ben zu kommunizieren und im Grunde wusste er das. Darum bemüht, kein Geräusch zu machen, hob er den Topf an und stellte ihn leise auf einem Küchentuch ab, womit er Bens unwillkommenes Geschenk wieder offenlegte.

Falls das Ding wirklich Ben gehörte. Irgendwie glaubte er nicht, dass ein rachsüchtiger Teenager in der Lage war, sich ganz ohne Hilfe solch dunkler Magie zu bedienen. Dafür gab es sicher keine Tutorials im Netz. Zumindest keine funktionierenden.

Viel wahrscheinlicher war, dass er sich diese Bonbonmaschine in irgendeinem nischigen Hexenladen erstanden hatte, der ausnahmsweise nicht von einer Möchtegern-Hexe geführt wurde. Womöglich hatte er auch in einem schrulligen Antiquitätengeschäft oder in den tiefsten Winkeln des Darknets einen Einkaufsbummel unternommen.

Aber wenn dem so war, so mochte der Einfluss des Jungen auf den magischen Apparat begrenzt sein und vielleicht kamen sie einfacher hier raus als gedacht. Florian beschloss, es auszuprobieren. Er nahm eine kleine Handvoll Popcorn aus der Schüssel, füllte sie in die seitliche Öffnung der Maschine und drehte ein paar Mal an der Kurbel. Als daraufhin ein kleines, silbernes Bonbon herausfiel, schlich sich ein zögerliches Lächeln auf sein Gesicht. Neugierig und mit angehaltenem Atem wickelte er die Süßigkeit aus, gespannt darauf, was sein „Opfer“ ihm eingebracht hatte. Nur um ein Haar und dank seiner vor den Mund gehaltenen Faust konnte er vermeiden, laut loszubrüllen, als das Ergebnis vor ihm lag. Es bestand aus drei kurzen, schokoladenfarbenen, aber nach Müll stinkenden Würmern, die sich in dem Papier wanden und die sich nach wenigen Augenblicken mit einer beachtlichen Geschwindigkeit hinter die Töpfe und Küchengeräte verzogen, um die darunterliegende Nachricht zu enthüllen.

„Netter Versuch, Kindermörder. Aber da brauchst du mehr … Einsatz!“

Florian erstarrte vor Grauen als er diese Nachricht las. Natürlich hatte er bereist vermutet, dass es auf so etwas hinauslaufen würde, aber der Gedanke daran, sich zu verstümmeln, ohne zu wissen, ob das seiner Familie auch wirklich etwas bringen würde, war fast zu grauenhaft, um ihn auch nur zu denken, vor allem weil er tief in sich wusste, dass es genau dazu kommen konnte.

„Wir finden einen anderen Weg, Arschloch“, sagte Florian leise, stellte den Topf wieder auf das verfluchte Gerät, schnappte sich die Schüssel und ging zurück zu seiner Familie.

~o~

„Das hat aber lang gedauert“, sagte Katrin, missmutig, während Florian die Schüssel mit dem Popcorn abstellte, in die Leon sofort beherzt griff und sich eine Handvoll in den noch suppenverschmierten Mund steckte.

„Tut mir leid“, sagte Florian zerknirscht, „ich war etwas unkonzentriert. Diese ganze Sache macht mir zu schaffen.“

„Geht uns wohl allen so“, meinte Mia, „vor allem, weil wir keine Ahnung haben, warum das alles passiert. Ich meine, selbst wenn es etwas Übernatürliches ist – und da bin ich mir inzwischen verdammt sicher – muss es doch irgendeinen Sinn haben. Klar, das sind alles nur Geschichten, aber nach allem, was ich über Geister gesehen und gelesen habe, haben sie immer einen Grund für das, was sie tun. Und meistens wollen sie Rache. Irgendjemand von uns muss sie also verärgert haben. Die Frage ist nur, wer und womit.“

Florians Muskeln verkrampfte sich und er spürte, wie sich kalter Schweiß aus den Poren seiner Stirn kämpfte. Seine Stieftochter war für seinen Geschmack viel zu schlau. Er bemühte sich darum, einen möglichst unbeteiligten und gelassenen Eindruck zu machen, aber er hatte natürlich keine Ahnung, ob das auch funktionieren würde. Vor allem, da er die forschenden Blicke von Mia, aber auch von Katrin auf sich ruhen fühlte.

„Es könnte auch ein Alienangriff sein“, sagte Leon genüsslich kauend, „vielleicht haben sie die ganze Stadt mit ihrem Schleim überzogen.“

„Schwachsinn!“, widersprach Mia, „wenn Außerirdische uns wirklich vernichten wollten, würden sie uns einfach in Stücke schießen und nicht so einen Aufwand betreiben.“

„Das weißt du nicht“, sagte Leon und nahm sich dabei eine weitere, noch größere Hand voll Popcorn, die er in seinem Mund verschwinden ließ, „es könnte auch ein Experiment sein.“

Seine Stimme klang beschwingt, glücklich, fast als befände er sich auf einer ganz gewöhnlichen Feier.

Mia ignorierte ihren Bruder und dachte laut nach, „irgendeinen Anlass muss es für diesen Wahnsinn geben … Papa, du hast doch vorhin diesem Paketboten geöffnet, der sich in der Tür geirrt hatte, kurz bevor das alles angefangen hatte. Ist dir irgendetwas Komisches an ihm aufgefallen?“

Scheiße, dachte Florian und spürte, wie seine ruhige Fassade endgültig zerbrach.

Katrins Kopf schnappte vor, wie der Kopf einer Schlange. „Du hast was!? Warum hast du mir das nicht erzählt. Ich meine, zur Hölle, warum habt ihr beide mir das nicht erzählt?“

„Es war nur … es …“, begann Florian stotternd und rutschte unsicher auf seinem Stuhl hin und her, während ihn das manische Kauen von Leon, der die Popcornschüssel inzwischen direkt an seinen Mund geführt hatte, fast in den Wahnsinn trieb.

„Was verschweigst du uns, Florian?“, fragte Katrin kühl und unnachgiebig.

Florian realisierte, dass er sich an einem Scheideweg befand. Wenn er alles abstritt, würde er sich – gerade in seiner jetzigen Verfassung – erst recht verdächtig machen. Wenn er allerdings nah an der Wahrheit blieb, ohne sie wirklich zu offenbaren …

„Es war kein Postbote“, sagte Florian seufzend, „es war jemand aus meiner Vergangenheit. Sein Name lautet Ben.“

Jetzt, wo er sprach, hatte er das Gefühl, dass die Worte hartnäckig wie verklebte Kaubonbons in seinem Mund hingen und einfach nicht herauskommen wollten.

„Und was wollte Ben von dir?“, hakte Katrin nach, „rede verdammt nochmal!“

„Er macht mich für den Tod seines Bruders verantwortlich“, sagte Florian und die von Entsetzen geweiteten Augen von Mia und Katrin trafen ihn wie Messer. Er wusste jetzt mit Sicherheit, dass sie ihm die volle Wahrheit niemals verzeihen würden. Fast war er nun dankbar dafür, dass sich der kleine Leon lieber mit dem Inhalt der Popcornschüssel beschäftigte, als mit seiner Geschichte.

„Und? Hat er recht damit?“, fragte Katrin und ihr Tonfall legte nahe, dass sie sich ihr Urteil schon gebildet hatte.

„Nein“, behauptete Florian und war erleichtert, wie überzeugt er dieses Wort herausbrachte, „es war nur ein dummer Unfall. Ich hatte seinem Bruder, Paul und dessen Freunden Süßigkeiten gegeben. An Halloween. Die Süßigkeiten hatten aber Nüsse enthalten und … Paul hatte leider eine Nussallergie. Er muss sehr viele davon gegessen haben. So viele, dass er einen tödlichen allergischen Schock erlitten hat. Doch er hatte mir nichts von seiner Allergie erzählt, weshalb ich mir keine Gedanken gemacht hatte. Ben aber ist bis heute fest davon überzeugt, dass ich das mit Absicht getan habe. Dass ich seinen Bruder hatte töten wollen. Das ist natürlich vollkommen absurd, aber das glaubt er nun mal. Das alles ist lange her und spielt sich weit von hier entfernt ab. Aber irgendwie hat er mich wiedergefunden und will sich nun womöglich an mir rächen.“

Katrin sah Florian mit durchbohrendem Blick an, „Wann … ich meine, zur gottverfickten Hölle, wann hättest du uns davon erzählt? Sobald wir alle bis zum Hals in diesem klebrigen Zeug versunken sind? Oder hättest du dein Geheimnis mit in unser aller Grab genommen?“

„Tut mir leid“, sagte Florian kleinlaut, „ich wollte euch da raushalten …“

„Uns raushalten?“, fragte Katrin und schlug dabei so fest mit der Faust auf ihren Suppenteller, dass ein Stück davon absplitterte, „das hat mal so gar nicht funktioniert, oder? Wir stecken hier knietief drin, Florian. Wir alle stecken da drin. Egal, ob du uns anlügst oder nicht!“

„Das bringt jetzt auch nichts, Mom“, sagte Mia, „ich bin genauso enttäuscht von Papa wie du, aber wir müssen herausfinden, was genau dieser Ben von uns will. Hat er dir irgendetwas gegeben? Ich meine, eine verfluchte Puppe, einen Ring oder sonst irgendeinen scheiß?“

„Ja“, sagte Florian über das zufriedene Rülpsen von Leon hinweg, die die letzten Krümmel der 1000-Gramm-Schüssel in sich hineingeschüttet hatte, „er hat mir etwas gegeben. Kommt mit. Ich zeige es euch.“

~o~

„Das wird ja immer besser“, sagte Katrin als Florian die Bonbonmaschine enthüllte und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, „denkst du, wir hätten das niemals entdeckt? Denkst du, wir hätten nie mehr die Küche aufgeräumt? Hältst du uns für so unglaublich dumm? Ich … ich weiß nicht … wer du bist. Ein Freund dieser Familie jedenfalls nicht.“

Das war zu viel. Er konnte vieles ertragen. Die Schuld, das Grauen dieser Situation, aber nicht, dass er von seiner Verlobten und seiner Familie, von seiner wunderbaren, selbstgewählten Familie ausgeschlossen wurde.

„Es gibt einen Grund, warum ich euch noch nicht davon erzählt habe. Diese Maschine hat einen Zweck. Und dieser Zweck kostet Überwindung“, sagte Florian und noch bevor er das näher erläuterte, nahm er sich ein großes Fleischermesser aus dem Ständer und ließ es in den kleinen Finger seiner linken Hand fahren.

„Florian, Nein!“, brüllte Katrin und packte seinen Arm, aber Florian riss sich los und kappte seinen Finger mit zwei weiteren Hieben, wobei ihm selbst die Tränen in die Augen schossen.

Leon schrie schrill auf und rannte aus der Küche. Mia schlug vor Entsetzen die Hände vors Gesicht und wich einen Schritt zurück.

Dann nahm er sich ein Küchentuch und wickelte es um den Fingerstumpf, um die Blutung zu stoppen.

„Was … warum hast du das getan?“, fragte Mia verstört.

„Weil ich euch … weil ich uns vielleicht damit helfen kann“, sagte Florian mit schmerzverzerrtem Gesicht.. „Ich BIN nämlich ein Freund dieser Familie“, sagte er zu Katrin, die verschämt den Kopf senkte. Dann nahm er den abgeschnittenen Finger mit seiner unversehrten Hand, steckte ihn in die Maschine und legte die Hand auf die Kurbel.

„Das ist widerlich“, sagte Mia und wandte den Blick ab.

„Was erhoffst du dir davon?“, fragte Katrin, während Florian die Kurbel drehte und dem knirschenden Geräusch lauschte, mit dem die Knochen in seinem kleinen Finger gebrochen und zermahlen wurden.

„Ein Happy End“, sagte Florian vage und starrte wie hypnotisiert auf die untere Öffnung der Maschine.

Es dauerte einige Sekunden, doch dann purzelte ein großes, in goldenes Papier eingeschlagenes Bonbon heraus.

Florian griff sofort danach und packte es aus. Im Inneren war ein stinkendes, rosiges Etwas.

Mia, die inzwischen ihren Blick wieder auf das Grauen gerichtet hatte, würgte. „Ist das etwa …“

„Ja, das ist, was von meinem Finger übrig ist“, sagte Florian gefasst, auch wenn er innerlich kurz davor war, zusammenzubrechen.

Er nahm das „Bonbon“ in seine verstümmelte Hand und faltete mit der anderen das Papier auseinander. Erneut stand etwas darauf geschrieben. Er las es laut vor.

„Die Rettung des Wahrhaftigen liegt, in einer Köstlichkeit, die durch die Dunkelheit fliegt.“

Trotz seiner Schmerzen konnte Florian sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Wir kommen hier raus“, sagte er euphorisch, „wir kommen endlich hier raus!“

„Das ist großartig, Papa“, sagte Mia, „aber wenn wir hier raus sind, finden wir diesen Ben, reißen ihm den Sack auf, tauchen seine Eier in Schokolade und verfüttern sie zu Ostern an die Nachbarschaft, einverstanden?“

„Einverstanden“, sagte Florian grinsend, „Dann brechen wir mal diesen beschissenen Fluch.“

Er ging aus der Küche und nahm das widerwärtige Bonbon in seine gesunde Hand. Dann stellte er sich vor die klebrig-süße, dunkle Masse, die inzwischen fast bis zur Küchentür reichte und schleuderte seinen zerdrückten Finger mitten hinein.

Mit einem schmatzenden Geräusch wurde er von der Substanz verschlungen.

Sie alle hielten den Atem an, warteten auf ein Wunder, auf eine Öffnung, darauf, dass sich die widerlich stinkende Substanz zurückzog. Aber nichts geschah. Gar nichts.

„Das … das kann nicht …“ Florian sah auf seinen Finger, dann auf die Masse und plötzlich … plötzlich spurtete er los, hämmerte mit den Fäusten gegen die klebrige Barriere.

„Komm sofort zurück, sonst holt es sich dich hauch noch!“, bat ihn Katrin, aber Florian gehorchte nicht. Alles, was er tat, war zu schlagen und zu schreien.

„Du hast uns betrogen! Ich habe getan, was du wolltest! Lass uns raus, du Arschloch!“, schrie er, „oder wenigstens meine Familie! Sie haben nichts damit zu tun! Lass sie raus hier, verdammt nochmal!“

Immer wieder schleuderte er diese Worte in verschiedenen Variationen ihrem Gefängnis entgegen und anders als Katrin befürchtet hatte, verschlang die Masse Florian nicht, aber sie wich auch nicht zurück.

Schließlich hörte Florian auf, auf das klebrige Zeug einzuprügeln und seine Stimmbänder kapputzuschreien und sank kraftlos auf die Knie.

„Wir sind verloren“, sagte er, „jetzt sind wir wirklich verloren.“

„Einen scheiß sind wir“, sagte Mia entschlossen, „wir kommen hier raus, und wenn ich uns einen Tunnel durch den Boden graben muss. Kommt, wir gehen zurück ins Wohnzimmer. Und ich will keinen Fatalismus mehr, okay? Leon braucht Hoffnung, kein Rumgeheule. Es ist auch so schon schwer genug für ihn.“

„Du hast recht“, sagte Katrin und streckte Florian ihre Hand entgegen. Mit müdem Blick ergriff er sie und ließ sich widerwillig auf die Beine ziehen.

„Es tut mir leid“, sagte sie sanft zu ihm und mit ihrem Lächeln kehrte auch etwas Hoffnung in Florian zurück, „ich hätte nicht an dir zweifeln dürfen. Du bist nicht nur ein Freund dieser Familie. Du gehörst dazu!“

„Danke!“, sagte Florian lächelnd und gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer.

~o~

„Offensichtlich hatte wenigstens einer von uns Spaß“, sagte Mia kichernd und zeigte auf ihren kleinen Bruder. Leon saß auf dem Boden, neben dem Wohnzimmerschrank und war bedeckt von Pralinenpackungen und Bonbonpapieren, während sein schokoladenverschmierter Mund noch immer genussvoll kaute.

„Was zum … Leon!“, tadelte seine Mutter, „die Pralinen sind mit Alkohol und selbst wenn sie es nicht wären … du kannst doch nicht so viele …“

„Ich hab solchen Hunger!“, sagte Leon nur mit glasigem, berauschten Blick.

„Du siehst aber ziemlich satt aus“, kommentierte Mia und zeigte auf seinen deutlich gewölbten Bauch und sein pausbäckiges Gesicht. Anfangs kicherte sie dabei noch – zu absurd war dieser Anblick und zu groß die Sehnsucht nach etwas Leichtigkeit – doch das Lachen blieb ihr schon bald darauf im Halse stecken, „das ist nicht normal. Niemand nimmt so schnell zu. Nicht einmal nach so einem Fressgelage.“

Florian kam zum selben Schluss und stürmte auf Leon zu, der wie eine umgeworfene Schnecke auf dem Rücken lag. „Hast du Schmerzen?“, fragte er ihn und strich über seine verschwitzte, weiche, fast teigige Haut.

„Nein, nur Hunger“, antwortete Leon, „haben wir noch was Süßes?“

Er präsentierte ein gieriges Grinsen, mit Zähnen, die schwarz von Kakao waren. Doch seine Augen blickten traurig, erschüttert, verloren.

„Du ist keine einzige Süßigkeit mehr, hörst du?!“, sagte Florian.

„Nein!!! Das ist gemein!!“, brüllte Leon und wand sich trotzig hin und her, so sehr es sein vollgestopfter Körper zuließ.

„Dann bin ich eben gemein. Aber das ist mein letztes Wort“, beharrte Florian.

„Ich werde etwas finden“, sagte Leon unbeeindruckt, „das Süße ist überall. Riecht ihr es nicht? Es riecht so verführerisch und es will zu mir. Will in mich hinein!“

Leon setzte seine Arme auf dem Boden auf und versuchte sich in die Höhe zu stemmen, aber dann sank er wieder zurück und fing stattdessen laut an zu schnarchen.

Katrin und Florian sahen ihren Sohn mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und tiefer Sorge an. Solange, bis sie von Mia aus ihren Gedanken gerissen wurden.

„Hey, seht ihr das!“, sagte Mia und klang dabei unerwartet fröhlich.

Sie zeigte auf die Decke und die Blicke von Florian und Katrin folgten ihr.

Dort oben war ein Loch. Es war nicht groß. Vielleicht gerade groß genug, um den alten, schlanken Leon durchzupressen, aber statt der klebrigen, stinkenden Masse strömten frische Luft und glitzerndes Mondlicht dadurch hinein.

Florian spürte ein Knistern in seiner Hand, so als wollte das Bonbon-Papier, das er immer noch darin festhielt, auf sich aufmerksam machen. Verstohlen entfaltete er es erneut und las die Botschaft, die sich verändert hatte.

„Ein Körnchen Hoffnung für ein Körnchen Wahrheit“, stand dort geschrieben und Florian war, als hätte man ihm ein ebenso großes Loch ins Herz gebohrt, wie es nun an ihrer Wohnzimmerdecke prangte.

~o~

„Halt mich fest, Papa!“, verlangte Mia, die sich auf die höchste Stufe der kleinen Leiter gestellt hatte und jetzt versuchte, mit der Hand an das Loch in ihrer unglücklicherweise recht hohen Decke zu gelangen. Währenddessen kümmerte sich Katrin um den zwar wieder zu Bewusstsein gekommenen, aber dafür äußerst hungrigen Leon, wobei ihre Fürsorge vor allem darin bestand, ihn liebevoll, aber unnachgiebig festzuhalten und ihn davon abzuhalten in die Küche zu eilen.

„Klar, Schatz“, stimmte Florian zu und schlang die Arme um seine Stieftochter, um ihr mehr Stabilität zu verleihen. Auf diese Weise gestützt, streckte sie sich weiter vor und steckte erst ihren Arm und dann ihren Kopf durch das Flachdach.

„Ich fühle frische Luft“, sagte sie gerührt und weinte dabei fast.

„Das ist großartig“, sagte Florian und schöpfte beinah selbst ein wenig Hoffnung. Lediglich Bens Nachricht, die zerknüllt in seiner Tasche lag, dämpfte seine Erwartungen etwas. Sie klang nicht so, als hätten sie sich bereits die Freiheit verdient.

„Gib mir die Säge!“, verlangte Mia.

„Bist du dir sicher? Du könntest dich verletzen und …“, entgegnete Florian.

„Gib mir die verdammte Säge!“, bekräftigte Mia.

Florian widersprach nicht länger, sondern reichte ihr die elektrische Kreissäge, die er auf ihren Wunsch hin aus dem Keller geholt hatte. Wenn jemand einen Weg hier raus fand, war es Mia.

Seine handwerklich recht begabte Stieftochter verschwendete keine Zeit und setzte das Werkzeug an dem kreisrunden Loch an. Dann begann sie zu schneiden. Obwohl sie dabei auf einem Bein stand, arbeitete sie erstaunlich präzise und tatsächlich gelang es ihr durch das Holz zu schneiden. Keine dunkle Magie hinderte sie daran. Die Splitter flogen nur so umher und zum Glück hatte Mia daran gedacht, eine Schutzbrille anzuziehen. Florian hingegen musste sich auf den Schutz seiner bloßen Hand verlassen, die er abschirmend vor seine Augen legte und dabei mehrere kleine Stiche und Schnitte in Kauf nahm.

Verglichen mit dem, was über ihm geschah, waren diese Schmerzen jedoch irrelevant. Denn nicht nur gelang es Mia, das Loch immer weiter zu vergrößern, an den Schnittkanten zeigte sich auch nicht die befürchtete, klebrig-süße Substanz, sondern lediglich Putz, Dämm-Material und Holz. Und darüber lag nur der freie, harmlose Nachthimmel. Florian wagte kaum zu hoffen, dass Ben sie alle gehen lassen würde. Aber vielleicht hatte er wenigstens etwas Mitleid mit den Unschuldigen und würde seine Familie freilassen.

Schließlich gab Mia Florian die Säge zurück. „Ich glaube, ich versuche mein Glück“, sagte sie und grinste dabei über beide Ohren, „wenn ich es rausschaffe, kann der Rest von euch direkt nachkommen.“

„Was ist mit Leon?“, fragte Katrin und strich dem schwitzenden Jungen, der zitterte, wie ein Junkie auf Entzug, sanft über sein gequältes Gesicht, „er wird da niemals durchpassen.“

„Wir werden das Loch vergrößern“, versprach Mia, „und zu dritt kriegen wir ihn schon durch. So schwer ist der kleine Pimpf dann auch wieder nicht.“

Katrin nickte.

„Also los“, sagte Mia und atmete tief ein. Dann schob sie ihre Arme wieder durch die Öffnung, stützte sich an den Rändern ab und zog sich – gestützt von Florian ein ganzes Stück nach oben.

„Ich kann den Herbstwind in den Haaren spüren“, sagte sie fröhlich und schüttelte ihr langes Haar in der kühlen Nachtluft, „Schieb mich an Papa, dann geht es noch leichter!“

Gerade wollte Florian ihrem Wunsch nachgeben, als er etwas an der Decke bemerkte.

„Mia! Komm sofort runter!“, warnte er.

„Du hast wohl den Arsch offen!“, entgegnete Mia, „ich werde doch nicht auf halbem Weg …“

„KOMM RUNTER!“, brüllte er und etwas in der Stimme ihres Stiefvaters drang zu Mia durch. Nur leider zu spät.

„Hey, das kitzelt!“, sagte sie kichernd, während sich die klebrige Masse ihre Finger nach ihrer Brust ausstreckte. Doch als aus der vorsichtigen Berührung ein festerer Druck wurde, verließ sie alle Fröhlichkeit. Endlich ahnte sie, was das war.

„Lass einfach los!“, rief Florian alarmiert und kickte die Leiter zur Seite, um mehr Platz zu haben, „ich zieh dich raus!“

Mia gehorchte und ließ los, aber dennoch rutschte sie nicht herunter. Die Substanz hielt sie fest.

„Der Druck, es tut so weh!“, brüllte sie panisch, während Florian ihre Rippen ungesund knirschen hörte.

Er zog. So fest er konnte. Doch nichts geschah. Sie bewegte sich nicht. „Katrin, hilf mir!“, bat er seine Frau und sie sprang auf und zog ebenfalls an Mias Körper.

Dann knirschte es noch lauter und Mia schrie, brüllte, zappelte mit den Beinen, was es ihren Eltern nur noch schwerer machte, sie festzuhalten. Doch gleichzeitig schien dieses Zappeln den Ausschlag zu geben. Endlich fiel sie herunter, direkt in die weichen Arme ihrer Eltern. Keuchend, schmerzerfüllt, enttäuscht, aber lebendig.

„Wie … wie konnte …“, stotterte sie kurzatmig.

„Mein Opfer war wohl nicht groß genug“, sagte Florian reumütig, „der kleine Finger hat nicht gereicht. Ich hätte mehr geben sollen.“

„Du trägst daran keine Schuld!“, sprang ihm Katrin unerwarteterweise und zugleich ziemlich wütend bei, „es ist allein dieser Psychopath, der meiner Familie das angetan hat. Wäre sein beschissener kleiner Bruder noch am Leben, würde ich ihm Erdnussbutter in seine dreckigen Venen pumpen, bis er noch einmal krepiert!“

Noch während sie ihre Hasstirade herausließ, tastete sie den Brustkorb ihrer Tochter ab, der voller blauer Flecke und Schwellungen war. „Wie bei mir“, sagte sie etwas erleichtert, auch wenn Mia bei ihren Berührungen zurückzuckte und gequält das Gesicht verzog, „geprellt und vielleicht angebrochen, aber nichts Lebensgefährliches.“

„Ich hätte …. ich hätte schneller sein müssen, beim nächsten Mal …“, sagte Mia matt.

„Es gibt kein nächstes Mal. Jedenfalls fürs Erste nicht. Ihr Kinder geht ins Bett und ruht euch aus. Wir denken über eine Lösung nach“, sagte Katrin.

„Ich bin kein Kind mehr!“, protestierte Mia. Aber schließlich nickte sie doch. „In Ordnung“, sagte sie. Offenbar waren die Schmerzen und die Erschöpfung zu groß für lange Diskussionen, „jemand muss ja auf Leon aufpassen.“

„Wo ist Leon überhaupt?“, fragte Florian und sah sich im Wohnzimmer um, wo er ihn jedoch nicht entdecken konnte.

„Ich habe so eine Vermutung“, sagte Katrin düster, als sie ein Knistern aus der Küche hörte und wollte direkt aufspringen.

„Bleib bei Mia“, verlangte Florian, „ich hole ihn!“

Katrin nickte.

Florians Plan erwies sich als leichter gesagt als getan, denn die klebrige Substanz hatte sich inzwischen so weit im Flur ausgebreitet, dass lediglich noch ein kleiner Korridor dorthin führte, von dem Florian vermutete, dass er mit Absicht offengelassen wurde, damit er seine grausamen Opfer weiter erbringen konnte. Was er wohl noch von ihm wollte. Einen Arm? Ein Bein? Sein Geschlechtsteil? Florian wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen, allein schon, weil er sie früh genug erfahren würde.

Gerade galt seine Sorge ohnehin seinem Stiefsohn. Also zwängte er sich in den engen Korridor, der sogar so eng war, dass er sich nur seitlich darin bewegen konnte. Und kaum, dass er das getan hatte, war ihm, als würde das Licht des Flurs bereits hinter ihm verblassen. Nein, begriff er, das ist keine Einbildung. Tatsächlich schloss sich die Öffnung des schmalen Ganges unmittelbar hinter ihm. Wie die Fäden eines durchgekauten Kaugummis begann die Substanz den Eingang zu verschließen. Von Panik ergriffen schnappte sich Florian seinen Schlüsselbund und hieb auf die Fäden ein, die sich jedoch überhaupt nicht beeindruckt zeigen. Er schrie um Hilfe, aber weder Mia noch Katrin schienen ihn zu hören … oder hören zu wollen.

Schließlich schloss sich der Eingang vollständig. Er war gefangen. Nach einigen Momenten fassungsloser Lähmung bewegte sich Florian weiter auf die Küche zu, deren Eingang ihm noch immer offenstand. Grund dafür, dass er weiterging, war weniger die Hoffnung auf einen Ausweg – den es von dort auch nicht geben würde – noch in erster Linie die Sorge um seinen Stiefsohn. Es war allein die nackte Angst vor dem, was ihn umgab. Denn während er still und fast gänzlich umgeben von der dunkelgrauen Masse an der Wand stand und in die klebrige Dunkelheit sah, deren Rand nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war und deren brechreizerregender, chemischer Duft ihn umhüllte, entdeckte er darin … Dinge. Helle, kleine und dünne Objekte. Wie dutzende weiße Irrlichter mit zarten, spinnenhaften Beinen, die irgendjemand in der Ferne entzündet hatte und die langsam auf ihn zukrochen. Und je länger er hinsah, desto detaillierter wurden sie, bekamen Hände, Finger, Gesichter, Münder, nicht, weil seine Sicht sich an sie gewöhnte, sondern weil sie näherkamen. Weil sie ihn einkreisten, ihn nicht aus den Augen lassen würden, bis …

Florian rannte, sofern man denn seitwärts rennen konnte. Und kurz bevor der Blick in die glotzenden, zerfurchten, neugierigen Gesichter ihm den Verstand rauben konnte, stürmte er in die Küche hinein.

Was ihm dort begegnete, war allerdings kaum besser. Die Kühlschranktür und alle Schränke standen weit offen. Der Boden und die Arbeitsflächen waren übersät mit aufgerissenen Süßigkeitenpackungen, Kekspackungen, Joghurts, Backkonfitüre und geleerten Nutellagläsern. Alles, was nur ansatzweise süß gewesen war, war binnen dieser wenigen Minuten in Leons Mund verschwunden. Alles, bis auf eine verschüttete Kakaopfütze, die der Junge gerade vom staubigen Boden leckte. Florian war noch einmal deutlich, ja geradezu grotesk angeschwollen. Sein Körper sah jetzt aus, als hätte er seit zehn Jahren jeden Tag ein Wettessen bei einem Fast Food-Laden veranstaltet. Seine Arme und Beine waren dicker als Florians Taille, sein Körper füllte die halbe Küche aus und seine für einen kleinen, hageren Jungen gemacht Kleidung hing ihn nur noch in Fetzen am Leib.

Erschüttert von diesem Anblick beobachte Florian, wie Leon die letzten staubigen Kakaotropfen aufleckte und sich dann zu ihm umwandte. Seine Augen und sein Mund verschwanden fast in den von dicken Adern durchzogenen Fettschichten in seinem Gesicht und in diesen Augen kämpften Hunger, Trauer und Selbsthass einen erbarmungslosen Kampf.

„Ich will noch mehr Süßes“, sagte Leon weinerlich und zugleich vernahm Florian ein ungesagtes „Papa, hilf mir!“

„Du hast schon viel zu viel davon gegessen, Kleiner“, brachte Florian hervor.

„Aber es ist Halloween!“, sagte Leon, der trotz seiner Leibesfülle überraschend wendig aufstand und dessen nicht nur dicker, sondern auch deutlich größerer Körper fast bis zur Decke reichte. Diesmal klangen seine Worte eher fordernd als bittend. Der Atem seines Stiefsohnes stank durchdringend nach Zucker und verfaulten Zähnen.

„Wir haben nichts mehr!“, schrie Florian verteidigend.

Leons Augen huschten suchend umher und als sich die Erkenntnis in ihm ausbreitete, dass sein Vater recht hatte, fing er an zu weinen und zu schluchzen.

Trotz der absurden Veränderungen am Körper seines Stiefsohnes war Florian von Mitleid ergriffen und spielte mit dem Gedanken ihn in die Arme zu schließen, als plötzlich die Trauer in Leon versiegte und sein Blick auf die Bonbonmaschine fiel.

„Du kannst mir welche machen“, sagte Leon und sein breiter, schwammiger Mund verzog sich zu einem gierigen Lächeln. „Du wirst mir welche machen!“

Florians Brust gefror zu Eis. Es war eine Sache, ein spontanes Opfer zu bringen. Aber von seinem eigenen Sohn dazu gezwungen zu werden, sich zu verstümmeln, war etwas völlig anderes …

„Nein!“, sagte Florian, „das mache ich nicht. Und es wäre auch gar nichts süß.“

„Süßes Fleisch und süßes Blut, tun leeren Kindermägen gut“, sang Leon mit einer dämonischen Stimme und mit einer böse verzerrten Fratze, bevor der alte, kindlich-traurige Ausdruck in sein Gesicht zurückkehrte.

Er ging einen Schritt auf Florian zu, sein fetter Arm griff nach Florians Handgelenk und bekam es zu fassen. „Nein!“, bekräftigte Florian, „Das willst du mir nicht antun.“

„Richtige Eltern sorgen für ihre Kinder“, sagte Leon, „Oh ja, das tun sie“.

Florian versuchte sich aus Leons Griff herauszufinden, doch da dieser seine verstümmelte Hand gepackt hatte, die noch immer schmerzte, gelang es ihm nicht.

„Nein, Leon. Bitte! Ich bin dein Vater!“, flehte er, während er mit der anderen Hand nach seinem Sohn schlug, ohne dass dieser sich davon beeindrucken ließ.

„Du bist mein Ernährer!“, antwortete dieser mit einem zuckerverklebten Grinsen, rammte Florians Zeigefinger gegen seinen Willen in die Maschine, so fest, dass der Finger gestaucht wurde und hielt ihn dort fest. Dann drehte er an der Kurbel und Florian brüllte.

Während das Mahlwerk der übernatürlichen Maschine seinen Zeigefinger zerschredderte, krallte er sich mit der anderen Hand mit aller Macht in das weiche Fleisch seines Sohnes, was diesen jedoch nicht dazu brachte, innezuhalten. Genauso wenig bewirkten seine Schreie um Hilfe oder Gnade. Zwar murmelte sein Sohn gelegentlich „Es tut mir leid Papa“ und wirkte dabei ernsthaft betrübt, aber sein Mitleid hielt ihn nicht von seinem grausamen Tun ab.

Erst als Florians Finger mit einem letzten schlürfenden Geräusch von der Hand getrennt wurde und ein dicke, silbernes Bonbon aus der Maschine purzelte, auf das sich sein Sohn regelrecht stürzte, lockerte sich sein Griff und Florian war frei. Zumindest fürs Erste. Natürlich wusste er, dass sein nächster Finger und nach und nach andere Körperteile an der Reihe wären, sobald sein Stiefsohn sich das Fingerbonbon einverleibt hatte. Also fasste er auf die schnelle einen Plan, der ihm – wenn er Glück hatte – das Leben retten würde. Noch während Leon das Bonbon auswickelte, huschte er an ihm vorbei und holte sich ein großes Glas aus dem Schrank.

Obwohl das nicht eben leise geschah, beachtete ihn Leon nicht. Er hatte nur Augen für das aus seinem Fleisch gewonnene Bonbon, das er entgegen seiner kürzlich entwickelten Fressgewohnheiten fast ehrfurchtsvoll zum Mund führte. Diese Fixierung kam Florian gelegen. Er füllte das Glas bis zum Rand mit dem süßlichen Wasser, während sein Sohn genüsslich zu kauen begann.

„Es ist so süß, Papa! So unbeschreiblich süß!“

Florian verdrängte die Verzweiflung und den Brechreiz, die ihm bei dieser Äußerung überfallen wollten, stellte das Glas ab und löste den flexiblen Wasserhahn aus seiner Arretierung. Er wartete noch ein, zwei Herzschläge ab, bis sein Sohn das Mahl beendet hatte und wieder hungrig auf ihn blickte. Dann rammte er den Wasserhahn in seinen Mund und drehte auf.

Der schmerzerfüllte Schrei von Leon ließ Florian fürchten, dass er ihm die Schneidezähne gebrochen hatte und wahrscheinlich war das auch der Fall, aber da Dennis bereits wenige Augenblicke später mit einem seligen Gesichtsausdruck an dem verzauberten Wasserhahn saugte wie einst an der Brust seiner Mutter, schien ihn das nicht mehr länger zu stören. Sein Bauch, seine Arme und sein ganzes Fleisch vibrierten in verzückten Wellenbewegungen, während die giftig-süße Flüssigkeit in ihn hineinlief und seinen Körper weiter aufschwemmte.

„Mein Gott, was habe ich getan?“, flüsterte Florian zu sich selbst und schämte sich so sehr, dass er am liebsten hiergeblieben wäre, um seinem verfluchten Sohn wenigstens bei seiner Marter Gesellschaft zu leisten. Aber er musste hier raus. Wegen Katrin, Mia und wegen sich selbst.

Sein Karma konnte ihn immer noch ereilen, wenn sein auf reinen Vermutungen basierender Plan fehlschlug. Das volle Glas mit der gesunden Hand fest umklammert betrat er wieder die Engstelle, die bis auf den Eingang nach wie vor offenstand. Mit geschlossenen Augen, um nicht nach den kriechenden Gestalten Ausschau halten zu müssen, bewegte er sich voran. Erst als er nicht mehr weiterkam, öffnete er die Augen und war gelähmt vor Entsetzen als er eine der Gestalten direkt vor sich sah. Das weißliche, wurmartige Maul weit aufgerissen, die von bösem Bewusstsein beseelten Augen gebannt auf ihn stierend und die dünnen Strichhände zum Zugreifen erhoben. Alles in Florian sagte ihm, dass er aufgeben sollte. Dass er keine Chance hätte und sein Leiden nicht unnötig verlängern sollte. Dass er stehenbleiben und den Tod umarmen sollte. Aber stattdessen hielt er den Atem an, gerade als der lange, weiße Finger eisig auf seine Haut traf und schüttete die Flüssigkeit mit einem Stoßgebet gegen die Kreatur, die zusammen mit der klebrigen Masse den Eingang versperrte.

Die Flüssigkeit wirkte wie Säure. Schon bei der bloßen Berührung des süßen Wassers zuckte das Wesen zurück und zog sich in die Tiefen der dunklen Substanz zurück, die sich für einen Moment teilte, wie das Rote Meer in der biblischen Erzählung. Florian überlegte nicht lange. Er rannte. Und kurz bevor sich die Öffnung wieder schloss, stand er auf der anderen Seite.

Schnell atmend und völlig erschöpft blickte er auf die süße, graue Wand, die von außen kein Zeichen von ihren Bewohnern erkennen ließ. In ihm tobte das reinste emotionale Chaos. Er war verstümmelt und hatte seinen geliebten Stiefsohn dem üblen Wasser und diesen grässlichen Wesen überlassen und zugleich hatte er den Zugang zu der Maschine verloren, die ihn zwar schon zweimal verstümmelt hatte, aber auch das einzige war, das irgendeinen Einfluss auf den Wahnsinn in diesem Haus zu haben schien.

Andererseits lebte er und hatte vielleicht eine Möglichkeit gefunden, zu entkommen.

„Ich hätte schon entkommen können“, flüsterte Florian leise zu sich selbst, „ich hätte mir einen Weg durch die Haustür bahnen können.“

Das stimmte. Auf der anderen Seite hätte er damit seine Familie zurückgelassen und sich auch nicht besser gefühlt. Aber immerhin hätte er mehr von dem süßen Wasser aus der Küche retten können. Dann hätten sie vielleicht sofort gemeinsam entkommen können.

„Es gibt noch das Bad“, beruhigte er sich murmelnd, „und die Gästetoilette.“

Erstmal musste er aber nach Katrin und Mia sehen.

~o~

„Was ist mit dir passiert?“, fragte Katrin den übel zugerichteten Florian. Sie saß neben Mia auf der Couch, die sich trotz ihres erst kürzlich erlittenen Unfalls schon wieder angestrengt nach möglichen Fluchtwegen umsah, wie Florian an ihrem rastlosen Blick erkannte, „und wo ist Leon?“

Bevor er den beiden Frauen unter die Augen getreten war, hatte Florian sich gut überlegt, welche Erklärung er ihnen bieten könnte. Die Wahrheit fiel natürlich als Option aus, da sie ihn viel zu schlecht dastehen lassen würde. Genauso wenig könnte er behaupten, dass alles gut wäre. Deshalb entschied er sich wie so oft für eine Halbwahrheit.

„Wir waren in der Küche gefangen“, erklärte Florian, „dieses graue Zeug hat mich eingeschlossen und mir den Rückweg versperrt. Aber ich habe Leon gefunden. Der Arme war in keinem guten Zustand. Kein Wunder, er hat alles an Süßigkeiten in sich reingefressen, was wir hatten. Aber er lebt und mehr noch: Ich habe ihm zur Flucht verholfen, indem ich dieser grauenhaften Maschine einen weiteren Finger geopfert habe. Ich weiß nicht, warum das diesmal funktioniert hat, aber durch mein Opfer hat sich ein Weg für ihn aufgetan, der direkt auf die Straße führte. Als ich ihm folgen wollte, hat sich die Lücke aber wieder geschlossen. Trotzdem, Leon ist frei. Unser Junge ist frei, Katrin! Und er versprach, Hilfe zu holen.“

Doch Katrin wirkte nicht sonderlich begeistert. „Verstehe ich das richtig?“, sagte sie eisig, „unser achtjähriger Sohn irrt da draußen krank, entkräftet, traumatisiert, schwer zuckersüchtig und völlig allein durch die Nachbarschaft?“

„Was hätte ich denn tun sollen?“, fragte Florian zurück, „ihn einfach hier lassen, wo …“

Wo der Tod auf ihn wartet, hatte Florian sagen wollen, aber er stellte fest, dass diese Botschaft auch ohne Worte ankam.

„Nein, natürlich nicht“, gestand Katrin ein und ihr Gesicht nahm einen etwas versöhnlicheren Ausdruck an, „draußen ist es besser als hier. Aber ich habe dennoch Angst um ihn. Was, wenn ihm etwas passiert? Oder wenn er zur Polizei geht und ihnen von den Ereignissen in unserem Haus erzählt. Denkst du ernsthaft, sie würden ihm glauben?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Florian eine der Schwächen in seiner Geschichte ein, „aber ich musste es einfach probieren. Ich wusste ja nicht, dass ich Leon nicht folgen kann. Glaubt mir, ich mache mir genauso Sorgen um ihn wie ihr.“

Die Blicke von Mia und Katrin ließen offen, ob sie dieser Aussage Glauben schenkten. Florian spürte seit einiger Zeit ein schwer greifbares, wachsendes Misstrauen zwischen ihnen, das zwar nicht so penetrant und offensichtlich war wie der chemisch-süße Gestank, die Atmosphäre aber genauso vergiftete.

„Wie bist du denn überhaupt aus der Küche entkommen?“, wollte Mia wissen und so langsam realisierte Florian, dass seine zurechtgelegte Halbwahrheit gar nicht so glaubwürdig war, wie es ihm auf den ersten Blick erschienen war.

„Ich habe das süße Wasser aus dem Wasserhahn in der Küche benutzt. Ich konnte Leon damit nicht durch die Wand folgen – das habe ich vergeblich versucht – aber es kann dieses Zeug trotzdem zurückweichen lassen, ähnlich wie die Flüssigkeit, die Katrin in die Brust getroffen hatte. Und vielleicht, wenn wir nur genug davon benutzen, kommen wir sogar durch die Tür“, sagte Florian und präsentierte ein hoffnungsvolles Lächeln.

„Gute Idee“, sagte Katrin zögernd, „aber leider kommen wir nicht in die Küche.“

„Das muss nichts heißen“, entgegnete Mia, der der Gedanke einer neuen Fluchtmöglichkeit offenbar sehr gefiel, beinah euphorisch, „wir haben es noch nicht überprüft, aber womöglich ist das Wasser im Bad ebenfalls geeignet. Wenn wir es in Eimer füllen und diesen ekligen Schleim damit bombardieren, könnten wir es tatsächlich schaffen und Leon finden. Oder wir verwenden den Gartenschlauch.“

Mia wirkte dabei so optimistisch, dass es Florian Angst machte. Was, wenn sie nicht nur entkamen, sondern dabei auch Leon zufällig wiederfanden. Florian fühlte sich miserabel bei dem Gedanken, genauso wie bei der Alternative: Sollte er wirklich darauf hoffen, dass sein Stiefsohn in der Küche gefangen bleiben und seinem Tod oder gar schlimmerem überlassen werden würde? Schon allein aus Furcht vor der Antwort, versuchte er dieser Frage gar nicht genauer nachzugehen.

~o~

„Wasser, nichts als verschissenes klares Wasser!“, rief Mia hysterisch und trat wütend gegen den Badezimmerschrank. In der Gästetoilette hatte sie es bereits vergeblich versucht.

„Wir sollten froh sein, dass wir hier noch etwas anderes zu trinken haben als dieses schreckliche Zeug“, versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen.

„Was bringt uns das denn?“, schoss Mia zurück, „bevor wir verdursten, werden wir ersticken, Mama. Das kleine Loch in der Decke wird auf Dauer nicht ausreichen und das Zeug wird immer mehr.“

Sie wies auf die Masse im Flur, die sich entgegen ihrer Hoffnungen weiter ausgebreitet hatte und nun schon bis ins Wohnzimmer hineinragte. Florian fragte sich, wann die unheimlichen weißen Gestalten darin erscheinen würden. Erst, wenn wir völlig umschlossen sind, gab er sich selbst die Antwort und fröstelte innerlich.

„Ich lass‘ dich nicht gewinnen, du widerliche Schmocke, hörst du!“, rief Mia kämpferisch. Dann rannte sie zur Vitrine, holte eine halbvolle Flasche Wodka daraus hervor und schleuderte sie in den süßen Schleim, wo sie wirkungslos zersplitterte. Doch Mia achtete gar nicht darauf. Sie fluchte und zeterte weiter und warf weitere Flaschen, bis ihr gesamter Alkoholvorrat auf dem Boden lag und ein Meer aus Splittern und Alkohol bildete, welcher von der Substanz hungrig aufgeschlürft wurde, die daraufhin noch einmal etwas wuchs.

„Toll“, sagte Florian sarkastisch, „nun können wir uns unsere Lage nicht mal mehr schönsaufen.“

Mia warf ihm einen vernichtenden Blick zu, ließ sich dann aber frustriert auf den Boden sinken. Ihre Augen waren jenseits aller Erschöpfung und von tiefen Schatten umgeben. Sie wirkte in diesem Moment fast wie eine uralte Frau.

„Wir sollten schlafen“, schlug Katrin vor. Ihre Stimme war gebrochen, fast wie tot, „wir sind alle viel zu müde, um mit dieser Situation umzugehen und im Schlafzimmer und in deinem Zimmer hat es sich noch nicht ausgebreitet.“

Sie sah zu Florian. Mit fragendem Blick. Wartete auf eine Antwort, auf ein Warum, auf eine Erklärung oder einen Ausweg und war doch zu müde, zu desillusioniert, um diese Fragen zu stellen.

Florian schenkte ihr keine Antwort. Er nickte nur. Denn er konnte der Versuchung, sein schlechtes Gewissen für ein paar Stunden auszublenden, nicht widerstehen. Trotz des Risikos.

„Kann sein, dass wir nicht wieder aufwachen“, sagte Mia düster, während sie mit den glitzernden Scherben in dem kleinen Alkoholsee spielte, „und vielleicht wäre das das Beste.“

~o~

Unerwarteterweise erwachte Florian durch eine Nachricht auf seinem Handy. Vor dem Einschlafen hatte er Katrins Nähe gesucht, aber sie hatte sich sogar seiner Umarmung entzogen. Als er sie nach dem Grund dafür gefragt hatte, hatte sie auf den Horror ihrer Situation verwiesen und gesagt, dass ihr weder nach kuscheln noch nach irgendetwas anderem zumute wäre. Doch Florian ahnte den wahren Grund. Sie und Mia vermuten etwas, war er überzeugt, sie vermuten, dass ich ihnen etwas verschweige.

Einmal hatte sie ihn noch angesehen. Einmal stumm um seine volle Aufrichtigkeit angefleht, bevor sie sich eiskalt und unnahbar von ihm weggedreht hatte. Das hatte wehgetan. Doch er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Dann würde er sie und auch Mia ganz verlieren und was hätte er dann noch? Also hatten sie beide wortlos die Augen geschlossen und sich irgendwann im Schlaf verloren.

Jetzt fühlte er sich weder besser noch ausgeruht und das lag nicht nur daran, dass es halb fünf Uhr nachts war. Verschlafen entsperrte er das Handy mit seiner gesunden Hand, blickte auf das Display und stellte fest, dass die Nachricht von der Überwachungskamera-App stammte. Offenbar hatte sie an der Tür eine Bewegung aufgezeichnet. Hatte sich jemand ihrem Haus genährt? Vielleicht Ben, der sich aus der Nähe an ihrem Leid erfreuen wollte oder vielleicht doch Nachbarn, die nach dem Rechten sehen wollten?

Erfüllt von einer schwachen, aber immerhin vorhandenen Hoffnung startete Florian das aufgezeichnete Video. Es zeigte weder Ben, noch einen Nachbarn oder einen ihrer Freunde, sondern Mia. Seine Stieftochter stand direkt auf der Schwelle, der geöffneten Tür. Jedoch war der Weg dorthin nicht wie durch Zauberhand frei geworden. Vielmehr befand sie sich inmitten der dunklen Substanz und lächelte. Als wäre sie eine Taucherin, die auf dem Meeresboden herumlief, bewegte sie sich langsam durch die schwarzgraue Substanz, die Augen geweitet in ekstatischer Faszination und schien irgendwie darin atmen zu können.

Florian starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Er wusste, dass sich das hier erst vor wenigen Minuten ereignet hatte, dass er sofort zur Haustür rennen und Mia vielleicht noch retten könnte, aber die schreckliche Anmut dieser Szene war einfach zu fesselnd. Er musste einfach dabei zusehen, wie Mia die Schwelle überschritt, und zwar aus dem Haus heraus und in die Freiheit, sondern in eine klebrig-süße Anderswelt anthrazitfarbener Leere schritt, die sich überall am Horizont erschreckte.

Florian fragte sich, was sie dazu bewogen hatte. Hatte sie anfangs gedacht, einen Fluchtweg gefunden zu haben, hatte sie allem ein Ende machen wollen oder hatte sie irgendeine übernatürliche Verlockung hierhergeführt?

Fast als würden Mias Gedanken seine eigenen spiegeln, hielt sie inne und drehte sich noch einmal zur Kamera um. In ihren Augen lag Zweifel, Zögern, Bedauern womöglich. Doch noch bevor sie auf die Idee kommen konnte, sich ihren Weg ins Haus zurückkämpfen konnte – unabhängig davon, ob ihr das noch möglich war oder nicht – schien sie irgendetwas zu hören. Ihr Kopf ruckte wieder in die Richtung der grauen Weite und sie begann zu laufen, ja regelrecht zu rennen. Zunächst konnte Florian nur erahnen, was sie dazu bewogen hatte. Doch kurz bevor sie den Aufnahmebereich der Überwachungskamera verließ, sah er die Arme einer zierlichen weißen Gestalt und einen grinsenden, dünnen Mund.

Dann war die Aufnahme zu Ende und Florian lag wie erstarrt in seinem Bett. Doch seine Lähmung hielt nur kurz an. Nun, da die Aufnahme beendet war, hielt ihn nichts mehr davon ab, seiner Stieftochter nachzugehen, nicht einmal die Aussichtslosigkeit seines Handelns. Er hatte wahrscheinlich schon Leon verloren. Er durfte Mia nicht auch noch verlieren. Also sprang er aus dem Bett, rannte zur Tür und riss sie auf. Ein platschendes Geräusch erklang, als sich die klebrige, chemisch riechende Masse durch die Tür quetschte und alle Aussichten auf eine Rettung von Mia mit einem Schlag zunichtemachte.

Florian begann zu weinen. Er war mit den Nerven völlig am Ende. In seiner Verzweiflung versuchte er sogar, es Mia gleichzutun und den Weg durch die ekelhafte Substanz zu gehen. Doch selbst als er sich mit seinem ganzen Körper dagegen warf, wies sie ihn zurück. Sie wollte ihn nicht. Niemand wollte ihn. Den Lügner, Mörder und schmierigen Selbstbetrüger, der er war. Oder zumindest noch nicht.

Die dünnen Wanderer würden ihn holen, da war er sicher. Aber noch nicht jetzt. Erst, wenn es keinen Ausweg und nicht mal mehr den kleinsten Rückzugsort für ihn gab. Wenn er ihren Blicken, Mündern und Griffen hilflos ausgeliefert wäre.

Deprimiert und verängstigt stolperte er zurück und bemerkte erst jetzt, wie schlecht die Luft in den wenigen verbliebenen Quadratmetern Schlafzimmer geworden war. Sie bestand nur noch aus klebrigem Gestank, Kohlendioxid und einem mickrigen Vorrat an Sauerstoff, der so schnell schwand wie seine Hoffnung. Aber er würde nicht ersticken. Davon war er überzeugt. So einfach würde sein Ende nicht sein.

Florian schleppte sich zurück ins Bett, brachte so viel Distanz wie nur möglich zwischen sich und die vorrückende Masse. Weinend zog er die Beine an den Körper und versuchte sich selbst Trost zu schenken, der jedoch so schal und schmierig schmeckte, wie der klebrige Schleim, der ihn umgab.

„Ben, was willst du von mir!“, schrie er aus Leibeskräften, „was zur Hölle soll ich tun? Wie kann ich alles wiedergutmachen?!“

Neben sich hörte er ein Murmeln, ein wisperndes, gehauchtes Wort. Seine erste Vermutung war, dass sie von Katrin kommen könnte, aber ihre Bettseite war leer, was ihm erst in diesem Augenblick auffiel. Auch ihre Decke fehlte. Dann hörte er das Wispern erneut. Es trug Worte. Und die Stimme gehörte eindeutig Katrin. Er beugte sich über das Bett und fand sie.

Sie lebte noch. Gerade noch. Doch sie war kaum mehr als ein sprechendes Skelett. Der Körper unendlich dürr, die Haut aschfahl und alt, mit grauen, strohtrockenen Haaren und Augen, so blind und verschrumpelt wie Rosinen. An ihrem Körper klebte die graue Substanz. Sie hielt sie fest, pumpte sie aus und verlief in adergleichen Bahnen über Wände und Decke bis zur Tür.

„Schatz, was ist mit dir passiert!“, ächzte Florian, dessen Körper zugleich von Traurigkeit und Übelkeit geschüttelt wurde. Beide forderten ihren Tribut. Nach einigen warmen Tränen wurde Katrins staubtrockener Körper übergossen mit ebensowarmen Erbrochenen, das fast so ekelhaft süßlich stank wie die allgegenwärtige Masse. Florian ekelte sich bis ins Mark. Doch nicht vor der Kotze, sondern vor sich selbst.

Oh und wie er sich ekelte. Wie hypnotisiert blickte er auf seine besudelte, halbtote Frau. Sie bewegte ihre Lippen. Ein weiteres Mal. Ein paar Tropfen dickes Blut rannen darauf hervor. Kostbare Überreste einer rar gewordenen Ressource.

Florian brachte sein Ohr ganz nah an ihre Lippen. „Sag endlich die Wahrheit!“, stieß sie schwach, aber bestimmt hervor. Dann erstarb ihr Atem und mit einem letzten Ausatmen beförderte sie hustend ein kleines, schleimbedecktes Bonbon aus ihrem Mund. Es war dasselbe Bonbon, das Florian in den Müll geworfen und das später auf der Maschine gesteckt hatte.

Das Bonbon, welches ihm Ben gegeben hatte. Er betrachtete es einen gedehnten Moment lang, dann wickelte er es aus, legte es auf die Zunge und schmeckte das chemische, bittersüße Aroma, das zu gleichen Teilen nach Kirmes und Krankenhaus schmeckte. Einen Augenblick lang hielt er den widerlichen Geschmack aus. Dann schluckte er es herunter. Und kaum, da es in seinen Magen gelangte, begannen die Krämpfe. Grauenhafte Krämpfe, die sich anfühlten, als würden seine Gedärme mit einer rostigen Zange gequetscht.

Florian spürte, wie sich Gase in seiner Bauchhöhle und in seinem Darm bildeten, sich aufbauten und ihn aufblähten, bis er dachte, er müsse platzen. Dann – endlich – kam die Erlösung. Ein Teil der Gase entleerte sich zusammen mit seinem restlichen Darminhalt auf dem Bett in einer lautstarken, feuchten Blähung. Der Rest kroch seine Kehle hoch und begann als saures Aufstoßen, vermischte sich jedoch auf seinem Weg mit allen Schmerzen, allem Selbsthass, all dem jahrelangen Schweigen zu einem wortreichen, befreienden Schrei:

„Ich war es! Ich habe Paul getötet! Ohne mich und meine grauenhafte Tat, ohne die vergifteten Süßigkeiten würde er noch leben. Ich habe ihm schaden wollen, ihn und die anderen Kinder leiden lassen wollen. Mit voller Absicht. Weil ich sie gehasst hatte. Weil ich das Leben gehasst hatte. Jetzt ist er tot. Und ich bin schuld daran. Ich, nur ich allein!“

~o~

Als sich seine Wahrnehmung wieder normalisierte, war es noch immer Nachmittag und Florian hatte nach wie vor den bittersüßen Geschmack des Bonbons im Mund. Es war vergiftet gewesen, das spürte er. Aber anders als die Süßigkeiten, die er diesen armen Kindern vor vielen Jahren gegeben hatte, hatte das Gift ihn körperlich kaum beeinträchtigt. Doch was es mit seinem Kopf angestellt hatte … holy shit.

Auch ohne sich umzudrehen spürte er die urteilenden Blicke von Mia, Katrin und Leon in seinem Rücken. Sie hatten alles mitangehört, was er gesagt hatte. Sie waren entsetzt, fassungslos, enttäuscht und verwirrt. So sehr, dass nur Schweigen ihre Gefühle zum Ausdruck bringen konnte. Aber sie waren auch gesund und unverletzt. Und das war unbezahlbar.

„Danke“, sagte Ben mit einem fast freundlichen Lächeln zu ihm, „die Wahrheit war alles, was ich wollte. Ich hätte sie mir schon damals gewünscht. Dann wäre all das nicht nötig gewesen.“

„Ich wollte einen Neuanfang“, sagte Florian mehr feststellend als verteidigend. Alles Kämpferische war von ihm abgefallen und er fühlte sich nur noch unendlich erschöpft.

„Den baut man nicht auf Lügen und Geheimnissen auf“, sagte Ben. Sein Gesicht drückte weder Hass noch Genugtuung aus. Nur Erleichterung. Erleichterung über eine Wunde, die jetzt vielleicht endlich heilen konnte, „dein Leben war ein gestohlenes Leben. Gestohlen, von Ben.“

„Wie hast du …?“, fragte Florian und sah auf das leere Bonbonpapier.

„Es gibt auf dieser Welt mitfühlende Seelen, die anderen helfen, alte Wunden zu heilen. Man muss sie nur finden. Und bei Gott, ich habe lange gesucht. All die Jahre über, ohne Rücksicht auf mich selbst und wahrscheinlich auf Kosten meiner Zukunft. Ich habe keinen Schulabschluss, keine Ausbildung. Ich hatte nur meine Mission und schließlich diese eine, besondere Süßigkeit.“

Florian fröstelte. Noch ein Leben, das er ruiniert hatte.

„Es funktioniert nur an Halloween, weißt du? Nicht, weil du Paul an diesem Tag getötet hast, sondern weil es die Zeit ist, in der Verborgenes ans Licht kommt. In der unterdrückte Emotionen und Geheimnisse ihren Weg aus dem Dunkel suchen. Du hättest das Bonbon nicht essen müssen. Aber du hast es getan, weil ein Teil von dir Klarheit wollte. Doch das ist nur der erste Schritt. Wirst du auch den nächsten gehen?“, fragte Ben und sah Florian bittend, nein flehend an.

Wieder fühlte sich Florian mächtig. So mächtig wie damals, als er die gefährliche Mischung hergestellt hatte. Doch anders als damals kotzte diese Macht ihn an. „Ja, es wird Zeit. Wir gehen zur Polizei. Ich werde alles erzählen. Jedes Detail“, sagte Florian und Bens Miene hellte sich etwas auf.

Dann drehte er sich zu seiner Familie um. Katrin sah vor allem enttäuscht und verletzt aus. Ihre Lippen bebten vor unterdrückter Wut. Mia hatte ihren besten „What the Fuck“-Ausdruck aufgesetzt, der wohl schon bald ebenfalls in rechtschaffenen Zorn umschlagen würde. Womöglich würde sie sich ein Bild von ihm ausdrucken, um ihre Wut daran auszulassen. Leon sah ihn vor allem verständnislos an. Um ihn tat es ihm am meisten Leid, auch weil er ihn in seinem abgefahrenen, magischen Drogentrip so im Stich gelassen hatte. Er fragte sich, was das über ihn und seine vermeintliche Besserung aussagte und anders als sonst wollte er diese Frage für sich klären. Doch wie immer die Antwort lauten mochte: Er wollte dem Kleinen das, was auf sein Geständnis folgen würde, nicht antun, wollte ihn nicht auch noch in der Wirklichkeit im Stich lassen, wollte ihm lieber sein Kostüm reparieren, so wie er es versprochen hatte, damit er nächstes Jahr ein schöneres Halloween haben würde. Aber es gab Dinge, die getan werden mussten.

„Ihr kanntet mich nicht“, sagte er zum Abschied zu seiner Familie, „nicht wirklich. Und das tut mir unendlich leid. Aber vielleicht bietet sich die Gelegenheit, einander neu kennenzulernen. Ohne Lügen. Ohne Geheimnisse.“

Dann winkte er noch einmal traurig – ohne dass diese Geste erwidert wurde – und bog zusammen mit Ben auf die Straße ein, die sie zum nächsten Polizeirevier führen würde, vorbei an hell erleuchteten und mit freundlichen Gespenstern, grinsenden Untoten oder knuffigen Spinnen geschmückten Häusern, in denen andere Familien, Paare oder Freundeskreise ihre echte oder falsche Harmonie lebten und in denen vielleicht, nur vielleicht ein anderer verbitterter Mann sich am Elend anderer erfreute.

„Du weißt, dass sie dich wahrscheinlich verlassen werden“, sagte Ben ungeschönt.

Florian nickte, „Ich weiß, aber es ist besser für die Wahrheit gehasst, als für die Lüge geliebt zu werden.“

„Schöner Spruch“, sagte Ben, „du solltest ihn dir an deine Zellenwand schreiben.“

Florian lachte und Ben lachte mit ihm. Es war kein fröhliches Lachen und auch kein Lachen unter Freunden. Natürlich nicht. Aber es war auch das Lachen von Männern, die den Geistern ihrer Vergangenheit die Macht entrissen hatten und das war wohl das Beste, was man zu Halloween tun konnte.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert