Briefe von Alton – Teil 1

ANMERKUNG: Diese Reihe wird von mir und Pale Diamonds gemeinsam geschrieben und abwechselnd vertont. Schaut also für die Fortzsetzung unbedingt bei ihr vorbei.

Liebste Joseline,

es ist nun schon viele Monate her, dass ich Gelegenheit fand, dir zu schreiben. Ist es nicht seltsam, dass das Leben einen immer dazu treibt, seine Zeit mit Unwesentlichkeiten zu füllen, während man jene Dinge, die einem wirklich am Herzen liegen, nur allzu oft vernachlässigt? Jedenfalls hoffe ich, ja bete ich, dass du mich noch nicht vergessen hast. Denn allein diese besonderen Momente mit dir und die kostbaren Erinnerungen daran vermögen mein oft allzu finsteres Dasein zu erleuchten.

Claire jedenfalls gelingt dieses Kunststück noch immer nicht. Ja, es glückt ihr sogar noch viel weniger als zu früheren Zeiten. Waren meine nächtlichen Stunden mit ihr schon immer distanziert, kühl und pflichtschuldig gewesen, so sind sie inzwischen gar von einer Aura peinlicher Verlegenheit, ja beinah schon Traurigkeit erfüllt. Es verwundert mich nicht, dass sich derlei Aktivitäten immer seltener zwischen uns ereignen. Ohnehin habe ich sie nie dazu gedrängt, nicht einmal bevor du mich daran erinnert hast, welche Freude aus einer solchen Vereinigung erwachsen kann. Stattdessen waren diese ungelenken nächtlichen Annäherungen stets auf ihr Bestreben hin geschehen.

Vielleicht hat sie gehofft, das Eis zwischen uns auf diese Weise brechen zu können. Doch ich fürchte, manch ein Gletscher ist zu hart- und festgefroren, um selbst vom Wind der Wüstenlande geschmolzen werden zu können, sollte er sich je überraschend in diesen Gefilden zeigen. Es liegt natürlich nicht an ihr. Claire ist von ihrem Wesen her keine gänzlich unangenehme Frau, wie ich der Ehre halber eingestehen muss, auch wenn ich fürchte, damit deine Eifersucht zu schüren. Sie ist gut zu Tieren und Kindern und von nicht unbeachtlicher Intelligenz, auch wenn ihr der Humor fast gänzlich abgeht und sich beizeiten eine etwas übertriebene Blasiertheit ihrer bemächtigt. Auch sucht ihr Geschick in geschäftlichen Angelegenheiten seinesgleichen. Sicher ist dies auch der Grund, warum ihr von Krankheit gezeichneter Herr Vater ihr die eigentliche Führung der Geschäfte seiner Fabrik übertragen hat. Ihr eher der Jagd und Zerstreuung zugeneigter Bruder hingegen, ist nur das lächelnde, adrette und vor allem männliche Gesicht für die tumben Augen der rückwärtsgewandten Öffentlichkeit.

Doch vielleicht sollte ich mir nicht das Recht herausnehmen, zu hart über ihren Bruder zu urteilen. Im Grunde bin ich nicht so viel anders als er. Fürwahr, es gibt genügend Unterschiede. Mein Interesse gilt nicht zuvorderst dem Töten schwacher Geschöpfe, dem Tanz oder dem Konsum von geistigen Getränken. Viel lieber führe ich meinem Geist die Bücher von Poe, Lord Byron und anderen so dunklen wie genialen Geistern zu, versuche mich selbst an Gedichten und Prosa und suche von Zeit zu Zeit die kontemplative Versenkung in der Malerei, während ich dem einen, Unbekannten nachjage, was jene Maschine, die sich mal Welt, mal Tierreich und mal Menschheit nennt, im Inneren antreibt. Doch wenn ich mich aufrichtig im Spiegel meiner Seele betrachte, sehe ich doch einen Mann, dessen Schaffen und Geschick vom Wohlwollen und Vermögen einer Frau abhängt, die er nicht einmal liebt. Sollte sie mich fallen lassen, sollte sie dem vergeblichen Werben um mein abgewandtes Herz müde werden, so fände ich mich schneller mittellos in der Gosse wieder als ich blinzeln könnte und würde traurige Bilder in den Staub malen, die von den zerlumpten Stiefeln verbitterter Gestalten zertreten werden würden. Ohnehin frage ich mich, warum sie sich überhaupt um mich bemüht. Warum sie mich nicht endlich loslässt und mich vor meiner eigenen Feigheit bewahrt, auf dass ich jenen tiefen, ehrlichen Fall antreten kann, der meine Wiedergeburt oder mein Ende einläuten wird.

Natürlich, all diese weißt du bereits. Doch manchmal hilft es, die Sachverhalte dergestalt zusammenzutragen, wenn man Klarheit in seinen Geist zu bringen trachtet. Womöglich rührt dieses Bedürfnis auch von den rauen Küsten und der salzigen Gischt her, die meine Kammer umzingelt wie ein ungeduldiger Liebhaber seine Angebetete. Von den kleinen, ersterbenden Tropfen, die wie versprühtes Gift an meinen Fenstern kleben und der klammen, fiebrigen Kälte, die an manchen Tagen durch jede Ritze kriecht und nicht einmal von Kamin oder Kohleofen gänzlich vertrieben werden kann, während sie meine Kleidung durchtränkt und meine Bücher und Schriftstücke feucht und schmierig werden lässt.

Ja, wir sind umgezogen und das gehört sicher zu den Wendungen meines Lebens, von denen du noch keine Kenntnis erlangt hast. Umgezogen in ein nach Fisch und Einsamkeit stinkendes Haus auf einer schroffen, felsigen Anhöhe nahe der Küste und umgeben nur von ein paar kargen Farmen und verwittern Fischerhütten, deren einsilbige, unfreundliche Bewohner nur wenig dafür tun, uns die Eingewöhnung zu erleichtern.

Das kleine, Anwesen am Stadtrand, in dem du mich in manchen Nächten besuchtest und dessen weite Flure und Zimmer wir auf unsere eigene Art zu nutzen wussten, wann immer es Claire Besuche bei ihrem Vater erlaubten, gehört uns nicht mehr. Claire meinte, dass sie die Stadtluft krankmache. All die vielen Menschen, all der Lärm, der Dreck und insbesondere die Kutschen und Automobile. Ja, auf letztere hat sie einen regelrechten Hass entwickelt, so wie auf fast alle Errungenschaften der modernen Technik. Weder elektrisches Licht noch Telefone, Radios oder Telegrafen oder sonst einen Apparat duldet sie in ihrer Nähe. Dies – so viel muss ich zu meiner Verteidigung sagen – war auch einer der Gründe, warum ich mich nicht früher bei dir gemeldet habe.

Diese Technikfeindlichkeit sieht ihr gar nicht ähnlich, führt sie doch die Konserven- und Textilfabriken ihres Vaters mit ungebrochenem Eifer und planerischer Präzision. Auch hat diese neue Eigenheit keinen religiösen Kern, jedenfalls nicht im althergebrachten Sinne. Die Bibel, die wir im Hause haben, würdigt sie keines Blickes, sie spricht keine Gebete und auch die Kirche sucht sie nur selten auf und auch in anderen Dingen – wie etwa Speis und Trank oder den Sehnsüchten des Fleischlichen – erlegt sie sich keine sichtliche Mäßigung auf. Nein, ich glaube, diese Ablehnung der Ergebnisse moderner Forschung dient wohl weder der demütigen Askese, noch dem Bestreben, ihre Seele vor dem Höllenfeuer zu bewahren, sondern mag vielmehr ein Anzeichen für den langsamen Verfall, wenn nicht gar Zerfall ihres Geistes sein. Und sie ist nicht das einzige Anzeichen. Oft finde ich des Nachts, wenn ich aus unruhigen Albdrücken in jene kaum hellere Realität entfliehe, ihre Seite des Bettes verwaist vor. Wenn ich ihr dann nachspüre, treffe ich sie zumeist in unserer Küche an, wo sie Schubladen und Regale ein und ausräumt, unsere Vorräte zu einem ungenießbaren Schlamm verrührt und gelegentlich mit einer Gabel oder einem Messer Zeichen in die leere Luft malt oder eigenartige Linien und Symbole in das Holz graviert, deren Bedeutung – so sie denn eine haben – ich nicht einmal erahnen kann. Wenn ich sie dann anspreche oder berühre, zuckt sie zwar kurz zusammen und sieht mich an, wie jemand wohl die Erscheinung eines Geistes anstarren würde, fährt dann jedoch mit ihrem Tun fort.

Diese Dinge tat sie schon, als wir noch in der Stadt gewohnt hatten, doch seit unserem Umzug ist es noch schlimmer geworden. Gelegentlich finde ich sie nun nicht länger nur in der Küche, sondern auch draußen an der Brandung des Meeres oder am Rande der Anhöhe, wo ich manchmal fürchte und manchmal hoffe, dass sie sich einfach hinabstürzt. Auch wenn diese Gedanken sich weder geziemen noch von jener Menschlichkeit und Anteilnahme sprechen, die ich eigentlich für mich in Anspruch nehmen will. Am Schlimmsten jedoch ist es, wenn ich sie einmal doch in ihrem Bett vorfinde. Denn dann ist sie oft von Kopf bis Fuß durchnässt, trägt Algen in ihrem Haar und windet sich nervös hin und her, während sie Worte spricht, deren Sinn ich nicht entschlüsseln kann. Manche erinnern mich eher an fremde, mir nicht bekannte Sprachen, einen Satz jedoch kann ich entziffern: „Geboren auf den Inseln, dort wo es begann, erblindet und verschworen, dem rauen, silbern Klang“ wiederholt sie immer wieder. Weißt du vielleicht, was das bedeuten könnte? Mir erschließt es sich nicht.

Am Morgen jedenfalls, sobald sich die ersten verlorenen Sonnenstrahlen durch den nebligen Himmel bohren, ist sie wie ausgewechselt und wenn ich sie auf diese Dinge anspreche, reagiert sie wahlweise wütend oder mit freudlosem Gelächter und will von jenen Geschehnissen nichts wissen.

Du magst vielleicht meinen, dass es sich um gewöhnliches und harmloses Schlafwandeln handelt, aber so sehr ich das auch annehmen möchte, wenn ich in ihre verwirrten, umwölkten Augen blicke, glaube ich es leider nicht.

Diese Dinge belasten, ja ängstigen mich sehr. Aber noch weit mehr schmerzt es, dir so fern zu sein, nun, wo uns mehr als zweihundert Meilen trennen. Ich kann dir versichern, dass dieser Umzug nicht auf meinen Wunsch hin geschah, ja ich habe sogar versucht sie davon abzuhalten. Natürlich vor allem deinetwegen, aber nicht nur. Anders als viele künstlerisch gesinnten Gentleman hasse ich die Einsamkeit und kann der Natur nur wenig und dem dörflichen Leben noch viel weniger abgewinnen. Das Donnern der Maschinen, das Schnattern der Menschen, der Geruch der Zivilisation sind die Quellen, aus denen ich schöpfe. Und so geschah dieser Umzug nur, weil Claire hofft, so ihren inneren Dämonen entfliehen zu können, auch wenn ich inzwischen glaube, dass sie eher die Nähe genau dieser Dämonen gesucht hat.
Das Leben hier jedenfalls erscheint mir schier unerträglich. Nichts will mir gelingen oder Freude bereiten.

Ich fühle mich wie gelähmt, eingesperrt und gefangen gesetzt und auch wenn ich weiß, dass ich jederzeit gehen und ein Leben in Armut, Freiheit und Schande wählen könnte, so will ich dies doch nicht übers Herz bringen, genauso wenig wie ich bereit bin, mich in die gnadenlosen, wilden Fluten zu stürzen, die jeden Morgen nach mir zu rufen und jede Nacht nach mir zu brüllen scheinen.

Ich würde dich um Rat bitten, wie ich mit meiner Situation umgehen kann, aber so sehr ich mir diesen Rat auch wünsche, so kann ich so etwas wahrscheinlich nicht von der verlangen, wo ich dich durch mein langes, wenn auch teils erzwungenes Schweigen sicher tief gekränkt habe.

Trotzdem bitte ich dich, auch wenn ich es vielleicht nicht verdiene, erwärme mein Herz mit deinen wertvollen, erregenden Worten, berichte mir von schöneren und erquickenderen Dingen und mach mir die Zeit in dieser kalten, feuchten Wassergruft ein wenig erträglicher.

In Liebe und Leidenschaft
Dein Alton

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