Das erste Mal vergisst man nie

Sie malte sich genau aus, wie er aussehen mochte. Bestimmt war er groß und muskulös. Dunkle, schulterlange Haare. Braune, verführerische, aber auch leicht melancholische Augen. Der rebellische Typ. Einer, der einen Codex hatte. Der im Herzen ein Träumer war, aber nach Aussen ein knallharter Bastard.

Sie hatte ihn noch nie gesehen. Und doch wusste sie irgendwie, was sie hinter dieser Tür erwarten würde. Dieser Moment, wenn sie sich öffnete, würde ihr ganzes Leben verändern. Sie würde ihre Unschuld verlieren und wahrhaft erwachsen werden. Endlich kein kleines Mädchen mehr sein. Endlich voll und ganz dazugehören.

Ihr junges Herz pochte wie wild. Sie hatte ihr zeremonielles Kleid angelegt. Nicht etwa weiß, sondern rot, wie es nun einmal Brauch und der Gelegenheit angemessen war. Das gleiche Kleid hatte auch ihre Mutter getragen. Und auch ihre ältere Schwester. Es war so Tradition. Die beiden waren so stolz auf sie. Später, nach dem großen Moment, würden sie feiern und gemeinsam anstoßen. Auch ihre Freunde wären dann da. Dieser Moment aber gehörte allein ihr. Und dem Mann, den ihre Mutter und ihre Schwester für sie ausgewählt hatten.

Dass andere die Wahl für sie getroffen hatten, störte sie nicht. Die beiden wussten genau, was ihr gefiel.

Sie atmete noch einmal tief durch. Ihre Handflächen waren schwitzig. Die Aufregung ließ sich nicht leugnen. Sie überprüfte noch einmal sorgfältig ihre Aufmachung. Alles musste perfekt sein. Und das war es. Sie hatte alles, was sie brauchte. Etwas rotes und altes – nämlich ihr Kleid – und etwas geborgtes, das sie gerade in der Hand hielt.

Es machte keinen Sinn mehr, länger zu warten. Sie drückte den Türgriff mit der freien Hand herunter und öffnete die Tür. Sanftes Kerzenlicht und romantische Musik luden sie ein näherzukommen. Ihre Schritte fanden wie von selbst den Weg in das kleine Zimmer. Dort, am Boden sah sie ihn. Er sah genauso aus, wie sie es sich erträumt hatte. Nur, dass in seinen Augen eher Angst und Schrecken als Verführung und Melancholie lagen.

Nun, dachte sie, das Leben erfüllte einem nun einmal nicht alle Wünsche. Und ihre Enttäuschung setzte sich fort, als er den Mund öffnete. Zwar war seine Stimme dunkel, sinnlich und durchaus anziehend, aber auch in ihr lag Angst und sie trug nicht die Worte, die sie sich tausendfach erträumt hatte.

„Bitte. Ich will nicht sterben!“ flehte er und klang dabei enttäuschend weinerlich. „Lass mich gehen. Bitte!“ schrie er und Tränen und Rotz liefen an seinem eigentlich perfekten Gesicht herunter. Seine muskulösen Arme stämmten sich gegen die Seile, mit denen ihre Schwester und ihre Mutter ihn ans Bett gebunden hatten. Sie hatten eine besonders Art die Fesseln zu binden. Je mehr er sich wehrte, desto fester würden sie sich zuziehen. Trotzdem tobte er wie wild und brachte sogar kurz das schwere Eisenbett zum Wackeln. „Warum tust du das?“ fragte er mit von Verzweiflung gezeichnetem Gesicht. „Ich habe dir doch nichts getan! Wie kann man nur so kalt und grausam sein?“

Zorn stieg in ihr auf. Seinen rebellischen Geist in allen Ehren. Aber sie hatte sich immer gewünscht ein hingebungsvolles erstes Opfer zu haben. Jemanden, der die Bedeutung dieses Augenblicks für ihr Leben erkannte. So, aber fühlte es sich beinah an wie eine Vergewaltigung.

„Sei still!“ schrie sie ihn an. „Du machst alles kaputt. Du machst meinen großen Tag kaputt!“ Sie setzte ihm das von ihrer besten Freundin geborgte Messer auf die Brust. Direkt auf Herzhöhe, so wie sie es gelernt hatte. Er zitterte als das kalte Metall auf seine nackte Haut traf. „Bitte!“ bettelte er weiter „Ich tu auch alles, was du willst!“

„Das klingt doch schon viel besser“ lobte sie ihn sanft und drückte das Messer tief in sein Herz, während sie einen kurzen Kuss auf seine salzigen Lippen presste. „Ich will, dass du stirbst.“ Selbst jetzt versuchte er sich noch von seinen Fesseln zu befreien und scheuerte sich dabei die Hand- und Fußgelenke wund. Doch letztlich er tat er ihr den Gefallen. Sein Todeskampf war schön und poetisch und entschädigte sie sogar für sein unwürdiges Betteln.

Sie prägte sich jeden Moment ganz genau ein. Jedes Zucken und Zittern, den letzten Hauch seines Atems und ganz besonders das Brechen seiner Augen. Sie würde noch lange an diesen Moment zurückdenken. Zwar würde es noch viele Morde in ihrem Leben geben, aber sein erstes Mal vergaß man nie.

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