Einer der Besten

Philipp hielt vollkommen still und atmete ganz flach, während er auf dem Dach das dreistöckigen Gebäudes lag und sein Scharfschützengewehr diszipliniert auf die Straße gerichtet hielt. Er wusste, dass einer von ihnen hier durchkommen musste. Er hatte die Gegend lange Zeit genau ausgekundschaftet und wusste, dass sie keine andere Möglichkeit hatten, um an ihr Ziel zu gelangen. Jedenfalls nicht, wenn sie es noch rechtzeitig schaffen wollten. Natürlich hatte er schon ein wenig Angst, dass jemand das Treppenhaus hinaufkommen oder an der Feuerleiter hochklettern und in seinem Rücken auftauchen würde, aber andererseits hielten Thomas und Sven an diesen beiden Schwachpunkten Wache und er hätte es gehört, wenn jemand sie dort angegriffen hätte. Die Stille sprach jedenfalls eindeutig gegen ein solches Szenario. Ohnehin durfte er es sich nicht erlauben, sich ablenken zu lassen. Wenn er seinen Feind nur um wenige Zentimeter verfehlte, waren sie womöglich schon verloren.

Endlich gab es eine Bewegung. Nichts weiter als ein dunkler Schatten am Rande seines Sichtfelds und sein Finger reagierte noch weit vor seinem bewussten Denken. Das Fadenkreuz schwenkte herum. Ein kurzes Zucken und eine Kugel peitsche aus dem Lauf, die knapp am mit einer schwarzen Kapuze verhüllten Kopf des feindlichen Soldaten vorbeirauschte und krachend in die Wand schlug. Staub und kleine Mauerstücke wurden aufgewirbelt.

Mist, dachte Philipp, nun ist er gewarnt. Dieser Schuss war seine einzige Chance gewesen das Überraschungsmoment zu nutzen. Aber keine Panik, beruhigte er sich. Noch war es nicht zu spät. Noch war sein Feind nicht am Ende der Straßen angekommen. Der Mann, der ein schweres Sturmgewehr in den Händen trug, lief fortan im Zickzack, duckte sich, versteckte sich hinter Mülleimern und anderen Hindernissen, die sich in der Gasse befanden und tat auch sonst alles, um ihm das Leben schwerzumachen und sein Eigenes zu retten. Aber Philipp ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er versuchte gar nicht erst den wilden Ausweichmanövern des Feindes zu folgen und weitere Kugeln zu verschwenden. Er musste nur warten, bis sein Gegner ans Ende der Gasse kam. Dort gab es eine kleine Engstelle. Hier musste er durch. Er hatte keine Alternative. Seine Freunde waren bereits tot. Zwei davon hatte Philipp selbst erledigt. Es gab keine Hilfe mehr für ihn. Es gab nur noch ihn und das Gewehr des fast unsichtbaren Scharfschützen auf dem Dach. Und die Zeit lief ihm davon.

Während die Sekunden herunterzählten waren Philipps Nerven zum Zerreißen gespannt. Er liebte diese kleinen Psychospiele. Wann würde sein Kontrahent es wagen? Oder würde er es vielleicht sogar riskieren die Gefangenen im Stich zu lassen, um seine eigene Haut zu retten? Aber da schätzte er seinen Feind wohl falsch ein. Endlich, praktisch in letzter Sekunde stürmte der Soldat aus seiner Deckung und rannte springend und im Zickzack auf das Ende der Gasse zu. Doch so sehr er sich auch bemühte – die Enge der Gasse spielte Philipp in die Hände. Buchstäblich. Erneut krümmte sich sein Finger, eine zweite Kugel machte sich auf den Weg und diesmal durchschlug sie tatsächlich den Schädel seines Opfers und ließ eine kleine Fontäne aus Blut und Gehirnmasse aufspritzen. Einen Moment blieb der Mann noch aufrecht stehen, so als hätte er noch nicht begriffen, dass sein Leben nun zu Ende war. Dann knallte er wie ein gefällter Baum auf das staubige, heiße Kopfsteinpflaster.

„Team eins gewinnt!“ erschien auf seinem Bildschirm und Philipp ließ einen Triumphschrei erklingen. „Nehmt das, ihr Versager!“ tippte er in den Chat, erhielt aber nur zustimmende Kommentare seiner Teamkollegen. Seine Gegner bei „War of Pride“ antworteten praktisch nie, auch dann nicht, wenn sie mal eine Runde gewannen, was dank der wachsenden Fähigkeiten von ihm und seinem Team inzwischen nur noch selten geschah. Hätten die Spieler des gegnerischen Teams nicht so lebensnah und menschlich reagiert und hätte der Hersteller seiner Vermutung bei einer entsprechenden Anfrage beim Support nicht ausdrücklich widersprochen, wäre er fast davon ausgegangen, dass es sich dabei ausschließlich um KIs handelte. So aber vermutete eher, dass die Spieler entweder schüchtern waren, kein Englisch sprachen oder vielleicht auch irgendeine abgespeckte Version ohne Chatfunktion benutzten. Tatsache war jedenfalls, dass ihm das Spiel Spaß machte und er ziemlich gut darin war. Er belegte auf der nationalen Abschussliste bereits seit Wochen den fünften Platz und war nur noch wenige Kills von Platz vier entfernt.

Philipp war durchaus stolz darauf. Er brauchte das hier zum Ausgleich. Im echten Leben war er ein überzeugter und aktiver Pazifist und hatte es – gemeinsam mit vielen anderen Aktivisten und Demonstranten – sogar geschafft, dass die Regierung ihres Landes endlich jenen grauenhaften Krieg beendet hatte, der bereits so viele Menschenleben gefordert hatte. Im Grunde genommen hatte man nicht mal von einem Krieg sprechen können. Eigentlich war es schon eher ein bloßes Abschlachten oder sogar ein Genozid gewesen und die andere Seite hatte – wenn überhaupt – nur noch guerillaartigen Widerstand geleistet. Die meisten Opfer waren – das hatten Berichte des roten Kreuzes und von verschiedenen NGOs ergeben – inzwischen keine Soldaten mehr, sondern harmlose Zivilisten, die von Soldaten, Panzern, Flugzeugen und anderem Kriegsgerät gejagt und vernichtet worden waren, einfach, weil ihre schon längst nicht mehr existierende, damalige Regierung ihrerseits ein paar sehr dumme Entscheidungen getroffen hatte.

Seine Regierung hingegen, hatte nie die Verantwortung für die Menschenrechts- und Kriegsrechtsverletzungen übernommen, die dabei begangen worden waren und es stets als notwendige Intervention zur Wahrung der nationalen Interessen bezeichnet. Aber immerhin haben sie das Schlachten inzwischen eingestellt. Viele Jahre hatten Philipp und seine Mitstreiter deswegen immer wieder Demonstrationen veranstaltet, Petitionen gestartet und Kampagnen gefahren und letztendlich – als sie schon längst nicht mehr daran geglaubt hatten – hatten sie auch Erfolg gehabt, auch wenn die bevorstehenden Wahlen sicher auch ihren Teil zu der Entscheidung beigetragen hatten, sämtliche Truppen aus dem Land abzuziehen. Offiziell hieß es natürlich, dass die gesteckten Ziele der Militärintervention erreicht worden seien und der Rückzug nicht mit dem Druck der Straße zu tun hatte, aber das war letzten Endes egal. Hauptsache war, dass dieses barbarische Morden geendet hatte und nun so bald wie möglich wenigstens die Schlimmsten dieser Taten gerichtlich verurteilt werden würden. Philipp hatte die Bilder der weinenden, verletzten, verstümmelten und ausgehungerten Menschen noch immer vor Augen.

Insofern mag es wie ein Widerspruch klingen, dass Philipp seine wiedergewonnene Freizeit ausgerechnet für Kriegsspiele nutzte. Aber für ihn war das kein Widerspruch. Die Menschen hatten leider nun einmal gewisse dunkle, zerstörerische Triebe in sich und neigte zudem zum Tribalismus, zur Bildung von Gruppen, die sich voneinander abgrenzten und herablassend, wenn nicht sogar feindlich aufeinander schauten. Da war es doch besser diese Triebe beim Sport oder eben bei Computerspielen auszuleben als in der Realität. Auf diese Weise tat man niemandem weh und anders als diverse reißerische Medienberichte immer wieder zuverlässig behaupteten, hatte sich Philipps Aggressionspotenzial durch dieses Hobby nicht im Geringsten erhöht.

Philipps Gedanken kehrten aus der Vergangenheit zurück und konzentrierten sich sofort wieder auf das Hier und Jetzt als die neue Karte geladen wurde und ihr Team in eine Gebirgslandschaft katapultierte, in der sich ein kleines Dorf befand, in dem sich ihre Feinde verschanzt hatten und ihnen auflauerten. Dabei wurden ihre Feinde von rebellischen, KI-gesteuerten Partisanen unterstützt, die sich ebenfalls in den Häusern verborgen hielten.

Für diese Mission entschied Philipp sich nicht für sein Scharfschützengewehr, sondern nun ebenfalls für ein Sturmgewehr und während seine drei Teamkollegen ihm Deckung gaben, stürmte er sofort von ihrem Startpunkt am Gebirgsrand aus auf das kleine Dorf mit seinen schmucklosen Gebäuden zu.

Es dauerte nicht lang, bis die erstem Kämpfer sie aus dem Hinterhalt unter Feuer nahmen. Philipp duckte sich weg, schlug einen Haken und rannte dann kurzerhand in das ärmliche, flache Haus, in dem er nicht nur den Schützen, sondern auch einen anderen Kämpfer kurzerhand erledigte und sie in reglose Körper inmitten wachsender Blutpfützen verwandelte. Ein kurzer Blick durch das Fenster zeigte ihm, wie eine von Thomas geworfene Granate mit einer orangeroten Flamme im Nebenhaus detonierte. Fürs Erste kehrte Stille ein, aber Philipp wusste, dass es noch längst nicht vorbei war und weitere Feinde sich im Dorf verbergen würden. Sie mussten nur …

Plötzlich erschien eine Nachricht von Thomas auf dem Bildschirm:

„Philipp! Schalt den Fernseher an. Kanal zwei. Schalt den verfluchten Fernseher an. Sofort!!11!!1!!“

Verwirrt griff Philipp zur Fernbedienung des Gerätes, welches er normalerweise nur noch für Streamingdienste benutzte und schaltet auf den von Thomas genannten Kanal.

Das Bild einer blonden Nachrichtensprecherin mittleren Alters, die Philipp zumindest gelegentlich schon gesehen hatte, erschien auf dem Bildschirm. Ihr sonst so neutrales und bemüht seriöses Gesicht sah aschfahl aus, während sie die folgende Meldung verlas:

„… dem Bericht der Organisation ‚Power for Peace‘, der mittlerweile von mehreren unabhängigen Quellen bestätigt wurde, hat die Regierung schon vor einiger Zeit die Server des populären Ego-Shooters ‚War of Pride‘ und mehrerer anderer Spiele übernommen. Wie aus dem Bericht hervorgeht, wurden ausgewählten, besonders fähigen Spielern, anstatt der gewohnten, fiktiven Szenarien, reale Schauplätze mit echten Menschen gezeigt, deren Bewegungen digital in das Spiel übertragen wurden. Die Handlungen der Spieler wurden dabei ihrerseits an bewaffnete Drohnen übermittelt, die die Regierung entgegen ihrer Beteuerungen während ihres vermeintlichen Rückzugs im Kriegsgebiet zurückgelassen hatte. Bisher konnte noch nicht eindeutig festgestellt werden, wie lange genau diese Praxis schon verfolgt wurde, jedoch geht man aktuell von einem Zeitraum von etwa drei Monaten und schätzungsweise zweihunderttausend Opfern aus unter denen sich nicht nur Soldaten, sondern auch viele Zivilisten und sogar Kinder befinden sollen. Bisher hat die Regierung den Bericht noch nicht kommentiert, jedoch …“

Die Nachrichtensprecherin redete noch weiter, aber Philipp hörte gar nicht mehr richtig zu. Stattdessen sah er nur auf die beiden Toten, die noch immer in der kleinen Hütte in ihrem Pixelblut lagen, welches irgendwo auf der anderen Seite der Welt einer ganz realen Blutpfütze entsprach. Sie sahen aus wie harte, brutale, blutlüsterne und vor allem erwachsene Männer, aber wer sagte ihm überhaupt, dass ihr Äußeres auch nur im entferntesten der Realität nahekam? Vielleicht waren es Zivilisten. Handwerker, Wissenschaftler, Künstler oder einfache Leute, die nichts anderes gewollt hatten, als ihr Leben zu leben, so gut es ihnen eben möglich war, ohne das ihnen ein metallener Teufel, der von einem ahnungslosen Idioten gesteuert wurde, eine Kugel durch den Kopf jagte. Philipp fragte sich, ob die Menschen dort auf dem Boden Kinder hatten, Partner, oder andere Angehörige, die sie liebten. Vielleicht waren sie sogar selbst Kinder. Philipp wurde schlecht und er spürte, wie sich ein von Selbstekel ausgelöster Brechreiz in seinem Körper ausbreitete. Bevor er diesem jedoch nachgab, rief er das Menü von ‚War of Pride‘ und navigierte auf die Bestenliste. „2.786 Abschüsse“. Platz vier in der nationalen Rangliste.

Ja, er war nach wie vor einer der Besten. Nur seine Freude darüber hielt sich in Grenzen.

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