Newstart

Als Kind hatte Vivian Sandberg immer davon geträumt genau dort zu sein, wo sie jetzt war: Auf der Brücke eines interstellaren Raumschiffs, welches zu neuen, unbekannten Welten aufbricht. Das große Abenteuer, das Gefühl im Bauch, wenn man Dinge entdeckte, die man sich zuvor nicht einmal hätte Träumen lassen und die Möglichkeit sein kleines, muffiges Erdendasein für eine lange Zeit – oder auch für immer – hinter sich zu lassen. Ein Teil jenes Sternenmeers zu werden, dass sie sich in kalten, klaren Nächten stundenlang angesehen hatte, selbst dann noch, als ihre Mutter ihr bestimmt zum zehnten Mal prophezeit hatte, dass sie sich „den Tod“ holen würde. Bislang hatte sie noch nicht Recht behalten. Die kleine Vivian hatte weiter in den Himmel geblickt, hatte Raumschiffmodelle gebaut, Science Fiction-Filme gesehen, Bücher verschlungen und war in Gedanken schon seit sicher zwanzig Jahren Kommandantin gewesen. Jetzt war sie es wirklich. Doch die Realität war weit weniger glanzvoll als ihre Vorstellung.

„Wie weit ist es noch, Jonas?“, fragte sie ihren Navigator. Sie duzten sich hier Alle. Förmlichkeit und militärisches Protokoll waren inzwischen überflüssig geworden.

„Wenn man den Instrumenten glauben schenken kann, dauert es noch etwa zwanzig Minuten, bis wir Newstart erreichen.“, antwortete der Angesprochene.

Newstart war der Grund ihrer Reise. Ihr Sehnsuchtsort. Ihre Konstante in einem Wirbelsturm aus Variablen. Der Planet war der einzige lebensfreundliche Himmelskörper, den die Menschheit mit ihrer aktuellen Technik erreichen konnte. Und er war bewohnt. Höchstwahrscheinlich von intelligenten Wesen. Das zumindest legten die Bilder und Messungen jener Sonden nahe, die in die Nähe des Planeten gelangt waren.

„Wie sie wohl aussehen werden?“, sinnierte Jonas.

„Wahrscheinlich ganz ähnlich wie wir.“, vermutete Clara Jones, die Wissenschaftsleiterin der Crew, „Ihr Planet bietet beinah die gleichen Bedingungen wie die Erde und wenn bestimmte körperliche Eigenschaften sich in unserer alten Heimat als vorteilhaft erwiesen haben, gibt es keinen Grund, aus dem sie sich dort nicht entwickeln sollten.“

„Ihr Wissenschaftler!“, spottete Major Johnson, „Ihr denkt immer, dass ihr alles wisst. Und doch habt ihr es nicht geschafft unseren Planeten zu retten.“ Der muskulöse Mann mit dem harten Gesicht hieß mit Vornahmen eigentlich Mark, war jedoch einer der wenigen, der am alten militärischen Protokoll selbst jetzt noch festhielt, weswegen er darauf bestand, grundsätzlich mit seinem Rang angesprochen zu werden. Die meisten taten ihm den Gefallen. Clara Jones nicht.

„Ohne das Militär hätten wir es vielleicht geschafft.“, erwiderte Clara, „Wenn ihr nicht so viele Ressourcen in sinnlosen Kriegen vergeudet hättet, hätten wir …“

„Was für ein Schwachsinn!“, polterte Johnson, „Ohne das Militär wären Sie gar nicht hier oben, Schätzchen. Wir haben die Scheiße hier zum größten Teil finanziert und seit die erste Rakete in das Haus irgendeines Idioten gekracht ist, haben Konflikte und Kriege dafür gesorgt, dass sich die Raumfahrttechnik überhaupt entwickelt hat.“

„Das ist die kindischste, naivste, geschichtsfälschendste und hirnrissigste Behauptung, die ich in meinem gesamten Leben gehört habe.“, empörte sich Clara, „Meinen Sie ernsthaft, dass einer von euch blutgierigen Stiernacken auch nur einen Fliegenschiss zur Konstruktion dieses Schiffs beigetragen hat?“

„Ja, das glaube ich.“, sagte Major Johnson ruhig, „Und was auch immer Sie darüber denken: Das Schiff gehört dem Militär. Wenn Ihnen das nicht gefällt, können Sie ja gerne aussteigen.“

„Das Schiff gehört der Menschheit Sie Volltrottel, Sie können nicht einfach …“

„STOPP!“, brüllte Vivian und da sie für gewöhnlich jemand war, von dem man selten laute Töne hörte, verfehlte ihr Ausbrich seine Wirkung nicht. „In wenigen Minuten entscheidet sich das Schicksal unserer gesamten Spezies und selbst jetzt noch schaffen wir es nicht, uns wenigstens EINMAL zu vertragen. Bei so einem Verhalten brauchen wir uns wirklich nicht zu wundern, dass wir am Rande der Auslöschung stehen.“

Vivian holte tief Luft. „Offensichtlich habt ihr zu viel Langeweile. Also müssen wir das ändern. Clara, du sendest jetzt erneut unsere Botschaft an Newstart. Es gefällt mir gar nicht, dass sie uns noch immer nicht geantwortet haben und Major Johnson, sie holen George Sither von der Krankenstation ab. Es kann sein, dass wir bald sein Sprachtalent brauchen, falls die Bewohner uns antworten sollten.“

Beide nickten, wobei Major Johnson weit weniger begeistert schien als Clara. Aber Befehl war Befehl und so machte er sich gehorsam auf den Weg zur Krankenstation.

Vivian hoffte, dass es Sither inzwischen wieder besser gehen würde. Dieser altruistische Mistkerl war wegen Unterernährung zusammengebrochen, da er offensichtlich Teile seiner Rationen unter den Passagieren verteilt hatte und musste nun mühsam wieder aufgepeppelt werden. Dabei stand es um ihre Versorgung wirklich nicht gut. Natürlich hatten sie eine Menge Vorräte mitgenommen, aber sie waren nun bereits seit drei Jahren unterwegs und ehrlich gesagt war es ein Wunder, dass es ihnen überhaupt gelungen war, über diesen Zeitraum so viele Menschen am Leben zu erhalten. Etwa Zwanzigtausend Passagiere hatten auf der „Starseed“ Platz und Rettung gefunden. Auch wenn inzwischen einige von ihnen gestorben waren – ihre letzte Zählung hatte noch 17.232 Personen ergeben – hätte es noch viel schlimmer kommen können. Immerhin hatten sie kaum Zeit für die Vorbereitungen gehabt, von den Ressourcen ganz zu schweigen. Seit der globale Temperaturanstieg große Teile der Welt überschwemmt und andere in Wüsten verwandelt hatte, war die Versorgungslage immer kritischer geworden, während gleichzeitig nie dagewesen Massenfluchtbewegungen den Planeten erschüttert hatten, die die ohnehin zerbröckelnden staatlichen Strukturen in den Einwanderungsländern noch weiter destabilisiert hatten.
Der Hunger hatte sich von seinen traditionellen Herrschaftsgebieten in Afrika und Teilen Asiens wieder über die ganze, noch bewohnbare Welt ausgebreitet. Diktatoren und fremdenfeindliche Milizen hatten an Einfluss gewonnen und hatten versucht dem Strom der hungernden Flüchtenden mit nacktem Gewehrfeuer und Grenzzäunen beizukommen, die bald schon wieder überrannt worden waren. In diesem Chaos war es ein Wunder, dass es den verbliebenen, halbwegs rationalen Akteuren überhaupt möglich gewesen war, das Projekt „Starseed“ auf die Beine zu stellen.

Es war eine gigantische wissenschaftliche und logistische Leistung gewesen, die überhaupt nur gelungen war, weil verschiedene Staaten, Unternehmen, Forschungsinstitute und Freiwillige aus der Bevölkerung sich daran beteiligt hatten. Allen Beteiligten – die sich unter dem Namen „Survivors“ – vereinigt hatten, war klar gewesen, dass ihre Welt sich immer schneller auf den Abgrund zubewegte, aber anders als viele andere waren sie nicht völlig in Panik und Endzeitstimmung verfallen. Sie alle hatte ein gemeinsames Ziel geeint: Die Menschheit vor dem selbstverschuldeten Untergang zu bewahren. Doch trotz ihres hehren Ziels waren sie dabei nicht eben zimperlich vorgegangen. Lebensmittel, Baumaterialien und andere Ressourcen wurden einfach beschlagnahmt, Unternehmen, die sich nicht freiwillig anschlossen enteignet und jeder Unbefugte, der dem Bereich, in dem das Schiff konstruiert wurde, zu nahe kam, war gnadenlos erschossen worden, genau wie all jene, die gegen die Beschlagnahmungen protestiert hatten.

Jedes Mitglied der „Survivors“ hatte von diesen Gräueltaten gewusst und sie als Preis für die Rettung akzeptiert und so hatte sich niemand von ihnen mit Ruhm bekleckert. Noch schlimmer war es geworden als bekannt geworden war, wie viele Menschen auf dem Schiff Platz finden würden. Zwanzigtausend. Keiner mehr, keiner weniger. Man hatte geplant den größten Teil dieser Plätze – abzüglich von einhundert Offizieren, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Ärzten – unter den etwa zwanzig Millionen „Survivors“ zu verlosen. Diese Verlosungen wurden auch ordnungsgemäß durchgeführt. Jedoch waren die 99,9 Prozent, die man nicht ausgewählt hatte, nicht bereit ihren langsamen Tod zu akzeptieren. Die Meisten der Ausgelosten waren nie am Schiff angekommen. Stattdessen hatte es einen brutalen Kampf um den Zugang zum Raumschiff gegeben, bei denen sich die Leute todesmutig den waffenstarrenden Survivor-Soldaten entgegengestellt hatten, die zuletzt auch Selbstschussanlagen, Granaten, Bomben und sogar chemische Kampfstoffe eingsetzt hatten, um sich der Masse der Verzweifelten zu erwehren.

Die Zahl der Opfer war nie genau erfasst worden, ging aber sicher in die Millionen. Am Ende hatte die Führung der „Survivors“ entschieden, einfach die ersten 19.900 gesunden Männer und Frauen zwischen 16 und 40 auf das Schiff zu lassen, die es durch die Verteidigungslinien schafften. Kurzum: Aus einem fairen, demokratischen Losverfahren war das Recht des Stärkeren geworden.

Auch dieser Plan wäre beinah fehlgeschlagen, denn als der letzte Passagier zugestiegen war, hatten die heranstürmenden Nachzügler das Schiff zu zerstören versucht. Wütend hatten sie Kugeln, Steine, Stöcke, Granaten, Messer und alles andere, was sie in die Finger bekommen konnte, auf die startende Starseed abgefeuert. Trotz seiner dicken Hülle hätten sie das Schiff schwer beschädigen können, wenn man nicht zur Ultima Ratio gegriffen hätte: Man hatte die Minen angezündet, die auf dem ganzen Gelände angebracht worden waren und auf diese Weise für viele weitere Todesopfer gesorgt.

Der Start war eines der beschämenden und tragischsten Ereignisse im Leben von Vivian und vielen der anderen Passagiere gewesen, denn nachdem der vernebelnde Wahn der unbedingten Selbsterhaltung abgeklungen war, hatten viele von ihnen erst begriffen, was sie da eigentlich getan hatten. Sie hatten vielleicht die Hoffnung der Spezies Mensch am Leben erhalten, zugleich aber Millionen Menschen getötet und Milliarden Weitere zum Sterben zurückgelassen. Es war die Rechnung des Teufels, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Sie hatten viele geopfert, um wenige zu retten.

Die Jahre danach waren kaum besser gewesen. Das Schiff, welches sie gemeinsam gebaut hatten, mochte zwar den passenden Antrieb für insterstellare Reisen besitzen, einen Antrieb, wie man ihn lange Zeit für so gut wie unmöglich gehalten hatte. Jedoch war es trotzdem alles andere als ein Schmuckstück. Im Grunde hatte das Schiff mehr Ähnlichkeit mit einem tausendfach geflickten Schlauchboot als mit einem prachtvollen Sternenkreuzer. Die Konstrukteure hatten auf jede Ästhetik gepfiffen und zudem verschiedenste Materialien kombinieren, Alltagsgegenstände einschmelzen und an tausend Stellen improvisieren müssen. Das machte die Starseed nicht nur potthässlich, sondern auch anfällig für Störungen. Allein in den ersten drei Monaten hatten sie zweihundert größere Reparaturen an dem Schiff vornehmen müssen, davon dreißig in Ausseneinsätzen. Gleich viermal war es so schlimm gewesen, dass sie dem kollektiven Tod nur knapp von der Schüppe gesprungen waren. Zweimal hätte es beinah den Antrieb zerlegt, einmal standen die Lebenserhaltungssysteme fast vor dem Exitus und einmal hatte ein Asteroid ein so großes Loch in die Aussenhülle geschlagen, dass sie es nur mit Müh und Not hatten flicken können.

Hinzu kam der menschliche Faktor. Die Zwanzigtausend Passagiere waren knapp kalkuliert gewesen, was bedeutete, dass jedem von ihnen nur ein Minimum an Platz und praktisch keine Privatssphäre zur Verfügung stand. Zusammen mit der Gewissheit, dass die Heimat verloren und die Zukunft ungewiss war, dass Freunde, Partner, Kinder und Verwandte gerade auf der sterbenden Erde verhungerten und den Schuldgefühlen wegen all der Dinge, die jeder von ihnen im Kampf um einen Platz auf der Starseed getan hatte, braute sich ein gewaltiger, psychologischer Giftcocktail zusammen.

Wortgefechte, Schlägereien oder sogar Morde häuften sich und es war nur dem entschlossenen Eingreifen der anwesenden Soldaten, Psychotherapeuten und einiger emotional stabilerer Personen zu verdanken, dass sich das Schiff noch nicht in ein Massengrab verwandelt hatte.

Aber immerhin HATTEN sie überlebt und nun waren sie dem Ziel ihrer Reise ganz nahe. Einem Ziel, über das sie leider noch viel zu wenig wussten. Zwar hatten sie schon oft versucht die außerirdische Zivilisation, die auf Newstart lebte zu kontaktieren, aber sie hatten nie eine Antwort erhalten. Warum, darüber konnten sie nur spekulieren. Vielleicht verstanden die dort lebenden Wesen weder ihre Sprache, noch ihre mathematischen Kommunikationsversuche. Womöglich funktionierten ihre Gehirne so gänzlich anders, waren ihre Kultur und ihr Denken so verschieden von den Menschen, dass eine Kommunikation auf diese Weise so gut wie unmöglich war. Es war schwer, sich das Leben an einem solchen Ort vorzustellen. Wie sollten sie sich in diese neue Welt integrieren? Würde man ihnen einfache Arbeiten zuweisen, sie als Kuriosität präsentieren, sie als Ehrengäste willkommen heißen, sie vielleicht sogar in Forschungseinrichtungen schleppen und untersuchen?

Vivian persönlich hoffte, dass man ihnen einen kleinen Bereich auf dem Planeten reservieren würde, in dem sie sich eingewöhnen und eigenverantwortlich leben könnten. Ein wirklicher Neustart für ihre Spezies. Ein zweiter Versuch, der hoffentlich nicht so enden würde wie der Erste.

Die Schritte zweier Personen und die Stimme von Major Johnson rissen die Kommandantin aus ihren Tagträumen. „George Sither, Captain. Wie Sie befohlen haben.“, sagte der Major knapp.

Vivian drehte sich zu den beiden um. Sither sah noch immer erbärmlich aus. Dürr und mit blasser, schweißbedeckter Haut wirkte der gerade einmal 43-jährige Mann fast wie ein Pflegefall. „Wie geht es dir?“, fragte sie trotzdem.

„Ganz gut.“, log er, was man schon an seiner brüchigen Stimme erkennen konnte.

„Sei ehrlich zu mir.“, hakte sie nach, „Denkst du, dass du in der Lage bist, dich zu konzentrieren? Von deinen Fähigkeiten könnte es immerhin abhängen, ob wir unsere neue Heimat überhaupt betreten können. Wenn du durch irgendwelche Fehler eine Katastrophe auslöst, weil du noch immer halb im Delirium steckst, ist keinem von uns geholfen.“

„Es geht schon.“, bestätigte er, wenn auch eher trotzig als überzeugend. Trotzdem erschienen George Sithers Augen ihr klar genug. Sie würde einfach auf seine Worte vertrauen müssen. An Board befand sich kein Mensch, der auch nur eine annähernd große Sprachbegabung besaß. Sither war seit vielen Jahren die Adresse, wenn Archäologen oder Historiker alte Texte, Runen oder Hyroglyphen übersetzt haben wollten.

„Also gut.“, sagte Vivian, „Setz dich hin und warte auf deine Gelegenheit.“

George Sither nickte und nahm auf einem der gepolsterten Stühle platz.

Viviane sah auf die Uhr. Noch sieben Minuten und fünfundzwanzig Sekunden bis zu ihrer Ankunft im Orbit von Newstart.

Sie sah zu ihrer Wissenschaftsoffizierin. „Clara? Hast du inzwischen eine Antwort erhalten.“

Clara schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Sonst hätte ich euch längst Bescheid gegeben.“

„Was machen wir, wenn sie weiterhin nicht antworten?“, fragte Jonas.

Vivian dachte kurz nach. „In diesem Fall warten wir ab. Wenn wir einfach unvermittelt landen, könnten sie das als Invasion missverstehen.“

„Und wie lange warten wir?“, fragte Clara, „Was, wenn uns die Vorräte ausgehen?“

„Das müssen wir dann entscheiden.“, erwiderte Vivian. „Sich deswegen jetzt schon verrückt zu machen, führt zu nichts.“

Erneut kehrte Stille auf der Brücke ein, während die Uhr weiter rückwärts zählte. Auf dem Bildschirm sahen sie, wie „Newstart“ sich vor ihnen materialisierte. Eine von Land und Wasser bedeckte Kugel, wie die Erde, die jedoch nicht um eine orange-gelbe Sonne, sondern in einer engeren Bahn um einen kälteren, roten Zwergstern kreiste und deshalb rötlich schimmerte. Die Pflanzen auf dieser Welt würden dunkel oder schwarz sein müssen, um dieses Licht optimal nutzen zu können. Trotz all ihrer Sorgen und Bedenken freute sich Viviane auf ihre ersten Schritte auf der Oberfläche von „Newstart“. Jenes Kind von damals, welches sich noch immer irgendwo unter all den Schichten von Militärausbildung, Berufslaufbahn, Schuld und zur Selbstverteidigung aufgebautem Zynismus versteckte, war sogar geradezu elektrisiert vor Freude. Sie vermutete, dass auch die anderen ihren ganz eigenen Versionen dieser Gedankengänge nachhingen.

In all ihren Köpfen spielte sich ganz bestimmt der gleiche, erbittert geführte Kampf zwischen Hoffnung und Angst ab. Nicht nur hier auf der Brücke, sondern auch unter den einfachen Passagieren, die den sich näherenden Planeten ebenfalls auf einem eigenen Bildschirm in der Schiffskantine verfolgten.

„Eine Minute noch.“, sagte Vivian, auch wenn es natürlich jeder von ihnen die Augen fest auf den Countdown gerichtet hatte. Aus der fernen Kugel war inzwischen ein deutlich sichtbarer Globus geworden. Aus dieser Entfernung sah man bereits, dass Newstart – welches von einem kleineren unförmigen und einem etwa erdmondgroßen, runden Mond umkreist wurde – einen weltumspannenden Ozean besaß, der wahrscheinlich noch mehr Wasser führte als alle Meere auf der Erde zusammen.

Das war zum einen gut. Aufgrund der großen Nähe zu seinem Stern, befand sich Newstart in einer gebundenen Rotation um ihn und wandte seinem Zentralgestirn immer die gleiche Seite zu. Ohne einen solchen Ozean, der für Tempeaturausgleich sorgte, würde ihre potenzielle Heimat auf der einen Hälfte aus einer Eiswüste und auf der anderen aus einer Gluthölle bestehen, mit nur einem kleinen gemäßigten Streifen in der Mitte, der noch dazu wahrscheinlich ständig von mörderischen Winden heimgesucht werden würde. Zum anderen war es aber auch schlecht. Denn mehr Wasser bedeutete weniger Land und damit auch weniger Platz zum Leben.

Wie gebannt starten sie alle auf die einzige Hoffnung auf ein neues Leben, die sie noch hatten. Sie hatten ihren letzten Trumpf gespielt. Was nun kam, lag nicht mehr in ihrer Hand.

„Wir haben eine Antwort!“, schrie Clara plötzlich heraus und als Vivian das hörte, war die Erleichterung, die ihren Körper durchströmte so heftig, dass sie beinah umzukippen drohte. Und sie war nicht die einzige der es so erging. Alle auf der Brücke anwesenden jubelten und dankten lautstark dem Schicksal. Einige sogar auf Knien.

Einzig Major Johnson blieb nüchtern. „Wie lautet die Antwort?“, fragte er.

„Das können wir jetzt noch nicht wissen.“, warf Vivian ein, „Die Hauptsache ist doch erstmal, dass sie uns überhaupt geantwortet haben. Den Inhalt ihrer Botschaft muss George nun für uns entschlüsseln.“ Sie nickte dem blassen, dürren Sprachforscher zu.

„Das wird nicht nötig sein.“, antwortete Clara und das nervöse Zittern in ihrer Stimme versetzte Vivian sofort in Alarmbereitschaft.

„Wieso?“, fragte sie.

Clara schluckte hörbar. „Sie haben uns in unserer Sprache geantwortet.“

„Das … das ist unmöglich.“, sagte Jonas.

„Nicht wirklich.“, gab Geoerge Sither zu bedenken, „Sie vergessen, dass wir über viele Jahrzehnte Botschaften ins All geblasen haben. Radiosignale, Fernsehn, W-Lan, Handynetze. Wir haben sogar eine verdammte Schallplatte mit Bildern und Popsongs da hoch geschossen. Wer etwas über uns erfahren wollte, hatte keine besonders schwierige Aufgabe.“

„Und? WAAASS SAGEN SIE?“, wollte Viviane wissen, die es keinen Augenblick länger mehr ertrug, auf die Folter gespannt zu werden.

„Ich … ich lege es auf die Lautsprecher“, sagte Clara abwesend.

Plötzlich ertönt eine klare, tiefe, männlich klingende Stimme mit einem undefinierbaren Akzent, die aber dennoch verständlich die Worte sprach: „Wir wollen hier keine Fremden.“

Die Crew der Starseed hatte gerade noch genügend Zeit die Tragweite dieser Worte zu verstehen.

Dann löste sich ein heller Blitz von der Oberfläche Newstarts, jener neuen Heimat, die nie eine solche werden würde, hüllte die „Starseed“ in weißes, Millionen Grad heißes Feuer und machte den über jahre gehegten Träumen der Geflüchteten, all ihren Hoffnungen und Plänen von einer neuen und besseren Zukunft ein jähes Ende.

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