Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 1

Es ist schon beeindruckend. Als Fortgeschrittener habe ich die bizarrsten Orte besucht. Dystopische Megastädte, wunderschöne, fremdartige Landschaften, gigantische Himmelstreppen, geisterhafte Wälder, Seen aus Licht und Gärten aus Zahnrädern und doch hat der Anblick des Weltraums für mich nichts an Faszination verloren. So stehe ich unter der Kuppel des Efryums. Eingefroren und staunend, wie das Kind, das ich einst war. Der Junge, der sich zu den Sternen emporgesehnt hat, als höchstes aller Abenteuer. Als glitzernden, goldenen Schuss Fernweh für ein bedrängtes, erdengeplagtes Herz. Durch die durch Anys Wirken fast gänzlich transparent gewordenen Wände des Efryums betrachte ich den schwarzen, luftleeren, trockenen Ozean, den wir zu erforschen beginnen und fülle ihn gedanklich mit Leben. Mit ungezählten Abenteuern auf einer grenzenlosen Vielfalt von Planeten. Verzaubert von diesem Anblick, von diesem Wachtraum fällt es mir schwer, die Raketen, die uns von der Oberfläche Xakrischidaas wie ein Abschiedsgruß entgegenrasen, als die Bedrohung wahrzunehmen, die sie sind. Erst als einige davon das Efryum treffen, die bizarre, aber schützende pyramidenförmige Hülle, die uns vom Vakuum trennt, gelingt es mir, wieder in die Realität zurückzufinden.

Mehrere Erschütterungen jagen durch den Boden und durch die Wände und nur mit Mühe gelingt es mir und den anderen auf den Beinen zu bleiben. Mit Entsetzen stelle ich fest, wie sich winzige Risse im Boden auftun und für einen Moment bilde ich mir ein, den feinen, fremdartigen Geruch des Alls wahrzunehmen, kurz bevor die Schäden von unseren kleinen, automatischen Helfern repariert werden.

Doch meine Erleichterung darüber verflüchtigt sich sofort, als ich erkenne, dass eine weitere, viel größere Salve diesem ersten Bombardement zu folgen scheint.

„Any, verdammt!“, ruft Tarena panisch, „wir müssen etwas tun. Das sind mehr als hundert Geschosse. Die reißen uns auseinander!“

„Das werden sie nicht“, antwortet Any ruhig, „wir warten einfach ab.“

„Hast du den Verstand verloren? Wie kannst du …“, hebt Tarena zu protestieren an, aber Any unterbricht sie mit einer Geste.

„Warte ab“, wiederholt sie bekräftigend und wir alle beobachten, wie die tödlichen Flugkörper auf breiter Front näherrücken und sich – nur wenige Kilometer von uns entfernt – einfach … ausblenden. Ja, sie explodieren nicht etwa und sie lösen sich auch nicht urplötzlich in Luft auf. Stattdessen vervielfältigen sie sich sogar. Sie verdoppeln, vervierfachen, verachtfachen ihre Anzahl und verändern ihre Form, werden breiter, schmaler, größer und kleiner. Und zugleich verblassen sie. Mehr und mehr, bis sie schließlich gar nicht mehr zu erkennen sind. In dem Moment als sie auftreffen – oder eigentlich auftreffen sollten – glaube ich lediglich ein fernes Echo eines Aufpralls zu hören. Das Efryum jedoch bleibt davon vollkommen unbeeindruckt.

„Wie … hast du das gemacht?“, frage ich Any überrascht.

„Ich habe gar nichts gemacht“, erklärt sie nicht etwa erfreut, sondern eher traurig, „das ist das Werk von Astrera.“

„Was?“, wundere ich mich, „sind das nicht eigentlich unserer Feinde?“

„Nicht nur unsere. Die Feinde jeder Ordnung“, präzisiert Any, „seht euch den Planeten an.“

Genau das tue ich und bemerke mit Schrecken, dass auch dieser sich verformt und verändert. Der runde, verwirrende, aufregende Planet, auf dem ich Tarena begegnet bin, verformt sich wie ein Klumpen Lehm in der Hand eines wütenden Riesen, zerfließt in mehrdimensionale, absurde, fast schon nicht mehr geometrische Formen und zerspringt in dutzende kleinere, verwirrende, blasse Nachbilder. Anders als die Raketen löst er sich jedoch nicht gänzlich auf. Xakrischidaa bleibt tapfer an Ort und Stelle. Traurig, leblos und blass wie sein eigener, grotesker Grabstein. Und allein den Planeten anzusehen, bereitet mir seelische Schmerzen. Wenn auch nicht so starke, wie der Anblick von Tarena als ich zu ihr hinübersehe.

Sie zittert. In ihren inzwischen so menschenähnlichen Augen glitzern Tränen. Und ich kann ihre Gedanken fast erraten, bevor sie sie ausspricht.

„Meine Freunde … meine Jagdkollegen … mein … mein Stock … sind sie …“, erkundigt sie sich mit unsicherer, brüchiger Stimme, während sie den schlafenden Andy fester an sich drückt. Auch ich gehe zu ihr. Dann lege ich meinen Arm um sie und genieße ihre Körperwärme, während ich mir einrede, ihr Trost zu spenden. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob ich das hier nicht nur tue, um meine eigene Hilflosigkeit zu überspielen.

„Sie leben noch. Auf gewisse Weise“, erklärt Any, „doch sie haben nicht mehr viel davon. Ihr Bewusstsein ist zersplittert, ihre Tage getränkt von Chaos und Verwirrung. Sie leben rückwärts, seitwärts, gegenläufig. Sie schmecken bevor sie gegessen haben, sie spüren die Folgen von Handlungen, die noch niemand vollzogen hat. Sie sind sich sicher und unsicher, gefangen zwischen Erinnerung und Vergessen, zwischen Ja und nein, zwischen Morgen, gestern und niemals. Sie leiden, lachen, weinen und hassen, ohne zu wissen warum, in einem endlosen, unfassbaren Tag. Das Efryum hat sie und auch dich, Tarena, durch seine Anwesenheit gesammelt. Sie fokussiert. Diese Wirkung hat es auf alles.

„Warum zum Teufel haben wir sie dann verlassen?“, fragt Tarena wütend.

„Sollten wir lieber sterben?“, entgegnet Any ungewohnt emotional, „und mit uns der letzte Rest von Ordnung? Das nämlich wäre die Alternative gewesen. Die bittere Wahrheit ist, dass Astrera bereits gewonnen hat. Beinah zumindest. Sie haben in dieser und den meisten anderen Zeitlinien alles zerschlagen, was die Naturgesetze, die Kausalität, die kosmische Harmonie im Gleichgewicht gehalten hat. Das Efryum ist so ziemlich der letzte Anker von Normalität, der uns noch geblieben ist. Eines der letzten einsamen Schiffchen in einem Ozean des Chaos. Deshalb brauche ich euch. Deshalb brauchte ich die Daten von Projekt Gargona. Das hier ist die letzte Chance, den vollständigen Zerfall zu verhindern.“

„Aber warum habe ich von all dem nichts gesehen?“, wende ich ein, „ich habe seit unserem Treffen in Deovan unzählige Welten bereist. Ich hätte doch bemerken müssen, wie sich das Multiversum um mich herum auflöst. Ich erinnere mich zwar nicht an jedes Detail meiner Reisen, aber …“

„Selbst, wenn du dich erinnern würdest, hättest du es nicht bemerkt“, erklärt Any und wischte sich resigniert den staubig-roten Schweiß aus ihrem Gesicht, „ihr Fortgeschrittenen seid selbst wie ein Anker. Nicht so stark, wie das Efryum, aber dennoch … die Dinge ordnen sich um euch, selbst, wenn ihr euch entscheidet, Jünger des Chaos zu sein. Solange es noch etwas gibt, das existiert, wird es eure Nähe suchen, wie ein verlorenes Kind in der Dunkelheit. Deine letzten Reisen waren ein Schauspiel. Eine Kulisse. Ein Tanz der Toten, die den seltenen Besuch des Lebens ehren. Sobald du einen Schauplatz verlassen hast, ist er zurück in Elend und Chaos gestürzt.“

Das zumindest kommt mir bekannt vor, denke ich.

„Wenn alles verloren ist, welchen Sinn hat unsere Reise dann noch?“, fragt Tarena bitter, „wäre es da nicht noch besser gewesen, sich gleich in Nollotschs Obhut zu begeben?“

„Da spricht eine wahre Krebsbotin“, erwidert Any verschmitzt und an Tarenas Gesicht kann man ablesen, dass ihr diese Einschätzung ganz und gar nicht gefällt, „aber abgesehen davon, dass wir besser beraten wären, den Tod und das Vergessen zu wählen als uns in die Fänge des Planetenkrebses zu begeben, ist noch nicht alles verloren. Dank Adrian habe ich die Daten von Gargona und Abseits des Efryums gibt es noch eine letzte Zuflucht für uns. Neuratia. Mein Heimatplanet und zugleich eine gut verteidigte, hocheffiziente Waffenfabrik. Sobald wir dort angekommen sind, kann ich die Daten eingeben, die Waffe nach unseren Bedürfnissen anpassen und wir können damit beginnen zurückzuschlagen und das Multiversum von Astrera zu reinigen. Es wird eine mühsame Aufgabe werden, aber es ist eine Chance – unsere einzige Chance – für einen Neuanfang. Und wenn wir Glück haben, haben sich auch einige unserer überlebenden Verbündeten dorthin gerettet. Alles, was uns gelingen muss, ist heil dorthin zu kommen.“

„Ich bin nach wie vor nicht davon überzeugt, dass wir das Multiversum in die Harmonie bomben können oder sollten“, beharrt Tarena.

„Manchmal ist ein kompletter Neuanfang die einzige Möglichkeit, Ordnung zu schaffen“, antwortet Any, „und andere Optionen haben wir nicht.“

„Wie weit ist es bis Neuratia?“, frage ich.

„Nicht sehr weit“, sagt Any, „wir sollten in vier oder fünf Stunden dort sein.“

Plötzlich geht erneut eine Erschütterung durch die Pyramide als ein Bündel schwarzer, aber zugleich hell leuchtender Energieblitze in das Efryum einschlägt, das mich verdächtig an die Geschosse aus meiner ehemaligen Armwaffe und aus Karmons Brust erinnert. Diesmal zeigen sich ziemlich starke Risse in der Struktur der fliegenden Pyramide und geben Anys kleinen Helferlein eine Menge zu tun.

„Verdammt! Wo kam das her?“, frage ich. Noch immer leicht geblendet, versuche ich am dunklen Himmel die Quelle der Geschosse ausfindig zu machen, als ich vor der mit schmierigen Sternen gespickten Dunkelheit, endlich drei nur minimal hellere Bereiche ausmache.

„Dort ist irgendwas“, sage ich, „Raumschiffe womöglich.“

„Mit Sicherheit sogar“, sagt Any, zückt eines ihrer Pendel und bewegt es in einem engen, ovalen Bogen. Kurz darauf werden die drei Angreifer in ein goldenes Licht gehüllt, das sie deutlich vor dem Hintergrund hervorhebt. Die unbekannten Schiffe sind länglich, geformt wie raue, breite Stalagmiten und erinnern an eine Mischung aus erstarrter Lava und dem, was man für gewöhnlich beim Bleigießen erhält.

„Das sind Trekjonen des Dunklen Dorns“, urteilt sie, „Astreras finstere Speerspitze. Deshalb sind sie so schwer erkennbar. Anscheinend hat man unsere Flucht nicht nur auf dem Planeten bemerkt.“

„Wieso sind sie überhaupt in der Lage zu feuern?“, fragt Tarena, „sollten sie nicht unter demselben Chaos leiden wie alle anderen?“

„Das sollten sie“, stimmt Any zu, „unter normalen Umständen. Aber zum einen sind sie in unserer Nähe und zum anderen werden sie mit ziemlicher Sicherheit einen Fortgeschrittenen an Bord haben.“

„Warum setzen sie den Angriff dann nicht fort, war das nur ein Warnschuss?“, fragt Tarena.

„Unwahrscheinlich“, sagt Any, „ihre Waffen brauchen nur eine gewisse Zeit, um nachzuladen. Für gewöhnlich greifen sie fast unsichtbar aus dem Hinterhalt an und vernichten ihr Ziel mit dem ersten Schuss. Aber das Efryum ist ein recht harter Brocken. Das bringt uns einen gewissen Vorteil. Zu viele weitere Treffer sollten wir trotzdem besser nicht riskieren.“

Any zückt ein großes, goldfarbenes Pendel, ohne das erste dabei loszulassen und schwingt es in einer ausgreifenderen, vertikalen Bewegung. Der Effekt lässt nicht lange auf sich warten. Noch bevor die Schiffe des dunklen Dorns eine weitere Salve auf uns abfeuern, löst sich von Any ein Ring aus leuchtend weißer Energie. Er rauscht knapp über unsere Köpfe hinweg, passiert die Wände des Efryums so mühelos, als wären sie wirklich durchlässig und trifft dann alle drei angreifenden Schiffe auf einmal seitlich in den Rumpf. Die Wirkung ist verheerend.

Die nadelförmigen Schiffe leuchten im Eintrittsbereich des Rings hell auf. Wie Blut bei einer Schnittverletzung tritt geschmolzenes Metall hervor, kurz bevor die Oberteile der Kampfschiffe einfach von ihren Unterseiten herabrutschen. Eine große Explosion gibt es nicht. Die Überreste der Schiffe treiben einfach nur reglos wie geköpfte Riesen im Raum. Wer oder was auch immer sich aber an Bord befunden hatte und nicht schon beim Einschlag des Energierings verdampft ist, ist nun der gnadenlosen Leere des Alls ausgeliefert.

„Gute Vorstellung!“, lobe ich Any, stelle jedoch besorgt fest, dass sie schwankt und sehr blass ist.

„Danke“, sagt sie matt, „dummerweise hat das Efryum selbst praktisch keine Waffensysteme und meine Kraft ist endlich. Dieses Manöver erfordert … viel Energie. Hoffen wir, dass es nicht noch einmal nötig sein wird.“

Mir liegt eine Erwiderung auf den Lippen, doch ich belasse es bei einem verschwörerischen Blick zu Tarena. Offenbar wissen wir beide, dass so etwas Wunschdenken ist. Wenn es stimmt, was Any gesagt hat und wir so ziemlich die letzten sind, die Astreras Zielen im Weg stehen, ist davon auszugehen, dass sie alles tun werden, um uns auszuschalten. Ich zumindest würde es tun.

„Ich werde unseren Antrieb beschleunigen“, eröffnet Any, die sich auf den Boden des Efryums gesetzt hat und ihr Pendel wie einen imaginären Krückstock umklammert hält, „das wird uns zwar viel Energie kosten, aber wir können unsere Reserven in Neuratia erneuern und wenn wir es nicht dorthin schaffen, spielt das ohnehin keine Rolle mehr.“

Wir beide nicken, auch wenn ich mir gar nicht sicher bin, ob Any überhaupt nach unserer Zustimmung gefragt hat und bereits Sekunden später bemerken wir am etwas schnelleren Vorbeiflug der Sterne, dass wir tatsächlich beschleunigen. Gleichermaßen verträumt und ängstlich starre ich in die Leere und beobachte die Himmelskörper, die abhängig von ihrer Nähe zu uns mal mehr und mal weniger starke Nachbilder, Verformungen und Unschärfen besitzen. Manchmal taucht aus dem Nichts ein Planet auf, der vorher noch nicht sichtbar gewesen ist, wird kurz riesengroß, nur um dann wieder ins Nichts zu verschwinden und gelegentlich glaube ich auch blasse, geisterhafte Schiffe an uns vorbei oder auf uns zufliegen zu sehen. Doch da keines davon ein wie auch immer geartetes Interesse an uns zu zeigen scheint, gehe ich davon aus, dass es sich um nichts anderes als um Auflösungseffekte der Raumzeit handelt. Diese ganze Reise hat etwas Unwirkliches und zugleich fühlt sie sich nicht wirklich nach einer Reise an.

Zwar höre ich die beinah unendlichen Straßen der nahen, fernen und noch ferneren Welten rufen und spüre, wie sie meine Neugier und meinen Entdeckergeist kitzeln, doch zugleich wird mein Fernweh nicht wirklich herausgefordert. Es ist, als stünde ich vor einer unendlichen Fülle an Möglichkeiten. Als könnte ich jeden nur denkbaren Schritt in die Weiten des Multiversums tun, nicht einmal beschränkt vom engen Korridor meines Katalogs. Und zugleich weiß ich, dass jeder dieser Schritte gleichermaßen sinnlos wäre. Dass jedes Geheimnis schale Erfindung und jede Entdeckung profane Illusion wäre. Es macht mich traurig, ja lässt mich beinah verzweifeln und zugleich birgt es einen gewissen Frieden. Denn es wirft mich zurück auf den Moment, auf einen Augenblick, in dem ich nichts falsch machen kann, da das, was ich erreicht habe, schon das maximal mögliche ist. Ein Zustand, der wie ein Spiegelbild von Zufriedenheit ist. Verdreht, durch eine dünne Glasscheibe getrennt und doch auf gewisse Art dasselbe. Ein Zustand, der mich für einen Moment an den erinnert, der ich einst war. Damals, in meinem Dorf, in dem meine Zukunft noch so ungeschrieben wie ungreifbar gewesen ist.

Das leise, surrende Geräusch, mit dem sich das Efryum fortbewegt und das Schweigen von Any, die sich in einem Zustand zwischen Schlaf, Meditation und Konzentration zu befinden scheint, verstärken diese Stimmung nur noch mehr.

„Wenn mir früher jemand erzählt hätte, dass ich zusammen mit meiner Freundin und der letzten Hüterin des Multiversums am Rande der Apokalypse durch das Weltall jage, hätte ich ihm dringend empfohlen, weniger zu kiffen“, sage ich mit einem Augenzwinkern zu Tarena und bin mir unsicher, ob dabei Sentimentalität oder Verlegenheit aus mir sprechen.

„Glaubst du wirklich, dass wir Freunde sind?“, fragt Tarena zynisch und zerreißt damit die einzigartige Stimmung dieses Moments.

Zugleich muss sie bemerkt haben, wie sehr mich ihre Worte verletzt haben. Sie kommt näher und ergreift meine Hand.

„Das hätte ich nicht sagen sollen“, sagt sie bedauernd, „zumal ich nicht wirklich so empfinde.“

„Du hast jedes Recht dazu“, gestehe ich bitter ein, „ich meine, manche Leute beenden Beziehungen wegen eines vergessenen Jahrestags oder unterschiedlichen Vorstellungen von Haushaltsführung. Da hab ich schon deutlich mehr abgeliefert.“

„Du hast auch viel Gutes getan“, sagt Tarena, „du hast mir neue Welten und Gedanken eröffnet. Du hast mir Kinder geschenkt und … im Grunde hast du auch genug Grund mich zu hassen. Nicht viele belohnen ihre Vergewaltigerin mit Zuneigung. Auch wenn ich dir nicht schaden wollte, die Angst, die du damals gefühlt hattest, war real und nicht wieder gutzumachen. Dennoch … es ist so viel passiert … Ich glaube, wenn man zu viele negative Erfahrungen macht, verwandelt das einen unweigerlich, selbst wenn kein Planetenkrebs seine Finger im Spiel hat. Trotzdem sollten wir Freunde sein. Wir haben zu viel gemeinsam durchlitten, um es nicht zu sein.“

„Freunde. Aber nicht mehr?“, frage ich und komme mir dabei vor wie ein Charakter aus einer Teenie-Romanze. Aber gut, so so viel Zeit ist auch noch nicht verstrichen, seit ich ein Teenager gewesen bin und manche Grundfragen ziehen sich wohl einfach durch das Menschsein. So profan sie auch sein mögen.

„Adrian, der Fortgeschrittene, der Bezwinger von On-Grarin, der Vernichter von Uranor, Konor und was weiß ich noch für Welten, denkt in solchen Schubladen?“, erwidert Tarena halb ernsthaft.

Ich sehe sie grinsend an, bemüht meine Enttäuschung hinter Fröhlichkeit zu verstecken. „Hey, es ist auch noch nicht lange her, dass ich ein ordnungsfixierter Roboter war, der sich nicht ohne Scheuklappen durch die Welt bewegen konnte. Da sollte dich das nicht wundern.“

„Any hat dich repariert“, entgegnet Tarena.

„Dafür fühle ich mich aber ziemlich kaputt“, erwidere ich bitter und als ich zu Tarena blicke, lese ich in ihren Augen Mitleid. Nicht unbedingt das, was man dort zu sehen erhofft, wenn man jemanden auf romantische Art liebt.

„Es gibt keinen Grund für deine Verbitterung“, sagt Tarena, „wir sind, was wir sind. Und ich erkenne deine Bemühungen durchaus an. Lass uns einfach abwarten, was die Zeit bringt.“

„Sieht nicht so aus, als wäre die noch sonderlich zuverlässig oder als hätten wir noch besonders viel davon“, sage ich nachdenklich, während ich in das verzerrte Weltall blicke, „aber du hast schon recht. Man kann ohnehin nichts erzwingen. Mir hätte nur der Gedanke gefallen, dass alles zwischen uns in Ordnung ist, nun da das Ende so nah ist.“

„Eine Lüge wird dadurch nicht besser, dass man sie nur kurze Zeit erzählen muss“, antwortet Tarena erneut nicht sehr diplomatisch, „außerdem sagt mir etwas, dass unsere Geschichte noch nicht vorbei ist.“

„Dieses etwas ist aber nicht zufällig Nollotsch, oder?“, frage ich neckend.

„Nein“, sagt Tarena ernst, „zumindest glaube ich das nicht. Ich höre ihn sogar, weißt du. Nur ab und an. Ich glaube, er will mir etwas mitteilen, aber diese Veränderungen in den Naturgesetzen scheinen es nicht zuzulassen. Doch das hier ist anders. Mehr wie eine Intuition.“

Kaum da sie dieses Wort ausgesprochen hat, wird die fast vollkommene Stille zerrissen von einem lauten, schrillen Quietschen. Es ist so intensiv, so schmerzhaft, dass Any sofort in die Höhe schießt, Andy beginnt zu brüllen und Tarena und ich uns mit aller Kraft die Hände auf die Ohren pressen.

Dann, auf einen Schlag, endet es und mitten in der Luft erscheint eine rechteckige Projektion. Sie zeigt die Brücke eines Schiffes und fünf Personen. Im weitesten Sinne. Zwei davon sind mir völlig unbekannte Tronhiire, ein Zwillingspaar aus Männchen und Weibchen, deren finsterer Gesichtsausdruck den der Verbindung Zoenhir noch deutlich in den Schatten stellt. Die anderen jedoch kommen mir verdammt bekannt vor. So bekannt, dass ich für einen Moment an eine ziemlich verworrene Illusion glaube.

Zu ihnen gehört eine Bravianerin mit kahlrasiertem Kopf, verschiedenen Tätowierungen und schwarz umrandeten Augen, gehüllt in ein reich verziertes, zeremonielles Gewand. Neben ihr steht eine schlanke, selbstbewusste Andrin mit einem grausamen Lächeln und in einem schwarzen Ganzkörperanzug voller Stacheln, bestickt mit den Gesichtern schreiender Kreaturen. Und ganz vorne eine blau schimmernde, wunderschöne Cestral mit einem bitteren, zornverzerrten Gesicht und gerüstet mit Sahkschas Rüstung.

„Ich hoffe, wir haben nun eure Aufmerksamkeit“, sagt Elyvenne, die desillusionierte, zynische Cestral, die sich seid ihrer Zeit an Sandras Seite noch einmal deutlich zum Schlechteren verändert hat.

„Ein einfaches Hallo hätte auch gereicht, Elyvenne“, antworte ich, noch bevor Any oder Tarena das Wort ergreifen können, „was wollt ihr von uns? Wolltest du mir noch ein paar Beleidigungen an den Kopf werfen, die du damals in Konor noch nicht ausgesprochen hast?“

„Mein Name ist Munnaka“, stellt die vermeintliche Cestral richtig, „doch aus Elyvennes Erinnerungen weiß ich, was für ein aufgeblasener Idiot du bist. Trotzdem geht es überraschenderweise einmal nicht um dich, sondern um das Multiversum. Any, ist es, mit der ich reden will.“

„Und was sollte eine Kwang Ana mir mitzuteilen haben?“, fragt Any, die sich inzwischen wieder gesammelt und aufgerichtet hat.

„Die Botschaft stammt nicht nur von mir, Zahnradhure, sondern vom gesamten momentanen Rat von Astrera“, erwidert der dunkle Kwan Grong, der offenbar die Seele von Elyvenne verschlungen hat. Und sie lautet folgendermaßen: Neuratia ist gefallen und all deine Knechte aus ihrer Gefangenschaft befreit. Genau wie die Gesamtheit aller Dinge, die sind. Dies ist der letzte Tag an, dem wir uns an irgendwelche Gesetze halten müssen. Alles ist fortan möglich. Jeder Weg, auf jedem einzelnen Pfad und in jede nur denkbare Richtung. Alles, was uns noch im Weg steht, bist du und dieses hässliche Ding, in dem du dich versteckst.“

Ich beobachte Any genau. Sie hat sich erstaunlich gut im Griff. Trotzdem glaube ich zu bemerken, dass sie noch blasser geworden ist als zuvor.

„Woher weiß ich, dass ihr die Wahrheit sagt?“, antwortet Any.

„Ob du uns Glauben schenkst oder nicht ist vollkommen egal“, meldet sich die Andrin Razza lachend zu Wort, „dran glauben müssen, wirst du ohnehin!“

„Garwenia“, mische ich mich nun doch wieder ein, „wie kannst du diesen Wahnsinn unterstützen? Du magst mich hassen und das nicht ohne Grund und vielleicht auch die Menschheit an sich. Aber sieh dich doch um: Das, was ihr geschaffen habt, ist eine Hölle und jetzt soll sie unumkehrbar werden? Das kannst du unmöglich wollen!“

Garwenia sieht mich an. In ihren herrschaftlich überlegen blickenden Augen liegen tatsächlich Zweifel. Doch sind sie stark genug?

„Von dir nehme ich keine Ratschläge an“, sagt Garwenia nach einem kurzen Moment des Schweigens, „weder ich noch das bravianische Volk.“

Während sie spricht, glaube ich die Tronhiire bestätigend nicken zu sehen und fühle mich an eine Geiselnahme erinnert. Und doch glaube ich nicht, dass es so einfach ist. Garwenia ist wohl in erster Linie eine Gefangene ihrer eigenen Entscheidungen.

„Wir haben unsere Zukunft gewählt“, sagt sie unsicher und ich habe beinah den Eindruck als würde sie versuchen, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, „wir alle haben uns für die grenzenlose Freiheit entschieden. Und selbst, wenn ich es für falsch hielte, so habe ich meinen Leuten nichts mehr zu befehlen. Die Zeit der Regeln ist vorbei, Adrian. Und deine Zeit ist es auch.“

„Mit eurer Entscheidung bestimmt ihr nicht nur über euch, sondern über jedes Lebewesen im Multiversum“, versucht Tarena zu intervenieren, „dazu habt ihr kein Recht.“

„Genug. Die Ära der Diplomaten und ihrer wohlklingenden Halbwahrheiten gehört der Vergangenheit an, Krebsbotin“, entgegnet Munnaka mit dem Mund der Cestral, „jetzt gilt allein die unverfälschte Wahrheit in unser aller Herzen und das ursprüngliche Gesetz des Willens. Das Multiversum wird ein einziger, gigantischer Seelenwirbel. Und ihr könnt daran teilhaben, wenn ihr wollt und schnell genug seid. Um euch diese Chance zu geben, haben wir euch kontaktiert. Verlasst das Efryum, solange ihr noch könnt. Denn in zwei Minuten werden wir beginnen, es in Staub zu verwandeln.“

Kaum da Munnaka geendet hatte, schaltete sich die Übertragung ab und lediglich ein unheilvoller, in schwarzen Zahlen projezierter Countdown blieb auf den Wänden des Efryums zurück. Das Letzte, was ich von der Brücke des Astrera-Schiffes sah, war das innerlich zerrissene Gesicht von Garwenia und das vorfreudige Grinsen von Razza und den Tronhiire.

Kurz darauf tauchen rings um uns hunderte Schiffe unterschiedlichster Bauart auf. Goldene, verspielt verzierte Kreuzer, schwarze Nadeln, dunkelgrüne Scheiben und rote, wuchtige Raumkolosse, deren Design mir nur allzu vertraut ist. Immerhin habe ich in der Zeit meiner Co-Herrschaft in Konor an ihrem Design mitgewirkt. Anders als früher scheinen die Rorak-Schiffe jedoch inzwischen deutlich manövrierfähiger zu sein. All diese Gefährte verteilen sich in einem sorgsam geplanten Manöver, bauen eine Art schwebende Mauer um uns auf und machen es uns praktisch unmöglich zu fliehen.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass wir die nicht alle vernichten können?“, frage ich Any.

„So ist es“, antwortet Any, „wir können mit viel Glück vielleicht die Hälfte von ihnen ausschalten, aber spätestens dann würden sie uns in Asche verwandeln und die Kernachse mit uns.“

„Was also tun wir jetzt?“, fragt Tarena, „das Efryum evakuieren und auf Gnade hoffen?“

„Auf keinem Fall!“, sagt Any hart, „selbst wenn wir das wollten, ginge das nicht. Das Efryum hat keine Jäger oder Rettungskapseln an Bord. Nur die Drohnen und die sind nicht für einen bemannten Flug geeignet.“

„Ich lasse Andy nicht sterben!“, beharrt Tarena, „es muss einen Ausweg geben.“

„Den gibt es“, sagt Any und ihre Stimme klingt auf einmal schwermütig, „für euch zumindest.“

„Wie meinst du das?“, erkundige ich mich, während der Countdown auf einer Minute und acht Sekunden steht, „und beeil dich besser mit der Erklärung.“

„Das, was Astrera angerichtet hat, hat auch seine Vorteile. Der Weg in die Vergangenheit ist so einfach wie nie. Zwar ist sie zersplittert in Trilliarden Vergangenheiten, aber hiermit kannst du einen neuen Hauptpfad schaffen und ihn stabilisieren“, sagt Any und reicht mir ein kleines Pendel, welches mir sehr bekannt vorkommt.

„Das hier kenne ich. Aber sonst versteh‘ ich nur Bahnhof“, antworte ich verwirrt, nehme das Pendel dennoch entgegen und schiele unruhig zum Countdown. Noch dreiundvierzig Sekunden.

„Sie will uns in die Vergangenheit schicken und das alles hier ungeschehen machen“, schlussfolgert Tarena. Und daran, dass sie recht schnell spricht, bemerke ich, wie nervös auch sie ist.

„Nicht ganz“, korrigiert Any, „ich will, dass ihr andere Geschehnisse zu den Wesentlichen macht. Aber das Prinzip ist ähnlich.“

„Und wie sollen wir das anstellen?“, frage ich noch immer etwas überfordert mit dem Gedanken.

„Ihr habt diese finstere Allianz gesehen. Diese Verbindung aus Hass, Sadismus und falschen Entscheidungen. Sorgt dafür, dass sie gar nicht erst entsteht. Und stellt sicher, dass jene überleben, die auf unserer Seite kämpfen würden. Führt die Gesamtheit der Dinge auf einen Pfad der Ordnung. Um das zu tun, werde ich euch in das frühere Rihn schicken, kurz nach deiner Ankunft dort. Wendet euch an mein damaliges Ich und an die Version von dir, die ihr dort antreffen werdet. Du, Adrian, musst dich mit ihr vereinigen, um die Dinge zu beeinflussen.

Da du dadurch langsam deine Erinnerungen an alle zukünftigen Ereignisse verlieren wirst, musst du sie aus den Archiven sichern. Dein Pendel ist – unter anderem – auch ein Whe-Ann-Datenstick. Er enthält alles, was ich weiß und wird weiteres Wissen aufnehmen können. Speichert diese Zeitlinie und ihre verhängnisvollen Pfade darauf und überbringt diese Informationen der damaligen Any. Sie wird euch sagen können, was ihr tun müsst.“

„Was zur Hölle hast du geraucht?!“, frage ich fassungslos, doch ich erhalte keine Antwort.

Denn genau dann endet der Countdown und eine Welle von Erschütterungen rüttelt das Efryum kräftig durch. Vor unseren Augen detoniert ein Feuerwerk aus dunklen und hellen Lichtern. Schutt fliegt umher, die Kuppel über uns kollabiert, kleine Explosionen fegen durch die Pyramide und die Drohnen wuseln herum, um das Schiff instandzusetzen. Dabei arbeiten sie so emsig und verzweifelt wie Schiffbrüchige, die das Wasser aus ihrem lecken Rettungsboot schöpfen. Geblendet von all den Lichtern und in der Hoffnung, so zu verhindern, dass der Schutt meine Augen in ein schlabbriges Sieb verwandelt, strecke ich mit geschlossenen Lidern die Hand nach Tarena aus und kann schließlich eine ihrer Klauen ergreifen.

„Passt auf euch auf!“, höre ich Any rufen und ein surrendes Geräusch sagt mir, dass sie mitten in diesem Inferno ein weiteres ihrer unzähligen Pendel schwingt, „wir werden uns nicht wiedersehen. Nicht in dieser Form.“

Dann reißt eine weitere, gewaltige Detonation das Efryum auseinander und während Hitze, Kälte und das gierige Vakuum gleichermaßen nach uns und der Kernachse greifen, verschwinden wir aus dieser Zeit.

~o~

Meine von der verheerenden Explosion geblendeten Augen müssen sich gar nicht groß umgewöhnen. Zwar ist das Licht in Rihn nicht annähernd so hell, wie damals in Uranor, aber die kräftige, weißliche Sonne dieser Welt hat auch ohne die geborgte Energie falschen Glaubens eine beachtliche Wirkung. Es liegt jedoch nicht an den Sonnenstrahlen allein. Der Boden des hohen Kristallgebirges, auf dem ich so nahtlos erwache, als hätte ich schon immer dort gestanden, trägt durchaus seinen Teil bei.

Seine milchig-weiße Beschaffenheit, scheint in ungeübten Augen eine milde Form von Schneeblindheit zu erzeugen. Auch, wenn der unangenehm warme Boden sonst ganz sicher nichts mit Schnee gemein hat. Immerhin stehen Tarena, Andy und ich auf einer relativ ebenen Fläche, wie ich erkennen kann, als es mir gelingt, meine zu Schlitzen verengten Augen etwas weiter zu öffnen. Genauso gut hätten wir auf einer der zahlreichen, scharfkantigen, nadelartigen Erhebungen landen können, die überall aus dem Boden ragen. In diesem Fall wäre unsere Zeitreise äußerst kurz ausgefallen.

Ich warte ein paar Sekunden ab, bis ich mich traue, meine schmerzenden Augen endgültig zu öffnen, und stelle fest, dass sich das Gebirge noch ein ganzes Stück über und unter uns fortsetzt. Nicht nur in milchigem Weiß, sondern auch in Rot-, Grün-, Violett- und Silbertönen. Normales Gestein scheint es hier so gut wie gar nicht zu geben. Vielmehr scheint alles hier aus Edelsteinen und Metallen zu bestehen. Selbst der hohe, mit einer ovalen Spitze ausgestatteten Turm aus Bergkristall, der sich glitzernd aus den Nebelbänken des Tals erhebt und bei dem es sich – wie ich weiß – um einen Teil der gläsernen Archive handelt. Auch wenn dieser Anblick wunderschön ist und jedem nach Schätzen gierenden Drachen vor Freude einen Herzinfarkt beschert hätte, erinnert er mich seltsamerweise nicht zuerst an eine Schatzkammer. Eher an eine mit Blutergüssen, blauen Flecken und Wunden übersäte Leiche mit ziemlich scharfen Zähnen.

Entweder hat mein Sinn für Romantik und Ästhetik also bei diesem Zeitsprung schweren Schaden genommen oder etwas in mir ahnt, dass diese Schönheit trügerisch ist. Nun, im Grunde ist es ja nicht mal eine Ahnung. Ich weiß es ja sogar aus eigener Erfahrung. Wenigstens fast. Diese Erinnerungen sind nicht sofort in meinem Bewusstsein präsent, aber zumindest, wenn ich mich darauf konzentriere, kann ich mir die Ereignisse und Tragödien meines noch nicht geschehenen Besuchs in Rihn klar ins Gedächtnis rufen. Es ist … ziemlich verwirrend. Aber wohl nicht viel verwirrender als Zeitreisen oder die bevorstehende Begegnung mit mir selbst.

„Wie geht es euch?“, frage ich Tarena, als ich mich wieder auf etwas anderes als mich selbst und die fremdartige Umgebung konzentrieren kann.

„Mir überraschend gut, wenn man bedenkt, dass ich vor ein paar Sekunden noch in einem Inferno gestanden habe“, antwortet Tarena, während sie sich die verschwitzen Haare aus dem Gesicht streicht, „und auch Andy scheint wohlauf zu sein. Nach den Beschreibungen deiner Reisen mit der Portalmaschine, hatte ich mir das anders vorgestellt. Hast da etwa jemand seine Heldentaten ausschmücken wollen?“

Ein vertrautes Zwinkern nimmt der gespielten Empörung in ihrer Stimme die Spitze.

„Ganz sicher nicht. Mit der Portalmaschine zu reisen ist wirklich kein Vergnügen. Das hier ist etwas anderes. Es ist mehr als …“, beginne ich.

„… als wäre man schon immer hier gewesen“, ergänzt Tarena nachdenklich.

„Genau!“, stimme ich ihr zu, „aber trotzdem will ich hier nicht mehr sein. So langsam habe ich das Gefühl, dass meine Schuhe samt den Füßen darin gekocht werden.“

„Eine solche Hitze spüre ich noch nicht“, meint Tarena, „aber dennoch hast du recht. Wir sollten direkt aufbrechen. Wenn es stimmt, was Any gesagt hat, dann müssen wir dich finden, bevor wir irgendetwas am künftigen Sieg von Astrera ändern können. Weißt du zufällig, wo du damals nach deiner Ankunft als erstes hingegangen bist?“

„Ja“, sage ich nach kurzem Nachdenken und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, „natürlich direkt mitten hinein in die größten Schwierigkeiten.“

~o~

Der Weg durch Rihn verlief bislang verdächtig ruhig. Zumindest, wenn ich bedachte, wie schnell sich die Ereignisse – und Katastrophen – nach meiner Ankunft in früheren Welten entwickelt hatten. Zwar musste ich von Zeit zu Zeit höllisch aufpassen, nicht auf dem glatten Untergrund auszurutschen und in eine mit scharfkantigen Kristallen gespickte Schlucht oder gleich den ganzen Weg hinab ins neblige Tal zu rutschen. Und nach dem, was ich von Pingo erfahren hatte, gab ich auch auf jede noch so kleine und womöglich infektiöse Kristallspitze acht. Aber weder hatte mich etwas oder jemand töten wollen, noch wurde ich bislang von irgendjemandem geprüft, zwangsverpflichtet, verstümmelt oder versklavt und soweit ich wusste, hatte ich mir auch noch keine tödliche Krankheit eingefangen.

Zugegeben, ich verspürte durchaus ein unangenehmes Kratzen im Hals, jedoch ging ich davon aus, dass dieses allein von dem feinen Kristallstaub in der Luft stammte. Dieser wurde nämlich bei den gelegentlichen und eigentlich erfrischenden Windstößen vom Boden aufgewirbelt und selbst mit vorgehaltener Hand konnte ich ihn nicht ganz davon abhalten, in Mund und Nase zu gelangen.

Auch meine trockenen Augen führte ich auf jene Ereignisse zurück. Zugegeben, die möglichen Folgen davon, rasiermesserscharfe Mikro- und Nanopartikel einzuatmen, bereiteten mir schon Sorgen. Aber zum einen hatte ich keine andere Wahl, als mich dem auszusetzen, und zum anderen beruhigte ich mich damit, dass die Rihn-Ha ja damit auch irgendwie fertig wurden. Den Gedanken, daran, dass dies einfach an den Besonderheiten ihrer Physiologie liegen könnte, verdrängte ich ganz bewusst.

Ohnehin war ein anderes Problem viel drängender. In meinem verzweifelten Bestreben, Deovan hinter mir zu lassen, hatte ich nämlich nicht daran gedacht, mich mit Proviant auszustatten. Im Gebäude von New Day hatte ich zwar noch das ein oder andere zu mir genommen, aber es war schon viele Stunden her, dass ich etwas getrunken oder gegessen hatte. Dummerweise erweckte die Umgebung nicht den Eindruck über so etwas wie Seen, Flüsse oder gar Vegetation zu verfügen. Ich konnte also wohl nur darauf hoffen, einen anderen Wanderer zu treffen, den ich um einen Teil seiner Vorräte bitten oder ihn notfalls darum erleichtern müsste. Oder darauf, dass ein Tier oder eine andere Kreatur vorbeikam, die schwächer war als ich, deren Fleisch essbar war und deren Blut so salzarm war, dass es meinen Durst stillen konnte. Good Luck, Adrian.

Aber hey, immerhin lebte ich noch und ich hatte doch auch schon in den kargen Maschinengärten irgendwie überlebt. Bevor ich verdursten würde, konnte ich ja immer noch den Katalog benutzen, nun, da ich ihn endlich wieder bei mir hatte. Wenn mich irgendeine Version von Any danach aufspüren und mir für mein Versagen die Pulsadern mit ihrem Pendel filetieren würde, würde ich wenigstens gesättigt sterben. Und falls das nicht geschah, konnte ich entspannt abwarten, wie die Schöpfung ins haltlose Chaos abrutschte und zu meiner persönlichen Theaterbühne verkam. Nicht die beste Idee vielleicht.

Andererseits war ja nicht gesagt, dass es in den Nadelwelten von Rihn wirklich keine Vegetation und kein Wasser gab und sich nicht doch in irgendeiner Höhle etwas derartiges verbarg. Die Rihn-Ha mussten ja auch von irgendetwas leben. Und überhaupt: Was wusste ich schon über diese Welt? Im Grunde ja fast gar nichts. Und für jemanden, der für Fernweh und Neugier lebte, waren das eigentlich ziemlich spannende Voraussetzungen.

Von diesem Gedanken ein wenig motiviert, konzentrierte ich mich wieder auf mein Ziel. Ich musste es irgendwie hinunter ins Tal zu den Gläsernen Archiven schaffen und dort nach Anys Kontaktmann fragen. Eigentlich ganz simpel. Dummerweise konnte ich nicht einfach am Rand des Gebirges hinab durch den Nebel klettern. Nicht nur, dass die Sicht dort viel zu schlecht und der Kristall besonders glitschig und rutschig war, es war auch viel zu steil. In meiner Zeit auf der Erde hatte ich schon kein Interesse am Bergsteigen gehegt und meine Abenteuer haben mir zwar ein wenig die Angst vor der Höhe genommen, mir jedoch nicht auf wundersame Weise die Fähigkeit verliehen, blind fast glatte Kristallwände von unbekannter Höhe hinabzukraxeln.

Selbst mein flüchtiger Gedanke, einfach meine Kompassnadeln in die Steilwand zu schießen und mir so eine Art Treppe zu schaffen, erwies sich als erbärmliche Comiclogik. Nicht nur, dass die Nadeln mein Gewicht nicht gehalten und mir höchstens vor dem Fall die Hände zerschnitten hätten, es war aus dieser Höhe und bei den Sichtverhältnissen auch unmöglich, die nötigen Abstände abzuschätzen. Nein, wenn ich hier runter wollte, musste ich eine Art Bergpfad finden, vielleicht auch eine Treppe oder eine Höhle, die mich hinabführte.

Diese Überlegung war es auch, die mich dazu gebracht hatte, stattdessen die leicht abschüssigen Kristallflächen hinabzusteigen – und teilweise zu rutschen – was mir bislang auch ganz gut gelungen war. Ich hatte leider keine Möglichkeit, das genau zu messen, aber ich vermutete dennoch, dass ich nach etwa einer halben Stunde auf diese Weise bereits einige Höhenmeter hinter mich gebracht hatte. Dummerweise war diese Art des Vorankommens recht kräftezehrend, was mein Problem mit dem Proviant nur noch akuter werden ließ und zugleich wurde es immer heißer.

Ich blickte hinauf zur Sonne und vermutete, dass sie in ihrem Zenit stand, konnte das aber auch nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin wusste ich ja nicht mal, wie lang ein gewöhnlicher Tagesrhythmus auf Rihn dauerte und vor allem wusste ich nicht, was dort in der Nacht geschah. Wurde es hier nach Sonnenuntergang erträglich kühl oder bitterlich kalt? Und kamen des Nachts vielleicht die Raubtiere heraus, die tagsüber schliefen? Immerhin hatte ich auf meinem zurückgelegten Weg gelegentlich etwas unter dem Kristall hervorscheinen sehen. Schemenhaft und undeutlich zwar, wie durch dickes Eis, aber dennoch klar genug erkennbar.

Seltsame, verkrümmte Formen, mal von dunklem Grau und mal bunt glitzernd, die sich von Zeit zu Zeit kurz aber deutlich geregt hatten, so als würden sie träumen – oder bald erwachen. Ganz gleich, ob es sich dabei um etwas handelte, was sich aus reiner Angst vor der Umwelt versteckte oder mit der Absicht auf den richtigen Moment für einen Angriff zu warten – in beiden Fällen gefielen mir die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergaben, gar nicht.

Ein Grund mehr, es schnell hinab ins Tal zu schaffen, bevor die Sonne unterging. Leider erwies sich dieses Vorhaben spätestens nach einer weiteren halben Stunde als vielleicht etwas zu optimistisch. Dann nämlich gelangte ich auf ein Plateau, von dem aus sich für mich drei mögliche Wege ergaben. Der erste davon führte einen Hang aus demselben milchigen Kristall hinauf, über den ich die letzten Stunden gelaufen war, der aber ganz offensichtlich nicht in die gewünschte Richtung führte. Zu meiner rechten schlängelte sich sogar ein rauer Trampelpfad hinab, jedoch inmitten einer Fläche aus pechschwarzen Kristall. Als ich diesen vorsichtig mit dem Finger berührte, entfuhr mir ein Schrei, denn es fühlte sich so an, als hätte ich die Heizstäbe eines auf 280 Grad vorgeheizten Backofens angepackt.

„Verfluchte Scheiße!“, rief ich und betrachtete meinen krebsroten von kleinen, flüssigkeitsgefüllten Brandblasen übersäten Zeigefinger, der intensiv nach verschmorter Haut roch. Selbst, wenn ich über diese Fläche sprinten würde, würde ich nach zehn Sekunden wie geschmolzene Plastikfolie auf der Oberfläche kleben.

Der letzte Ausweg, der mir blieb, war eine Höhle aus bläulichem Kristall, die zwischen diesen beiden Pfaden lag und die so eng und abschüssig war, dass die eher an eine Röhre oder Rutsche erinnerte. Und womöglich war sie das sogar, selbst wenn mir schon beim bloßen Gedanken, mich auf dieses Wagnis einzulassen, fast mein karger Mageninhalt hochkam. Andererseits wirkte diese „Rutsche“ so, als wäre sie nicht natürlich entstanden, sondern von irgendwem angelegt wurden. Der Kristall darin war vergleichsweise kühl und an der Decke der röhrenartigen Höhle waren sogar kleine Griffe aus Metall angebracht.

Womöglich war dies noch die beste Möglichkeit, meinen Weg fortzusetzen. Immerhin wollte ich ja nach unten, oder nicht? Vorsichtig langte ich mit meiner linken Hand nach einem der Griffe, als ich hinter mir eine warnende Stimme hörte.

„Das würde ich lieber lassen“, hörte ich diese Stimme rufen. Sie war tief und sonor, wenn auch nicht auf eine dämonische oder unheilvolle Art. Als jemand, der nicht so lange überlebt hatte, weil er jede Warnung in den Wind schlug, drehte ich mich um und sah einen Rihn-Ha, der mich stark an Pingo erinnerte, auch wenn er zumindest keine sichtbaren Anzeichen eines Steingeweihten an sich hatte. Nun, genau genommen sah er eigentlich ganz anders aus als Pingo, wenn man davon absah, dass er zur selben Spezies gehörte.

Dieser Mann war muskulöser, trug einen Bart und hatte schulterlange Haare, die vor Kristall- und Metallstaub glitzerten. Er war auch ein ganzes Stück größer als der Pyritgeweihte. Wenn mich nicht alles täuschte, sogar über zwei Meter. Außerdem trug er eine cremefarbene Robe mit Verzierungen aus Silber und Bergkristall, eine Hose in der derselben Farbe, einen silbernen Gürtel und seltsame Schuhe, an deren Sohlen kleine Nadeln befestigt waren und die an eine Kreuzung aus Sandalen und Schlittschuhen erinnerten. Um seine Schultern hatte er eine rote Tasche aus dickem Echsenleder geschlungen und an seinem Gürtel baumelte eine ebenfalls aus Kristall gefertigte Waffe. Sein Mund wurde bedeckt von einer Art Maske, die über seinen Lippen ruhte, wie ein Netz aus feinporigem Kristall, jedoch weder seine Sprache, noch seinen Atem zu behindern schien.

„Warum?“, fragte ich skeptisch, noch immer mit einer Hand am Griff der Rutsche.

„Diese Rutsche führt in eine Juink-Echsen-Grube. Dort hat man früher Verbrecher hinabgestoßen, bis der Rat der Unwissenden sich bei den Welthütern beschwert und sie solche Strafen verboten haben. Bedauerlich, wenn du mich fragst, aber das ist das Wesen der Dinge. Sie sind in Bewegung, ob wir es wollen oder nicht.“

„Wie lange ist das her?“, wollte ich wissen.

„Zehn Jahre etwa“, antwortete der Fremde.

„Sind die Echsen dann nicht längst verhungert?“, wand ich ein.

„Möglich“, entgegnete der Rihn-Ha, „auch wenn ihre Zahl sehr groß war und Kannibalismus bei Hunger immer eine Option ist. Aber das spielt keine Rolle. Die Höhe ist so gewählt, dass die Delinquenten halbtot und kampfunfähig auf dem Boden ankommen. Ist das eine Erfahrung, nach der du strebst?“

„Eher weniger“, sagte ich, „aber die Kochplatte dort ist auch nicht besser.“

Ich zeigte auf die Fläche aus schwarzem Kristall, deren Wärme ich selbst aus dieser Entfernung noch spüren konnte.

„Weißt du, wie ich ins Tal komme? Zu den Archiven?“, fragte ich ihn.

„Das sollte ich wohl wissen“, sagte der Mann lächelnd, „immerhin arbeite ich dort.“

„Du bist ein Welthüter?“, fragte ich, mich an den Begriff erinnernd, den Pingo benutzt hatte.

„So ist es“, sagte der Mann, „mein Name ist Argo und der Weg über die schwarze Ebene ist der, den du suchst. Nur kann man ihn nicht bei Tag beschreiten. Wir müssen warten, bis sich der Kristall genügend abgekühlt hat.“

„Wir?“, fragte ich, ein wenig erleichtert über die Aussicht einen ortskundigen Führer zu bekommen, „du musst auch hinunter ins Tal?“

„Ja“, bestätigte Argo, „ich war lediglich auf einer kleinen Forschungsmission. In den Archiven erwartet man bereits sehnsüchtig meine Ankunft. Wenn du magst, können wir hier ein Lager aufschlagen und uns ein wenig unterhalten, bis der Weg wieder frei ist. Dann können wir gemeinsam hinuntergehen.“

„Gerne“, sagte ich, woraufhin sich Argo zu mir begab und sich neben mich setzte.

„Es ist immer spannend, jemand Neues kennenzulernen. Wenn man mit so vielen Geheimnissen zu tun hat, ist der persönliche Kontakt mit Fremden eines der letzten Mysterien“, sagte Argo, „und mir würde es gefallen, ein wenig von diesem Geheimnis zu lüften. Fangen wir zum Beispiel mit deinem Namen an.“

„Adrian“, sagte ich.

Argo sah mich zugleich verärgert und verwundert an, „eigenartig. Das ist nicht die Wahrheit und trotzdem lügst du nicht.“

„Ich bin ein Fortgeschrittener“, antwortete ich erklärend, davon ausgehend, dass dieser Mann sicher wusste, was dieser Begriff bedeutete, „wir vergessen unsere wahren Namen.“

„Oh ja, von diesem Phänomen habe ich gehört“, sagte Argo und seine Miene hellte sich etwas auf, „jedoch kommt es interessanterweise nicht bei jedem Fortgeschrittenen vor. Wir leben in einer Welt von Wahrscheinlichkeiten, nicht von absoluten Gewissheiten. Das zeigt sich immer wieder.“

„Wo wir gerade von absoluten Gewissheiten sprechen. Ich fühle mich nicht gerade wohl, bei dem Gedanken, mit einem lebendigen Lügendetektor zu sprechen“, sagte ich offen heraus.

„Oh, das bin ich nicht“, wiegelte Argo lächelnd ab, „jedenfalls nicht, wenn es um kompliziertere Sachverhalte geht. Namen sind einfach und klar. Zeig mir eine Banane und nenne sie Kirsche und ich weiß, dass das die Unwahrheit ist. Aber sobald Dinge wie Absichten, Ideologien, Pläne, Theorien, Vermutungen, Selbsttäuschung, Emotionen und dergleichen ins Spiel kommen, wird es kompliziert. Hier können nur die Archive Klarheit bringen und auch, wenn mein Kontakt mit ihnen auf mich abgefärbt hat, trage ich sie nicht in mir. Wenn es darauf ankommt, kannst du mich also so gut oder schlecht belügen wie jedes andere Individuum im Multiversum.“

„Und das soll ich dir glauben?“, fragte ich und zog dabei eine Augenbraue hoch.

„Das kann ich dir nicht beantworten. Auch ich kann lügen. Aber es zu glauben, würde dich entspannen, oder nicht?“, sagte der Mann lächelnd.

Das lausbubenhafte Grinsen von Argo machte es mir schwer, in ihm eine Bedrohung zu sehen.

„Dann will ich es mal glauben“, antwortete ich, „wenn du mich auf irgendeine Weise hintergehst oder dein Wissen gegen mich benutzt, kann ich dich ja immer noch beseitigen.“

Ich sagte dies so freundlich und humorvoll, dass es nicht unbedingt wie eine direkte Drohung rüberkam, jedoch genug Restunsicherheit blieb, um meine Worte so verstehen zu können.

„Dann stimmt es wohl, was man über euch Fortgeschrittene sagt“, antwortete Argo im Ton eines blasierten Gelehrten.

„Was sagt man denn über uns?“, fragte ich und setzte dabei mein bestes Bad-Ass-Gesicht auf.

„Dass euch die ganzen Reisen durch düstere, hoffnungslose Welten in verbitterte, misstrauische und humorlose Gestalten verwandelt“, erläuterte Argo schmunzelnd.

„Ist das so?“, fragte ich.

„Eindeutig. Zum Glück kenne ich eine Therapie“, begann Argo und diesmal beschloss ich, meine Klappe zu halten und abzuwarten, worauf seine Worte hinausliefen.

„Gutes Essen und erbauliche Geschichten“, sagte er verschmitzt, holte einen Laib Brot, einige rötliche, birnenförmige Früchte und eine Art Trinkschlauch hervor, der jedoch leer war und an dessen Mundstück mehrere Nadeln aufragten.

„Das klingt wirklich heilsam“, sage ich nun doch etwas freundlicher. Immerhin war ich tatsächlich ziemlich hungrig und durstig, „besonders der erste Teil der Therapie. Auch wenn ich mich frage, was man mit diesem Schlauch trinken soll. Etwa Blut?“

„Das wäre damit tatsächlich möglich“, überlegte Argo laut und hielt dabei den leeren Schlauch etwas in die Höhe, „der enthaltene Entsalzer würde selbst Blut trinkbar machen. Aber so ein barbarischer Akt wird zum Glück nicht nötig sein. Es gibt andere Quellen.“

Mit diesen Worten führte er die Öffnung des Trinkschlauchs ruckartig nach unten und rammte sie in den Kristall. Fasziniert sah ich dabei zu, wie sich der Schlauch mit einem schlürfenden Geräusch füllte und – nachdem ihn Argo anhob, ohne einen Tropfen zu verschütten – ein Häufchen weißen Kristallstaubs zurückließ.

„Ist das Magie?“, erkundigte ich mich.

„Zu unwesentlichen Anteilen“, erklärte Argo, „hauptsächlich ist es Physik. Auch Kristalle enthalten Wasser. Es kommt nur darauf an, es ihnen zu entreißen. Im Grunde ist es, wie eine Frucht auszupressen. Nur ein wenig raffinierter.“

Er fuhr leicht mit dem Finger über den Rand, woraufhin sich die Nadeln zurückzogen. Dann nahm er selbst einen kleinen Schluck und reichte mir den Schlauch. Vorsichtig, wie ich war, schnüffelte ich daran. Es roch erdig und mineralisch, aber nicht unappetitlich. Dann blickte ich hinein und bemerkte, dass die Flüssigkeit glitzerte.

„Das Glitzern ist harmlos. Die Partikel sind so fein und glatt, dass sie dem Körper nicht schaden. Es ist lediglich eine kleine optische Besonderheit. Das Wasser ist sogar sehr gesund und äußerst mineralhaltig“, beruhigte mich Argo.

Nun war ich sicher nicht scharf darauf vergiftet zu werden, aber zum einen hatte mir Argo demonstriert, dass er selbst dieses Wasser bedenkenlos trank und zum andern war das Wasserangebot in dieser Welt nicht eben üppig. Also trank ich einen Schluck, wobei ich nichts weiter feststellte, als dass es mich sehr erfrischte.

Als er mir ein Stück Brot und eine der Früchte anbot, griff ich ebenfalls zu. Das Brot war würzig und etwas krümelig, dabei jedoch saftig. Die Frucht schmeckte sehr mild, war etwas faserig und gerade süß genug, um nicht als fad bezeichnet werden zu können.

„Schmeckt es dir?“, erkundigte sich Argo, der ebenfalls gut zulangte, wobei sich sein Mundschutz bei jedem Bissen automatisch öffnete.

„Ja, vielen Dank“, sagte ich kauend, „so viel Freundlichkeit von Fremden bin ich nicht gewohnt. Jedenfalls nicht, seit ich die schwarzen Seiten betreten habe.“

„Rihn ist nicht wegen seiner Bewohner gefürchtet“, sagte Argo, „die meisten von uns sind ziemlich gastfreundlich. Die Umwelt jedoch. Nun, sagen wir, ich glaube nicht, dass du es ohne mich lebend zu den Archiven schaffen würdest.“

„Da unterschätzt du meine Fähigkeiten“, sagte ich etwas gekränkt, „ich habe viel Erfahrung im Umgang mit feindlichen Umgebungen.“

„Das bezweifle ich gar nicht“, beteuerte Argo, „ich traue dir durchaus zu, dich gegen viele der hier lebenden Kreaturen zur Wehr zu setzen. Aber der beste Überlebenskünstler kommt mit zerrissenen Lungen nicht sonderlich weit und mit diesem Schuhwerk brichst du dir bei den ersten wirklich glatten Flächen das Genick. Er zeigte erst auf seine Schuhe und dann auf die recht profilarmen Business-Schuhe, die ich noch immer aus meiner Zeit in Deovan trug.

„Glücklicherweise helfe ich dir da gerne aus“, sagte er und holte ein Paar Schuhe und einen Mundschutz aus seiner Tasche.

Beides nahm ich nickend entgegen, wobei ich mir den Mundschutz direkt überstreifte. Er haftete wie von Zauberhand an meinen Lippen, kaum, da ich damit in ihre Nähe kam und entgegen meinen instinktiven Befürchtungen, störte er mich kaum beim Atmen.

„Und dafür willst du auch ganz bestimmt keine Gegenleistung?“, fragte ich misstrauisch.

„Na, ein wenig gute Laune wäre schon mal ein Anfang“, sagte Argo lachend, „aber nein, wir sind hier nicht in Deovan. Hier gibt es auch Leute, denen es Lohn genug ist, keine schlecht ausgerüsteten Wanderer aus dem Kristallgebirge pflücken zu müssen.“

„Wahrscheinlich hat mein Weg doch ein wenig auf mich abgefärbt“, gestand ich ein.

„Das wäre schon ein Wunder, wenn nicht. Alles, mit dem wir konfrontiert werden, hat einen Einfluss auf uns. Jeder Streit und jede Freundlichkeit. Und vor allem jede Bekanntschaft, die wir machen.

Aber wo wir schon dabei sind, Adrian: Warum willst du zu den Archiven? Ist es die reine Neugier eines Fortgeschrittenen oder kommst du mit einer konkreten Frage?“, erkundigte sich Argo und als er sah, wie sich meine Miene verfinsterte, fügte er hinzu, „meine Güte, du musst mir nicht antworten. Natürlich nicht. Das ist ein zwangloses Gespräch unter Reisenden, kein Verhör. Ich bin lediglich – und das wirst du am besten verstehen können – ein wenig neugierig.“

Jetzt sah ich Argo noch kritischer an. Doch nicht wegen Misstrauen ihm gegenüber, sondern mir selbst gegenüber. Hatte er recht? War ich zu misstrauisch geworden? War ich nach all meinen Erlebnissen auf dem besten Weg zu einem misanthropischen (was war eigentlich der richtige Begriff, wenn sich die Ablehnung auf jede Form von intelligenten Wesen bezog?) Griesgram zu werden? Vielleicht. Andererseits hatte ich auf meinem düsteren Pfad bislang auch jeden Grund dazu gehabt.

„Ich suche nach einem alten Freund und will mir die berühmten Archive einmal ansehen. Das ist alles“, blieb ich vage in meiner Antwort.

„Ein alter Freund? In Rihn?“, hakte Argo nach.

„Pingo Dellagrahn. Ich bin ihm auf meinen Reisen begegnet“, wagte ich nun doch ein wenig Offenheit, schon um zu sehen, wie er darauf reagieren würde. Sollte ich es mit einem Hochstapler zu tun haben, konnte ich es vielleicht in seinem Gesicht erkennen.

„Ich kenne Pingo“, sagte Argo und wirkte ehrlich überrascht, „er war ein Sucher in den Archiven. Ein netter Junge, aber leider seit Langem verschollen. Wo und wann hast du ihn zuletzt gesehen?“

„In Uranor“, sagte ich, „vor einigen Monaten.“

Tatsächlich war ich mir da gar nicht so sicher. War es Monate her, dass ich Pingo verabschiedet hatte oder eher Wochen oder gar Jahre?

„Uranor“, sagte Argo langsam, so als würde er das Wort gründlich durchkauen, „dann war er …“

„Ja, er war tot“, bestätigte ich, „aber er ist es nicht mehr. Doch wie es klingt, hast du ihn nicht gesehen oder? Eigentlich wollte er zurück nach Rihn gehen.“

„Bedauerlicherweise nein“, sagte Argo und die Enttäuschung darüber, meinen Freund womöglich doch nicht wiederzusehen, musste mir deutlich ins Gesicht geschrieben stehen.

„Das muss nichts heißen“, fügte Argo tröstend hinzu, „es ist nicht so leicht, in die Archive zurückzukehren, wenn man seinen Posten einmal verlassen hat. Die Anstellungen dort sind sehr begehrt und auch für einen Wiederwachten wird man keinen talentierten Neuzugang entlassen. Womöglich ist er anderswo untergekommen. An deiner Stelle würde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Und natürlich werde ich mich umhören, wenn ich wieder in den Archiven bin.“

„Das ist sehr freundlich“, sagte ich.

„Keine Ursache“, sagte Argo lächelnd, „wenn man mich nicht gerade zum Vorgesetzten hat, kann ich ein recht angenehmer Zeitgenosse sein.“

Er lachte und ich stimmte ein, wobei unser Gelächter so stark von den Kristallbergen widerhallte, dass es mir unangenehm war.

„Sollten wir nicht lieber leise sein?“, fragte ich ihn und sah mich nervös um. Dass mir bisher noch keine gefährlichen Kreaturen begegnet waren, beunruhigte mich fast mehr, als dass es mich beruhigte.

„Was immer hier lauert, ist nicht auf unsere Stimmen angewiesen, um uns zu finden“, sagte Argo, womit er meine Angst nicht gerade verringerte. „Aber es ist nicht meine erste Expedition ins Nadelgebirge und mit diesem Kristallkarakt kann ich recht gut umgehen“, sagte Argo selbstbewusst und zeigte dabei auf seine Waffe, „und auch du scheinst mir wehrhaft zu sein. Also sollten wir uns nicht unnötig verrückt machen. Im Gegenteil, ich schlage sogar ein Nickerchen vor. Sobald die Nacht hereinbricht, haben wir noch einen weiten und kräftezehrenden Weg ins Tal vor uns.“

„Du willst ernsthaft hier rasten?“, fragte ich ungläubig.

„Diese Stelle ist gar nicht so schlecht. Bis die Oberfläche abgekühlt ist, kann uns über den Onyxhang nichts erreichen und dort oben, auf dem Bergkristallplateau lebt auch nichts Gefährliches. Außerdem braucht jeder Ruhe. Du wärest schockiert, wie viele Personen mit ein wenig mehr Schlaf viel länger leben würden. Glaub mir, ich habe es gesehen“, antwortete Argo.

„Was ist mit dem Tunnel?“, fragte ich und dachte unwillkürlich an die Juink-Echsen.

„Die Juink können nicht an den Wänden hochkrabbeln. Aber für den Fall, dass sich dort etwas anderes eingenistet hat, werde ich die Öffnung verschließen“, versprach Argo.

Er stand auf und holte eine Art Bunsenbrenner aus seiner gut gefüllten Ledertasche. Mit diesem Gerät schmolz er den blauen Kristall wie Eis oder Wachs, zog die verflüssigten Ränder glatt, als bestünden sie aus Knetmasse, und versiegelte so wie versprochen die Öffnung.

„Ich glaube, ich frage nicht einmal, wie du das angestellt hast“, kommentierte ich das Geschehen.

„Das ist gut“, sagte Argo, „denn es würde dauern, das für Laien verständlich zu erklären. Doch jetzt wird es Zeit für ein wenig Ruhe. Willst du die erste Wache übernehmen oder soll ich?“

„Ich mach‘ das“, sagte ich und schwor mir dabei, kein Auge zuzutun. Lieber ich war bei unserer Wanderung ein wenig müde als in der Nacht tot.

„Ganz wie du willst“, sagte Argo schulterzuckend und war bereits wenige Minuten später eingeschlafen. Während der Rihn-Ha selig vor sich hindöste, fragte ich mich, ob ich wirklich überreagierte. Im Grunde hatte mir der Mann bislang keinen Anlass gegeben, misstrauisch zu sein. Und wenn ich ehrlich war, war ich wirklich ziemlich müde. Immerhin hatte ich seit meiner Neugeburt in Deovan nicht geschlafen.

Andererseits machte mich die Umgebung immer noch nervös und ich hatte das, was auch immer sich unter dem Kristall bewegt hatte, nicht vergessen. Selbst, wenn ich Argo trauen konnte, war ich mir nicht so sicher, ob er sich nicht selbst überschätzte. Wenn all das, was womöglich unter der Kristalldecke schlief, auf irgendeinem Weg an die Oberfläche käme, könnten wir auch zu zweit einen schweren Stand haben.

Eigentlich hätte ich Argo auch darauf ansprechen sollen, aber aus irgendeinem Grund hatte ich es versäumt. Vielleicht aus Eitelkeit. Immerhin wollte ich nicht feige wirken, wenn selbst ein Gelehrter sich ganz allein in dieses Gebirge traute. Aber war das nicht dumm? Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, Argo zu wecken, lies es dann aber doch sein. Ich war kein Kind mehr. Wenn ich mich auf etwas verlassen können sollte, dann auf meine Fähigkeit zu überleben. Und zum anderen würde er dann sicher doch darauf bestehen, die erste Wache zu übernehmen.

Also starrte ich tapfer auf die glitzernden Flächen hinab, über die ich hierhergekommen war und in dem sich noch immer helles Tageslicht spiegelte und hielt mit zusammengekniffenen Augen nach einer Bedrohung Ausschau. Im Grunde war es schon beneidenswert, bei diesen Lichtverhältnissen schlafen zu können. Ich selbst war da als Kind schon von einem Nachtlicht überfordert gewesen.

Auf der anderen Seite wurde auch mein Bedürfnis nach Schlaf immer drängender. Allein schon die Hitze und die Anstrengung der Reise forderten ihren Tribut. Um mich wach zuhalten, ging ich die Ereignisse meiner erlebten Abenteuer im Geiste durch, verlor mich jedoch allzu schnell in sinnlosen Grübeleien und zielloser Melancholie.

Effektiver im Kampf gegen das Wegdösen war da schon eine Entdeckung am Himmel, die ich nach einigen Stunden machte, als die Sonne schon langsam begann tiefer zu sinken. Es war ein Schwarm beinah adlergroßer, fliegender Kreaturen. Sie erinnerten mich an eine kalkweiße Mischung aus Vögeln und Fledermäusen und schwebten entspannt, mühelos und nur mit gelegentlichen Flügelschlägen im bunt gefärbten Sonnenuntergang von Rihn. Als die Tiere ihre Flughöhe urplötzlich verringerten, geriet ich in Alarmbereitschaft und hätte Argo nun beinah doch geweckt. Aber noch bevor ich mich dazu entschließen konnte, es auch wirklich zu tun, gewannen die Flugkreaturen wieder an Höhe.

Offenbar waren sie lediglich einem absinkenden Luftstrom gefolgt und waren nicht darauf aus gewesen uns zu schaden oder auszuprobieren, ob wir denn essbar wären. Durch ihre vorübergehende Nähe hatte ich jedoch feststellen können, dass ihr kurzes, fast fellartiges Gefieder mit buntem Kristallstaub besetzt war und dass etwa die Hälfte von ihnen kleine, plüschige, noch etwas unbeholfene Versionen ihrer Selbst auf dem Rücken trugen. Ab und zu wanden sie ihre langen, schmalen Köpfe um ihren Nachwuchs zu pflegen, oder ihm Zuwendung zu geben. Die Kleinen plusterten sich daraufhin wohlig piepsend auf und quittierten die Geste mit einem Strahlen in ihren kristallblauen Augen.

Es war ein wunderschöner Anblick, der mich fast mit meinen bisherigen Strapazen versöhnte. Doch auch, wenn mich der vorübergehende Adrenalinschub eine Zeitlang wachhielt, kehrte sich dieser Effekt schnell ins Gegenteil um. Noch bevor die Sonne begann, sich hinter den Horizont zu schieben, gaben meine flatternden Lieder dem Druck der Erschöpfung nach. Vom Schlaf besiegt, sank ich auf den harten, unbequemen Boden und ergab mich.

~o~

Als ich schließlich mit schmerzendem Rücken aus einem tiefen, aber nicht sonderlich erholsamen Schlummer erwachte, war es bereits dunkel und meine Faszination sogar noch größer geworden. Anstelle der weißen Sonnenscheibe, waren zwei große, helle Mondscheiben am Himmel erschienen, deren Oberflächen so bunt glitzerten, als hätten sie sich in Gewänder aus gewobenem Regenbogen gekleidet. Was ich erst für einen atmosphärischen Effekt hielt, entpuppte sich bald als ganz reales Phänomen, als ich in den rihnnischen Monden zwei geschliffene Kristalle erkannte, um die sich die Sterne wie verstreute Splitter gruppierten.

Diese stellare Schönheit spiegelte sich im Boden und den Klippen und Hängen um mich herum wider, deren Kanten und Spitzen in einem gespenstischen Leuchten wie eine Armee aus Fackeln aus sich selbst heraus entflammte und auf denen ein auffrischender Wind eine einfache, raue und unendlich leise Melodie spielte. Inmitten all dieser Wunder bemerkte ich zwei Dinge zunächst nicht.

Zum einen, dass ich allein war. Denn von Argo fehlte jede Spur. Und zum anderen, dass ich nicht allein war. Denn eine Armee schlohweißer, krabbenähnlicher Geschöpfe krabbelte verstohlen zwischen den glitzernden Kristallnadeln hindurch und kreiste mich von allen Seiten ein. Jede dieser Kreaturen war etwas mehr als einen Meter hoch, wobei der Löwenanteil dieser Größe von acht mehrgliedrigen, dicken Beinen gebildet wurde. Anders als irdische Krabben hatten diese Wesen keine Zangen oder Scheren. Dafür jedoch dicke, kurze Schwänze, die vage an die von Skorpionen erinnerten, sackartige herabhängende Münder und ein großes quadratisch geformtes Auge, eingefasst von rötlich schimmernden Kristallen.

Etwas von dem, was sich schlafend unter dem Kristall verborgen gehalten hatte, hatte mich also offenbar gefunden. Als hätten sie mein Erwachen als ein Signal vereinbart, stürmten die bislang eher vorsichtigen Kreaturen gemeinsam los, wobei sie ein vielfaches Klacken auf dem Kristallboden verursachten.

Mit einem raschen Blick schätzte meine Lage ein. Sie war ziemlich mies. Einer derartigen Übermacht würde ich niemals beikommen können. Der Tunnel, der angeblich zu einer Hinrichtungsstätte führte, wenn Argo sich das nicht nur ausgedacht hatte, war versiegelt und auf der kleinen Anhöhe stand ein unverletzter und ziemlich entspannter Argo.

„So viel zum Vertrauen“, sagte ich zynisch und erwog für einen Moment, mich an dem Bastard zu rächen. Da mein Überlebenstrieb aber immer noch stärker war als mein Zorn, beherrschte ich meinen Blutdurst und rannte stattdessen auf den schwarzen Abhang zu, der mir als einziger Ausweg blieb.

„Das würde ich lassen, Adrian“, rief mir der angebliche Welthüter hinterher, „der Abhang endet an einer glatten Felswand. Von dort gibt es kein Entkommen, außer den Tod.“

„Stürz’ Dich einfach von der Klippe, du Bastard, sonst komm ich hoch und tu es selber!“, drohte ich und schickte noch im Rennen eine Salve Kompassnadeln in Argos Richtung, der er geschickt auswich, allerdings ohne das Feuer zu erwidern. Also beließ ich es dabei, rannte trotz seiner Warnung weiter, und gab stattdessen ein paar Schüsse auf meine krabbelnden Verfolger ab, in der Hoffnung, sie so auf Distanz halten zu können.

Einige davon trafen sogar ihr Ziel und drangen in die weichen Münder oder in die Augen der Kreaturen ein, die das mit einem schrillen Kreischen kommentierten und zumindest kurz ins Straucheln gerieten. Die meisten Kompassnadeln prallten jedoch wirkungslos von den dicken Panzern ab, denn bei diesem Gewusel war es fast unmöglich präzise zu zielen.

So holten meine Verfolger immer weiter auf und waren nur noch wenige Meter von mir entfernt, als ich endlich den Onyxhang betrat. Wie Argo vor unserer Rast versprochen hatte, war er inzwischen weit genug abgekühlt, um bequem darauf laufen zu können, doch dummerweise war er auch arschglatt, weswegen ich trotz des speziellen Schuhwerks meine Geschwindigkeit verringern musste, um nicht zu stolpern. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich kurz darauf das Röcheln der schlabberigen Münder hörte und aus dem Augenwinkel beobachtete, wie sich gleich mehrere Schwänze dazu bereit machten, in mein Fleisch zu stechen. Angesichts dieser Bedrohung geriet ich in Panik und beschleunigte mein Tempo nun doch wieder.

„Du rennst in deinen sicheren Tod! So glaub es mir doch!“, stellte Argo eine wahnwitzige Forderung.

„Sie wollen dich nicht töten, nur betäuben“, beteuerte er, „mir geht es lediglich darum, dich um ein paar Wertgegenstände zu erleichtern und vielleicht um ein wenig deiner Jugend. Ich bin kein Mörder und ich tue so etwas nicht gerne. Aber ein Verbannter muss sehen, wo er bleibt. Halt einfach still, dann ist es bald vorbei. Wenn die Betäubung nachlässt, kannst du deiner Wege ziehen. Vielleicht hast du ja Glück!“

„Schieb dir deine Krabbelviecher in den Arsch!“, rief ich und doch machte mir die ernsthafte Panik in Argos Stimme Sorgen. Fürchtete er lediglich, dass ich seinen dressierten Schoßtieren entkommen würde oder steckte mehr dahinter? Noch bevor ich das für mich entscheiden konnte, passierte das praktisch Unvermeidliche. An einer besonders glatten Stelle glitt ich aus und rutschte ungebremst den Hang hinab. Auch wenn ich so für einen Moment einen ziemlich großen Vorsprung gegenüber den zudringlichen Krebstieren gewann, war mein Sturz nicht nur schmerzhaft, sondern erfüllte mich auch mit blanker Todesangst, als ich erkannte, das Argo in einem Punkt nicht gelogen hatte: Der Abhang endete nur wenige dutzend Meter vor mir wirklich in einem Abgrund, der sich klaffend und gierig in den nächtlichen Nebel fraß.

Verzweifelt versuchte ich Halt zu finden, stemmte meine Füße gegen den Kristall und krallte meine Hände in jede Spalte, jedoch ohne ein anderes Ergebnis als Schmerzen und Frustration, während ich immer schneller hinabtaumelte. Als ich schließlich den Abgrund erreichte, legte ich all meine Kraft und meine Reflexe in einen letzten Versuch, die Kante zu ergreifen und mich dort irgendwie festzuhalten.

Es blieb vergebens. Mit rudernden Armen stürzte ich hinab in den Nebel und machte mich für eine gemütliche Zukunft als rihnnische Bodendekoration bereit, als ein schmerzhafter Ruck durch meine Wirbelsäule ging. Meine Glieder schlackerten unkontrolliert wie bei einer Puppe, während ich wie eingefroren in der nebligen Luft hing. Kurz darauf bewegte ich mich wieder. Jedoch nicht hinab, sondern hinauf, in einem schnellen, aber kontrollierten Schwebflug. Schließlich landete ich unerwartet sanft auf dem Kristallvorsprung, wo ich nach einer winzigen Atempause wie auf Schienen den Abhang hochgezogen wurde.

Zuerst wehrte ich mich gegen die unsichtbare Kraft, die mich zu sich zog, gab es aber schließlich auf und ergab mich in mein Schicksal, da es keinen Weg zu geben schien, mit dem ich mich diesem seltsamen Sog entziehen konnte. Anscheinend hatte Argo eine Möglichkeit gefunden, mein Leben zu retten und holte mich nun mit irgendeiner Hexerei zurück in seine Fänge oder in die seiner Kreaturen. Das zumindest war die einzige Erklärung, die mir einfiel, auch wenn ich mich dabei fragte, warum er überhaupt den ganzen Zirkus mit seinem Krabbengetier veranstaltet hatte, wenn er über solch eine Macht verfügte. Als ich letztlich wieder an unserem ehemaligen Rastplatz angekommen war, ließ der Sog nach. Stattdessen fesselte mich schieres Erstaunen mit ebensolcher Unnachgiebigkeit, als ich der Szene gewahr wurde, die sich vor meinen Augen entfaltete.

Ich sah mich selbst. In Begleitung einer leicht insektoid aussehenden Frau, die sowohl über Klauen als auch über Hände verfügte, in denen sie eine Peitsche schwang, die der von On-Grarin glich. Auf ihren Schultern hockte das hässlichste Kind, das ich je gesehen hatte. Ein wasserköpfiges, zähnefletschendes Etwas, das aussah, als hätte man einen Käfer mit einem nicht eben ansehnlichen Menschenbaby gekreuzt.

Der Anblick war mehr als bizarr. Aber trotzdem sollte es nicht egozentrisch erscheinen, dass ich in solch einer Situation am meisten Augen für mich selbst hatte. Ich war gänzlich in Weiß gekleidet, jedoch nicht in einen deovanischen Anzug, sondern in eine Art Overall und ich wob die Lichtfäden in einem Ausmaß, wie ich es selbst in Uranor nicht vermocht hatte, wobei ich gleichzeitig ein winziges Pendel in einer Hand schwang.

Selbst für ein Gehirn, dem Wunder und Anomalien nicht eben fremd waren, war das ein bisschen viel zu verkraften. Doch ganz egal, was ich von meinem Doppelgänger oder seiner Begleitung halten mochte – sie räumten unter den Kristallkrabben ordentlich auf. Während die andrinische Peitsche der Frau ihre Münder abriss und ihre Panzer knackte, ließ mein Alter Ego dutzende von ihnen bewegungslos in der Luft schweben, zu Staub zerfallen oder wickelte die Fäden so eng um sie, bis sie zerplatzten und ihr hellrotes, funkelndes Blut auf dem Boden verteilten. Selbst das abscheuliche Kind trug seinen Teil bei, indem es mit seinem riesigen Kopf in alles biss, was es erreichen konnte.

Zusammen waren sie wie eine Naturgewalt. Wie ein Wirbelsturm, der über das Kristallgebirge fegte. Es war absurd, aber während ich das Massaker betrachtete, war ich neidisch auf mich selbst und ich war mir sicher, dass viele Psychologen eine helle Freude daran gehabt hätten, zu interpretieren, was das über mich aussagte. Dummerweise waren die Neuankömmlinge auch Argo nicht entgangen und ich musste zugeben, dass seine Reaktion mich überraschte. An seiner Stelle hätte ich mich augenblicklich verpisst. Doch der Verräter hatte zumindest den Schneid zu bleiben und mit seinem Kristallkarakt auf die Neuankömmlinge zu schießen. Angesichts der Entfernung zielte er ziemlich gut.

Seine Waffe spuckte Streumunition aus explodierenden Kristallsplittern, die mein anderes Ich und seine beiden Begleiter zwar fürs Erste nicht ernsthaft verletzten, sie jedoch in die Defensive drängten. Zudem schienen die Projektile den Kristallkrabben seltsamerweise nicht zu schaden und ermöglichten es ihnen so, sich neu zu formieren und zum Angriff überzugehen.

„Zeit mir beizustehen“, sagte ich mir und rannte los.

~o~

„Pass auf die Münder auf“, spreche ich eine erst kürzlich wiedergekehrte Erinnerung aus, „wenn sie sich an dir festsaugen können, kosten sie dich buchstäblich Lebensjahre.“

„Das sagt sich so leicht“, sagt Tarena, die es gerade noch schafft, einem zustechenden Stachel zu entgehen, indem sie das angreifende Tier in ihre Widerhaken-Peitsche einrollt und wegschleudert, „aber wenn du dich gerade schon so gut erinnerst: Was ist mit den Schwänzen?“

„Ein Betäubungsgift“, erkläre ich, „nicht tödlich, aber es lässt dich binnen Sekunden einschlafen.“

„Na großartig. Ich hoffe, du bist all diesen Ärger wert“, kommentiert Tarena als über ihnen einige Schüsse abgegeben wurden, die sich im hohen Bogen wie Granaten auf uns hinabsenken.

„Wir müssen diesen Kerl ausschalten“, ruft Tarena über das Donnern der bunten Kristalldetonationen hinweg, während sie einer Krabbe mit der Peitsche den sackartigen Mund abreißt. Sie tut es mit zusammengekniffenen Augen, um sich zumindest etwas vor den Splittern zu schützen, die ihr auch so schon einige Kratzer beigebracht haben, „kannst du deine Fäden nicht dafür einsetzen? Oder das Pendel?“

„Das funktioniert nicht. Der Kristall, auf dem er steht, stört meine Kräfte und die von Anys Artefakt auch“, erinnere ich mich.

„Kannst du dich nicht auch mal an etwas Ermutigendes erinnern?“, fragt Tarena mürrisch, „so ist dein Talent echt nutzlos.“

„Ganz so nutzlos scheine ich nicht zu sein“, bemerke ich süffisant und zeige auf die Anhöhe, auf der Argo steht.

Auch Tarena wirft einen kurzen Blick zum Plateau, auf dem der Rihn-Ha seine Edelsteine auf uns hinabregnen lässt und bemerkt, dass sich mein Vergangenheits-Ich gerade daran macht, dort hochzuklettern.

In diesem Moment hören wir Andy schreien. Und das nicht ohne Grund. Gleich zwei der Krabben haben ihre Münder auf seinen Kopf geheftet und beginnen kräftig daran zu saugen.

„Verdammt, Nein!“, ruft Tarena wütend und schwingt ihre Peitsche. Dass die zielsuchenden Widerhaken sie dabei ebenfalls schneiden, scheint ihr fast egal. Immerhin gelingt es ihr, die Kreaturen binnen Augenblicken zu töten. Lediglich ihre Münder hängen noch an unserem Sohn, wie die Beißwerkzeuge einer falsch entfernten Zecke. Während ich mich weiter um unsere Gegner kümmere, gelingt es Tarena schließlich auch die Münder zu entfernen, die sich selbst ohne die dazugehörigen Krabben nicht davon hatten abbringen lassen, weiterzusaugen.

Besorgt blickt sie auf Andy, auf dessen großem Kopf plötzlich tiefe, helle Druckstellen sind. Andy sieht seiner Mutter tief und bittend in die Augen. Dann beginnt sein Körper sich zu strecken und zu verschieben und wächst binnen weniger Sekunden auf die doppelte Größe an. Völlig perplex lässt sie unseren Sohn auf den Boden sinken, wo er aus eigener Kraft auf seinen deutlich gewachsenen Beinen steht, als wäre dies das Selbstverständlichste im Multiversum. Tarena, die von der Veränderung ihres Sohnes gänzlich gebannt ist, vergisst für einen Moment vollkommen das Kampfgeschehen um sich herum. Solange jedenfalls, bis sich einer der Krabbenstacheln direkt in ihren Rücken bohrt. Mit offenem Mund und geweiteten Pupillen bricht sie in die Knie. Sie wirft einen letzten, Hilfe suchenden Blick zu mir und stellt fest, dass ich nur Augen für die anrückenden Gegnerhorden habe. Dann versinkt sie in einer tiefen Ohnmacht und lässt ihren Sohn zwangsläufig schutzlos zurück.

Behutsam, fast als könnte sie nicht glauben, dass sie ihre tödliche Kontrahentin endlich kampfunfähig gemacht haben, kriechen die Krabbengeschöpfe auf den kleinen Andy zu. Sie zögern, als würden sie damit rechnen, dass sich seine Mutter wieder unerwartet erhebt. Dann jedoch wagt sich die erste der Kreaturen vor. Sie springt nach vorn, den Mund weit geöffnet, getrieben von der Aussicht auf eine Menge frischer Lebensenergie … und bereut ihre Vorwitzigkeit schon wenige Augenblicke später, als ihr Leib von den scharfen Mandibeln und Zähnen des rasch gealterten Jungen zerdrückt wird. Noch kauend und mit blutverschmiertem Mund nimmt mein Sohn die Peitsche seiner Mutter auf und schwing sie in einer Raserei, die jeden rorakischen General in Ehrfurcht auf die Knie gezwungen hätte. Andys insektoider Mund mag nicht in der Lage sein, es zu formen, aber in seinen Augen spiegelt sich dennoch ein überlegenes Lächeln, während er blutige Rache für den Angriff auf ihn und seine Mutter nimmt.

~o~

Mit einer einzigen vor Aufregung schwitzigen Hand versuchte ich mich den kleinen Vorsprung zu Argos Plateau heraufzuziehen, wissend, dass ich ohne meine Armwaffe gar nicht erst versuchen brauchte, gegen ihn vorzugehen, auch wenn es das Klettern nicht eben erleichterte. Dennoch war es natürlich verrückt, meinem Körper so etwas zuzumuten. Jede Faser meiner Muskeln schmerzte und stand unter mörderischer Spannung. Doch das hinderte mich nicht daran, sie weiter anzuspannen.

Noch hatte Argo mich nicht bemerkt, und wenn ich das Überraschungsmoment nicht verlieren wollte, musste das so bleiben. Hätte ich noch meinen alten Körper besessen, wäre es mir wahrscheinlich nicht gelungen. Aber der von Lavell Erschaffene war gerade leistungsfähig genug. In einem weiteren, verzweifelten Anlauf und mit der Hilfe des Ellenbogens meines Waffenarms gelangte ich zu Argo hinauf. Der angebliche Welthüter hatte mich noch nicht bemerkt und war noch immer damit beschäftigt, gegen mein anderes Ich vorzugehen.

Perfekt, dachte ich, brachte meine Waffe in Position und feuerte so, dass sie von seinem Unterleib bis zu seiner Brust eine Schneise der Zerstörung ziehen musste. Doch ganz so ahnungslos wie gedacht schien Argo leider nicht zu sein. Kurz bevor ich meine Salve losließ, sprang er zurück, sodass ich nur seine Klamotten zerriss und eine blutige Wunde auf seiner Haut verursacht, anstatt ihm eine ordentliche Organ-Akupunktur zu verpassen.

„Warum wolltest du mir das antun?“, ächzte Argo und richtete seinen Kristallkarakt auf mich, „ich hätte dich am Leben gelassen.“

„Ein Leben als nackte, wehrlose und ausgelutschte Hülle, umgeben von Gefahren?“, fragte ich, während ich zur Seite sprang und versuchte, Argo zu umrunden, „verzeih mir meine Skepsis, aber darauf verzichte ich gerne.“

„Wie du willst“, sagte Argo und schoss.

Die Splitter des Kristallkarakts explodierten nahe bei meinem Kopf, ließen meine Ohren klingeln und verursachten einige winzige Schnitte in meinem Gesicht. Schlimmere Folgen hatte es nicht, aber ich wusste, dass das nicht so bleiben würde. Auf kurze Distanz war diese Waffe viel gefährlicher als meine. Ich musste das hier schnell beenden. Und ich wusste auch schon wie.

Kaum, da ich den Schock der Explosion überwunden hatte, gab ich eine Salve auf Argos Brust ab und warf mich dann mit meinem gesamten Gewicht gegen den Körper des überrumpelten Rihn-Ha.

Mit Erfolg. Wir beide stürzten von der Klippe.

„Tja, Adrian“, dachte ich, während unseres kurzen Sturzes bevor ich weich auf Argos betäubten, aber noch atmenden Körper landete, „nun ist es an dir.“

~o~

Ich muss mir selbst gratulieren. Auch wenn ich am besten weiß, dass mir die magischen Eigenschaften von Argos Plateau zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht bekannt gewesen sind, hat mein Vergangenheits-Ich instinktiv die richtige Entscheidung getroffen.

Für einen Moment lasse ich die angreifenden Kristallkrabben außer acht und konzentriere meine Fädenkräfte ganz auf Argo. Unter anderen Umstände wäre dies ein unkalkulierbares Risiko gewesen, doch nicht mit dem Wissen, welches ich hatte. Mit einem kräftigen Ruck ziehe ich ihn unter meinem Alter Ego hervor und schleife ihn über den harten Boden direkt zu mir, wo ich ihm eine schallende Ohrfeige verpasse, um ihn aus seiner Benommenheit zu reißen. Die Krabben, die mich umzingelt haben, bewegen sich nicht mehr. Ganz, wie ich gehofft hatte.

„Hör mir zu, Arschloch“, sage ich zu Argo, „wir wissen beide, dass du dieses Krabbelzeugs befehligst. Also lass es in seine Löcher zurückkriechen und ich werde dich am Leben lassen. Verstanden?“

Argo sieht mich direkt an. Starrt in Augen, die viel mehr erlebt, gesehen und durchlitten hatten als die meines anderen Ichs und die viel weniger kompromissbereit sind.

„Wie ist das möglich?“, fragt er mich, statt eine Antwort zu geben, „du solltest dich selbst gar nicht in der Vergangenheit treffen können. Ist die Struktur des Geflechts bereits soweit …“

„Habe ich gesagt, dass ich mit dir philosophieren möchte?“, unterbreche ich ihn streng und zieh die unsichtbaren Fäden fester um seinen Körper, „alles, was ich will, ist dein Ungeziefer loszuwerden und dich nicht mehr wiederzusehen. Ich könnte sie alle erledigen. Genau wie dich. Und das weißt du. Aber das würde Zeit kosten, die mir zu wertvoll ist. Also, was ist? Haben wir einen Deal?“

Argo zögert noch einen Moment. Dann nickt er und flötet mit den Lippen einige hohe, kaum wahrnehmbare Töne, woraufhin sich die Kristallkrabben gehorsam zurückziehen und nach und nach im Gebirge verschwinden.

„Du wirst mich trotzdem töten, oder?“, vermutet Argo resigniert.

„Unter anderen Umständen vielleicht“, bestätige ich und werfe einen Blick auf mein Alter Ego, das mit gemessenen Schritten auf mich zukam, „aber du hast Glück. Ich will mir selbst kein schlechtes Vorbild sein. Also verpiss dich und denke daran, welche Macht du gesehen hast. Dass ich nicht alles davon aufgeboten habe, war reine Faulheit. Aber das kann sich ändern, falls wir uns wiedersehen. Also geh besser und lauere irgendeinem anderen auf. Oder stell dich den echten Welthütern, wenn du noch etwas Würde im Leib hast. Aber mir trittst du besser nicht mehr unter die Augen. Und deine Ausrüstung und deine Waffe lässt du hier, klar?!“

„Klar“, bestätigt Argo. Und kaum da diese Worte gesagt sind, löse ich meine Fäden.

Argo springt hastig und mit zur Beschwichtigung erhobenen Händen auf, legt gehorsame seine Waffe und seine rote Tasche ab, beeilt sich, seinen überlebenden Tierchen zu folgen.

„Du hast ihn laufen lassen?“, fragt mein anderes Ich, während ich den Rucksack durchwühle und den Kristallkarakt, den Proviant und die Überlebensausrüstung an mich nehme, „das sieht mir gar nicht ähnlich.“

„Mir war danach. Und du solltest wissen, dass du fast genauso viel Mitleid wie Egoismus in dir trägst“, antworte ich, „uns sind andere Lebewesen nicht immer egal.“

„Das stimmt“, bestätigte mein Doppelgänger, „aber auch aus dieser Perspektive war das keine kluge Entscheidung. Argo wird sich bestimmt weitere Opfer suchen.“

„Mach dir darüber keine Sorgen“, beruhige ich mich, „Er hat keine Waffe und keine Ausrüstung mehr. Die Welthüter werden sich um ihn kümmern, sobald wir ihnen seinen Wirkungsort mitteilen, falls er sich nicht aus lauter Verzweiflung freiwillig stellt. So oder so wird er nicht mehr lange auf freiem Fuß sein. Doch genug von ihm. Über dich wundere ich mich viel mehr. Schockiert es dich gar nicht, dir selbst zu begegnen? Hältst du mich nicht für einen Gestaltwandler, der dich hinters Licht führen will?“

„Ich glaube, kein Gestaltwandler wäre so dumm, mich mit mir selbst locken zu wollen. Meinen Narzissmus in allen Ehren, aber besser könnte man nun wirklich kein Misstrauen erregen“, wandte mein Gegenüber ein.

„Guter Punkt“, gestehe ich ein.

„Stammst du aus der Zukunft?“, fragte mich mein Vergangenheits-Ich, „immerhin scheinst du eine Menge mehr zu wissen als ich.“

„Aus EINER Zukunft, ja“, bestätige ich und bin sofort alarmiert, als das Gesicht meines Doppelgängers einen besorgten Ausdruck annimmt.

„Was ist?“, frage ich.

„Du hast dich nicht großartig verändert, oder?“, bemerkt mein Doppelgänger kichernd und zeigt in eine bestimmte Richtung, „du redest lieber mit dir selbst, als dich um deine Gefährten zu kümmern.“

Sofort sah ich in die von ihm angezeigte Richtung. Ich kann mir leider nicht widersprechen. Denn dort sehe ich Tarena regungslos auf dem Boden liegen.

„Verflucht, Nein!“, rufe ich und renne auf die scheinbar leblose Tarena zu. Ich lege meinen Kopf auf ihre Brust und stelle zu meiner Erleichterung Bewegung fest. Noch während ich Tarena hilflos über ihren bewusstlosen Körper streiche, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.

Sie gehört nicht meinem Vergangenheits-Ich, sondern meinem Sohn. Andy, der in den letzten Minuten deutlich gewachsen ist und trotz seines enorm großen Kopfes sicher und selbstbewusst auf seinen Beinen steht. Reden kann er immer noch nicht, aber ich erkenne an seinen Facettenaugen, dass seine Intelligenz, dass sein Bewusstsein deutlich zugenommen hat. Wie ist das möglich? Hat es etwas mit den Krabben zu tun oder ist es eine Folge seines Aufenthalts bei Nollotsch?

Jedenfalls ruht in seiner Hand die Peitsche von On-Grarin und um ihn herum liegen dutzende zerfetzte Krabbengeschöpfe.

Ich fühle einen seltsamen Stolz auf meinen Sohn, doch meine Freude über seinen Mut hält sich auch in Grenzen. Denn in seinem Gesicht wohnt Wut. Wut auf mich. Der Kleine hebt die Peitsche und ich bekomme kurz das Gefühl eine lästige Kristallkrabbe zu sein.

„Hey!“, verteidige ich mich, „es tut mir wirklich leid, aber ich musste mich … musste uns verteidigen. Ich konnte mich nicht …“

Was, dachte ich, mich nicht um die Frau kümmern, um deren Liebe ich noch im Efryum gebettelt habe? Mich nicht um sie und meinen Sohn scheren, als sie mich brauchten?

„Okay. Ich habe Scheiße gebaut“, gestehe ich ein, „wieder einmal. Aber bevor du mich in Fetzen reißt, denke daran, dass wir deine Mutter sicher ins Tal bringen müssen.“

„Dafür reicht auch einer von uns, Kleiner“, wirft mein Vergangenheits-Ich sarkastisch und wenig hilfreich ein.

Doch zum Glück folgt Andy nicht seinem Vorschlag, sondern lässt die Peitsche mit einem wütenden Klacken und Zischen sinken.

„Vielen Dank auch“, sage ich zu meinem Alter Ego.

„Gern geschehen“, antwortet es grinsend, „aber der Junge hat jedes Recht, dich zu verprügeln. Weißt du, ich bin gerade wieder moralisch auf einem halbwegs akzeptablen Weg. Wenn ich meine künftige Familie wie Dreck behandle, ist das nicht gut für mein Karma. Falls so eine Arschloch-Version von mir, wie du es bist, das Zeitliche segnet, kann das nur gut für mich sein.“

„Leider nicht“, antworte ich düster, „weder für dich, noch für das Multiversum. Mein Tod wäre vielmehr eine Katastrophe.“

„Na toll“, sagte mein Vergangenheits-Ich seufzend, „meine Egomanie bin ich also auch nicht losgeworden.“

„Das hat nichts mit Egomanie zu tun“, antworte ich in dem unwiderstehlichen Drang, mich vor mir selbst zu rechtfertigen, „jeder andere Bastard hätte auch an meiner Stelle stehen können und wäre vielleicht sogar besser qualifiziert gewesen. Aber es ist nun einmal so, dass es an Tarena, Andy und mir ist, zu verhindern, dass die Dinge im Chaos versinken. Und auch an dir. Denn du bist genauso wichtig.“

„Danke für die Blumen“, sagt mein Doppelgänger schmunzelnd, „aber welche Rolle hast du mir bei deiner Multiversumsrettung zugedacht?“

„Du musst mit mir verschmelzen. Wir müssen eine Person werden“, erkläre ich.

„Ich soll also mit dir in Symbiose gehen und alles, was ich bin, aufgeben?“, fragte mein Gegenüber skeptisch, „was, wenn ich mich weigere?“

„Wer ist hier jetzt egofixiert?“, antworte ich süffisant, „aber um deine Frage zu beantworten: Was dann passiert, weiß ich nicht. Any hat mir nicht mitgeteilt, ob unsere Koexistenz zu Schwierigkeiten führt. Gut möglich, dass sie früher oder später das Multiversum auseinanderreißen wird. In jedem Fall aber, wird sie verhindern, dass wir Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen können. Und glaube mir, der Lauf der Dinge wird beschissen.“

Mein Vergangenheits-Ich wurde nachdenklich. „In Ordnung“, sagte es schließlich, „aber wir warten mit dieser Verschmelzung noch an, bis wir meine künftige Freundin, die übrigens ziemlich heiß aussieht, sicher von diesem Kristallhaufen runtergebracht haben. Mit vier Händen schleppt es sich leichter.“

„Einverstanden“, sage ich, „so lange wird das Multiversum schon noch mit zwei Adrians fertig werden. Wahrscheinlich muss es ja sogar Millionen von uns aushalten.“

„Grauenhafte Vorstellung“, kommentierte mein Vergangenheits-Ich und wir beide lachten.

„Hast du eine Ahnung, wie wir hier runterkommen?“, fragte Vergangenheits-Adrian, „diesen Abhang dort kann ich nicht empfehlen und die Rutsche ist versperrt, selbst wenn sie uns nicht in den sicheren Tod führt.“

„Tut sie nicht“, erinnere ich mich, „im Gegenteil. Es ist eine vorgesehene Abkürzung, die die Rihn-Ha für das leichtere Reisen errichtet haben. Hinrichtungen gab es dort nie und auch keine Todesarena. Alles, was uns am Ende der Rutsche erwartet, ist ein sehr weiches und verdammt großes Kissen.

„Schön zu hören“, meinte mein Doppelgänger, „leider ist der Eingang jetzt versiegelt.“

„Kein Problem“, sage ich lächelnd und schwinge das Pendel, welches mir Any überlassen hat. Sekundenbruchteile später zersplittert die von Argo errichtete Wand in tausend Teile, die ich mit einer weiteren Handbewegung zusammenkehre und aus dem Weg räume.

„Nach mir“, sage ich zu meinem Alter Ego und mache eine einladende Geste.

~o~

Die Landung war hart. So hart, dass nur Clary, Callan und fünf Söldner sie mehr oder weniger unverletzt überlebten. Zwei weitere hatten den Sturz technisch gesehen ebenfalls lebend überstanden, nicht jedoch die Gnade ihrer Berufskollegen, die sie kostenlos von ihrem Leid erlösten, bevor Clary und ich eine moralische Diskussion darüber beginnen konnten, ob ein kurzzeitiges Leben mit zerquetschten Gliedmaßen ohne Aussicht auf medizinische Versorgung lebenswert war. Für deovanische Maßstäbe war das tatsächlich ein sehr solidarisches und großzügiges Handeln. Clary war jedoch nicht so begeistert gewesen.

Doch angesichts der düsteren Blicke der Söldner hatte sie sich mit ihrer Kritik lieber zurückgehalten. Und das konnte Callan sehr gut nachvollziehen. Zwar waren diese Leute ihre Angestellten und eigentlich band ihr Vertrag sie. Doch nicht alle von ihnen waren Deovani und selbst die, die es waren, betrachteten ihn und selbst Clary als Vertreter einer Oberschicht, zu der sie nicht im selben Maße ehrfurchtsvoll aufblickten, wie die meisten Konzernangestellten.

Manche von ihnen hatten in Rihn oder anderen Orten andere Denkweisen kennengelernt und wussten, dass sie in Deovan rücksichtslos ausgebeutet wurden. Hier, fernab ihrer Mutterwelt, wissend, dass eine Rückkehr ungewiss war und ahnend, dass ihre Heimatwelt vor dem baldigen Zerfall stand, mochten Dominanten nicht dieselbe Macht besitzen, wie in Deovan. Aktuell würden die Söldner ihnen wahrscheinlich nicht in den Rücken fallen – schon allein, weil Callan sie anständig behandelt hatte und jede Frau und jeder Mann fürs Überleben nützlich sein könnte – doch das musste nicht so bleiben.

„Die Luft auf Anntrann enthält noch immer Sauerstoff“, sagte Crane, ein rothaariger, mit absurd großen Muskeln ausgestatteter Söldner mit Vollbart und kurzen Haaren nach einem Blick auf die letzten noch funktionierenden Geräte des völlig zerstörten Schiffes, „genügend, um zu überleben. Aber die Schwermetallbelastung ist schlimmer als in den Fabriken von ReCrate. Ohne Atemmaske und Filter kostet uns jede Stunde in diesem Drecksloch ein Jahr unseres Lebens. Unseren allseits geschätzten Nehmer sicher immer noch einen Monat.“

„Die Raumanzüge wurden zwar bei der Landung zerstört, aber Filtermasken gibt es noch“, verkündete Lynnra, eine sehnige, aber kleine Söldnerin mit hartem Gesicht, in deren Fingern ausfahrbare Klingen waren, und holte einige Masken mit Gummizug hervor, die lediglich Mund und Nase bedecken würden, „sie waren eigentlich in einem versiegelten Vorratsschrank gelagert, aber die Bruchlandung hat ihn für uns geöffnet. Was für ein Glück.“

Jeder von ihnen nahm sich eine der Masken und streifte sie sich über, was ihnen sofort ein fremdartiges, apokalyptisches Aussehen verlieh, auch wenn die Masken ihre Gesichter nicht so stark verfremdeten, wie irdische Gasmasken.

„Sollten wir je zurückkehren, würde ich aber eine ordentliche Dusche empfehlen“, sagte Crane, „das Zeug ist auch für die Haut nicht gut. Und wir wollen doch alle frisch und knackig bleiben.“

„Meine Maske ist beschädigt“, beschwerte sich Kordra, eine stark tätowierte, mittelalte Frau mit Glatze, kontrastiert von einem sicher billigen, aber ganz gutaussehenden, schwarzen Anzug. Dabei hielt sie ihre Maske demonstrativ hoch, die tatsächlich einen kleinen Riss aufwies.

„Nur ein bisschen“, winkte Lynnra ab und grinste dabei, „kostet dich wahrscheinlich nur ein paar Lebensmonate.“

„Das ist nicht witzig“, erwiderte Kordra.

„Nein, ist es auch nicht“, sagte Lynnra mit einem mal ernst. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Art natürlicher Autorität, „aber das Leben ist nicht fair und wenn du keine Lust hast, dich mit uns allen zu prügeln, musst du dein Los wohl akzeptieren. Wir werden unterwegs nach einer Möglichkeit suchen, das Ding zu reparieren. Bis dahin, atme einfach möglichst flach.“

Kordra warf ihr einen wütenden Blick zu. Für einen Augenblick glaubte Callan, dass sie es wirklich auf einen Kampf ankommen lassen würde. Doch dann veränderte ihr Blick sich, wurde weicher und melancholischer, so als würde sie sich an die wunderbaren Erlebnisse erinnern, die Clary ihr verschafft hatte und die auch sie zum Weinen gebracht hatten, „in Ordnung. Ich wünschte nur, die Dinge wären nicht so unfair und gnadenlos. Ich meine, das Leben müsste doch keine Fabrik für Verlierer und arme Schweine sein, oder?“

„Wir können unsere Masken gelegentlich tauschen“, schlug Terrin vor, ein fast schon riesenhafter Muskelprotz mit grauem Schnurrbart, dunkelblau gefärbter Haut und angespitzten Zähnen, bei dem die spontane Mentravia wohl ebenfalls Eindruck hinterlassen hatte, „dann gehen wir beide nur etwas früher drauf.“

Clarys Augen weiteten sich vor Überraschung als sie diesen Vorschlag hörte und auch Callan war beeindruckt.

„Das ist ein guter Vorschlag“, sagte nun auch Lynnra, „ich werde es genauso machen. Jede Stunde übernimmt jemand anders von uns die defekte Maske. So vermeiden wir Streit und verteilen das Risiko gerecht.“

Alle nickten. Ausnahmslos.

„Du färbst auf sie ab“, flüsterte Callan Clary lächelnd zu.

„Nein“, sagte Clary, „ich habe ihnen nur gezeigt, wie schön das Leben sein könnte, wenn sie nur wollten.“

Als sie gemeinsam aus dem Schiff in die feindliche Umwelt von Anntrann traten, war ein Teil ihres gegenseitigen Misstrauens und ihres Pessimismus verflogen. Ja, sogar ein Funke Leichtigkeit und Zuversicht erfüllte ihre Herzen. Sie konnten ihn gut gebrauchen. Denn was sie von Anntrann sahen, war deprimierend.

Ein graugelber, staubiger Himmel unter einer blassen Sonne, in den sich rechteckige und Quadratische Bauten verschiedenster Größe hineinschraubten, die weniger Ähnlichkeit mit Gebäuden hatten als mit den Bauteilen einer alten Computerplatine. Die meisten von ihnen hatten keine Fenster. Weder die an deovanische Wolkenkratzer gemahnenden Riesenstrukturen, noch die kleineren, gedrungenden Bauten. Nicht wenige waren mit offen sichtbaren Kabeln miteinander verbunden, die mal auf dem Boden und mal hoch in der Luft verliefen. Das Knistern der Elektrizität war allgegenwärtig und ihre Haut knisterte wie vor einem nahen Gewitter. Denn auch wenn Anntrann als Geisterwelt galt, so waren die Maschinen dort noch immer lebendig. Vielleicht auch deshalb fühlten sie sich sowohl von den fensterlosen Strukturen als auch aus den kleinen Gassen und breiten, linealgeraden Prachtstraßen zwischen ihnen beobachtet.

„Was ist unser Ziel, Boss?“, fragte Lynnra durch die Maske hindurch, die ihre Stimme nur minimal dämpfte.

„Überleben und einen Weg finden, von diesem Friedhof zu entkommen“, sagte Callan, „vielleicht gibt es hier sogar noch ein intaktes Raumschiff.“

„Ein paar Schätze abstauben wäre auch nicht schlecht, oder? Wenn ich Finderlohn bekomme, halte ich auch besonders genau die Augen auf“, erwähnte Terrin.

„Natürlich“, bestätigte Callan, der wusste, wie motivierend die Aussicht auf Belohnungen sein konnte, „aber die Priorität gilt unserer Heimreise. Tote haben nichts von Reichtümern.“

„Schon klar“, antwortete Terrin, „aber arme Menschen sind in Deovan auch schnell tot.“

„Wir sind aber nicht in Deovan“, versuchte Callan die Diskussion zu beenden, „also lasst uns aufbrechen. Wie Lynnra richtig bemerkt hat, kostet uns jeder Moment hier wahrscheinlich Lebenszeit.“

„Die Frage bleibt nur, wohin“, warf Kordra ein.

„In diesem Durcheinander ist ein Weg so gut wie der andere“, meinte Crane, „ein reines Glücksspiel.“

„Schwachsinn“, entgegnete Kaira, eine etwas ältere Söldnerin, deren zusätzliche, ausfahrbare Werkzeugerweiterung auf einen Techniker-Hintergrund schließen ließen, „wir sollten auf jeden Fall diesen Weg dort nehmen.“

Sie zeigte auf einen Pfad ganz zu ihrer Rechten, der von mehreren vergleichsweise flachen, an Lagerhallen erinnernden Gebäuden gesäumt wurde.

„Ich habe selbst lang genug in der Raumfahrbranche gearbeitet, bevor sie mich durch ‘nen hochgerüsteten Jungspund ersetzt haben. Ich weiß, wie ein Hangar aussieht und das da könnten welche sein“, erklärte Kaira euphorisch, „da wird es nicht nur Schiffe geben, sondern auch eine Menge herumliegendes, wertvolles Zeug. Wenn wir etwas Glück haben, sind wir in ein paar Stunden schon wieder hier weg. Mit vollen Taschen und einigermaßen gesund.“

„Klingt nach einer guten Idee“, stellte Lynnra fest und auch die anderen Söldner schienen diese Auffassung zu teilen.

Callan, der froh über jeden war, der einen Plan hatte, wollte dem gerade zustimmen, als Clary intervenierte.

„Ich habe ein ganz mieses Gefühl wegen dieser Gebäude“, sagte sie.

„Ach, sag an“, antwortete Kaira sarkastisch kichernd, „die Blue Mind hat Bauchaua. Tja, dieser Ort hier sieht wohl nicht so aus, wie in deinen Gute-Nacht-Geschichten, was? Aber keine Angst. Hier sind ja große Mädchen und Jungs, die auf dich aufpassen. Wenn du uns nicht zu sehr nervst.“

„Lass sie in Ruhe“, sagte Terrin, „hast du nicht mitbekommen, was das Mädchen kann? Hast du ihre Stimme in deinem Kopf nicht gehört? Die Bilder, die sie erzeugt hat? Das ist ‘ne verfluchte Magierin. Wenn die ein schlechtes Gefühl hat, hört man besser darauf.“

„Nein, wenn jemand mit so ‘nem Hokuspokus anfängt, nimmt man besser Reißaus“, erwiderte Kaira.

„Warum hast du denn ein schlechtes Gefühl?“, fragte Callan Clary und sah ihr dabei forschend in die Augen.

„Keine Ahnung. Es ist … als wäre die Spannung dort noch stärker. So als würden diese Gebäude alles Schlechte auf diesem Planeten anziehen wie ein Leuchtsignal … ich … genau weiß ich es nicht. Aber wir sollten es lieber dort versuchen“, meinte Clary und zeigte auf eine Ansammlung von hochhausartigen Strukturen zu ihrer linken.

„Klar“, meinte Kaira verärgert, „warum sollten sie ihre interstellaren Schiffe denn auch nicht in Bürokomplexen parken? Zwischen Schreibtischen, Blumentöpfen und Thought-Shot-Automaten sind sie immerhin sehr dekorativ.“

„Wir wissen nicht, ob das wirklich Bürokomplexe sind“, gab Lynnra zu bedenken.

„Vielleicht nicht“, stimmte Kaira zu, „aber wir wissen, was sie nicht sind. Nämlich Orte, an denen wir Hilfe finden werden. Aber da für uns alle hier Lebenszeit auf dem Spiel steht, würde ich vorschlagen, dass wir abstimmen. Wer ist dafür, dem vagen Bauchgefühl der kleinen Märchenerzählerin zu folgen?“

Wenig überraschend gingen sowohl Clarys als auch Terrins Hand nach oben und auch Callan schloss sich ihnen nach kurzem Zögern an.

So gingen alle Augen zu Lynnra, die jedoch ihren Arm letztlich unten ließ.

„Dem Glück sei Dank, die Vernunft hat gesiegt“, sagte Kaira erleichtert, „dann lasst uns ‘nen Zahn zulegen. Ich bin gespannt, was die alten Maschinenficker für Schätzchen in ihren Hangars haben.“

„Nein!“, sagte Callan ruhig.

„Was?“, fragte Kaira verwirrt.

„Wir folgen Clarys Vorschlag“, sagte er hart, „das hier ist keine Demokratie. Ich habe einen Vertrag mit euch und ihr werdet meinem Wort folgen.“

Die Gesichter der Söldner wurden hart und die Atmosphäre verdüsterte sich augenblicklich. Für einen Moment glaubte Callan einen schweren Fehler begangen zu haben. Doch trotz allem hatten die Söldner offenbar lang genug Befehlen gehorcht, mit denen sie nicht einverstanden waren. Entweder das oder sie hielten den Augenblick für einen Aufstand noch nicht für gekommen.

„Dann lass uns das schnell hinter uns bringen“, sagte Kaira, „wenn wir Glück haben, können wir danach immer noch den richtigen Weg nehmen. Falls die Märchenhexe uns nicht direkt in den Untergang führt.“

Schweigend und ohne ihren Auftraggeber eines Blickes zu würdigen, machten sie sich auf den Weg zu den drohend aufragenden Quadern. Nur Clary flüsterte Callan leise etwas ins Ohr. „Das war ein Riesenfehler“, sagte sie, „zerstörtes Vertrauen lässt sich schwer wieder kitten.“

„Was hätte ich denn tun sollen?“, erkundigte sich Callan überrascht, „sie den Weg gehen lassen, den du für gefährlich hältst?“

„Du hättest sie überzeugen sollen, statt ihnen zu befehlen. Wir hatten eine echte Chance, ihr Vertrauen zu gewinnen. Zumindest bei den meisten. Nun denken sie, dass wir nicht anders sind als jene, denen sie ihr Leben lang gehorchen mussten“, sagte Clary.

„Vielleicht hast du recht“, gab Callan nach kurzem Nachdenken zu, „aber jetzt ist es wohl zu spät. Immerhin haben wir den sicheren Weg gewählt.“

„Das habe ich nie behauptet“, antwortete Clary mit düsterer Miene, „ich glaube, auf Anntrann gibt es keine sicheren Wege. Nur mehr oder weniger tödliche.“

~o~

Risiko, der große Götze, der in Deovan angebetet wird, beinhaltet nicht nur den überraschenden Triumph und das berauschende, fast gottgleiche Glücksgefühl eines überwältigen Erfolges. Er bedeutet auch grauenhaftes, bitteres, schändliches Scheitern. In Sandras Fall besteht dieses Scheitern in einer engen Spalte in grün-schillerndem Smaragdgestein, in die sie fest eingeklemmt ist. Sie hat keinen Fehler gemacht. Diesmal nicht. Nein, ihr einziger Fehler, wenn man es so nennen möchte, war es, überhaupt nach Rihn zu kommen. Und doch ist sie gefangen. Ist es, seit der Katalog sie in der Spalte materialisiert hat. Sie ist unverletzt, wenn man von ein paar leichten Blessuren einmal absieht, doch der Frust, die Hitze, der Durst und die leicht verringerte Blutzufuhr in ihren Gliedmaßen machen ihr zu schaffen. Lange, das weiß sie, wird das nicht gutgehen.

„Warum?“, fragt sie sich zum tausendsten mal wütend und laut, „warum zur Hölle muss das jetzt passieren? Ich meine, wie groß ist die verfluchte Wahrscheinlichkeit?“

Sandra weiß, dass sie mit ihrer Stimme vielleicht gefährliche Tiere, Räuber, Vergewaltiger oder wen auch immer anlocken kann. Aber sie weiß auch, dass die meisten davon sie für ihre Begehren erst einmal aus diesem Loch befreien müssten und sie weiß, dass sie sich im Nahkampf verdammt gut zur Wehr setzen kann. Von ihrer neu gewonnen Überzeugungskraft einmal ganz abgesehen.

Nein, sie fürchtet sich nicht vor Gesellschaft, egal wie sie aussehen mochte. Sie hofft darauf. Denn selbst kann sie sich aus ihrer Lage nicht befreien. Zwar ist ihre Kraft groß, aber auch sie kann keinen Kristall zerbrechen und bei einer falschen Bewegung könnte sie abrutschen und sich übel verletzen. Dieses Risiko wird sie erst eingehen, wenn ihr keine andere Wahl mehr bleibt. Bis dahin muss sie darauf setzen, irgendwen – oder irgendetwas – anzulocken.

„Hallo! Ich brauche Hilfe!“, ruft sie in das fremdartige Gebirge hinaus. Erneut, ohne Antwort zu erhalten.

„Das ist doch nicht möglich. Irgendein Pisser muss sich hier doch rumtreiben. Ich meine, das ist ein verfluchter Berg aus Smaragd. Wo bleiben die verlausten Schatzjäger?!“, führt sie ein weiteres ihrer fruchtlosen Selbstgespräche und verfällt dann in ein frustriertes Seufzen. Sie fragt sich, wann sie versuchen muss, um jeden Preis hier rauszuklettern, egal ob sie dabei ihre Beine und Arme in Fetzen schneidet und sich jeden Knochen bricht. In zwei Stunden? In einer? In einer halben? Ihre Kehle ist bereits extrem trocken, ihr ist etwas schwindelig und sie spürt ihre Beine immer weniger. Nein, lange würde sie wirklich nicht mehr warten können.

Plötzlich registriert sie ein kratzendes Geräusch über sich. Sofort verspürt sie Aufregung, Hoffnung und etwas Angst, die sich noch steigert, als ein dünnes, Hundertfüßler-ähnliches Geschöpf mit einem kristallroten Leib und weiß-glänzenden Beinen am Rand der Spalte auftaucht. Das Wesen hat kräftige Mandibeln und eine lange, schwarze Zunge, mit der es die Umgebung auszukundschaften scheint, wie eine Schlange.

Sandras Angst lässt sich nicht leugnen, immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, dass diese Kreatur sie als kulinarischen Glücksfall betrachtet. Aber gleichzeitig weiß sie, dass sie es gut getroffen hat. In einem insektoiden Körper wohnt – zumindest meistens – auch ein einfacher Verstand. Sie weiß nicht, wie kräftig diese Mandibeln sind, aber sie sehen durchaus so aus als könnten sie Knochen durchschneiden. Warum also nicht Kristall?

„Komm herunter!“, befiehlt sie und das Wesen gehorcht tatsächlich. So sicher als wären seine Füße mit Klebeflächen oder Saugnäpfen ausgestattet, kriecht das Ding an den glatten Kristallwänden hinab und unmittelbar in ihre Richtung.

„Sehr gut“, lobt Sandra das Ding wie einen folgsamen Hund, „jetzt zerstöre die Kristalle um mich herum. Aber ganz ganz vorsichtig.“

Das Wesen krabbelt weiter. Doch es interessierte sich nicht für den Kristall. Stattdessen bewegt es sich direkt auf Sandras Gesicht zu.

Panik steigt in ihr auf. Ist das Tier doch intelligenter als sie angenommen hat oder auf andere Weise gegen Beeinflussung geschützt? Hat sie womöglich die Kräfte verloren, die ihr der Delimiter verlihen hatte, als sie Deovan verlassen hat?

„Nein du Mistvieh! Geh von mir runter!“, flucht Sandra panisch, als das Rieseninsekt seine Beine auf ihrem Gesicht aufsetzt und mit seiner Zunge prüfend über ihre Nase leckt. Sie versucht nach dem Tier zu schlagen, doch nur ihr linker Arm kann es überhaupt erreichen und der ist dummerweise inzwischen eingeschlafen, sodass sie keine wirkliche Kontrolle darüber hat. Mittlerweile hatte sich das Wesen ganz auf ihr niedergelassen. Bedächtig kriecht es auf ihren Mund zu, während seine harte, aber feuchte Zunge über ihre Augen streicht. Sandra schreit aus Leibeskräften.

Und erhält Antwort.

„Derrin!“, ruft eine tadelnde, etwas tiefe, jedoch eindeutig weibliche Stimme, „hör damit auf, du neugieriges Biest. Du sollst doch nicht so auf Fremde zustürmen. Komm sofort zurück!“

Noch einmal leckt das Tier mit seiner feuchten, aber wenigstens nicht allzu schlimm stinkenden Zunge über Sandras Gesicht. Dann krabbelt es gehorsam wieder nach oben und das Antlitz seiner offensichtlichen Besitzerin erscheint über Sandra. Der Kopf der Frau ist ebenso grün, wie der Stein, in dem sie feststeckt. Wenn auch von einem matteren, deutlich dunkleren Ton. Der Großteil ihres Gesichts wirkt zwar noch so weich und elastisch wie Fleisch, aber an ihrer Stirn, ihren Ohren und ihrem Kinn haben sich hornige Kristall-Ausblühungen gebildet. Auch eines ihrer Augen ist bereits vollkommen in Kristall verwandelt, während das andere noch himmelblau, neugierig und fast schon beängstigend freundlich in die Welt hinausstrahlt.

Eine Steingeweihte, denkt Sandra und kann ihr Glück kaum fassen. Die Fremde sieht zwar nicht so aus wie der alberne Clown, Pingo, muss also Opfer eines anderen Steins geworden sein, aber wenn Sandra ihren ersten Eindruck zugrunde legt, könnte sie ähnlich naiv und manipulierbar sein und keine so gefährliche Killermaschine wie die Bleigeweihten.

Als die Frau Sandra entdeckt, nimmt ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an. „Bei den Bergen von Rihn, oh welch Unglück. Wie seid ihr in diese missliche Lage geraten, werte Wanderin?“

Nicht nur die Wortwahl, auch der Tonfall der Fremden ist theatralisch und schwülstig, fast als würde sie einen klischeehaften Fantasyfilm synchronisieren.

„Manchmal hat man einfach Pech“, sagt Sandra schulterzuckend, „kannst du mir vielleicht helfen?“

„Aber fürwahr!“, antwortet die Frau fröhlich, „Aninga Rivvan aus Rihn wird euch beistehen! Es wird schon einen Weg geben, euch den üblen Fängen des Kristalls zu entreißen. “

Na hoffentlich auch einen, deinen Mund zu verschließen, denkt Sandra genervt. Sie will Hilfe, keine klischeehaften Reden.

„Das ist schön“, antwortete Aninga laut, „weißt du zufällig auch, welchen? Mich einfach nur rauszuziehen wird leider nicht klappen. Dafür stecke ich zu fest und wenn du es versuchst, würdest du mir dabei alle Knochen brechen.“

„Mein lieber treuer Derrin kann den Kristall zerstören“, überlegte die Steingeweihte und wirkt, nun, da sie über den Tausendfüßler redet, plötzlich nicht mehr wie eine lächerliche Schablone, sondern ehrlich und aufrichtig bewegt, „ja, das könnte klappen!“

Wie ich vermutet habe, denkt Sandra und beglückwünscht sich zu ihrer Intuition. Vielleicht sollte sie häufiger auf sie hören.

„Dann schick ihn endlich runter, verdammt!“, verlangt Sandra befehlend und nicht gerade freundlich von der Steingeweihten. Dass sie trotz ihrer exponierten Lage so unverschämt wird, ist weder der Ungeduld noch dem Stress geschuldet. Sie hat vielmehr eine weitere Intuition, eine These, die sie überprüfen will. Auch wenn die vorgenannten Erklärungen sicher hilfreich wären, falls sie sich irrt.

„Ja, natürlich, ich helfe doch gern“, antwortet Aninga so freundlich, als hätte Sandra sie im höflichsten Ton um ihre Hilfe gebeten, „komm Derrin, geh zu ihr! Befreie diese Frau aus ihrer misslichen Lage!“

Erneut krabbelt das Wesen zu Sandra hinunter, erkundet jedoch diesmal nicht ihren Körper, sondern beißt stattdessen herzhaft in den Kristall, um ihn mit seinen scharfen Mandibeln zu zerlegen. Feiner Kristallstaub und winzige Splitter verteilen sich zu allen Seiten. Und auch, wenn die Splitter sie nicht ernsthaft verletzen, wird Sandra doch ein bisschen mulmig dabei.

Vor allem, als sie sich vorstellt, dass das genauso gut auch ihre Knochen sein könnten. Als Derrin sich durch die äußeren Schichten des Kristalls gefressen hat und sich ihrer Haut gefährlich nähert, hält sie vor Angst den Atem an. Doch ihre Ängste sind unbegründet. Das Vieh arbeitet präzise, erstaunlich schnell und äußerst umsichtig. Binnen weniger Minuten kann sie sich wieder bewegen und das Blut fließt langsam in ihre tauben Gliedmaßen zurück.

„Das ging viel zu langsam“, meckert Sandra, deren Laune sich durch ihre schmerzenden Beine nicht eben verbessert hat. Befreiung hin oder her.

„Tut mir leid“, sagt Aninga bedauernd, „Derrin hat sein Bestes getan.“

„Du kannst seinen Fehler wiedergutmachen“, bietet Sandra ihr gönnerhaft an, „zieh mich hoch!“

„Natürlich … gerne … aber da sind eine Menge Splitter. Ich könnte mich verletzen. Vielleicht sollte ich erst nach einem Hilfsmittel …“, bringt die Frau schüchtern vor.

„Sofort, dumme Schlampe!“, befiehlt Sandra, „willst du mir jetzt helfen oder nicht? Und wehe, ich bekomme dabei auch nur einen blauen Fleck!“

Kurz fragt Sandra sich, ob sie damit zu weit gegangen ist. Aber in Aningas Gesicht zeigen sich weder Zorn noch Empörung. Sandra hat durchaus das Gefühl, dass ihre Worte sie verletzen, aber ihr Gesicht bleibt dennoch freundlich und hilfsbereit.

Ihr Stein, denkt Sandra, er zwingt sie wohl dazu, ihr zu helfen. Das ist ja noch viel besser als mit Pingo. Sieht aus, als hätte ich meine eigene, willenlose Sklavin, selbst ohne die Hilfe des Delimiters.

Sandra genießt dieses Gefühl. Es ist ein erfrischender Kontrast zu ihrer gespielten Freundlichkeit gegenüber den Flüchtlingen in Deovan.

„Schneller, du hässliches Stück Dreck! Oder willst du dir die Gelegenheit entgehen lassen, deinem Leben einen Funken Bedeutung zu geben?“, mahnt Sandra, da Aninga noch immer etwas zögerte.

Endlich gehorcht die Steingeweihte. Der Stein und Sandra haben offenbar ihren Willen gebrochen. Sie krabbelt bis zum Rand, hält sich mit einer Hand daran fest und streckte ihren Arm aus, der sofort von den scharfen Splittern des Kristalls zerschnitten wird. Anscheinend ist ihr Fleisch noch nicht gänzlich unempfindlich. Sandra lächelt sadistisch und ergreift Aningas ausgestreckte Hand, wobei sie sorgsam darauf achtet nicht ihre Fingernägel zu berühren. Immerhin hatte sie keine Lust auf solch eine Transformation.

Aninga ächzt vor Schmerz, als sie die undankbare Menschenfrau selbstlos nach oben zieht. Trotz ihrer Schmerzen und des feinen, staubigen Rinnsals an Blut, das aus ihren Armen strömt, besitzt die Steingeweihte noch immer eine beachtliche Kraft. Selbst, als Sandra sich absichtlich besonders schwer macht, zieht sie tapfer weiter und befördert sie letztlich erstaunlich schnell nach oben.

An der Oberfläche angekommen, sieht Sandra Aninga für einen Moment tief in die Augen, sieht ihre verletzliche, gequälte Seele. Ein Wort des Dankes kämpft darum, ihr über die Lippen zu kommen. Es ist ein natürlicher, menschlicher Reflex. Aber sie unterdrückt ihn. Etwas Katharsis wird ihr guttun. Sie kann später immer noch etwas freundlicher zu der Steinbitch sein, falls ihr danach sein sollte. Irgendwann, so vermutet sie, wird es ihr sicher langweilig werden, Aninga wie Abschaum zu behandeln. Aber noch macht es eine Menge Spaß.

„Geht es euch gut?“, fragte Aninga besorgt, die, wie Sandra nun feststellt, ein großes Schwert in ihrer anderen Hand hält. Eine Klinge, gefertigt aus verschiedenen Kristallen, die ziemlich gefährlich aussieht.

„Was ist das für eine saublöde Frage“, ätzt Sandra, „ich steckte Stunden in dieser Felsspalte fest und deinetwegen wurde ich auch noch durchgeschüttelt, bis mir schlecht war. Wie willst du mich für deine Unfähigkeit und mein Leid entschädigen?“

„Ich kann euch führen, wohin auch immer ihr wollt“, bietet Aninga unterwürfig an, auch wenn Sandra für einen Moment Widerwillen und sogar Verachtung in ihren Augen aufblitzen sieht.

Es ist nur der Stein, der mich vor ihrem Zorn bewahrt, realisiert Sandra, er hat sie zwar fast verschlungen, aber ich sollte dennoch vorsichtig sein.

„Das klingt gut“, sagt Sandra, die sich diese Chance natürlich nicht entgehen lassen will, blickt dann aber auf ihr das Kärtchen, das ihr Yonis ausgehändigt hat und auf dem ihr eigener Standort und der ihres Ziels glasklar aufleuchten, „aber Führung brauche ich nicht. In keinster Weise und schon gar nicht von so einem hässlichen, dummen Stück Müll wie dir. Es reicht, wenn du mich vor Gefahren warnst und mich mit deinem wertlosen Leben verteidigst. Haben wir uns verstanden?“

„Ja“, antwortet Aninga lächelnd, „natürlich. Die Unschuldigen zu beschützen, ist stets mein edelstes Ansinnen.“

Sandra beißt sich auf die Lippen, um sich ein hysterisches Gelächter zu verkneifen. Unschuldig ist wohl der letzte Titel, den sie sich selbst verleihen würde. Allerdings fürchtet sie, dass es Aningas unfreiwilligem Gehorsam tatsächlich schaden könnte, wenn sie das zu sehr betont. Wer weiß schon, welchen Gesetzen dieses absurde Phänomen folgt.

„Dann versage besser nicht darin“, bringt Sandra so kalt wie nur möglich, nach einem weiteren Blick auf ihr Kärtchen hervor, „wir müssen dort lang. Folge mir!“

Mit diesen Worten ging Sandra entschlossen voran, direkt auf einen hell leuchtenden Pfad mit matten, schwarzen Einschlüssen zu, der zwischen einer grünen und einer rötlichen, kristallenen Erhebung hindurchführt. Die Taubheit in ihren Beinen ist inzwischen gewichen und selbst der Schmerz hat sich auf ein erträgliches Maß reduziert. Auf diese Weise tut es einfach nur noch gut, wieder seine Beine zu strecken und voranzukommen.

„Halt, hier solltet Ihr nicht entlangschreiten!“, warnt Aninga.

„Warum?“, fragt Sandra missmutig, geht aus Trotz noch einen Schritt weiter, hält dann aber doch inne und dreht sich zu der Steingeweihten um.

„Das ist eine Lytriden-Falle“, erklärt Aninga und nur da Sandra in ihrem Leben ein Gespür für verdeckte Absichten entwickelt hat, erkennt sie die feine, kaum wahrnehmbare Genugtuung in Aningas Stimme, „der Boden ist nur eine Attrappe. Beim ersten Schritt darauf, würde er sich öffnen und euer wertvolles Leben … wäre zu Ende.“

Sandra weicht erschrocken einen Schritt zurück. Dann jedoch fängt sie sich wieder und lächelt zufrieden. Offenbar hat sie großes Glück gehabt. Schon ein paar Stunden nach ihrer Ankunft hat sie ihren ersten Schatz auf Rihn gehoben. Einen redenden und atmenden Schatz. Doch nur, weil etwas wertvoll ist, muss man es nicht gut behandeln. Wichtig ist nur, dass man es nicht zerbricht.

7 thoughts on “Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 1

  1. Ich liebe diese Geschichten und hoffe die Reihe ist niemals zu Ende! Einfach der Wahnsinn, sich das alles auszudenken und am Ende auch in einen logischen Rahmen zu setzen. Ich stelle mir im Kopf schon immer vor, wie es wäre die Geschichte im Kino als Film zu verfolgen 🙂

    Aber ich muss auch mal etwas (motivierende) Kritik loswerden:
    1. Der erste Absatz in dem Text ist doppelt, der wiederholt sich mittendrin.

    2. Du hast manchmal die Angewohnheiten Namen zu vertauschen. Ich selbst lese die Geschichten alle paar Wochen / Monate mal weiter, da ist es schwer sich die Hintergründe der Personen noch zu merken (insbesondere im letzten Deovan Teil, mit allen Vorständen, Experimenten und sonstigen gesammelten Charakteren). Das wird natürlich noch schwerer, wenn dann ein Charakter mit dem falschen Namen betitelt wird.
    Als Beispiel hier ist mir diese aufgefallen, kurz bevor das Efryum zerstört wird. Da schreibst du, Adrian bekommt das Pendel von Tarena, obwohl es ja logischerweise Any sein müsste, welche Pendelherrin ist.

    PS.: Ich kann das selbst nicht mal annährend so gut wie du, also bitte die Kritik nicht falsch verstehen. Ich freue mich schon sehr auf die nächsten, hoffentlich unzähligen Teile

  2. Wahnsinn! Ich habe allergrößten Respekt davor wie du es geschafft hast, solch ein Universum (eher Multiversum) zu erstellen mit den ganzen Verstrickungen und roten Fäden und das jetzt noch auf weitere Zeitebenen auszudehnen, mega Respekt dafür!

    Ich möchte aber auch etwas konstruktive Kritik äußern:
    1. Der erste Absatz ist doppelt, der Text wiederholt sich aber der hälfte!

    2. Ich selbst lese die Geschichten immer wenn ich Zeit dafür habe, teilweise nur alle paar Monate mal, da fällt es schwer, die unzähligen Charakter in die richtige Verbindung zu bringen. Insbesondere bei Deovan mit den ganzen Gebern, Nehmern, Vorständen und „Adrians altlasten“. Das wird an dem Punkt noch schwieriger, weil du manchmal selbst Namen durcheinander bringst. Zum Beispiel schreibst du hier, kurz bevor das Efryum zerstört wird, das Adrian das entscheidende Pendel von Tarena erhält, dabei ist Any ja die Pendelmeisterin.

    Aber das nur am Rande! Wirklich eine ausgezeichnete Leistung! 🙂

    1. Hallo Eric, vielen Dank für Dein Lob aber auch für deine konstruktive Kritik. 🙂 Beim ersten Absatz ist mir leider ein Kopierfehler beim Einsetzen in WordPress passiert. Danke für deinen Hinweis. Das hat bestimmt schon einige verwirrt. Ja, das mit den Namen passiert mir leider gern. Versuche schon das abzustellen, aber manche Dinge entgehen einem irgendwie selbst beim dritten Durchlesen, weil man irgendwie Käferscherben auf den Augen hat :/. Ich versuche aber mein Bestes, um das abzustellen. Freut mich jedenfalls sehr, dass du die Geschichten gerne verfolgt 🙂

  3. Bin zufällig über Katis Hörspiele auf dich und deine Geschichten gestoßen. Fortgeschritten habe ich vollständig innerhalb von zwei wochen weggesuchtet und ich muss sagen… Ich habe bereits weitere mit dem „Fernweh“ angesteckt =D
    Ich zu meinem Teil bekomme einfach nicht genug und bin schon mega heiß auf das kommende Buch Fragmente und den nächsten teil der Gläsernen Archive von Rihn :`D

    Die Bücher werde ich mir auch noch zulegen. Allein schon nur um deine Arbeit zu unterstützen :-*

    Gibt es einen Zeitplan wann es weitergeht? ^^

    Herzallerliebste Grüße <3

    1. Hallo Deniz, Echt schön, dass dich die Geschichte so begeistern konnte und danke für deine Unterstützung und natürlich auch für deine Überzeugungsarbeit um weitere Fortgeschrittene zu rekrutieren ;). Auf das Fragmente-Buch bin ich selbst auch sehr gespannt. Ich hoffe, die Druckerei beeilt sich ;D. Mit Rihn wird es auch dieses Jahr noch weitergehen. Allerdings habe ich eine lange Halloween-Geschichte für Katis Halloween-Countdown verfasst und sitze gerade noch an einer noch längeren Weihnachtsgeschichte für ihren Kalender. Zusammen mit dem Fragmente-Buch hat mich das gut beschäftigt gehalten. Ich denke aber, dass ich spätestens nach Halloween endlich an Fortgeschritten weiterschreiben kann und wahrscheinlich im Dezember noch ein neuer Teil kommt (vielleicht auch schon Ende November, wenn es gut läuft). Ganz liebe Grüße auch von mir und einen guten Start ins Wochenende

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