Fortgeschritten: Die Lebensmärkte von Deovan 11

Callan konnte es immer noch nicht fassen. Sein ganzes Leben hatte er sich danach gesehnt, Deovan endlich zu verlassen. Diese entseelte Betonhölle gegen eine neue, bessere Heimat einzutauschen und noch einmal von vorn anzufangen. Und jetzt sah es ganz so aus, als würde ihm das endlich gelingen. Obwohl sie gewendet hatten und sich dem Planeten wieder näherten, war er noch immer viele tausend Kilometer von Deovan entfernt. Er atmete nicht länger die verschmutzte, triste Luft, hatte die Taschen voller Geld und befand sich in Begleitung einer Blue Mind, die offenbar über Zauberkräfte verfügte. Es war tatsächlich wie in einem dieser Märchen, die er sich manchmal in den billigen VR-Buden gegönnt hatte, wann immer ihm mehr der Sinn nach Weltflucht als nach sexuellen Abenteuern gestanden hatte. Nur war das hier viel besser.

Dass Rise hinter ihm her war und dass Rihn auf seine eigene Art auch ganz und gar nicht ungefährlich war, wollte er gerade bewusst ausblenden. Einmal in seinem beschissenen Leben wollte er sich ein wenig Hoffnung zugestehen. In Rihn gab es für ihn eine Zukunft, das wusste er. Er würde Antworten auf unzählige Fragen finden und vielleicht sogar einen Weg in dieses sagenumwobene Cestralia. Jenes von ihm schon lange herbeigesehnte Paradies, für das es nun endlich einen Namen gab.

Er blickte zu den Sternen, die wie blasse Stecknadelköpfe an ihnen vorbeizogen und nahm die leisen Gespräche, der anderen Fahrgäste nur als Hintergrundrauschen war. Trotzdem hörte er sie über Rihn sprechen. Sehnsuchtsvoll, andächtig, neugierig. Nicht wie abgebrühte, knallharte Söldner, sondern fast wie aufgeregte Kinder.

„Wunderschön, nicht?“, fragte Clary sanft, „ich habe nur Geschichten von den Sternen gehört. Bei Mutter war ich ja immer nur drinnen und in Deovan sieht man sie ja kaum. Aber irgendwie ist es, als hätte ein höheres Wesen den Himmel für uns dekoriert, um die Welt wohnlicher für uns zu machen.“

„Es sind verflucht heiße Gasbälle, mehr nicht“, sagte Callan, reflexhaft, in seinen gewohnten Zynismus verfallend, und schämte sich angesichts der atemberaubenden Kulisse beinah dafür.

„Sie wärmen uns“, meinte Clary nur nachdenklich, „und sie sehen unfassbar schön aus. Egal, was sie sind. Wenn eine Mutter Kerzen für ihr Kind aufstellt, macht es die Geste nicht weniger liebevoll, nur weil sie aus Docht und Wachs bestehen. Wir müssen mit dem arbeiten, was es um uns herum gibt, aber wir können ihm Bedeutung verleihen, durch unsere Absichten.“

Mutter. Der Klang dieses Wortes war für Callan sehr seltsam. Gelegentlich benutze man auch in Deovan diesen Begriff, jedoch nicht auf so schwärmerische Weise wie Clary es tat. Auch Callan hatte Eltern gehabt. Recht wohlhabende Geber an der Schwelle zu Nehmern, die in ihn investiert und ihm sogar eine Schulbildung finanziert hatten. Er hatte seinen Teil beigetragen und hart gearbeitet. Tag für Tag. Nicht nur für die Schule, sondern auch in Fabriken, im Haushalt und manchmal war er vermietet worden für … gewisse Dienstleistungen. Es war nicht schön gewesen und Liebe oder auch nur geschäftsmäßige Freundlichkeit hatte er kaum erfahren, selbst wenn er anfangs sogar versucht hatte, eine Bindung zu seinem Vater und seiner Mutter aufzubauen.

Vergeblich natürlich, da die beiden an derlei Emotionen kein Interesse gehabt und ihre Zuneigung lieber ihren Soul Companions geschenkt hatten. Es war ein trostloses Leben gewesen. Aber es hatte irgendwie funktioniert. Jedenfalls bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr. Dann hatten seine Erzeuger ihm vorgerechnet, dass sein Return on Investment erreicht war und sie ihren Vertrag und alle beiderseitigen Verpflichtungen lösen würden. Von einem Tag auf den anderen hatte er auf der Straße gestanden. Dieser Tag war wohl einer der düstersten seines Lebens gewesen. Obwohl … nein. Einiges, was danach folgte, war sogar noch schlimmer gewesen. Aber an all das wollte er nicht denken. Es beschmutzte diesen Moment. Diesen kleinen Erfolg, den er endlich einmal erleben durfte. Wieder beneidete er Clary. Sie hielt eisern an ihren Illusionen fest. Trotz allem, was sie sah und hörte.

„Natürlich weiß ich nicht, ob es ein höheres Wesen oder eine höhere Ordnung gibt“, fuhr Clary fort, „vielleicht ist alles nur Zufall. Aber ein solcher Zufall wäre ja nicht weniger wunderbar. Überleg mal, wie unwahrscheinlich es ist, dass wir in einer Realität leben, die so viel Schönheit bereithält.“

So viel Schönheit? Callan wollte zynisch auflachen. Er dachte an die Erniedrigungen, an die Schläge. An die Ängste. An die Erschöpfung. An die tausend Dinge, die ihm angetan worden waren. Nichts davon war schön gewesen. Aber andererseits hatte Clary vielleicht auch recht. Es waren für gewöhnlich dessen Bewohner, die dieses Multiversum oder zumindest viele Welten darin zu einem Albtraum machten. Nicht die Orte selbst. Sie konnten durchaus schön sein.

„Da hast du wohl recht“, murmelte Callan freundlich und zwang sich zu träumen. Er schwieg, wandte den Blick von den Sternen ab und sah auf die Reiseroute. Sie hatten das deovanische Einflussgebiet wieder erreicht und befanden sich nun etwa auf der Höhe der Satellitenwelt Kantrassa. Callan verbannte die aufkommenden, düsteren Gedanken an Abfangjäger und Enterschiffe mit Rise-Executioners sofort aus seinem Geist. Er blickte in die Zukunft, verfolgte die Reiseroute bis zu einem gedachten Glück weit am Horizont. Und es gelang ihm tatsächlich. Für eine Weile schwebte er in den warmen Wassern seiner Fantasie.

Dann begann das Schiff zu ruckeln und ein schrilles Quietschen erklang, als sich die Stahlwände des Passagierschiffs wie unter gewaltigem Druck nach innen bogen.

Die aufgeregten Gespräche verstummten und wichen panischen Schreien. Die Lichter flackerten und erloschen schließlich ganz, während Callan und Clary nur deswegen nicht aus ihren Sitzen geschleudert wurden, weil sie sich mit aller Macht daran festhielten.

„Was ist hier los?“, fragte Callan erschrocken, „wurden wir angegriffen?“

Clary konnte das natürlich genauso wenig wissen wie er. Dennoch sah Callan, dass sie auf seine Frage etwas antworten wollte.

Dann jedoch verschwanden die Wände um sie herum und die Sterne waren plötzlich überall. Callan wurde eiskalt, dann heiß und auch Clary gelang es nicht zu antworten, nun, da sie der luftlosen Leere des Alls ausgeliefert waren. Zwei Sekunden währte dieser Zustand. Kaum Zeit für einen Plan, für Gedanken, für Sorgen, aber genügend Zeit genug für nackte Panik. Dann waren die Wände wieder da und die Lichter kehrten als blaue Warnbeleuchtung zurück. Der Innenraum schien wieder halbwegs normal, jedoch beschädigt. Teile der Deckenverkleidung fehlten und Trümmer und Metallteile lagen überall verstreut. Die meisten Passagiere schienen benommen, aber noch lebendig. Einige waren offenbar bewusstlos, andere verletzt und wieder andere waren von den Trümmerstücken erschlagen worden. Der Flugbegleiter, mit dem Callan vorhin gesprochen hatte, gehörte zu letzterer Kategorie. Ihm steckte ein Teil der Deckenverkleidung im Kopf und er lag verkrümmt mitten im Gang.

Eine Computerstimme erklang. „Verehrte Fahrgäste. Leider kam es zu einem nicht identifizierbaren Zwischenfall und zu nicht mit Bordmitteln behebbaren Schäden am Schiff, weswegen wir unsere Reise leider nicht fortsetzen können. Nutzen Sie bitte Ihre Identifier und rufen Sie mit dem Code RF6793K einen exklusiven Shuttle-Service, der Sie unter Berücksichtigung eines marktgerechten Notfallaufschlags von 300 Prozent für eine Zahlung von nur 20.000 Dominanten in Kürze evakuieren wird. Jenen, die vor Ihrer Reise eine Reiseunfallversicherung abgeschlossen haben, bieten wir unter Angabe ihres Versicherungspartners gerne einen Ersatzflug an, damit sie ihre Termine ohne größere Verzögerung wahrnehmen können. Alle, die nach der Ankunft des Shuttles noch auf dem Schiff verbleiben, möchten wir darauf hinweisen, dass die Lebenserhaltungssysteme zu diesem Zeitpunkt abgestellt werden, um diese Ressourcen bergen und wiederverwenden zu können. Wir danken für Ihr Verständnis.“

„Das ist doch nicht deren Ernst!“, sagte Clary ungläubig.

„Oh doch“, meinte Callan bitter, „die meinen das todernst. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe genügend Geld für uns beide.“

„Und was ist mit den anderen Passagieren?“, fragte Clary tadelnd.

Callan sah zu verstört wirkenden Söldnern. Einige hatten ihre Gesichter in den Händen vergraben, andere blickten betreten zu Boden. Er glaubte nicht, dass sie in der Lage wären, die Wucherpreise für das Shuttle zu bezahlen und selbst, die, die es konnten, wären danach wahrscheinlich völlig Pleite. Andererseits hatte er schon genügend Geld an Söldner verschwendet und er kannte diese Leute ja nicht einmal. Er schätzte, dass etwa achtundzwanzig von ihnen noch transportfähig waren. Wenn er für sie alle Tickets kaufte, wäre er mehr als eine halbe Million Dominanten los. Wenn er weiter so verfuhr, wäre er mittellos, noch bevor er überhaupt nur in die Nähe von Cestralia kam.

„Die kommen schon zurecht“, entschied Callan.

„Das glaube ich nicht“, beharrte Clary, „sieh sie dir doch an. Sie sehen verzweifelter aus als die Ragoten von Widan, als sie die Höhle der Shrang-Fri betreten mussten, um sich ihre Seelen zurückzuholen.“

„Das kommt vor. Ich bin gerade auch nicht besonders glücklich“, entgegnete Callan.

„Und offenbar auch nicht besonders nett“, urteilte Clary und diese Worte sorgten dafür, dass Callan die Schamesröte ins Gesicht kroch. Sie sagte ja im Grunde die Wahrheit. Er durfte nicht so denken, nicht, wenn er anders sein wollte, als seine hartherzigen Mitbürger. Auch wenn es natürlich schade um das schöne Geld wäre … doch vielleicht ließ sich ja auch das richtige mit dem nützlichen verbinden.

„Hört mir zu, werte Geber“, eröffnete Callan laut, „jedem, der sich das Ticket für die Evakuierung nicht leisten kann, biete ich einen Deal an. Ich zahle seine Evakuierung und erhalte im Gegenzug seine Dienste als Leibwache für einen Monat. Verpflegung stelle ich auch.“

Clary sah ihn tadelnd an, aber er ignorierte ihren Blick, so gut er konnte. Dieser Deal war fair und wenn er diesen Leuten die Überfahrt geschenkt hätte, wären sie wohl höchstens misstrauisch geworden. Niemand von ihnen wird in seinem Leben schon einmal etwas geschenkt bekommen haben.

Als Erstes machte sich eine hagere Frau mit blassgrünen, großen Augen und einem sichtbaren Waffenimplantat im Bauch auf den Weg zu ihm. „Nur schützen und töten oder auch andere Dienste?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

„Nur schützen und töten“, bestätigte Callan.

„Dann haben wir ‘ne Abmachung!“, sagte sie, „besser das als zu verrecken.“

Bis auf einen Söldner, der wohl auch so genügen Geld für sein Ticket besaß, nahmen alle Überlebenden sein Angebot an.

Callan tippte auf seinen Identifier, veranlasste die Transaktion und sah wehmütig dabei zu, wie sich sein Kontostand verringerte.

„Und was nun?“, fragte Clary, die zwar nicht erfreut, aber zumindest auch nicht sehr verärgert wirkte.

„Wir warten auf das Shuttle, hoffen, dass wir nicht bereits am Raumhafen erwartet werden und nehme dann einen Direktflug nach Rihn“, erklärte Callan.

„Falls wir bis dahin nicht abgeschossen werden“, meinte Clary ungewohnt pessimistisch.

„Ich glaube nicht mehr, dass es ein Angriff war. Sonst hätte man uns längst geentert oder endgültig ausgeschaltet“, erwiderte Callan.

„Was war es dann?“, fragte Clary.

„Ich weiß nicht“, antwortete Callan, „womöglich hat …“

Seine Worte rissen ab, als ein erst hell und dann dunkel erscheinender Blitz aufflackerte, ein schrilles, nervenzerfetzendes Kreischen erklang und das Schiff jäh auf eine unglaubliche Geschwindigkeit beschleunigt wurde.

Callans Magen presste sich zusammen und er übergab sich nur deswegen nicht, weil sich auch seine Speiseröhre zu stark zusammenzog, um irgendetwas durchzulassen. Ja, mehr noch, er glaubte zu spüren, wie all seine Organe und Muskeln auf die Breite eines Stücks Pappe konzentriert wurden. Und dieser Eindruck täusche nicht, denn alle anderen Fahrgäste wirkten auf ihn ebenfalls eher zweidimensional. Trotzdem konnte er aus irgendeinem Grund noch sehen und denken und nach einer unbestimmbaren Zeitspanne zwischen zwei Sekunden und zwanzig Jahren war es vorbei. Sie kamen zum Stehen und Callan gelang es irgendwie seinen Mageninhalt wieder herunterzuschlucken, bevor er sich seinen neuen Anzug besudelte.

„Was … was ist hier los?“, fragte Clary verwirrt und ängstlich in der Dunkelheit. Die Lichter, selbst die Notbeleuchtung waren ausgefallen, doch immerhin hatte Clary offenbar überlebt und sie war wohl nicht die einzige, wie er am vielfachen Röcheln und Würgen um sich herum feststellte.

„Ich weiß es auch nicht“, sagte Callan ebenfalls sehr nervös. Er hatte so etwas noch nie erlebt, „aber dass die Lichter ausgefallen sind, ist kein gutes Zeichen.“

„Die haben’s mit der Geflechtenergie übertrieben“, hörte er die raue, hustende Stimme einer der Söldnerinnen, die Callan unter Vertrag genommen hatte, „ich war Technikerin, früher einmal. Hab Anlagen installiert und gemerkt, wie die immer öfter Probleme gemacht haben. Hat meine Vorgesetzten natürlich nie interessiert. Ich denke, das ganze feinstoffliche Netz hier, ist wie ein zerfetzter alter Lappen, der eben rumspinnt. Und uns hat er wer weiß, wohin geschleudert. Das war keine gewöhnliche Beschleunigung. Eher irgend so ’ne Anomalie. Sonst wären wir längst Abfall.“

„Das könnte sein“, sagte Callan wie automatisch, auch wenn er sich eigentlich mit diesen Themen nicht gut auskannte, „aber wohin hat es uns geschleudert?“

„Ich glaube, ich weiß es“, sagte Clary düster und zeigte auf eines der Sichtfenster, das sich etwas gegen die ansonsten vollkommene Dunkelheit abzeichnete. Callan trat näher und konnte tatsächlich etwas mehr erkennen. Und zwar einen Planeten mit silbernen Meeren und dunklen Landmassen, aus denen sich einige gleichfalls silbrige Türme und Quader und Spiralen erhoben und in denen langsam pulsierende, helle rote, grüne und weiße Lichter wie planvoll angeordnete Leuchtkristalle feststeckten.

„Ist das …“, begann Callan.

„… Anntrann“, beendete Clary seinen Satz, „offenbar hat das Schicksal entschieden, dass wir unbedingt dorthin müssen. Egal, was wir wollen.“

Die Bitterkeit, mit der sie die letzten Worte aussprach, tat Callan fast mehr weh als die düstere Erkenntnis im Orbit dieses Albtraum-Planeten zu schweben. Anscheinend erkannte Clary erst jetzt so richtig, dass das Leben nicht fair war.

„Daraus wird eh nichts“, sagte eine unfreundliche, leicht hysterische Söldnerstimme, „Ich fress’ all meine Dominanten, wenn dieser Höllenritt nicht die Lebenserhaltungssysteme geschrottet hat. Und wisst ihr, was das Beste ist? Es hat auch Löcher in die Außenhülle gerissen. Hört ihr nicht auch dieses Zischen? Das ist er. Der letzte Vertrag, der nach uns ruft. Wer nicht ersticken oder durchs All schweben will, den kann ich gerne für zweihundert Dominanten abknallen. Deal?“

Der Mann lachte laut und freudlos auf und auch wenn er etwas irre wirkte, glaubte Callan, dass der Typ recht hatte. Sie waren am Arsch.

„Ich hoffe, unser Shuttle kommt bald“, bemerkte Clary, während sie ihre sorgsam geschnittenen Fingernägel nervös in ihren Arm krallte und weiße Abdrücke darin hinterließ.

„Falls es uns hier findet“, sagte eine anderer Söldner, „das Geld vom Nehmer Callan haben die ja schon und wenn wir nicht am vereinbarten Ort sind, dann begehen sie auch keinen Vertragsbruch, wenn sie wieder abdüsen.“

„Können wir denn gar nichts tun?“, fragte Clary.

„Wir könnten noch ‘ne Orgie feiern“, schlug eine weitere Söldnerin vor, „wir müssen uns aber beeilen.“

Callan kam das alles so unwirklich vor. Die Dunkelheit der Kabine, in der es zunehmend kälter wurde, all diese fremden Stimmen, die sternengespickte Schwärze dort draußen und der fremde, unheilvolle Planet, der wie ein zynisches Lächeln unter ihnen seine Bahnen zog. Callan verspürte Angst, ja. Aber vor allem Wehmut und Traurigkeit. So stark und wahrhaftig, dass sie sich schon beinah schön anfühlten.

„Es tut mir leid, Clary“, sagte Callan leise und erlaubte sich Clary in der Dunkelheit zu umarmen, „ich hätte dich nicht mitnehmen sollen.“

„Wir alle gehen unseren eigenen Weg“, sagte Clary, „wir können uns dabei höchstens helfen, aber nie die Wahl für jemand anderen treffen. Wer etwas anderes glaubt, ist ein Narr oder ein Arschloch.“

Callan lächelte über ihre Worte. Dann spürte er eine erneute Erschütterung, wenn auch längst nicht so heftig wie zuvor. Mehr wie bei einem Aufzug, der losfuhr.

„Wir bewegen uns“, stellte Callan fest.

„Ja“, sagte Clary, den Blick fest auf das Fenster gerichtet, „direkt auf die Oberfläche von Anntrann zu.“

~o~

Garwenia hatte sich so lange eine intakte Haut herbeigesehnt, um sich vor den grauenhaften Umwelteinflüssen Hyronanins zu schützen. Eine atmende, fühlende Decke aus Fleisch. Lebendig, flexibel und zuverlässig. Viele hoffnungslose Nächte hatte sie davon geträumt, versucht sich daran zu erinnern, wie es gewesen war und dabei fast vergessen, wie leicht man diesen Schutz zerreißen konnte. Die RIP-Cages erinnerten sie daran. Kaltes Metall küsste gleich an mehreren Stellen ihre Haut. Und schnitt. Wären ihre Reflexe nicht schneller gewesen, der Schmerz hätte sie gelähmt. So jedoch fuhr ihr elektrischer Stab direkt in das Innere des mechanischen Ungetüms.

Die Metallklingen zogen sich aus ihr zurück und auch der RIP-Cage selbst flog ein winziges Stück rückwärts. Garwenia blendete den Schmerz und das Gefühl des warmen Blutes auf ihrer Haut aus. Erneut schlug sie zu. Wieder und wieder, während sie unmerklich zurückwich. Knisternde Funken breiteten sich auf dem Metallkäfig aus. Doch das Ding stürzte nicht ab. Im Gegenteil. Es folgt ihr. Rückte näher. Stück für Stück. Und Garwenia stand – buchstäblich – mit dem Rücken an der Wand.

~o~

Zuh war wie in Trance. Wie in einem Tanz, gleich dem, den sie auf unzähligen Totenfesten getanzt hatte. Die Maschinen, ihre Klingen und Gitter griffen nach ihr. Nach ihr und nach Regevo, den sie wie einen Tanzpartner führte. Doch sie trafen sie nicht. Immer kamen sie ein Stück, einen Moment, eine schattenhafte Bewegung zu spät. Sie zerschlugen die Luft, durchbohrten die Leere, töteten das Nichts. Zuh nahm das zur Kenntnis. Ohne Stolz. Ohne Überheblichkeit. Und gerade deshalb wusste sie, dass das allein nicht reichen würde. Sie und ihre bravianische Puppe könnten dieses Schauspiel noch lange aufführen. Unendlich lange vielleicht. Doch die anderen beiden konnten das nicht. Zuh war eine Hüterin des Todes. Seine Jüngerin und Dienerin. Sie bewahrte sein Geschenk vor Missbrauch. Und deshalb musste sie das Leben schützen, solange es ging. Zum Glück besaß sie das richtige Werkzeug dazu und es war nicht das, was Gorett ihr gegeben hatte.

Wie ein dunkler Falter löste sich ein Impuls aus ihrem Kopf und fuhr direkt in Regevos gedankenlosen Körper hinein. Sein Finger platzte auf und sein Geheimnis löste sich. Suchte seinen Weg. Fand ihn. Nahm Kontakt auf. Zuh sah Datenfragmente vor sich. Zahlen und Codes, die sie nicht verstand, nicht verstehen musste. Denn Töten erforderte kein Verständnis. Nicht mal bei einer Maschine. Es erforderte nur Willen. Und den hatte sie.

Zufrieden hörte sie den RIP-Cage funktionslos auf den Boden krachen, während sie ungerührt weiter tanzte und ihren Tanzpartner zu einer weiteren, vernichtenden Drehung einlud.

~o~

Garwenia wurde schwindelig. Nur für einen Moment. Es war nichts Körperliches, mehr wie eine spontane Rückblende. Ein Abgleiten in einen unbewussten Moment ohne Struktur. Das Bewusstsein tief begraben im Sand. Für diesen Augenblick schien alles lächerlich, albern, sinnlos, unverständlich. Dann war sie zurück im Jetzt. Stieg hinauf aus den Sanden, zusammen mit einer Idee.

Sie schwang ihren Stab. Platzierte ihn in den zuschnappenden Gittern und sprang. Direkt auf die Gitterstäbe, dann auf die stumpfe Seite der Klingen und schließlich über den RIP-Cage hinweg. Nun, mehr oder weniger, denn eine der Klingen erwischte noch im Sprung ihren Fuß und riss ihn der Länge nach auf.

~o~

Kaum da Zuh mithilfe von Regevos Besonderheit den ersten Käfig zu Fall gebracht hatte, dirigierte sie sein blutbeschmiertes Kabel schon zu der nächsten Bedrohung, die ihre Gitterzähne begierig nach ihrem blassen Leib ausstreckte. Es war fast zu einfach. Ein leichtfüßiger Tanz des Lebens, getanzt von ihr und einem geistig Verstorbenen. Die Gitter schnappten ins Leere, wieder einmal, und das Datenkabel nahm erneut Kontakt auf. Zuh, die kaum eine Ahnung von Software hatte, spielte darauf erneut eine leichtfüßige Melodie des Todes, die Regevos fast bewusstseins- aber nicht erinnerungsloses Gehirn für sie übersetzte. Als würde der RIP-Cage sein Ende spüren, wand er sich, drehte sich und versuchte erneut nach Regevo zu schnappen. Dieser wolle auf Zuhs Verlangen hin ausweichen, wolle sich einmal mehr mit einer gewandten Pirouette wegdrehen, als Garwenia unversehens mitten in seine Bewegung hinein krachte. Beide fielen zu Boden und die Gitter und Klingen des RIP-Cages fuhren in einer letzten, ersterbenden Bewegung direkt in Zuhs Tanzpartner hinein.

~o~

Geladen mit Adrenalin ignorierte Garwenia den neuerlichen Schmerz und rappelte sich sofort auf. Was sie aber nicht ignorieren konnte, war das Leid Regevos, dessen Brust, Bauch und Kopf regelrecht von dem RIP-Cage zermatscht wurden. Blut, Gewebe und Gehirnflüssigkeit quollen aus den tiefen Wunden und obwohl sie es nicht für möglich gehalten hatte, entfuhr dem Mund des vermeintlich geistlosen Regevo ein erbärmlicher Schrei. Wie kann das sein?, fragte sie sich, doch erinnerte sich dann wieder. Zuh hatte ihr erzählt, dass sein Geist zerstört, seine Seele aber noch intakt war. Garwenia spürte, wie Tränen ihr fast hautloses Gesicht herabrannen. Er starb meinetwegen, begriff sie, wegen meiner Ungeschicklichkeit. Er war ein Bravianer, genau wie sie, aber auch wenn er ein anderes fühlendes Lebewesen gewesen wäre, hätte es das nicht besser gemacht.

Immerhin schien er seinen Gegner noch bezwungen zu haben, denn der RIP-Cage sank trudelnd herab und gesellte sich zu seinem Ebenbild, das bereits reglos auf dem Boden lag. Damit befanden sich nur noch zwei der Todesmaschinen in der Luft. Eine davon setzte ihr gerade nach, während die andere wie eine Lawine aus Stahl auf den hochkonzentrierten Gorett zusteuerte.

„Vorsicht, Gorett!“, rief Garwenia, doch der Techniker schien sie nicht zu hören.

~o~

„Nicht jetzt, verdammt“, zischte Gorett leise zu sich selbst, als er beobachtete, wie die Kabel und Platinen vor seinen Augen verschwammen. Normalerweise stellte sein „Visual-Highlight-Implantat“ nur einmal die Woche während der Arbeitszeit seinen Dienst ein. Meistens schaffte er es den Sichtausfall auf seine Nächte zu begrenzen, doch das erhöhte Adrenalinlevel schien der Verbesserung nicht gut zu bekommen. Und das war wirklich, wirklich mies. Nicht nur, dass die eingeblendeten Zusatzinformationen ausfielen, die ihm halfen, die verschiedenen Elemente des Rätsels zu unterscheiden, ohne eine scharfe Sicht wurde es praktisch zum Glücksspiel, die richtigen Handgriffe zu erledigen. Er konnte nur hoffen, dass sein gewohntes Augenlicht irgendwann zurückkehrte, musste sich bis dahin irgendwie beruhigen und abwarten. Wobei … nein … es gab noch eine andere Möglichkeit. Er hatte nicht mehr viel Konzentran und die garantierte Haltbarkeit war seit zwei Monaten abgelaufen. Aber wann, wenn nicht jetzt?

Gorett streckte seinen kleinen Finger leicht nach oben und spürte das Anfluten der Substanz. Ein scharfer Schnitt ging durch seinen Kopf, so als hätte der Sensenmann höchstpersönlich sein Werkzeug hindurchgejagt. Zugleich schmeckte es in seinem Mund modrig und metallisch. Das war nicht normal, nein ganz und gar nicht, aber immerhin war seine volle Sehkraft zurück und es fiel ihm plötzlich leichter alles Unwichtige auszublenden. Selbst das bedrohliche Schwirren der RIP-Cages und die Kampfgeräusche, die zwar nicht wirklich unwichtig, für ihn aber im Moment nicht relevant waren, nicht relevant sein durften, wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte. Erneut selbstsicher und konzentriert, legte er Schalter um, kappte Kabel und lötete andere zusammen, verdrängte die drohende Gefahr der fliegenden Tötungsmaschinen hinter ihn. Er arbeitete zuverlässig, mit fast schlafwandlerischer Sicherheit und auch wenn er eigentlich auf den Moment konzentriert war, ahnte er, dass die Aufgabe in Kürze ausgestanden sein würde. Nur noch zwei oder drei Kabel, nur noch zwei Schalter und vier Lötstellen und dann – Freiheit.

~o~

Auch wenn Gorett nicht reagierte, Zuh tat es. Die Frau aus Luth Nomor führte ihren spannungsführenden Metallstab in einem eleganten Schwung gegen den fliegenden Käfig und traf ihn direkt an seinem glänzenden „Rückgrat“. Wie zuvor bei Garwenia reichte es nicht, um das tödliche Gerät zu stoppen, aber immerhin lenkte es dessen Aufmerksamkeit von Gorett ab.

„Die Stäbe helfen nicht“, bemerkte Garwenia atemlos, während sie sich mit einer hektischen Drehung ihrer brennenden, blutbeschmierten Füße vor ihrem RIP-Cage in Sicherheit brachte. Ihr fiel es – auch wegen ihrer Verletzungen – nicht halb so leicht, diesen Todesfallen zu entgehen wie Zuh.

„Das habe ich auch bemerkt“, entgegnete Zuh, während sie wie eine düstere Kunstturnerin über den RIP-Cage hinwegsprang, „die Spannung scheint nicht auszureichen. Gorett muss sich verschätzt haben.“

„Wahrscheinlich … “, sagte Garwenia nachdenklich, fragte sich aber zugleich, ob dem eigentlich kompetent wirkenden Mann, der diesen Raum so gut zu kennen schien, solch ein Fehler unterlaufen könnte. Sie blockte mit ihrem Stab ächzend den erneuten Versuch ihres Angreifers ab, ihren Körper zu zerquetschen. Als der Stab dabei etwas in ihrer Hand hochrutschte, bemerkte sie einige raue Erhebungen. Und plötzlich hatte sie eine Idee. Doch leider nicht die Zeit, sie zu prüfen.

„Ich will etwas ausprobieren. Doch ich brauche dafür einen Moment. Kannst du meinen Cage auch ablenken?“, fragte sie Zuh und rechnete halb mit einer ablehnenden Antwort. Doch sie irrte sich.

„Ich glaube schon“, erwiderte Zuh knapp, rollte sich von einer Attacke weg und schloss zu Garwenia auf.

„Jetzt!“, rief Zuh. Dann hieb sie auf Garwenias RIP-Cage ein und Garwenia rannte so weit weg, wie sie konnte.

Ohne sich darum zu kümmern, ob die bedauernswerte Luth Nomorerin dieser Herausforderung gewachsen war, sah Garwenia sich den Stab zum ersten Mal genauer an. Das Gerät besaß verschiedene, mehrstufige Kippschalter und eine Art Energieanzeige mit vier Kästchen, von denen nur eines mit einem blauen Leuchten erfüllt war. Sie probierte kurz an den Schaltern rum, holte sich beim ersten einen leichten Schlag, der ihr den Stab fast aus der Hand katapultierte, hatte jedoch beim dritten Erfolg. Die Anzeige leuchtete komplett auf.

„Zuh! Der dritte Schalter von oben! Ganz nach rechts!“, rief sie aufgeregt. Dann stürmte sie los, um der bedrängten Frau zu helfen.

Als sie sie erreichte und ihre beiden, voll hochgeregelten Stäbe diesmal beinah synchron zuschlugen, gab es nicht nur ein Knistern, sondern eine kleine, aber heftige Explosion. Schwarzer, öliger Rauch stieg auf, als die RIP-Cages ihre letzte Ruhe fanden.

~o~

Die Euphorie des nahenden Erfolges kribbelte in Gorrets Brust, fügte seinem Hormoncocktail eine neue Komponente hinzu und dann, plötzlich, mitten in einem sensiblen Schnitt – fingen seine Hände an zu zittern.

Gorett kämpfte, versuchte sich zu beherrschen als er bemerkte, dass sich sein Schneidewerkzeug um das falsche Kabel gelegt hatte. Doch seine Hände gehorchten ihm nicht länger. Sie krampften, zitterten und schnitten.

Goretts Herz blieb fast stehen, als er realisierte, was passiert war. Über sich hörte er ein unheilvolles Zischen.

~o~

„Wir haben es geschafft!“, verkündete Garwenia freudig und wurde direkt wieder ernst, „nur Regevo nicht. Hätte Gorett uns erklärt, wie diese Dinger funktionieren, hätte der arme Kerl auch noch leben können.“

„Sein Lebenszyklus war ohnehin beendet“, erinnerte Zuh, „so ist es besser für ihn.“

„Er ist schreiend gestorben“, bemerkte Garwenia.

„Das tun viele“, bemerkte Zuh, „doch nach dem letzten Schrei empfängt dich die Wohltat der Stille. Für eine Weile zumindest. Die Sorgen der Lebenden sind stets schlimmer. Und auch unsere sind nicht vorbei, bis wir hier raus sind.“

Mit einem Mal erklang ein leises Zischen. Garwenia wandte sich um und sah zu den verkohlten Metallkadavern, doch keiner von ihnen schien das Geräusch hervorzurufen.

„Was …“, setzte sie an, zu fragen.

Doch ein herzhaftes „Verfluchter Mist!“, von Gorett beantwortete ihre Frage schon fast.

„Der Tod“, flüsterte Zuh, schnuppernd, „ich rieche ihn.“

„Dann hast du eine gute Nase“, sagte Gorett finster, das Gesicht rot, verschwitzt und zitternd vor Panik, „denn er kommt. Ich habe ihn gerufen.“

~o~

„Das Gas tötet langsam“, erklärte Gorett, „aber mehr als zwei Minuten haben wir nicht mehr. Vielleicht drei, wenn wir flach atmen. Dann beginnen die Krämpfe. Und wirklich üble Schmerzen. Tut mir leid, Ladys. Ich habe es versaut.“

Garwenia blickte zu Zuh, die ihr mit einem einzigen Blick antwortete. Sie wusste, dass sie nicht unter Schmerzen sterben würden. Wenigstens das.

Die Frau aus Luth Nomor erhob sich. Ging langsam und bedächtig auf Garwenia zu, wie ein gütiger Schatten. Wie die Personifizierung des Todes, die sie sich in den Seuchenhöhlen so oft herbeigesehnt hatte. Garwenia war fast glücklich. Nicht ganz, aber beinah.

„Garwenia, Zuh, Gorett, seid ihr da drin?“, erklang Travenias Stimme und Garwenia hielt es erst für eine Halluzination, aber wenn dem so war, schien sie nicht die einzige zu sein, die halluzinierte.

„Ja, Chefin“, verkündete Gorett, „aber ich hab’s leider verbockt. Das Langrarin wurde aktiviert. Danke für die Chance, aber dieses Kapital hier können Sie abschreiben.“

Sie hörten die Bravianerin durch die Wand seufzen. „Ich schreibe gar nichts ab. Ich habe in Sie investiert und werde meine Investition schützen. Geber Opret.“

Von der anderen Seite hörten sie das Geräusch eines abgefeuerten Lasers.

„Bei den glühenden Sanden, Sie retten uns!“, sagte Garwenia erleichtert, auch wenn sie bemerkte, dass es bereits unangenehm in ihrer Luftröhre zwickte. Sie bemühte sich flacher zu atmen und beschloss erst mal nichts mehr zu sagen.

„Das bleibt abzuwarten“, meinte Gorett pessimistisch, „Diese Wände sind aus Komprotitstahl. Der wurde dazu entwickelt, Beschuss besonders lange standzuhalten.“

Garwenia versuchte sich von Goretts negativer Stimmung nicht anstecken zu lassen. Sie hatte schon so viel durchlitten, erlebt und – zumindest auf lange Sicht – überlebt. Warum sollte es diesmal nicht so laufen?

Sie blickte zu Gorett, der sich trotz seiner Aussage ebenfalls um eine ruhige Atmung bemühte. Sein von feinen Falten durchzogenes Gesicht mit den großen runden Augen war von Schuldgefühlen geprägt. Aber er blickte auch entschlossen und irgendwie trotzig. Das gab ihr Mut und noch mehr davon flößte ihr Zuh ein. Die Frau aus Luth Nomor sah sie aufmerksam an. Doch das war das einzige Zeichen von Leben, dass sie sich zugestand. Ansonsten war ihr dünner Körper starr und reglos und sie hatte beinah den Eindruck, dass sie überhaupt nicht atmen würde. Sie war wie eine Statue, eine frisch transzendierte Gottheit, die alles Irdische nicht länger zu berühren schien.

All das, zusammen mit dem surrenden Geräusch des Lasers und dem Wissen, dass an ihrer Rettung gearbeitet wurde, gab ihr Zuversicht. Doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr schwand diese Zuversicht. Die Schmerzen in ihrem Fuß und ihrem Gesicht und die Anstrengung der letzten Minuten ließen es kaum zu, dass sie flach atmete und allein der Versuch und der damit verursachte Sauerstoffmangel sorgte dafür, dass ihr schwindelig wurde. Falls es denn der Sauerstoffmangel war und nicht die Wirkung des unsichtbaren, geruchslosen Gases. Das anfängliche Zwicken und Kratzen in ihrem Hals hatte sich zu einem grauenhaften, wunden Schmerz ausgeweitet, der ihr das Schlucken und Atmen zu einer Qual machte. Der Hustenreiz wurde immer drängender, aber sie gab ihm nicht nach, da sie wusste, dass sie so am Ende nur mehr von dem Gift in ihren Körper lassen würde. Schon jetzt kreiste sehr viel davon in ihrem Organismus. Vielleicht auch bereits zu viel.

„Wir sind bald durch!“, munterte Travenia sie auf und kurz schöpfte Garwenia neuen Mut. Dann hörte sie ein würgendes Geräusch und sah hinüber zu Gorett. Der Techniker stand vornübergebeugt und kotzte einen großen Klumpen Blut auf den Boden, bevor er zitternd in die Knie brach.

„Schnell! Bald ist es zu spät!“, trieb sie ihre Retter zur Eile an, ohne darüber nachzudenken, dass sie eigentlich nicht mehr sprechen wollte. Die Worte reizten ihre Kehle und sie konnte sich nicht länger zurückhalten. Ihre Luftröhre, ihre Speiseröhre, ihre Bronchien und ihre geschundene Lunge schienen alle gleichzeitig zu krampfen und sie bemerkte, wie sie lautstark warme, rote Tröpfchen aushustete. Scheiße!, dachte sie. Dann nahm sie reflexhaft einen tiefen Atemzug. Sekunden später folgte ein erneuter Schwindelanfall und ein unangenehmes Ohrensausen. Dann Taubheit. Nur temporär – vorerst noch – doch als sie endete und sie wieder Goretts Röcheln hören konnte, blieb etwas dennoch still.

Der Laser, erkannte sie nach einem Augenblick der Verwirrung, er ist nicht mehr aktiv.

„Was soll das heißen, wir haben keine Energie mehr?“, hörte sie Travenias aufgebrachte Stimme von der anderen Seite und plötzlich schienen die Wände auf sie zuzukommen. Das alles war wie ein großes deja-vú. Wie ein verdammtes Rad, indem sie wieder am selben Punkt angekommen war, wie in ihrem letzten Leben: einem schmerzhaften, grauenvollen Tod.

Sie blickte zu Zuh, die blasser wirkte als zuvor, die aber noch immer gesünder zu sein schien als sie und Gorett. In ihren Augen lag noch immer ein Versprechen und in ihren Händen ruhte ein Ausweg. Garwenia stolperte vorwärts, auf diese Hände Zuh. Hinein in die tröstende Ruhe.

Ihre blutigen, verschmierten Füße bewegten sich unbeholfen, aber sie bewegten sich. Begleitet von Goretts und ihrem eigenen Husten kämpfte sie sich vorwärts,den Blick fest auf Zuh gerichtet, die unbewegt, aber sie willkommen heißend wenige Meter vor ihr stand. Ich werde es schaffen, sprach sie sich Mut zu und hatte das Gefühl, dass ihre Seele ewig weiter leiden würde, wenn sie an diesem verfluchten Gift starb, anstatt durch die Berührung der Luth Nomorerin. Womöglich stimmte das auch. Plötzlich erblickte sie weitere Gestalten, verschwommen am Horizont, überstrahlt von Licht. Eine davon war eine Bravianerin in einem traditionellen Gewand. War das Hiquännah – die küssende Mutter aus dem alten Glauben? Vielleicht. Warum sonst spürte sie einen Luftzug, wenn nicht, weil sie ihr einen ihrer tröstenden Küsse gab, wie jedem leidenden, einsamen Kind in Braviania.

Dann sah sie einige der anderen Gestalten auf sie zukommen. Waren das Hiquännahs Kinder, die sie als Ausgleich für ein zu schreckliches, irdisches Leben in ihre weiten Arme geholt hatte? Aber welche Kinder waren so groß und breit gebaut? Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen. Nur für einen Moment und als sie wieder etwas sah – verschwommen und undeutlich, hörte sie Schritte, hektische Rufe und spürte, wie sie von starken Händen gepackt wurde.

„Beeilt euch!“, hörte sie eine Frauenstimme rufen.

„Hiquännah!“, rief Garwenia flehend und hustend, „nimm mich in deine Arme!“

Dann wurde sie zu Boden gestoßen und verlor erneut das Bewusstsein.

~o~

„Ihr hattet wirklich Glück, dass die Wand einfach verschwunden ist“, sagte Travenia, deren tadelndes und doch erleichtertes Gesicht über ihr auftauchte, „hätten die Deovani nicht alles dafür getan, ihr Geflecht zu zerreißen, wären wir zu spät gekommen. Schon ironisch, nicht?“

„Ich hätte mir denken können, dass du nicht Hiquännah bist“, sagte Garwenia müde lächelnd. Sie fühlte sich noch immer etwas schwach, aber die Schmerzen in Lunge und Rachen waren verschwunden.

„Nein, die bin ich wahrlich nicht“, entgegnete Travenia, „die alte Mutter hätte sicher nie an eine Gegenleistung gedacht. Aber ich will eine. Nicht für die Rettung selbst – die war gratis –, sondern für die verdammte Laserbatterie und die Premium-Heildrohnen, die ich von Insta-Medicals angefordert habe und für diese fähigen, aber unglaublich teuren Söldner.“

„Ich habe kein Geld“, erinnerte Garwenia, während sie sich aufrappelte.

„Ich weiß“, entgegnete Travenia, „aber du hast kulturelles Kapitel. Du wirst schon einen Weg finden, dich zu revanchieren. Und die anderen auch.“

„Leben sie denn noch?“, fragte Garwenia hoffnungsvoll.

„Das tun sie“, antwortete Zuh auf diese Frage. Die zierliche Frau sah zwischen den hochgerüsteten, muskulösen Söldnern deplatziert aus, wirkte aber dennoch kein bisschen zerbrechlich. Dafür war ihre Macht zu offensichtlich, „es scheint so, als wollte uns der Tod nicht haben.“

„Dieses Gefühl kenne ich gut“, erwiderte Garwenia.

„Das muss nicht so bleiben“, sagte Travenia, „deshalb sollten wir uns schnellstens zum Schiff begeben.“

„Was ist mit Nanita?“, fragte Garwenia.

„Sie ist leider nicht gekommen“, antwortete Travenia.

„Das habe ich auch bemerkt“, antwortete Garwenia, „aber sicher nicht aus freien Stücken. Wahrscheinlich ist ihr etwas passiert.“

„Vielleicht“, antwortete Travenia matt, „aber das muss nicht unsere Sorge sein.“

„Sie ist unsere Freundin. Oder wenigstens unsere Verbündete“, widersprach Garwenia, „es geht uns durchaus etwas an.“

„Freundin?“, fragte Travenia kichernd, „ich glaube kaum, dass Nanita dieses Wort in ihrem Wortschatz führt.“

„Aber ich tue es“, antwortete Garwenia entschlossen, „und du auch, ansonsten hättest du uns nicht gerettet. Erwarteter Lohn hin oder her. Kannst du sie irgendwie finden?“

Travenia sah Garwenia sauertöpfisch an. Dann seufzte sie tief und fluchte in Altbravianisch. Das Wort war „Hjinka!“ und bedeutete so viel wie Erbrochenes, das sich mit Sand vermischt hatte.

Dennoch tippte sie etwas auf ihrem Identifier und wurde blass.

„Sie ist in der Gagitsch-Kammer“, sagte sie tonlos und plötzlich mit einer Spur Mitleid in der Stimme.

„Was bedeutet das?“, fragte Gorett hinter ihnen.

„Dass sie praktisch tot ist“, entgegnete Travenia, „und jede Rettung zu spät käme.“

„Das hätte man von uns auch denken können“, argumentierte Garwenia, „dennoch leben wir. Du kennst den Weg dorthin doch, oder? Lass sie uns suchen.“

„Gutzkrahl!!“, fluchte Travenia diesmal noch lauter und dieses Wort zu übersetzen verbietet sogar mein verkümmerter Anstand, „dann kommt mit, verflucht. Aber wenn wir die Kammer nicht aufbekommen, kehren wir um.“

„Einverstanden“, sagte Garwenia.

~o~

Kollom musste zugeben, dass er sich seinen Triumph etwas stilvoller vorgestellt hatte. Natürlich, die geringeren Aufsichtsratsmitglieder starrten ihn, Sandra und Yonis durchaus mit angemessener Ehrfurcht an. Aber was den Rest des Rates betraf … nun, auch wenn er die beiden nicht sonderlich mochte, musste er eingestehen, dass die Abwesenheit von Nural und Travenia die Versammlung schon etwas weniger eindrucksvoll machte.

Vielleicht war es auch eher die Anwesenheit von Alling Nehmer, der mit seiner Alkoholfahne, seinen glasigen Augen und dem Schweißgeruch seiner Turnschuhe kein wirklich angemessenes Ambiente schuf oder der beunruhigend spöttische und selbstsichere Blick von Torvilla, die doch eigentlich höchstens verärgert sein sollte.

Kollom aber beschloss, sich davon nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Es kam hier auf die Fakten an und die sprachen für ihn.

Er platzierte sich am Kopfende des Tisches, direkt gegenüber von Torvilla und aktivierte den Präsentationsmodus seines Manifestors, woraufhin eine große weiße Fläche in der Luft über ihm erschien. Dann wies er Sandra und Yonis mit einem Nicken an, links und rechts von ihm Position zu beziehen und begann zu reden. „Werte Geber, werter Aufsichtsrat, ich bin heute hier, um …“

„Wie es aussieht, sind nicht allein Sie hier, oder?“, unterbrach ihn Torvilla mit einem fröhlichen Lächeln, „eigentlich ist das hier eine Versammlung der Aufsichtsratsmitglieder. Oder habe ich mich in meiner Nachricht irgendwie missverständlich ausgedrückt?“

„Natürlich“, sagte Kollom ruhig und darum bemüht, nicht wie ein Schuljunge zu klingen, der sich von seiner Lehrerin korrigieren ließ. Es gelang ihm zumindest leidlich, „aber ich dachte, dass es gut wäre, wenn Sie die Ergebnisse aus erster Hand von denen hören, die sie erbracht haben.“

„Sie waren also nicht daran beteiligt?“, hakte Torvilla schmunzelnd nach, „oder sind Sie mental nicht dazu in der Lage, einen Bericht Ihrer Mitarbeiter zu lesen und wiederzugeben?“

Sie genoss es offensichtlich, Kollom zu piesacken und leider traf ihr Spott besser als er es sich gewünscht hätte. Für einen Moment dachte er nicht nur darüber nach, nein er war vollkommen davon überzeugt, dass er sich gerade in diesem Moment auf sie warf und ihr die Kehle mit den Zähnen herausriss. Ganz ruhig, ermahnte er sich innerlich, du kannst dich später an ihr rächen. Nun musst du erst mal deine Machtposition festigen.

„Ich schlage vor, wir lassen dieses Geplänkel und konzentrieren uns auf die Arbeit. Genauer gesagt auf die Dinge, die MKH wieder nach vorne katapultieren. Würden Sie mich also freundlicherweise ausreden lassen?“, fragte Kollom.

„Kommt darauf an, was Sie erzählen wollen“, meinte Torvilla grinsend, „aber ja, von mir aus. Reden Sie schon. Wir lauschen gebannt.“

Das Lächeln, was sie Alling zuwarf, kostete Kollom noch mehr von seiner Beherrschung als ihre Beleidigungen zuvor. Sie nehmen mich nicht ernst, erkannte er, doch warum?

Kollom wusste, dass er nicht darüber nachgrübeln konnte, ohne endgültig wie ein vollendeter Idiot dazustehen. Also begann er einfach mit seiner Präsentation.

Er erklärte die Ergebnisse ihrer Mission, die Gründe, warum die Waffe bislang nicht wie gewünscht funktioniert hatte und wie sie das herausgefunden hatten. Yonis und Sandra halfen mit Details und Schaubildern aus, die sie ohne zu stocken und sehr lebendig kommentierten. Gerade Sandra tat dies mit einem Selbstbewusstsein und einer Präsenz, die einer ehemaligen Sahkscha zu Ehren gereichte. Zu guter Letzt übernahm wieder Kollom das Heft, erwähnte die geplanten Verkaufsgespräche mit den Scyonen und krönte das Ganze mit saftigen und wasserfest durchgerechneten Gewinnprognosen. Alles in allem war es ein mehr als solider Vortrag und er nahm zufrieden zur Kenntnis, dass sich in vielen der Gesichter Erstaunen und Gier spiegelten. Die größten nonverbalen Komplimente, die man in Deovan bekommen konnte. Sogar Alling und Lun wirkten beeindruckt. Nur bei Torvilla blieb dieses verfluchte, überhebliche Lächeln an Ort und Stelle.

Hat die einen Hirnschaden?, fragte sich Kollom ratlos.

Doch dann begann Torvilla entgegen seiner Erwartung zu klatschen und der Rest des Aufsichtsrats stimmte ein. „Großartig!“, lobte Torvilla, „Sie haben das Projekt mit Bravour beendet und ich hege keinen Zweifel daran, dass diese Forschung MKH aus der Talsohle holen wird.“

„Das freut mich“, sagte Kollom verdutzt und etwas misstrauisch. Ratlos blickte er zwischen Yonis und Sandra hin und her. Yonis starrte stoisch gerade aus. Sandra jedoch bewegte ihre Lippen lautlos und auch wenn Kollom kein Meister im Lippenlesen war, konnte er ganz deutlich das Wort „Falle“ herauslesen. Doch das war absurd. Niemand hätte etwas davon, ihm seinen Erfolg abzuerkennen. Wenn sie trotz seines Triumphes gegen ihn vorgehen würden, ständen sofort die Vertragswächter bereit.

„Ehre, wem Ehre gebührt“, sagte Torvilla huldvoll, „aber bevor wir diese Versammlung beenden und uns mit Hochdruck an den Vertrieb und das Marketing für Gargona machen, hätte ich auch noch eine kleine Präsentation vorbereitet, wenn Sie einverstanden wären. Keine Angst, es dauert nicht lange.“

Ohne Kolloms Erlaubnis abzuwarten, aktivierte sie ihren Identifier und rief ihrerseits eine Projektion hervor. Diese zeigte jedoch keine Bullet Points, Diagramme oder Schaubilder, sondern Kollom und Yonis, die an Kolloms Gehirn rumpfuschten und sich dabei über Astrera unterhielten.

Kollom erbleichte. Er wusste, dass es nun an der Zeit wäre loszuschlagen und die Bleigeweihten hineinzubefehlen, aber er konnte diese mitgeschnittene Offenbarung seiner eigenen Dummheit einfach nicht aus den Augen lassen. Er starrte noch immer darauf, als Torvilla süffisant das Wort ergriff.

„Ich hoffe, meine kleine Präsentation hat Ihnen ebenso gut gefallen, wie mir die Ihrige. Ich denke, sie hat gut gezeigt, dass sie ein illoyales, kognitiv eingeschränktes, unzuverlässiges und vor allem geschäftsschädigendes Subjekt sind, welches ich hiermit mit voller Zustimmung des Aufsichtsrats für seiner Position als CEO enthoben erkläre. Sie verliere hiermit alle Anteile, Befugnisse und Sicherheitsfreigaben für den Machtkomplex der Kalten Hand. Hinzu kommen Schadensersatzforderungen in Höhe von dreißig Milliarden Dominanten. Falls Sie nicht zahlungsfähig sind, wird eine entsprechende Ersatzleistung vereinbart, über deren Natur wir Sie in Kürze informieren werden und für die wir uns Ihr gesamtes kognitives, physisches und emotionales Kapital zunutze machen werden.“

Endlich erwachte Kollom aus seiner Starre. „Falls Sie glauben, dass ich das akzeptiere, sind Sie irre“, sagte Kollom.

„Ich bin nicht irre“, sagte Torvilla milde lächelnd, „nur vertragstreu. Im Gegensatz zu Ihnen, wie mir scheint.“

Sie tippte auf ihren Identifier und es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sich der Boden an mehreren Stellen auftat und auf einen Schlag zwanzig Vertragswächter hervorkamen, gefolgt von zehn Executioners des Konzerns, die durch die andere Türe kamen.

Doch auch Kollom blieb nicht untätig. Er aktivierte endlich seinen Manifestor und holte seine eigenen Leute daraus hervor. Acht Executioners und sechs einfache Arbeiter, die sich wie eine Wand aus Fleisch um Kollom, Yonis und Sandra positionierten. Dann blickte er zu Yonis und wenige Sekunden später brachen vier Bleigeweihte durch die Tür, als bestände sie aus Papier. Zufrieden bemerkte Kollom, dass Torvilla überrascht wirkte. Mit den Kolossen, um die sich langsam eine Wolke aus Stein und Holzstaub herabsenkte, schien sie nicht gerechnet zu haben.

Kampfbereit und mit erhobenen Waffen, doch vorerst abwartend blickten beide Seiten sich an und alle Vorstandsmitglieder außer dem gelassen wirkenden Alling und der stoischen Torvilla beeilten sich, Schutz hinter den Vertragswächtern zu suchen. Yonis Seitengesichter blickten bedrohlich und er ließ die humanoide Fassade seiner Erscheinung so weit fallen, dass es genügte, um irrationale Angst bei fast jedem Betrachter auszulösen. Auch Sandra bemühte sich um ein einschüchterndes Gesicht und obwohl sie weder über eine Waffe, noch über Machtinsignien verfügte, sorgte ihre Erfahrung als Sahkscha dafür, dass es durchaus überzeugend wirkte.

„Nehmer Kollom. Sie werden des Vertragsbruchs und des Widerstands gegen eine nach vertraglich vereinbarten Verfahren zustande gekommene Entscheidung beschuldigt“, meldete sich der Einsatzleiter der Vertragswächter zu Wort, den diese Machtkämpfe schon von Berufs wegen nicht interessierten, „falls Sie sich nicht den Bedingungen Ihres Vertragspartners beugen, werden wir …“

„Fresst Scheiße!“, sagte Kollom in einem betont höflichen Tonfall und zog eine kleine, weiße Waffe, die er ebenfalls aus seinem Manifestor hervorgeholt hatte.

„Das hier muss nicht für alle von ihnen in einem großen Verlust enden“, sagte Torvilla und blickte dabei zu Yonis und Sandra, „der einzige, dessen Schicksal hier zur Disposition steht, ist Have-Non Kollom.“

Sie betonte diese Bezeichnung genüsslich, auch wenn sie zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht offiziell zutraf.

„Für Sie beide jedoch gibt es eine bessere Alternative zu Tod und Gefangenschaft“, stellte Torvilla fest, „Geberin Sandra, Sie haben mit dieser Sache nichts zu tun und nach allem, was ich gehört habe, gute Arbeit geleistet. Sie können – wenn sie sich dagegen entscheiden, für einen mittellosen, unzuverlässigen Verlierer zu sterben – eine Stelle als Mitglied unseres Laborteams behalten. Natürlich nicht als dessen Leiterin, sondern zunächst als einfache Laborgehilfin, aber mit Aufstiegschancen. Entsprechendes Engagement vorausgesetzt.“

Auch wenn Torvillas Worte ohne Spott auskamen, konnte sie die Herablassung nicht ganz aus ihrem Gesichtsausdruck verbannen.

Das gelang ihr erst, als sie den Wissenschaftler ansah. „Die Leitung des Labors würde ich erneut Ihnen übertragen, Disruptor Yonis“, verkündete sie, „und ich würde darüber hinaus – Ihre künftige, bedingungslose Loyalität vorausgesetzt – alle Schadensersatzforderungen gegen Sie fallen lassen.“

Es wurde vollkommen still im Raum. Nur in Kolloms Kopf wurde es verdammt laut. Er wusste, dass er Sandra zu viel zugemutet hatte, um sich ihrer Treue sicher sein zu können. Yonis hingegen war ein loyaler Verbündeter, der sich ihrer gemeinsamen Sache verschrieben hatte … obwohl … im Grunde hatte Kollom dieser Sache keinen sehr guten Dienst erwiesen.

Um Fassung bemüht, und um nicht wie ein Bettler zu wirken, sah er nicht zu Yonis oder Sandra herüber, sondern zu den Bleigeweihten und seinen Untergebenen. Es waren starke Werkzeuge, aber wenn Yonis sich gegen ihn stellte, wem würden sie dann folgen?

„Wir hatten ein Sprichwort in Konor“, hörte Kollom Sandra sagen. Ihr Tonfall bewies, dass ihr Torvillas Herablassung nicht entgangen war, „wer sich mit Stiefelstaub zufriedengibt, erstickt daran.“

Dann hob sie einen kleinen, silbernen Gegenstand, der Kollom nur allzu bekannt war und drückte ihn sich in den Arm. Sie zuckte dabei nicht einmal. Obwohl Kollom wusste, dass der Delimiter eine ganze Menge im Körper und darüber hinaus bewirkte. Kollom war zufrieden. Und etwas erleichtert. Viel Glück, Geberin Sandra, dachte er und war zugleich gespannt, wie ihr Körper und ihr Geist langfristig auf den Eingriff reagieren würden.

„Bedauerlich“, sagte Torvilla, „aber von jemandem, der nicht in deovanischen Kategorien denkt, wohl kaum anders zu erwarten. Was ist mit Ihnen, Disruptor? Sind Sie vernünftiger?“

Der Disruptor blieb eine Weile lang still. Er schien nachzudenken. Vielleicht sogar zu meditieren, wenn man die scheinbare Tiefe seiner Abwesenheit berücksichtigte. Dann jedoch öffnete er seinen Mund. Aber nicht, um zu sprechen.

Momente später verwandelte sich der Raum in reinstes Chaos.

Der Disruptor offenbarte seine wahre Gestalt, verteilte die verschiedenen Segmente seines Körpers explosionsartig im gesamten Raum und tötete drei der Vertragswächter und vier Executioners auf einen Schlag, indem er sie mit seinen dreifingrigen Armen durchbohrte oder erwürgte. Auch dem Konferenztisch bekamen seine Attacken nicht sonderlich gut. Die Wände und Decken hingegen verzierte Yonis mit einer erlesenen Auswahl individuell erzeugter Schreckenssequenzen, mit dem einzigen Zweck seine Feinde abzulenken und ihre Moral zu brechen.

Kolloms kleine Leibwache betrachtete Yonis Metamorphose, als Signal loszuschlagen und auch die Bleigeweihten setzten sich langsam in Bewegung und brachten den Boden zum Erbeben. Die deutlich schlankeren, aber auch flinkeren Arbeiter trugen „Searcher“, kompakte, schwarze Waffen mit Zielhilfe, die auch für Anfänger gut zu handeln waren. Seine Soldaten, mit ihren effektiveren, langläufigen, weißen „Delifern“ stürmten voran.

Die Vertragswächter reagierten sofort und warfen ihre Netze nach Yonis, Sandra und Kollom aus. Doch allen drei gelang es, der ersten Welle zu entgehen. Die für Kollom bestimmten Netze wurden von seinen Soldaten und Arbeitern abgefangen, während Yonis die auf ihn gezielten kurzerhand zerriss und Sandra ihnen in einem Tempo auswich, das ihr vor einigen Minuten noch unmöglich gewesen wäre.

Auch Kollom eröffnete das Feuer mit seiner kleinen Waffe und zielte direkt auf Torvilla, wobei seine Schüsse wirkungslos von ihrem Kraftfeld abprallten.

Sie war jedoch eine der wenigen Personen im Raum, die so viel Glück hatte. Fast der gesamte Aufsichtsrat fiel im ersten Kugelhagel. Die Executioners, die unter Torvillas Kontrolle standen, gaben offenbar einen Fick auf Freund-Feind-Erkennung, wobei sich Kollom fast sicher war, dass das Absicht war. Wer immer das hier überlebte, würde im Idealfall der alleinige Eigentümer von MKH sein und so machte es für Torvilla keinen Sinn, ihre vermeintlichen Verbündeten zu schonen. Zudem hatten die meisten der einfachen Aufsichtsratsmitglieder zwar einen Nehmer-Organismus, aber darüber hinaus keine der teuren Schutz-Vorkehrungen getroffen.

Anders der von Drogen benebelte Alling Nehmer, der zwar mehrere Kugeln kassierte, durch sein Weiteratmen jedoch bewies, dass er mehr Ressourcen unter seinen unordentlichen Klamotten verbarg, als man vermutete. Lun Nehmer hingegen rettete sich allein durch altmodische Feigheit und geschicktes Wegducken.

„Ich möchte darauf hinweisen, dass bewaffnete Auseinandersetzungen in diesem Raum gegen die Vertragsbedingungen der Angestellten Ihres Konzerns verstoßen“, informierte der Anführer der Vertragswächter inmitten des Gefechts mit elektronisch verstärkter, nüchterner Stimme, bevor ihm von Yonis einfach der Kopf von den Schultern gerissen und wie ein Wurfgeschoss in die Menge seiner Untergebenen geschleudert wurde.

~o~

Torvilla hätte nie gedacht, dass ihr die Situation so schnell aus den Händen gleiten könnte. Sie kannte diesen Yonis nun schon seit Jahren und hatte gewusst, dass er intelligent und auf seine Weise gefährlich war. Aber so etwas? Nein, damit hätte sie niemals gerechnet. Genauso, wie sie Kolloms offensichtliche Verachtung für Verträge und die Loyalität seiner Mitarbeiter ihm gegenüber unterschätzt hatte.

Wenn sie nichts unternahm, wäre sie binnen weniger Minuten, vielleicht sogar Sekunden erledigt. Ihr Körperschild war stark, aber nicht unzerstörbar. Wie um das zu bestätigen, schlugen fast gleichzeitig eine Kugel und einer von Yonis todbringenden Armen auf sie ein und auch wenn sie beides nicht verletzte, spürte sie diesmal zumindest den Aufschlag deutlich. Die Batterie musste bald erschöpft sein.

Sie duckte sich – diesmal mit Erfolg – vor einem weiteren Angriff weg und fing dabei gegen ihren Willen eines der Bilder auf, die sie bewusst nicht beachtet hatte: Eine Spiegelung von ihr, die sie sterbend, zerfetzt und um den Tod bettelt, zeigte. Sie zweifelte nicht daran, dass dieses morbide Theater an den Wänden auch von Yonis veranstaltet wurde.

Was habe ich so einer Macht entgegenzusetzen?, flüsterte eine Stimme in ihr, die sie sofort maßregelte. „Hör auf zu wimmern“, tadelte sie sich selbst und wurde dafür mit einem Einfall belohnt.

Sie sprach eine kurze Nachricht an Arnin ein. „Zehn Millionen Dominanten und volle Unterstützung bei allen Ihren künftigen Vorhaben, wenn Sie dafür sorgen, dass ich überlebe und Kollom stirbt.“

Das war natürlich ein ungeheuerliches Angebot und könnte ihr im Erfolgsfall noch echte Probleme bereiten. Aber das Grab war nun mal die Schlechteste aller möglichen Verhandlungspositionen und die wollte sie um keinen Preis einnehmen. Natürlich war es nicht garantiert, dass Arnin ihr helfen würde, aber sie war sich fast sicher, dass er das hier zumindest verfolgte. Seine Augen mussten mittlerweile fast überall sein. Vielleicht genügte ihm ja die Aussicht, sich an Kollom rächen zu können.

Da sie sich aber nicht allein auf diese Möglichkeit verlassen wollte, aktivierte sie noch ihren eigentlichen Notfallplan. Die Prototypen, die sie hier drin ohne Wissen der anderen Aufsichtsratsmitglieder installiert hatte, waren sehr teuer gewesen, aber auch diesen Preis würde sie zahlen, wenn es nötig war. Sie tätigte ein paar Eingaben in ihrem Identifier und vernahm trotz des allgegenwärtigen Lärms zufrieden ein sehr charakteristisches, mechanisches Geräusch.

~o~

Sandra hatte sich lange dagegen gesträubt, Kolloms Delimiter auszuprobieren. Zu sehr hatte sie sich vor den Folgen gefürchtet und auch die Zurane und ihre unkontrollierte Aggression waren ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Doch der herablassende Blick und die nicht minder herabwürdigenden, gönnerhaften Worte von Torvilla, die es nicht mal übers Herz gebracht hatte, ihr im Sinne ihrer eigenen Interessen zu schmeicheln, waren zu viel gewesen. Wenn sie etwas mehr fürchtete als den Tod, dann war es die Erniedrigung.

Mein volles Potenzial, dachte Sandra, bisher fühlt es sich ganz gut an. Der Delimiter hatte sie in keine Superheldin verwandelt – zumindest bislang nicht – aber sie war etwas schneller und wendiger und ihre Gedanken fühlten sich auch klarer und strukturierter an als zuvor. Andernfalls wäre es ihr nicht gelungen, den Netzen auszuweichen, den diese Vertragswächter immer wieder nach ihr geschleudert hatten. Ohnehin hatte sie Glück, dass diese Leute darauf bedacht waren, sie lebend zu fangen. Gegen einen Trupp rorakischer Soldaten wäre sie längst gefallen. Diesen Job hätten wahrscheinlich auch die Executioners ganz gut erledigt, aber die waren wohl zu abgelenkt von Yonis, den sie verständlicherweise als die größere Bedrohung betrachteten. Das nahm Sandra ihnen nicht übel. Auch sie fühlte sich in Gegenwart dieses Ungeheuers nach wie vor unwohl und sie hatte auch die Drohung des Disruptors ihr gegenüber nicht vergessen.

Sie duckte sich vor einer erneuten Salve der Konzerntruppen hinter einem Bruchstück des Konferenztisches weg. Dadurch entging sie knapp einem Schlag von Yonis Extremitäten, der ihr andernfalls den Kopf von den Schultern gerissen hätte. War das Zufall oder Absicht gewesen? Sandra konnte es nicht sagen, beschloss aber, sich nicht verrückt zu machen. Gegen Yonis hätte sie ohnehin keine Chance. Jetzt noch nicht.

Nein, sie hatte ein anderes Ziel. Torvilla. Was für eine Genugtuung wäre es für sie, ihr zu zeigen, wie qualifiziert sie wirklich war. Die Deovani schien zwar irgendwie vor Beschuss geschützt zu sein, aber würde das auch für einen Fausthieb gelten? Sandra grinste vorfreudig. Dann atmete sie noch einmal tief durch, hechtete rechts an ihrer Barrikade vorbei und preschte auf die stellvertretende CEO von MKH zu.

~o~

Yonis schwamm in einem Fluss reinster Ekstase. Wie lange hatte er sich beherrschen, seine wahre Identität verbergen und den folgsamen Wissenschaftler spielen müssen? Wie lange hatte er das köstliche Chaos in sich zähmen und verstecken müssen, nur um jetzt zu merken, dass das vielleicht niemals nötig gewesen war? Vorsicht. Taktik. Zurückhaltung. All das hatte in dieser von Routinen und Gesetzmäßigkeiten geknechteten Welt seine Berechtigung, für den großen Plan, für die Sache. So zumindest hatte er gedacht. Doch welchen Sinn ergab es, gegenüber Spielzeugfiguren zu taktieren? Wer benötigte Strategien, wenn er seine Gegner herumschleudern konnte, wie Puppen? Wenn ihre Netze an einem verpufften und ihre Waffen nicht mehr als eine bloße Unannehmlichkeit waren. Er hatte schlicht vergessen, wie mächtig er war. Wie alt. Wie groß. Das hier war sein Lebenszweck. Seine Essenz. Nicht das Grübeln und Taktieren. Und er genoss es. Oh, wie er es genoss. Und dabei hatte er noch nicht einmal wirklich losgelegt. Er beschloss, sich nicht länger Gedanken um den Kampf zu machen. Das hier war kein Kampf, es war ein Spiel und welchen Sinn hatten Spiele, wenn nicht die Freude des Spielers zu mehren?

Yonis’ Blick fiel auf die Vertragswächter. Sie waren amüsant. Amüsanter als die geistlosen Konzernsoldaten oder all die ach so ambitionierten Nehmer in diesem Raum. Wie Pilze sprossen sie aus dem Boden, wuchsen einfach nach, wenn er ihre Fruchtkörper abschnitt, als gebe es ein gewaltiges Myzel im Untergrund, das sie hervorbrachte. Sie waren Verkörperungen eines Prinzips, einer Regel, der sie sich vollkommen verschrieben hatten. Avatare der Ordnung, die nur dafür lebten, Verträge durchzusetzen und jenes lächerliche Theater aufrechtzuerhalten, das sich irrtümlich als grenzenlose Freiheit verstand. Doch diese Avatare waren nicht unendlich und Yonis fragte sich, wie viele es davon gab? Wie viele würden sie schicken können oder wollen? Wie viele konnte er töten, bevor keine neuen mehr nachwuchsen? Und was würde dann passieren? Im schönen, „freien“ Deovan, wenn keiner mehr seine kostbaren Verträge durchsetzte?

Yonis lenkte all seine Glieder um. Er kümmerte sich nicht mehr um die CEOs, nicht einmal um die arrogante, anmaßende Sandra, deren verhasster Anblick ihn immer wieder aufs Neue in Rage versetzte. Er widmete sich allein den Vertragswächtern, riss sie auseinander, durchbohrte sie, entfernte Arme und Beine, wie ein neugieriges Kind, das mit Insekten spielte. Er war fasziniert. So sehr, dass er nicht einmal bemerkte, wie mehrere, silbrig glänzende Metallrohre aus der Decke und den Wänden schossen und sich direkt auf ihn ausrichteten.

~o~

Jetzt bleib stehen, verdammt!, dachte Kollom. Er hätte sich denken können, dass Torvilla ihm nicht schutzlos gegenübertreten würde. Aber er wusste, dass solche Körperschilde nicht endlos funktionierten. Er brauchte nur Geduld und Treffsicherheit. Er wusste, sobald er Torvilla überwunden haben würde, war der Widerstand des Aufsichtsrats gebrochen. Selbst wenn Alling und Lun den Kampf überleben sollten, hätten sie nicht die Eier, sich ihm entgegenzustellen. Die Vertragswächter waren dann sicher noch ein Problem, aber auch mit ihnen würde er fertig werden. Immerhin hatte er Yonis.

Die einzige Schwierigkeit war, dass Torvilla schlau genug war, ständig in Bewegung zu bleiben und sich immer wieder hinter Leichen und Trümmerstücken zu verstecken. So fiel es ihm verdammt schwer, einen weiteren Treffer zu landen. Er würde sie irgendwie einkesseln müssen. Doch wie? Seine eigenen Truppen würden ihm sofort gehorchen, aber die waren gerade im Kampf mit Torvillas-Konzernsoldaten gebunden. Wenn er sie zwang, vorzurücken, würden sie wahrscheinlich fallen wie die Fliegen. Und Yonis schien leider abgelenkt.

Blieben also noch die Bleigeweihten. Doch die waren noch ein Stück hinter ihm und wenn er Befehle schrie, wusste Torvilla, was er vorhatte. Also ging er für einen Moment in Deckung und übermittelte Yonis eine entsprechende Nachricht auf seinen Identifier. Er hoffte nur, dass der Disruptor die Zeit finden würde, sie auch zu lesen.

Bedauerlicherweise wies jedoch auch nach geraumer Zeit nichts darauf hin. Im Gegenteil. Der Mann schien sich plötzlich nur noch für die Dezimierung der Vertragswächter zu interessieren und die Bleigeweihten standen noch immer ratlos herum, ohne von Querschlägern oder auf sie abgefeuerten Schüssen irgendeinen Schaden zu nehmen. So erfreulich das war, so brachte ihm diese faszinierende Widerstandskraft doch nichts, wenn er sie nicht kontrollieren konnte.

Also entschied Kollom sich kurzerhand, sich robbend, kriechend und geduckt laufend zu den Kolossen zu begeben, wobei er lediglich einen harmlosen Streifschuss an der Schulter kassierte.

„Hey, ihr Bleisoldaten. Da rüber. Nehmt sie in die Zange!“, sagte er zu den dreien und zeigte auf Torvilla, in der Hoffnung, dass ihr diese Geste entging.

Doch die Bleigeweihten rührten sich immer noch nicht.

„Was ist mit euch los? Ist euer Gehirn jetzt vollständig kaputt?“, fragte Kollom wütend, sah kurz nervös zum Kampfgeschehen um und fixierte dann wieder die klobigen, gleichgültigen und doch einschüchternden Gesichter der Bleigeweihten.

Doch die tumben Opfer der Steinkrankheit bewegten sich noch immer keinen Millimeter von der Stelle und natürlich antworteten sie ihm auch nicht. Das heißt … einer von ihnen tat es doch. Obwohl Bleigeweihte in diesem Stadium zwar noch einfache Sprache verstehen, aber längst keine Worte mehr äußern konnten und obwohl sich im Gesicht des Bleigeweihten, der direkt vor Kollom stand, nichts rührte, hörte er ihn dennoch Worte äußern.

„Hallo Kollom“, sagte eine blecherne Stimme, die Kollom seltsam vertraut vorkam, „ich habe mich nie angemessen dafür revanchiert, dass Sie mich all die Jahre über eingesperrt haben.“

Noch ehe Kollom realisierte, von wem diese Worte stammten, traf ihn die Faust des Bleigeweihten mitten ins Gesicht. Er spürte, wie sein Kieferknochen brach, mehrere Zähne aus dem Zahnfleisch sprangen und etwas in seinem Schädel knackte. Hätte sich seine Hand nicht vor Schmerzen verkrampft, hätte er sicher auch seinen Manifestor verloren. So aber wurde er zusammen mit dem Gerät einige Meter zurückgeschleudert. Sein Kiefer war taub. Sein Mund erfüllt von Blutgeschmack. Sein Kopf brannte und war zugleich voller Watte. Kollom spürte, wie ihm das Bewusstsein entglitt, während die Schritte der Bleigeweihten stetig näher kamen. Arnin, dieser Gedanke tauchte irgendwo aus dem Pfuhl aus Knochensplittern, Blut und nebeligen Ahnungen auf, in den sich sein Kopf verwandelt hatte.

~o~

Yonis hatte angenommen, dass ihm das Massaker an den Vertragswächtern irgendwann langweilig werden würde, doch er hatte sich geirrt. Der kleine Berg aus strangulierten, zerrissenen und durchbohrten Leichen, der sich auf dem Boden des Konferenzraums aufgestapelt hatte und durch den beständig neue Ordnungshüter kamen, wirkte motivierend auf ihn. Besonders stolz war er auf jene, die äußerlich unversehrt, jedoch mit schreckverzerrtem Gesicht ihr Leben ausgehaucht hatten, da ihr Herz oder ihr Gehirn, die Bilder, die er ihnen an den Wänden eröffnet hatte, nicht länger ausgehalten hatten.

Grausame Folterszenen mit ihnen im Mittelpunkt, unendlich gealterte Versionen ihrer Selbst, Kreaturen, schlimmer noch als selbst Yonis, finstere, abseitige Orte, wie sie höchstens in den dunkelsten Tiefen der Manifia-Eben existieren konnten und bestialische Schicksale für jene wenigen Deovani, die ihnen, ihrer egoistischen Prägung zum Trotz, irgendetwas bedeutet hatten.

Hier rächte es sich, dass die Vertragswächter – anders als die Executioners – die Erinnerungen an ihr früheres Leben behielten. Und natürlich auch, dass die Vertragswächter auf Konzerngelände keine tödliche Gewalt anwenden durften, wenn ihnen das der betreffende Konzern nicht ausdrücklich erlaubte. Nur Konzerntruppen durften in diesen Räumlichkeiten Waffen tragen und verwenden. Foltern war den Wächtern also erlaubt, Selbstverteidigung aber verboten. Ein witziges Konzept.

Dabei musste er zumindest zugestehen, dass diese Leute nicht vollkommen dumm waren. Sie hatten durchaus begriffen, dass ihre elektronischen Netze – schon allein wegen seiner Ausdehnung, gegen ihn praktisch wirkungslos waren. Deshalb hatten einige von ihnen versucht, diese Netze miteinander zu verknüpfen. Ein durchaus aussichtsreiches Unterfangen, wenn die beteiligten Wächter lange genug gelebt hätten, um es auch auszuführen.

„Stellen Sie Ihre Aggression ein!“, verlangte der inzwischen sicher achte Anführer der Ordnungstruppen, „für jeden getöteten Vertragswächter erleiden Sie nach Ihrer Festsetzung eine Geldstrafe in Höhe von zehntausend Dominanten und Schmerzen in Höhe von hundertfünfzig Schmerzgraden.“

Die Stimme des Mannes wirkte ernst, aber bei Yonis löste sie beinah einen Lachanfall aus. Er dehnte sich weiter aus und grub die verstreuten Elemente seines Körpers direkt in die Nervenpunkte des Truppleiters hinein, bevor er sich in den Wunden drehte, schob und wand. Der Schrei des Mannes war so laut, dass sogar Yonis die Ohren klingelten und er hielt recht lange an.

„Wie viele Schmerzgrade das wohl sind. Was meinen Sie?“, fragte Yonis den Mann. Aber er antwortete nicht und auch sein Schrei endete schließlich.

Yonis grinste befreit. Sah so die von ihnen ersehnte Zukunft aus? Ein endloses Spielfeld? Nie endende Jagdgründe, gehüllt in einen Nebel aus Blut und Angstschweiß?

Er spürte ein freudiges Kribbeln in seiner Brust. Nun, zumindest dachte er das. Solange, bis aus dem Kribbeln erst ein Brennen und dann ein grausames Reißen wurde. Yonis spürte, wie die Moleküle in seinem Körper verdampften und etwas große, klaffende Löcher riss. Er blickte nach oben und sah bläuliche Energieimpulse auf sich zufliegen. Wütend wollte er seine vielen Gliedmaßen heben, doch die Schmerzen verhinderten das. Schmerzen, wie auch er sie nicht auf einer Skala hätte einordnen können.

~o~

Kolloms bebende Brust war erfüllt vom Hass auf den Whe-Ann, während ihm die Bleigeweihten langsam immer näher kamen, um ihren Auftrag zu Ende zu bringen, den ihm dieser Verräter, der offenbar nicht nur die Kontrolle über gewöhnliche Androiden übernehmen konnte, gegebenen hatte. Immer wieder verfluchte Kollom Arnins Namen. Doch ein anderer Name schob sich vor, wie ein glänzender, unerwarteter Retter in der Not. Rovenia. Kollom dachte nicht lange nach. Das fiel ihm ohnehin zu schwer. Er öffnete einfach nur mit zittrigen Fingern seinen Manifestor und befreite seine letzte, hässliche, unberechenbare Option.

Die sogar im Manifestor noch weiter mutierte Frau erhob sich aus dem Metallkoffer, wie eine Naturgewalt und verbreitete sofort einen unerträglichen Gestank. Sie war auf enorme Größe angewachsen. Ihr unregelmäßiger Schädel war an seiner dünnsten Stelle nicht einmal mehr armdick, dafür jedoch extrem breit und erinnerte an ein schlampig zubereitetes Omelett. Ihr melonendickes, geschwollenes, wässriges Auge, das nur knapp über einem grotesk großen, schnabelartigem und mit schiefen, scharfen, schwarzglänzenden Zähnen bestücktem Maul lag, sah Kollom eindringlich an. Er sah Wut darin, aber vor allem Trauer um ein verlorenes Leben.

Es mochte an seiner schweren Kopfverletzung liegen, aber für einen winzigen Moment, vielleicht zum ersten Mal seit vielen Jahren schämte Kollom sich. Er fragte sich, ob es wirklich in Ordnung und befriedigend war, so mit anderen intelligenten Wesen umzuspringen. Hätte Rovenia ihn in diesem Augenblick der Schwäche zerrissen, seinem Leben ein Ende gemacht, er hätte es als gerecht empfunden. Doch der Moment verflog und auch die vier Meter große, von Schwären, Warzen und aufgeblähtem Gewebe verunstaltete Frau wandte sich ab.

Zuerst vermutete Kollom dahinter Angst. Vielleicht sogar Mitleid, wie es eine Eigenart bei diesen Völkern war. Doch trotz des Nebels in seinem Hirn kam er schließlich zu einem anderen Schluss. Sie erkennt mich nicht mehr, begriff er und wie um seine Vermutung zu unterstützen stieß Rovenia einen urtümlichen, zornigen Schrei aus. Er zeugte von Ratlosigkeit und blinder Wut. Eine Wut, die sich glücklicherweise gegen die Bleigeweihten richtete, auf die die mutierte Frau sofort losging.

Die Kolosse wehrten sich, hämmerten mit ihren plumpen Fäusten auf Rovenia ein, doch sie bewirkten nicht einmal einen Kratzer auf ihrer dicken, knotigen Haut. Ihre Auswüchse jedoch schlangen sich um alle drei Bleigeweihten und fesselten sie eng aneinander. Dann öffnete sie ihren Kiefer und ihr entstellter Mund fraß sich durch die harten Metallköpfe als wären die drei Steingeweihnten nichts weiter als schmackhafte Schokoladenfiguren. Gleichwohl war, „fressen“ eigentlich der falsche Ausdruck. Denn sie verschlang das giftige Metall nicht, sondern spuckte es achtlos auf den Boden.

„Gutes Mädchen“, flüsterte Kollom nuschelnd, aktivierte mit zitternden Fingern seinen Manifestor und holte ein Fläschchen Gesundheit hervor, welches er sich als Notreserve aufgespart hatte. Er leerte es in einem Zug und erlaubte sich kurz die Augen zu schließen. Warum auch nicht? Seine Mitarbeiter würden schon alles für ihn regeln. Wie immer.

~o~

Torvillas Lächeln war so breit, dass es an ihren Mundwinkeln schmerzte. Nicht nur, dass dem werten Disruptor Yonis gerade Löcher in den widerlichen Rumpf gestanzt wurden, es war auch eine wahre Freude mitzuerleben, wie Kollom Nehmer von seinen eigenen Bleigeweihten das Antlitz umgestaltet wurde. Torvilla zweifelte nicht daran, dass sie diese köstliche Unterhaltung Arnin zu verdanken hatte und sie bemühte sich darum, nicht über die langfristigen Kosten dieses Vergnügens nachzugrübeln. Hauptsache, der Preis, den Kollom zahlen würde, war hoch genug.

Da gerade keine Waffen auf sie gerichtet waren, gönnte sie sich den erbaulichen Blick auf Kolloms missliches Lage und ein tiefes, langsames Durchatmen. Diesen Atem stieß sie jedoch sofort wieder ruckartig aus, als sie spürte, wie sie etwas mit großer Wucht in den Rücken traf. Ein elektrisches Knistern und ein kurzer, weiblicher Schrei bewiesen ihr, dass ihr Körperschild noch intakt war. Dennoch stolperte sie ungelenk nach vorne, konnte aber immerhin einen Sturz verhindern. Verwirrt drehte sie sich um und entdeckte Sandra, die gerade dabei war, sich wieder aufzurappeln.

Unmöglich, dachte sie, eine solche Berührung sollte sie bewusstlos machen. Liegt das an der geringen Ladung?

Was auch immer der Grund dafür war, die unbewaffnete Menschenfrau, war schon wieder auf den Beinen und im Begriff sich ihr zu nähern.

„Scheinbar haben Sie noch nicht mitbekommen, wer von uns beiden einen Schlag erhält, wenn Sie mich auf diese Weise angreifen“, bemerkte Torvilla ruhig, „anscheinend habe ich Ihre Kompetenz noch überschätzt.“

„Ich kannte eine Frau wie dich“, entgegnete Sandra, während ihre dunklen Augen Torvilla selbstbewusst fixierten, „aus meiner Zeit in Konor. Das heißt, natürlich hätte sie dich in jedem Zweikampf beiläufig weggefrühstückt, aber sie war arrogant, überheblich, sah auf ihre Untergebenen herab und meinte, dass sie unangreifbar wäre. Weißt du, was mit ihr passiert ist?“

„Sie haben Sie getötet?“, fragte Torvilla herablassend und betont gelangweilt.

„Das habe ich. Grausam und kompromisslos“, bestätigte Sandra und ihre Pupillen weiteten sich ein wenig, was Torvilla irrtümlicherweise für ein Zeichen unangemessenen Stolzes auf diese längst vergangene Tat hielt, „aber wie es scheint, hatte sie das bessere Schicksal von euch beiden.“

Sandra schmunzelte und trat zugleich ein Stück zurück. Letzteres ließ Torvilla stutzen. Sie fuhr herum und erblickte einen stinkenden, riesigen Albtraum aus Mutationen und Missbildungen, der seinen entstellten Kopf wie einen tödlichen Sack über ihren Kopf stülpte.

Der Kiefer der Kreatur bewegte sich und Torvillas Körperschild leistete Widerstand. Einmal. Zweimal. Dreimal sogar, bevor Rovenias Biss statt mit einem elektrischen Knistern mit einem befriedigenden Knochenknirschen beantwortet wurde.

Sandra lachte laut auf, während die Vize-CEO zuckend verendete. Dann rannte sie.

~o~

Yonis hatte das Gefühl, dass sein uralter Körper zu Eis erstarrte. Selten zuvor in den Jahrtausenden seiner Existenz hatte er solche Qualen verspürt. Doch diese außer Kontrolle geratenen Alarmsignale seines Körpers waren nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war das Gefühl von Endlichkeit, das ihm diese Waffe gab. Er wusste, was sie vermochte, immerhin war er selbst an ihrer Entwicklung beteiligt gewesen. Sie brachte nicht nur grobstoffliche Zerstörung, zertrümmerte das Gewebe nicht wie ein betrunkener Vandale, sondern löste die anvisierte Materie bis in die atomare Ebene hinein auf, lockerte alle Molekülbindungen und lies lediglich ein paar freie Elektronen und Neutronen als Resultat zurück.

Auch wenn es ihm schwerfiel, versuchte Yonis deshalb irgendwie die Waffen zu erreichen, doch seine Gliedmaßen ließen sich kaum kontrollieren und als kurz darauf ein ganzes Geflecht aus Netzen über ihn geworfen wurde, wie über einen gefangenen Fisch und sich eng um seinen Körper zusammenzog, gab er seine fruchtlosen Versuche auf.

Er hätte neu anfangen können, trotz allen damit verbundenen Risiken einfach die Zeitlinie wechseln und eine andere Strategie probieren können, doch die ständigen Schmerzen störten seine Konzentration, schwächten ihn, lähmten ihn. Noch könnte er sich regenerieren, konnte das immer, solange ein kleiner Rest von ihm noch existierte. Aber das ging nur, wenn er Ruhe hätte und dauerte um so länger, je weniger von ihm übrig war. Er fragte sich, ob der Liberator alles von ihm finden würde, kam aber zu dem Schluss, dass das nicht passieren würde. Die Waffe war intelligent, sie war jedoch für die Auslöschung gewöhnlicher Humanoider konzipiert, nicht für Wesen wie ihn. Selbst, auf der höchsten Gründlichkeitsstufe würden ein paar Prozentpunkte von seinem Körper verbleiben. Dummerweise würde die Regenartion dann gut zehn Jahre dauern. Zeit, die er nicht hatte.

Plötzlich jedoch, stellte die Waffe ihr Zerstörungswerk ein. Überrascht blickte Yonis zur Decke und bemerkte dort eine ganze Reihe von Netzen, die offensichtlich in den Lauf der Kanone gefeuert wurden. Andere Energiewaffen wären bei so einem Manöver sicher detoniert, doch der Liberator hatte intelligente Sensoren, die ein solches Szenario verhinderten. Hatten die Vertragswächter das gewusst, oder lediglich geraten? So oder so war Yonis beeindruckt. Vor allem von ihrer Dummheit.

„Danke für die freundliche Rettung“, sagte Yonis über alle Gesichter grinsend, „nun tut mir das Massaker an Ihren Leuten ja fast leid.“

„Sie werden jetzt Ihrem Urteil zugeführt“, antwortete die aktuelle Einsatzleiterin ruhig, „Ihr aktuelles Strafmaß beträgt 5.970.000 Dominanten und vierhundertfünfzig Schmerzgrade.“

Yonis war wirklich baff darüber, wie ignorant und anmaßend diese Hüter der Ordnung sein konnten. Nicht nur, dass sie ihr eigenes Leben für ihre verqueren Ideale riskierten, sie glaubten offenbar immer noch, ihn ihrer lächerlichen Gerichtsbarkeit unterwerfen zu können. Nun, er würde sie vom Gegenteil überzeugen, sobald die Schäden an seinem Körper weit genug geheilt waren. Alles, was er brauchte, waren ein paar Minuten Zeit. Und legte man das langsame Vorankommen der zwischen den Leichen ihrer Kollegen verstreuten Vertragswächter zugrunde, die versuchten, seinen gewaltigen Körper zu sich zu ziehen, würde er diese Zeit bekommen.

~o~

Kollom hatte das Geschehen im verwüsteten Konferenzraum bislang durchaus amüsiert betrachtet. Nicht zuletzt durch Rovenias über die Bleigeweihten und ihren erfrischenden Umgang mit Torvilla, sowie durch die Wirkung der konzentrierten Gesundheit war seine Laune beständig gestiegen. Selbst Yonis’ Bedrängnis hatte er noch etwas abgewinnen können, denn er wusste, dass der Disruptor sich bislang noch aus jeder misslichen Lage befreit hatte. Er war mächtig. Viel zu mächtig sogar. Vielleicht tat ihm da ein kleiner Dämpfer sogar ganz gut.

Trotzdem war es nun Zeit, zu handeln. Denn da sowohl seine eigenen Leute als auch die Konzernsoldaten einander bis auf den letzten Mann erledigt hatten, Alling zitternd in seiner eigenen Pisse auf dem Boden lag und auch Lun entweder tot oder vor Schreck ohnmächtig geworden war, hatte sich Rovenia ein neues Ziel erkoren: Sandra. Und das konnte er nicht zulassen. Immerhin hatte er noch Pläne mit ihr. Also setzte er seinen wieder halbwegs erholten Körper in Bewegung, griff sich seinen Manifestor und erteilte den Rückholbefehl.

Dummerweise jedoch, schien sich Rovenia nicht im Geringsten dafür zu interessieren. Hilflos sah er dabei zu, wie die mutierte Frau immer mehr aufholte. Die Bravianerin musste sich so weit verändert haben, dass ihr Rückholmarker nicht länger auf seine Befehle reagierte. Panisch versuchte er stattdessen Sandra in den Manifestor zurückzuholen, auch wenn er wusste, dass das ihrer ohnehin schon brüchigen Vertrauensbasis schaden würde. Doch auch das funktionierte nicht. Natürlich, dachte Kollom, der Delimiter, er hat auch ihre Struktur zu stark verändert.

Entsetzt realisierte Kollom, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als dem Drama seinen Lauf zu lassen.

~o~

Sandra hörte Rovenia nicht. Die Mutantin bewegte sich trotz ihrer Größe erstaunlich leise. Aber sie spürte ihre Anwesenheit in ihrem Rücken und wusste, dass sie ihr nicht auf Dauer würde entgehen können. Die Kämpfe in dem Raum waren fast zum Erliegen gekommen und Rovenia, die Kollom aus Wahnsinn oder Verzweiflung heraus befreit hat, hatte sie ganz offensichtlich als nächstes Opfer auserkoren. Ob sie das aus Berechnung und persönlicher Rache oder aus einem dumpfen prädatorischen Impuls heraus tat, konnte sie nicht sagen. Aber im Ergebnis blieb es ohnehin dasselbe. Sie konnte noch eine ganze Zeit lang wegrennen – ihre Ausdauer und ihre Schnelligkeit hatten immerhin seit dem Einsatz des Delimiters zugenommen –, aber sie würde nicht entkommen können, denn alle Versuche, die Eingangstür zu öffnen oder einzutreten waren nicht von Erfolg gekrönt gewesen.

Eine Waffe besaß sie auch nicht, da Kollom es trotz ihrer nachdrücklichen Bitten nicht für nötig gehalten hatte, ihr eine zu überlassen.

Trotzdem spürte sie eine zunehmende Aversion dagegen, wegzurennen. Flucht war im Grunde eine Form der Unterwerfung unter den Verfolger. Die ultimative Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit und sie hatte sich lange genug unterworfen. Immerhin war sie eine Herrscherin. Oder etwa nicht? Ganz gleich, ob man sie entthront hatte. Sie hatte das Rorak-Imperium zum Triumph über die Jyllen geführt und dessen Dominanz über ganz Konor gesichert. Jemand wie sie sollte nicht wegrennen.

Mit diesem Gedanken im Kopf und im Herzen blieb Sandra stehen, drehte sich um und sah der gewaltigen, kaum mehr als solche erkennbaren Bravianerin ins entstellte Gesicht.

„Knie nieder!“, verlangte sie herrisch und nachdrücklich, obwohl sich die durch den Einfluss der Bombe entstandenen, krankhaften Auswüchse der Frau bereits bedrohlich auf sie zubewegten. Ihr monströser Mund öffnete sich. Sie sahen sich beide direkt an – Mensch und Mutant – Sandras hübsche, braune Augen und die verformten, wässrigen Tumoraugen von Rovenia, so als würden sie sich in einem lauschigen Café auf der Erde und nicht in diesem außer Kontrolle geratenen Machtkampf in Deovan befinden. Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung beugte Rovenia mühsam die von Geschwüren übersäten Knie. Sie blieb dort, verharrte und schien auf weitere Anweisungen zu warten, wie ein Hund an einer unsichtbaren Leine.

Das Erstaunlichste daran war, dass Rovenias Gehorsam Sandra nicht einmal wunderte. Im Gegenteil, sie hatte fest damit gerechnet, dass diese niedere Kreatur ihr gehorchen würde. Mein Potenzial wurde freigesetzt, dachte sie stolz, das bin ich. Das ist es, was ich im Herzen bin. Eine Herrscherin.

Für einen Augenblick war der Rausch dieser Macht überwältigend. Sie verspürte den Wunsch, gleich alle Überlebenden in diesem Raum in die Knie zu zwingen. Kollom, die Vertragswächter, selbst Yonis. Doch sie wusste auch, dass sie damit scheitern würde. Noch. Ihre Macht musste wachsen. Sich festigen, bevor sie nach höherem streben konnte. Außerdem brauchte sie Kollom und Yonis noch als eigenständige Wesen. Ihre Neugier auf Astrera war noch nicht befriedigt und sie mussten ihr noch mehr darüber erzählen. Zudem war sie fürs Erste mit diesem Erfolg mehr als zufrieden. Sie hatte eine fast unbezwingbare Waffe in der Hand. Eine Waffe, die besser war als jede Knarre. Eine Waffe, die sie gleich ausprobieren wollte.

„Vernichte sie!“, sagte Sandra und zeigte auf die Vertragswächter. Ohne zu zögern, erhob Rovenia sich und rannte los.

~o~

Yonis hatte sich verschätzt. Die Waffe schien größeren Schaden bei ihm angerichtet zu haben, als er zunächst vermutet hatte. Wenn er Pech hatte, würde er erst in einer Stunde wieder in der Lage sein, seinen Körper zu nutzen und die Fesseln zu zerreißen. Mitten im Folterkeller der Vertragswächter, die ihn nun fast zu sich geholt hatten.

Es war eine der seltenen Gelegenheiten in seinem absurd langen Leben, bei denen er der Verzweiflung für seinen Geschmack ein wenig zu nah war. Ja, hätte er ein nennenswert mächtigeres Wesen als sich selbst gekannt, hätte er vielleicht sogar zu diesem gebetet, unabhängig davon, ob das etwas bringen würde oder nicht. So aber stand diese Option für ihn nicht zur Debatte.

Und anscheinend war es auch gar nicht nötig, sich vor vermeintlich höheren Mächten zu erniedrigen. Denn kaum, da dieser Gedanke in seinen Kopf gelangt war, rauschte die mutierte Gestalt Rovenias in die Masse der Vertragswächter hinein, zertrümmerte Schädel, zerbrach Gliedmaßen und räumte dort noch effektiver auf, als er es zuvor getan hatte. Es dauerte nur ein oder zwei Minuten, bis die Mutantin allein zwischen den Leichenbergen weiterer Vertragswächter stand. Yonis schätzte, dass sich inzwischen an die zweihundert Tote dort stapelten und diesmal verzichtete der Kartellwächter offenbar darauf, weitere von ihnen zu schicken. Yonis war neidisch, das musste er sich eingestehen, aber seine Erleichterung überwog. Er wunderte sich jedoch, dass sich die wild gewordene Mutantin so gar nicht für ihn interessierte.

Zumindest so lange, bis er Sandras überhebliches Gesicht erblickte.

„Gefällt Ihnen die Arbeit meiner neuen Untergebenen?“, fragte Sandra.

„Untergebenen?“, erwiderte Yonis, „Sie meinen, dass Sie diesen unförmigen Zellhaufen dort kontrollieren?“

„Nein“, antwortete Sandra, „ich WEISS es. Und ich kann sie dafür nutzen, Sie zu befreien. Nun, ich könnte es zumindest. Wenn mir danach ist.“

Yonis, dessen Gestalt sich wieder in ihre humanoide Form zusammengezogen hatte, grinste mit allen Gesichtern.

„Was wollen Sie dafür? Einen Vertrag?“, fragte Yonis lachend, „oder einen Schwur auf Gott, Kaiser und Vaterland?“

„Nein“, sagte Sandra, bemerkenswert ruhig, „ich habe kein Interesse an Verhandlungen und Verträgen. Mir reicht es zu wissen, dass Sie nun wissen, dass auch ich Macht besitze und dass Sie keinen Einfluss auf meine Handlungen haben. Nicht über Drohungen, nicht über Versprechungen. Was ich tue oder lasse, ist allein meine Entscheidung.“

„Und was werden Sie tun, mächtige Frau?“, fragte Yonis, bemüht sarkastisch zu klingen, was ihm aber zu seinem eigenen Ärger nicht ganz gelang.

„Sie freilassen. Heute zumindest“, sagte Sandra und wandte sich dann an Rovenia. „Zerstöre die Netze, lass die … Kreatur darin intakt.“

Rovenia gehorchte.

~o~

Ich hatte seit meiner Zeit in Konor keine so große Armee mehr gesehen. Natürlich war sie mit einer Mannstärke von vielleicht zweitausend Leuten immer noch ein Witz, verglichen mit dem gewaltigen Militär der Rorak oder mit den schier unerschöpflichen Scharen der Jyllen, denen wir nur durch ein Virus hatten beikommen können. Dennoch war es immer noch beeindruckend all die hochgerüsteten, kampfbereiten Konzernsoldaten vor sich zu sehen, selbst wenn diese nicht für ein Ideal oder eine Ideologie, sondern lediglich aus finanzieller Not oder mentaler Programmierung heraus kämpften.

Die Invasionstruppe, die sich für der Zentrale von MKH versammelt hatte, unterschied sich aber noch durch ein weiteres Merkmal vom Rorak-Militär. Ihre Angehörigen waren nicht in einheitliche Uniformen gehüllt, sondern aus Executioners von fünf verschiedenen Konzernen zusammengesetzt. Die Konzernsoldaten trugen Uniformen im Corporate Design ihres Arbeitgebers, mit spezifischen Verzierungen und unterschiedlicher Bewaffnung. Dabei waren die Vielfalt und die Kreativität beachtlich.

Die Executioners der Firma „Hookline Chemicals“ trugen verspiegelte Helme, deren Visiere in allen Regenbogenfarben schillerten. Auch ihre Anzüge waren von psychedelisch bunter Farbe, abgesehen vom weiß gehaltenen Brustbereich, der Platz für das Logo des Konzerns ließ, den lächelnden Mund, dessen Mundwinkel von zwei Haken nach oben gezogen wurden. An ihren Unterarmen und an ihren Schultern, saßen scharf aussehende Metallverzierungen in Form von Spritzen, von denen ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie irgendwelche giftigen Substanzen bargen oder lediglich Zierwerk waren. In ihren Händen hielten die Hookline-Leute breite, kurze Kanonen mit mehreren kleinen Öffnungen, die ein wenig an Duschköpfe erinnerten und die über eine Art Kanüle mit ihren Armen verbunden waren, so als würden sie ihr eigenes, chemisch aufgempimptes Blut als Munition verwenden. Zudem trugen sie kleine, gerade einmal buchgroße Rucksäcke, die direkt in ihre Anzüge integriert waren.

Die Truppen von „ReCrate Industries“ waren in rostig-braune Kampfanzüge gekleidet, hatten mehrere kleine, von dünnen Metallringen eingefasste Ventilatoren an Rücken und Armen und die charakteristische Zahnradwolke des Firmenlogos prangte als Relief auf ihrer Brust. Als Bewaffnung nutzten sie lange Röhren, die mich vage an Staubsauger oder die Waffen der Ghostbusters erinnerten. Auch sie trugen Rucksäcke, die allerdings mit ihren Waffen verbunden waren.

Die Leute von Aquation hingegen besaßen durchsichtige, gläserne Uniformen, in denen sich eine Flüssigkeit bewegte, die an leicht blau gefärbtes, viskoses Wasser erinnerte. Die Uniformen machten einen fragilen Eindruck, aber ich vermutete instinktiv, dass es sich bei ihrer Füllung um eine Art Gel handelte, welches in der Lage war, Schüsse abzufangen oder ihnen zumindest an Wucht zu nehmen. Wahrscheinlich war auch die gläserne Hülle flexibel und schwer zu zerstören. Die Waffen dieser Executioners erinnerten passenderweise an weiße Wasserpistolen mit großen, blauen Tanks in denen sicher kein gewöhnliches Wasser enthalten war. Zudem besaßen sie an ihrem rechten Arm eine lange Nadel aus bläulich schimmerndem Metall.

Weit weniger spektakulär präsentierten sich die Truppen von Rise. Sie waren die einzigen, durch deren Helme man ihre ernsten, freudlosen Gesichter sehen konnte. Ihre Uniformen waren von einem schlichten Grau. Auf den Ärmeln waren die Hochhäuser des Konzerns aufgeprägt. Sie verwendeten keine besonderen Waffen, sondern graue Handfeuerwaffen, die auch gut in jeden Action-Film aus den 90ern gepasst hätten. Das einzig auffällige an ihnen waren breite Gürtel, an denen jeweils drei dutzend kleine, graue Blöcke befestigt waren, deren Zweck mir schleierhaft war.

So dezent die Leute von Rise daherkamen, so auffällig waren die Soldaten, die Lavell mitgebracht hatte. Dabei waren die leuchtenden, leicht blendenden Visiere ihrer golden schimmernden Anzüge noch das normalste. Weit beeindruckender war, dass die Konzerntruppen von New Day extrem muskulös und etwa einen halben Meter größer waren als die der anderen Konzerne. Zudem wirkte ihre Haltung irgendwie falsch und krumm, so als hätten sie bei ihrer Zeugung ein Übermaß an Gelenken abbekommen. Angesichts dessen, was ich über Lavells Firma wusste, hielt ich das nicht für ausgeschlossen.

Auch die … Begleiter der New Day Executioners sprachen für genetische Manipulationen. Ähnlich der laufenden Fleischbuffets, denen ich auf New Days Firmengelände begegnet war, handelte es sich um zumeist achtbeinige Kreaturen, die jedoch nicht ihr eigenes, gekochtes Gewebe zur Verköstigung anboten. Vielmehr waren auf ihnen Kanonen, ganze Reihen von Stacheln oder fleischige Mäuler mit langen Zungen angebracht, die allesamt gut aus einem Albtraum hätten stammen können.

Zu dieser illustren Runde gesellte sich eine kleine Schar von Vertragswächtern, die der Kartellwächter Navin zur Unterstützung geschickt hatte. Das zumindest hatte Lavell mir erzählt.

Apropos Lavell – abgesehen von ihm waren die Konzernführer nicht anwesend, sondern wurden durch ihre leitenden Angestellten vertreten. Offensichtlich scheuten die CEOs in diesem speziellen Fall doch das Risiko für ihr eigenes Leben. Auch der Kartellwächter war nicht anwesend. Nun, zumindest nicht persönlich. Stattdessen schwebte über uns eine an das Design der Whe-Ann erinnernde Drohne, die Navins Antlitz auf einem kleinen Bildschirm führte und zu uns sprach, wie die Stimme eines durchgeknallten Cyberpunk-Gottes.

„Hochverehrte Nehmer, geschätzte Geber“, verkündete die Drohne, die wahrscheinlich das Geschehen über ihre Sensoren genau festhielt, „ich freue mich, Ihnen verkünden zu können, dass der Machtkomplex der Kalten Hand vollkommen blind und schwer angeschlagen ist. Ihre Überwachungs- und Sicherheitssysteme sind praktisch gänzlich ausgeschaltet und auch ein Großteil der Verteidigungsanlagen konnte außer Funktion gesetzt werden. Denke Sie daran, dies ist eine öffentlich angeordnete Zerschlagung zur Wiederherstellung der Marktbalance. Alles gefundene Eigentum geht zunächst an die Kartellwache über, bevor es allen Beteiligten zu gleichen Teilen ausgezahlt wird. In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Erfolg. Und gute Geschäfte.“

„Daran glaubt er selber nicht“, kommentierte Lavell, der direkt zu meiner Rechten stand, „bei solchen Strafaktionen bedient sich jeder, wie er kann. Und das werden auch wir tun. Wenn Sie irgendetwas von Wert akquirieren können, dann bringen Sie es mir.“

Er sah sowohl zu mir als auch zu Karmon. Der Kwang Grong nickte und auch ich tat es, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich das am Ende auch so handhaben würde, wie Lavell es verlangte. Vor allem, wenn ich etwas finden sollte, das eigentlich mir gehörte. Wie Kolloms Kopf zum Beispiel.

„Wer wird vorausgehen?“, fragte ich Lavell, da sich noch keiner der Konzernsoldaten rührte.

„Sie beide“, sagte Lavell ernst.

„Das ist ein Scherz, oder?“, erwiderte ich skeptisch.

„Nein, eine Ehre“, widersprach Lavell.

„Die Ehre Kanonenfutter zu werden?“, meinte ich skeptisch, „ich hätte nicht gedacht, dass Ihnen der Körper, den sie extra für mich geschaffen haben, so wenig wert ist.“

„Ich vertraue in Ihre Fähigkeiten, das ist alles“, entgegnete Lavell, „und in die von Karmon. Sie haben die anderen hier doch gesehen. Hauptsächlich gehirngewaschene Executioners, Bürokraten und überforderte Abteilungsleiter. In der Masse sicher schlagkräftig, keine Frage. Aber kein gutes Vorauskommando. Dafür brauche ich jemanden mit Verstand. Sie sind der geborene Anführer, Geber Adrian.“

Dieses vergiftete Lob prallte wirkungslos an mir ab. Ich wusste nicht, warum Lavell mich solch einem Risiko aussetzen wollte, aber andererseits brachte es in diesem Moment nicht viel, ihm zu widersprechen. Zum einen war mein Leben ja auch nicht mehr wert als das dieser armen Konzernsoldaten – gehirngewaschen oder nicht – und zum anderen bezweifelte ich, dass Lavell ein ‚Nein‘ akzeptieren würde.

„In Ordnung“, sagte ich also und dann tat Lavell etwas, mit dem ich ganz und gar nicht gerechnet hatte. Der große, dünne Mann ging auf mich zu und schloss seine langen Arme zu einer Umarmung um meinen Körper. Seine blasse Haut, die meiner Nase jetzt ziemlich nah kam, roch angenehm und unangenehm zugleich. Wie saure, parfümierte Milch.

„Möge Ihr neuer Körper Ihnen Glück bringen“, hauchte Lavell. Dann ging er zu Karmon, dem er immerhin fast bis zum Hals reichte und wiederholte dieselbe Prozedur mit ihm. Karmon ließ es ähnlich stoisch über sich ergehen, wie ich. Trotzdem gehörte die Umarmung der Beiden sicher zu den bizarrsten Erinnerungen aus meinem Leben und ihr könnt euch vorstellen, dass das schon etwas bedeutet.

Als Lavell auch Karmon aus seinem Griff entlassen hatte, drehte ich mich wieder zu dem auffälligen Konzerngebäude um. Es besaß die Form einer aus dem Boden ragenden Hand, die einen Planeten festhielt, bei dem es sich wahrscheinlich um Deovan handeln sollte. Zusammen mit Karmon steuerte ich die in den Globus eingelassene Tür an und hob gerade meine Armwaffe, in der Hoffnung, sie damit aufbrechen zu können, als Lavell mich unterbrach.

„Das ist nicht nötig“, sagte er, „die Tür ist bereits offen.“

Ich nickte Lavell verstehend zu und verzichtete genau wie Karmon auf den Einsatz meiner Waffe, hielt sie aber dennoch erhoben, da ich nicht wusste, was genau uns hinter der Tür erwarten mochte. Dann wechselte ich einen letzten Blick mit Karmon, der diesen zu meiner Überraschung freundschaftlich erwiderte und ging weiter auf die Tür zu. Sie glitt auf und zu meiner Erleichterung wurde ich nicht mit einem Sperrfeuer begrüßt, sondern mit einer recht lauten, dissonanten Musik, die klang, als würden mehrere Musikstücke gleichzeitig abgespielt. Ich fragte mich, ob diese schrägen Melodien von ähnlichen Kreaturen gesungen wurden, wie sie Lavell in seinem Konzerngebäude versteckt gehalten hatte, aber irgendwie glaubte ich das nicht. MKH war nach allem, was ich wusste, kein Genetik-Konzern.

Ich trat ein und wagte mich ein Stück vor. Die Beleuchtung in dem Gebäude war stark heruntergedimmt und flackerte gelegentlich.

„Gute Geschäfte, werte Nehmer oder … Geber?“, erklang eine unsichere, weibliche Stimme hinter dem Empfang, „ich kann leider Ihre Identität nicht überprüfen. Irgendetwas stimmt mit dem System nicht. Ich entschuldige mich für diese Unannehmlichkeit, wirklich. Aber ich kann weder den Support, noch unser Admin-Team kontaktieren. Eigentlich könnte ich den Fehler wahrscheinlich selbst reparieren, wenn ich dürfte, aber ich bin noch in der Probezeit und habe keinerlei Sicherheitsfreigaben. Und dann auch noch diese seltsame Musik, die keiner angefordert hat … ich … ich würde einen Neustart versuchen, doch selbst dafür habe keine Freigabe und … nun, wie es aussieht, muss ich nach oben gehen und mit Nehmer Kollom oder Nehmerin Torvilla sprechen … vielleicht kann ich Ihnen ihr Anliegen weitergeben, wenn Sie es mir denn nennen wollen.“

Ich hatte auf der Erde nicht wirklich Erfahrungen mit der Arbeitswelt gesammelt, aber ich erkannte mittlerweile ganz gut, wenn jemand unter Stress stand und warum. Diese Frau war verängstigt. Nicht, weil sie fachlich überfordert war und nicht unseretwegen, oder weil sie die Invasionsarmee vor ihren Türen fürchtete, die sie seltsamerweise nicht einmal bemerkt zu haben schien. Sie fürchtete sich vielmehr davor, zu Kollom Nehmer gehen zu müssen. Das wiederum konnte ich gut verstehen. Ich konnte mir kaum etwas Unangenehmeres vorstellen, als für diesen Bastard zu arbeiten.

Ich trat etwas näher und erkannte eine junge Deovani mit schulterlangen roten Haaren und ungefähr in meinem Alter. Sie war hier die einzige anwesende Person. Keine Wachen, keine Kollegen, keine Unterstützung. Sofort verspürte ich Mitleid. Diese Frau glich einer einsamen Strandbesucherin, kurz bevor ein Tsunami anrollte. Doch vielleicht konnte ich uns beiden helfen.

„Zufälligerweise möchten wir auch zu Nehmer Kollom“, sagte ich freundlich und war dankbar, dass Karmon die Frau noch nicht mit seinem Schattenstrahler pulverisiert hatte. Ohnehin wirkte der Kwang Grong etwas ruhiger auf mich als noch vor einigen Stunden, „wir haben etwas Geschäftliches miteinander zu besprechen. Ich kann Sie also gerne begleiten, wenn das möglich ist.“

Im Gesicht der Frau las ich Erleichterung, aber auch Zweifel. „Gerne, gerne. Aber die … die Sicherheitsprotokolle verbieten … ich kann niemanden ohne Identitätsprüfung zu ihm lassen, wenn … sie wissen ja, was für gewöhnlich mit Angestellten passiert, die die Regeln ihres Arbeitgebers missachten. Hier bei MKH ist es zehnmal schlimmer.“

„Er kennt mich“, versuchte ich ihre Zweifel zu zerstreuen. Noch während ich dies sagte, hatte ich eine Art Déjà-vu von meinem Erlebnis im Firmengebäude von New Day. Allerdings war diese Frau, anders als Lavells Mitarbeiterin, mit Sicherheit nicht in die Sache eingeweiht.

„Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen“, fügte ich bekräftigend hinzu.

Die Lüge kam mir glatt über die Lippen. Wie so oft. Zwar waren meine Absichten ausnahmsweise rein, denn ich hoffte tatsächlich, die Frau irgendwie aus der Schusslinie zu bekommen, aber ich wusste auch, wie unrealistisch dieser fromme Wunsch war. Dort vor der Tür, wartete ihr sicherer Tod und ich fragte mich ohnehin, warum er noch nicht hereingekommen war.

Die Frau zögerte noch einen Augenblick, dann erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging auf mich zu. Ihre Bewegungen wirkten seltsam unruhig und ruckartig, nicht von der Bewegung ihrer Beine her, aber bezogen auf die Abläufe der einzelnen Bilder, die ich wahrnahm. Eine Folge der Lichtverhältnisse? Eine Projektion? Vielleicht eine Falle?

„Wenn Sie das sagen …“, sagte die Frau noch immer etwas unsicher.

Ihre Unsicherheit wuchs, als ich kurz ihren Arm packte und festes, weiches Fleisch fühlte. Wahrscheinlich keine Illusion oder Projektion, dachte ich und fühlte mich sofort wie ein ziemlicher Weirdo.

„Tut mir leid“, sagte ich und gab vor, mich an der Empfangstheke festhalten zu müssen, „diese Musik bereitet mir Kopfschmerzen.“

Wie um meine Worte zu unterstreichen schwoll die Musik an, wurde dann wieder leiser und schien wieder von vorne zu beginnen.

„Ja“, sagte die Frau jetzt wieder vorsichtig lächelnd, „klingt irgendwie schrecklich. Es … ist … es ist, als würde sie einen vom Denken abhalten wollen.“

„Das ist wahr …“, sagte ich, auch wenn ich ihr eigentlich nicht zustimmte. Die Musik hielt einen nicht vom Denken ab. Sie trieb die Gedanken eher auseinander, setzte sie in verschiedenen Schauplätzen fest und verhinderte, dass sie sich koordinierten.

„Kommen Sie mit“, sagte die Frau schließlich und schien sich einen Ruck zu geben.

Ich folgte ihr und sah, wie sie ein paar Schritte nach vorne ging. Und dann wieder zurück. Und erneut nach vorne, während ihre Hände sich bewegten wie ein stotterndes, ruckelndes Windrad.

„Siehst du sie auch?“, flüsterte Karmons Stimme an meiner Seite und schaffte es irgendwie durch das Kreischen der Musik zu dringen.

„Was?“, fragte ich verwirrt.

„Die Schatten“, antwortete Karmon.

Ich wollte seine seltsame Frage gerade verneinen, als ich tatsächlich etwas sah. Doch es waren nicht Schatten, die ich in diesem Licht wohl eh nicht richtig erkannt hätte. Es waren Umrisse. Helle, neblige Umrisse, die sich durch die Luft drückten, wie Hände an Zeltstoff.

Sie lebten am Blickfeldrand, tauchten auf und verschwanden, tasteten, suchten, liefen an uns vorbei.

Plötzlich drehte die Frau sich zu mir um und sah mich verwirrt an.

„Gute Geschäfte, werte Nehmer oder … Geber“, sagte sie, verwaschen, „ich kann leider ihre Identität nicht überprüfen. Irgendetwas stimmt mit dem System nicht …“

Der Rest war nicht zu hören, auch wenn ich wusste, wie dieser Satz enden würde, immerhin hatte ich ihn schon einmal gehört. Doch ihre Worte wurden aufgefressen von der schrillen, immer lauter werdenden Musik, die sich zu einem unerträglichen Crescendo hochschaukelte.

Dann herrschte plötzlich Stille. Die rothaarige Frau hielt inne und die Welt zerplatzte mit einem Knall, so als würde ein Ballon zerreißen. Die Luft selbst zersplitterte. Die Zeit zersplitterte und hervor kamen zehn Konzernsoldaten, die uns alarmiert ansahen und sofort das Feuer eröffneten.

Karmon wurde von einer ganzen Reihe weißer Energieimpulse getroffen, geriet aber nicht ins Schwanken, sondern begann seinerseits damit, seine Schattenstrahlen zu verteilen. Die Angestellte hingegen flüchtete hinter die Rezeption und ich tat es ihr gleich. Zwei der Geschosse jagten knapp an mir vorbei, eine weitere streifte meinen Kopf und versenkte ein gutes Stück meiner Kopfhaut, aber immerhin gelang es mir in Deckung zu gehen. Ich hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, ob diese Deckung mir irgendetwas nützen würde, aber immerhin schien ich es geschafft zu haben, die Angestellte, die mich offenbar nicht wiedererkannte zu verängstigen. Sie sah zu meiner Armwaffe, riss ihre Arme in die Höhe und präsentierte mir ihren Identifier. Er zeigte 3.590 Dominanten. „Ich gebe Ihnen alles, wenn Sie mein Leben verschonen“, bot sie mir an.

„Das mach ich umsonst“, sagte ich zu ihr und verlor dann sofort wieder das Interesse. Karmon stand dort draußen im Kugelhagel und ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Also entschied ich mich spontan für eine Richtung, rollte links hinter der Rezeption hervor und feuerte eine breite Salve meiner Kompassnadeln in den Pulk der Konzernsoldaten. Mit einer weiteren Rolle brachte ich mich wieder in Sicherheit. Die meisten Geschosse verfehlten wahrscheinlich ihr Ziel. Doch kleine Blutspritzer, gelegentliches, gedämpftes Ächzen und das klatschende Geräusch von Metall, das in Fleisch eindrang, legten nahe, dass das nicht für alle galt.

Kaum zurück in meiner improvisierten Deckung, bemerkte ich, dass sich die Angestellte mittlerweile auf den Boden niedergekniet hatte. Wohl, weil sie wusste, dass diese Soldaten sie jederzeit als Kollateralschaden in Kauf nehmen würden, aber vielleicht auch, weil sie mir nicht traute. Noch während ich darüber nachdachte, wie ich ihr zumindest die Angst vor mir nehmen könnte, hörte ich an einer Reihe von zischenden Einschlägen, dass meine kleinen Geschenke nicht unerwidert blieben. Immerhin schien der Empfangstresen aber die feindlichen Geschosse vorerst abzuhalten. Schwarzer, sich kräuselnder Rauch, Blasen werfender, stinkender Kunststoff und eine spürbare Hitzeentwicklung deuteten aber an, dass das nicht so bleiben musste.

„Wo bleiben diese Bastarde?“, flüsterte ich zu mir selbst, doch Lavell und die anderen machten keine Anstalten zu uns zu stoßen. Als ich eine Bewegung aus meinem linken Augenwinkel wahrnahm, riss ich meine Waffe hoch und pumpte sicher hundert Kompassnadeln in einen Konzernsoldaten, der mich aus der Deckung hatte holen wollen und seinen Mut nun teuer bezahlen musste. Vollkommen perforiert fiel der Mann auf den Boden und doch war dieser kleine Triumph ein weiteres Zeichen dafür, dass ich hier nicht bleiben konnte.

Ich unternahm noch zwei weitere, rasche Ausfälle mit unbekanntem Ergebnis, abgesehen von einigen Streifschüssen an Armen, Schultern und im Gesicht, die allesamt zwar höllisch schmerzten, aber nicht lebensgefährlich schienen.

Dann hörte ich ein wütendes, gepeinigtes Brüllen. Ich war mir sicher, dass es von Karmon stammte und dieses Wissen ließ mich nicht kalt. Auch wenn ich mir noch nicht im Klaren darüber war, was ich von meinem wiederhergestellten Freund halten sollte, wagte ich mich diesmal nicht nur kurz aus der Deckung, sondern stürmte einfach drauflos.

Noch im Rennen verschaffte ich mir einen raschen Überblick über die Situation. Von den anfangs zehn Konzernsoldaten waren noch sechs am Leben. Einen hatte ich getötet, drei von ihnen hatte Karmons Schattenstrahler in verkohlte Leichen verwandelt. Der Rest jedoch hatte meinen gigantischen Freund gemeinsam zu Fall gebracht, kniete auf seinen massiven Gliedmaßen und hatte ihn mit einer Art stabilem Klebeband befestigt und bewegungsunfähig gemacht. Auch wenn das absurd war, erinnerte mich das an eine Szene aus Gullivers Reisen, wo Zwerge den Helden des gleichnamigen Buches auf ähnliche Weise gefesselt hatten.

Lustig war es dennoch nicht. Denn die Konzernsoldaten, die wohl bemerkt hatten, dass Karmon recht unempfindlich gegen ihre Waffen war, versuchten sich nun an seiner einzigen wirklichen Schwachstelle in seiner Brust, direkt hinter seinem Schattenstrahler. Einer hatte bei dem Versuch, ihn dort zu verletzen, bereits eine Hand eingebüßt. Die anderen jedoch stellten es geschickter an, nutzte die kleinen Pausen in Karmons Schussfolgen und hatte ihm sein Gewehr bis zum Anschlag in die Brustöffnung geschoben. Offenbar waren sie fest entschlossen, sich zunächst um den Kwang Grong zu kümmern und mich erst einmal nicht zu beachten. Ganz schlechte Idee.

So leise wie möglich schlich ich mich an, wählte meinen Schusswinkel so, dass mehr als einer der Soldaten in meiner Schusslinie lag und drückte ab. Wie eine getunte Nagelpistole durchstießen meine Geschosse das Gehirn des anvisierten Soldaten und seiner direkten Nachbarn. Blut und Knochensplitter spritzen auf und als sich die übrigen drei Soldaten gerade umdrehen wollten, richtete in schneller Folge meine Waffe auf sie und verursachte auch in ihren Köpfen kleine Explosionen aus Nadeln, Blut und Hirngewebe.

„Nehmt das, ihr Arschlöcher“, flüsterte ich zufrieden. Dann hörte ich ein gehässiges Lachen und … sah einen von Karmons Schattenblitzen direkt auf mich zurasen.

~o~

Noch bevor der gefährliche Blitz mir das Licht ausknipsen oder mich zumindest schwer verwunden konnte, zerbrach die Luft erneut.

„Hey!“, hörte ich Lavell direkt in mein Ohr brüllen und spürte seine Hand hart auf meine Schulter klopfen, „hat Sie eine Betäubungswaffe getroffen oder haben Sie plötzlich den Pazifisten in sich entdeckt?“

„Nein“, sagte ich verwirrt, und duckte mich hinter einer von Lavells Kreaturen weg, die ihre messerscharfe Zunge gegen die Horde von MKH-Soldaten ausschickte, welche uns belagerte.

„Hätte mich auch gewundert“, sagte Lavell grinsend, „so wie Sie die arme Empfangsdame zugerichtet haben.“

Ich sah auf den Boden und sah mit Erschrecken dieselbe Frau, die ich in diesem … ja was eigentlich? In diesem Traum, in dieser Vision, in dieser anderen … Realität noch hatte beschützen wollen, nur, dass sie hier gespickt war mit Kompassnadeln wie ein Mettigel mit Salzstangen. Ein schlechtes Gewissen durchzuckte mich, auch wenn ich mich ja nicht mal erinnern konnte, wie, ob oder warum ich das getan hatte. Würde es wieder passieren? War das eine chaotische, unentrinnbare Zeitschleife? Würde ich wieder und wieder die Realitäten wechseln und letztlich keine Kontrolle über das haben, was ich tat?

Mehrere Energiegeschosse, die knapp neben meinem Bein einschlugen, unterbrachen diese Überlegung. Ich rannte zur Seite weg und konzentrierte mich auf meine Reflexe, auf das Ausweichen und Töten. Darauf, alles zu treffen, zu zerfetzen, zu zerfleischen, was sich zeigte und nicht zu meinen Verbündeten gehörte. Karmon, der wie ein dunkler Turm im Kampfgeschehen stand und finsteren Schmerz verteilte, tat es mir gleich und kurz erschreckte ich mich vor ihm. Lag das an dem, was er zuvor … oder besser gesagt, in einem anderen „Wenn“ getan hatte?

Ich wusste es nicht, aber es war wirklich ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um so etwas zu durchdenken. Die Luft war erfüllt mit Tod. Nicht nur die Energiegeschosse der zahlreichen MKH-Verteidiger, Karmons Schattenblitze und meinen tödlichen Kompassnadeln, sondern auch mit ätzenden und giftigen Chemikalien, wie aus dem Nichts entstehenden, alles durchbohrenden Metallstrukturen und dem panischen Röcheln qualvoll Erstickender.

Sofort fühlte ich mich nach Konor zurückversetzt. Das gnadenlose Sterben und vielfache Töten, der Rausch, das Adrenalin. Und doch bemerkte ich, dass ich mit meinen jetzigen Fähigkeiten nicht annähernd an meine damalige Allmacht heranreichte. Natürlich, mein Körper war agil, geschickt, mit starken Reflexen ausgestattet und ich bemerkte, dass ihm kleinere Wunden nicht viel ausmachten, ja sich sogar langsam regenerierten. Aber ich befand mich nicht mehr in einer Symbiose mit einem Kwang Grong und ich war mir fast sicher, dass ein ungünstiger Treffer mein Ende bedeuten könnte. Und nicht nur das. Wo ich damals Dutzende binnen weniger Sekunden dahingeschlachtet hatte, beendete ich diesmal pro Minute vielleicht doppelt so viele Leben wie einer der Konzernsoldaten und halb so viele wie Karmon.

Viel zu viele Opfer von einem moralischen Standpunkt, aber enttäuschend wenige von einem strategischen. Dennoch – das muss ich zu meiner Scham gestehen – genoss ich diese Handlungsfähigkeit, diese Wirkmächtigkeit und das Gefühl womöglich auf der Gewinnerseite zu stehen. Denn auch, wenn die Verteidiger nach wie vor Nachschub schickten, machten wir immer mehr Boden gut.

„Sieht so aus, als hättest du nicht genug investiert, Kollom“, sagte ich schmunzelnd und versuchte alle Gedanken an Moral, Schuld und spontane Realitätswechsel in dem Wunsch nach Rache zu ertränken. Es klappte erstaunlich gut.

~o~

„Eine Wasserpistole? Ernsthaft?“, sagte Ara zu dem Aquation-Executioner, der mit dem Strahl seiner Waffe ein Loch in die Wand hinter ihr geätzt hatte, „da hatten sogar die verfluchten Jyllen mehr Würde. Deren Pissespender sahen wenigstens noch gefährlich aus.“

Der Mann ließ sich nicht reizen. Natürlich nicht. Er war eben genau das: Ein Executioner, ein Wesen ohne Stolz, Identität und Überzeugungen, wie es sie in Deovan für Aras Geschmack viel zu oft gab. Selbst ihr Team bestand zur Hälfte aus solchen biologischen Robotern, auch wenn es zumindest einige echte Krieger darunter gab.

Sie wischte sich einige Spritzer der ätzenden Flüssigkeit aus dem Gesicht, die sie abbekommen hatte, die aber in dieser Menge und Konzentration nicht mehr als etwas Brennen und Jucken verursachten. Selbst die Spucke ihrer alten Erzfeinde war Potenter gewesen.

Sie rümpfte lautstark die Nase. Dann drückte sie ab und donnerte das Massegeschoss ihres Forcers direkt in den flüssigkeitsgefüllten Brustpanzer des Konzernsoldaten. Das bremsende Gel darin, mochte den meisten kleineren Kugeln ihre Wucht nehmen, aber die panzerbrechende Waffe hatte aus dieser kurzen Entfernung dennoch eine verheerende Wirkung. Das riesige, fast kinderkopfgroße Projektil durchschlug die durchsichtige Hülle, presste das Gel zusammen und drückte dann so fest auf die Rippen ihres Feindes, dass seine Lungen kollabierten. Röchelnd griff der sich an die Kehle und Ara beendete sein Leid, indem sie mit einem Schlag ihres Waffenlaufs sein Genick brach. Nicht aus Mitleid, sondern weil sie wusste, dass auch von sterbenden Feinden oft noch eine große Gefahr ausging.

Wieder einer weniger, dachte sie zufrieden und wusste doch, dass dieser Erfolg nicht viel bedeutete. Sie waren in der Unterzahl. Die Invasoren hatten sie überrascht und es war pures Glück gewesen, dass sie überhaupt so etwas wie einen Widerstand hatte organisieren können. Gerade hatte sie die todgeweihten Laboraffen in ihrer Hinrichtungsstätte abgeliefert, als sie die kurzen Kampfgeräusche gehört hatte, mit denen die Eindringlinge die beiden Wachen und die Empfangsangestellte ausgeschaltet hatten. Da ihre Kommunikation nicht funktionierte, hatte sie einfach all ihre Leute in der Nähe zusammengesucht und war zum Eingang geeilt, noch bevor sie einfach durchmarschiert waren.

Normalerweise hätten schon allein die automatischen Anlagen im Eingangsbereich jeden Eindringling pulverisieren müssen. Notfalls inklusive der eigenen Angestellten. Doch irgendwie mussten diese Sicherungsmaßnahmen überbrückt worden sein. Über das ‚wie‘ machte sich Ara lieber erst gar keine Gedanken. Sie war eine Kriegerin, keine Technikerin und es kam ohnehin gerade darauf an, diese Bedrohung zu beseitigen oder zumindest aufzuhalten, nicht sie zu verstehen.

Während die Feinde vorrückten und ihre Leute verzweifelt ums Überleben kämpften, suchte sie nach neuen Zielen. Strategisch klug wäre es sicher gewesen, eine der vielen genetisch designeten Monstrositäten auszuschalten, die hier wie Ungeziefer herumkrochen. Vielleicht auch den Wichtigtuer mit der seltsamen Nagelpistole oder diesen grauen, schattenspuckenden Koloss. Doch am meisten reizten sie nun einmal die Regenbogen-Clowns von Hookline mit ihren bunten, verspiegelten Visieren. Ara verachtete bunte, grelle Farben und sie hasste Leute, die ihre Sinne mit Drogen vernebelten. Das war schon immer so gewesen. Selbst früher in Konor, hatte sie Scharfwasser konsequent gemieden. Fast automatisch wanderte ihr Lauf deshalb zu den schillernden Helmen. Und mit gut gezielten Schüssen drückte sie zwei, drei, vier, fünf davon ein. Ließ sie zersplittern und befreite ein rosafarbenes Gas, das wohl in den Helmen zirkuliert hatte.

„Falls euch das im Kampf helfen sollte, war’s ein Reinfall“, sagte sie lachend und wollte gerade einen weiteren bunten Soldaten aufs Korn nehmen, als sie ein Stechen in ihrem rechten Arm fühlte.

Sofort fuhr sie herum und sah einen dieser Lutscher, der gerade seinen spritzenbewehrten Arm von ihr zurückzog. „Na warte“, sagte sie wütend, wenn auch mehr auf sich selbst und ihre Nachlässigkeit als auf den immerhin geschickt agierenden Feind und schwenkte ihre Kanone diesmal zum Bauch ihres Gegners. Sie wollte ihn leiden lassen, noch bevor das, was auch immer er in ihre Adern gejagt hatte, seine Wirkung tun konnte. Zornig krümmte sie ihren Finger um den Abzug. Oder besser gesagt: Sie wollte es tun. Denn egal, wie viel Mühe sie sich gab, es gelang ihr nicht.

Ihre Finger blieben steif, vollkommen verkrampft und als sie versuchte, stattdessen ihren Arm zu bewegen, stellte sie fest, dass das für all ihre Muskeln galt. Die Schmerzen, die diese Krämpfe mit sich brachten, hielt sie aus, aber die Handlungsfähigkeit brachte sie fast um den Verstand. Sie hatte mit einem langsam wirkenden Gift gerechnet, vielleicht auch mit einem Halluzinogen. Mit irgendeiner albernen, feigen, verspielten Scheiße, wie sie zu diesen Clowns passen würde. Aber das Zeug hier war still, schnell, wirksam, effektiv und nötigte ihr zumindest ein wenig Respekt ab.

Mein Herz ist auch ein Muskel, erinnerte sie sich. Bald muss es vorbei sein. Spätestens, wenn sich die Lähmung überall ausgebreitet hatte oder dieser Wichser ihr das Licht ausblies. Doch das tat der Hookline-Soldat nicht. Stattdessen nahm er seine Arme hoch, hielt seine Hände über Kreuz und formte mit seinen Fingern ein Zeichen, das ihr durchaus bekannt war. Zeige- und Mittelfinger gespreizt übereinandergelegt, sodass sie einen rechten Winkel formten. Es war das rorakische Symbol für Ewigkeit. Dies bedeutete wohl, dass nicht jeder der Invasoren ein Executioner war und es bedeutete, dass ihr Leid nicht so schnell enden würde. Das Gift würde ihr Herz und ihre inneren Organe verschonen. Sie würde alles sehen, hören und miterleben können, bis sie irgendwann dehydrierte.

Nachdem der Hookline-Soldat sie verhöhnt hatte, stürzte er sich wieder ins Getümmel und half dabei, ihre Kameraden aufzureiben. Führungslos geworden, verzeichneten sie immer mehr Verluste und manche Feinde ließen ihre Leute einfach links liegen und drangen direkt in den Komplex vor, den sie hatte verteidigen wollen. Ara blieb nichts weiter übrig, als dem tatenlos beizuwohnen. Hätte ich Konor doch nie verlassen, dachte sie und zum ersten Mal hatte sie wirklich einen Eindruck davon, wie es war, gegen einen Feind zu kämpfen, der keine Gnade kannte.

~o~

Der Konferenzraum kam mittlerweile mehr einem Friedhof gleich. Nicht allein, weil eine absurde Menge an Vertragswächtern das Zeitliche gesegnet hatte, sondern auch, weil alle Soldaten und die meisten Aufsichtsratsmitglieder leblos auf dem blutverschmierten Boden lagen. Lediglich der Vitalitäts-Status von Alling und Lun, deren Körper zumindest keine sichtbaren Wunden aufwiesen, blieb noch zu klären.

Kollom hatte beschlossen, diese vornehme Aufgabe selbst zu übernehmen. Als Erstes hob er Allings Kopf an und bemerkte sofort eine große Menge grünlichen Schaums um seinen Mund, sowie um seine Augen, deren Pupillen so groß waren, dass die Augäpfel fast nicht mehr zu erkennen waren. Auf dem erstarrten Gesicht von Alling Nehmer lag ein so vergnügter wie beängstigender Ausdruck. Kollom tastete den Körper des Mannes ab. Seine Glieder waren eiskalt, starr wie bei einer Puppe und ein Puls war nicht zu fühlen.

„Eine Überdosis. Wahrscheinlich vom halben Sortiment von Hookline“, vermutete Kollom, „ein passendes Ende für ihn.“

Er ließ den Kopf des Toten lieblos auf den Boden knallen und ging weiter zu Lun Nehmer. Der uralte, aber jung erscheinende Gründer von MKH lag ebenfalls scheinbar leblos auf dem Boden. Aber Kollom wollte sicher gehen. Er kniff den Mann fest in den Arm und wurde mit einem protestierenden Schrei belohnt.

„Wir haben einen Überlebenden“, vermeldete Kollom fröhlich, „was für ein Glück.“

„Sie… das der Konzern war mein Lebenswerk … nein, mein Leben … fast zweihundert Jahre lang … warum haben Sie … Sie hatten kein Recht, um … die Versammlung hat… die Verträge …“, stotterte Lun, der begriffen hatte, dass das tot stellen seinen Sinn verloren hatte.

„Nehmer Lun“, sagte Kollom freundlich und bot ihm sogar seine Hand an, damit der zitternde, schwächliche Mann aufstehen konnte.

Lun ergriff sie und ließ sich von Kollom hochziehen.

„Ich würde Sie bitten“, fuhr Kollom daraufhin fort, „kurz einen Blick auf meine offizielle Berechtigung zu werfen.“

Er machte eine weit ausholenden Geste mit seiner Hand, mit der er auf Disruptor Yonis, Sandra und die mutierte Rovenia wies.

Im glatten Gesicht des alten Mannes sah er Angst.

„Deovan bildet sich eine Menge darauf ein, kompromisslose Freiheit zu verfolgen“, sagte Kollom, „aber wir alle wissen, dass das nichts weiter als Theater und Propaganda ist. Von wahrer Freiheit des Individuums sind wir hier so weit entfernt, die unsere werten Kollegen vom süßen Atem des Lebens. Und damit meine ich nicht einmal, dass neunundneunzig Prozent aller Trader nicht mehr Freiheit genießen als eine Ratte in der Falle, weil sie uns Nehmern in jedem Aspekt ihres Lebens zu Diensten sein müssen. Dagegen habe ich keine Einwände. Doch diese Verlogenheit, diese Regelreiterei, diese verfluchten Verträge. Auf die scheiße ich einen großen, goldenen Haufen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Kollom machte eine Pause und beugte sich ein Stück weiter herunter, bevor er fortfuhr. „Verträge schützen die Unfähigen davor, geprüft zu werden. Das allein ist ihr Zweck“, sagte Kollom und kam dabei Luns Gesicht ganz nah, „doch sie schützen Sie nicht mehr.“

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Lun in einem überraschenden Anfall von Mut, „wollen Sie die Gelegenheit nutzen, einem Todgeweihten Ihre Philosophie darzulegen, weil Sie sich selbst so gerne reden hören?“

Sandra lachte laut auf, was ihr einen verärgerten Blick von Kollom einbrachte, den sie aber gleichmütig zur Kenntnis nahm.

„Nein“, sagte Kollom, „ich will nur, dass …“

„Wir werden angegriffen!“, meldete Yonis plötzlich, „das offizielle Überwachungssystem wurde irgendwie deaktiviert, aber meine persönlichen Sensoren melden massive Kampfhandlungen im Eingangsbereich.“

Kollom erstarrte. Waren das der Kartellwächter und seine Truppen? Hatte Torvilla ihn dort verpfiffen, um sich an ihm und Yonis zu rächen, selbst wenn das für MKH brandgefährlich war? Oder steckte Arnin dahinter?

Wie dem auch sei, einen miserableren Augenblick für einen Angriff gab es nicht. Doch Kollom fasste sich schnell wieder. Er würde auch diese Bedrohung meistern, sowie er den Aufsichtsrat bezwungen hatte. Immerhin stand ihm nun die gesamte Macht des Konzerns zur Verfügung.

„Ich habe einen Vorschlag für Sie“, sagte Kollom zu Lun und drückte ihm seine Waffe in der Hand, „Sie übergeben mir ihre verbliebenen Anteile und ich lasse Sie am Leben. Dafür können Sie mir helfen, Ihr Lebenswerk zu verteidigen. Eigenhändig. Indem Sie jene zurückschlagen, die es zerstören wollen. Und nein, damit meine ich nicht mich.“

Lun sah Kollom zweifelnd an. Er musste wissen, dass er mit seiner katastrophalen körperlichen Konstitution bereits beim ersten Schuss umfallen würde. Schon sein Überleben bei diesem Massaker grenzte an ein Wunder. Dennoch nickte er.

„Ich bin einverstanden“, sagte er leise, um seine Geste zu unterstreichen.

„Ich gebe allen verbliebenen Konzerntruppen und der gesamten Belegschaft den Befehl zum Angriff“, fügte Yonis hinzu, „Die offiziellen Kommunikationskanäle sind zwar ausgeschaltet und offenbar wurde auch ein Störfeld installiert, aber meine Frequenz sollte ihre Identifier erreichen können. Vielleicht kann ich auch einige der Sicherheitssysteme manuell reaktivieren.“

„Gut“, sagte Kollom und blickte dann zu seinen Verbündeten. „Nun, werte Nehmer und Geber. Es wird Zeit, unsere Gäste zu begrüßen.“

~o~

Tentin Geber war den Tränen nah. Dies war mit Sicherheit der mieseste Tag, den er in diesem Job je erlebt hatte, sein entwürdigendes Vorstellungsgespräch mit eingeschlossen. Zuerst hatte plötzlich sein Terminal, in dem er für gewöhnlich die computergenerierten Baupläne und Designs für neue Waffentechnologien oder Skripte für die Steuerung von Überwachungsanlagen auf winzige Fehler und Unstimmigkeiten hin überprüfte, den Geist aufgegeben. Das allein war schon eine Katastrophe. Nicht nur, dass jede Sekunde, in der er nicht arbeitete, sein während der zweijährigen Probezeit ohnehin knapp bemessene Gehalt weiter schmälerte. Er wusste auch, dass der mangelnde Output ihm seine Monatsendbewertung ruinieren und ihn den Job kosten würde. Die drohende Rückzahlung von vier Monatsgehältern inklusive.

Als wäre das nicht genug gewesen, hatten seine Anfragen beim Support nichts ergeben, da dieser nicht erreichbar gewesen war. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, einen seiner Kollegen oder Kolleginnen zu der Problematik zu befragen. Aber zum einen schienen ihre Terminals ebenfalls nicht zu funktionieren und zum anderen waren Gespräche mit anderen Mitarbeitern in seiner Abteilung grundsätzlich und ausnahmslos verboten. Mangels Alternativen hatte er sich gerade zu dem unangenehmen Schritt durchgerungen, jemanden aus der Führungsetage persönlich aufzusuchen. Mit dem hohen Risiko, sich dort als unfähiger Störenfried in Erinnerung zu bringen.

Jetzt jedoch war alles nur noch schlimmer geworden. Auf seinem Identifier war eine Nachricht erschienen. „Verteidigungsfall. MKH wird angegriffen. Alle Mitarbeiter sind verpflichtet, Paragraf 23f ihres Vertrages zu erfüllen.“

Tentin bemerkte einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Dieser Paragraf verpflichtete alle Mitarbeiter zum Kriegsdienst für ihren Konzern. Dabei hatte Tentin nie zuvor in seinem Leben einen nicht-wirtschaftlichen Kampf ausgetragen. Alle Verbesserungen und Substanzen, die er benutzte, um seinen Arbeitsvertrag erfüllen zu können, waren auf Konzentration, Muster- und Detailerkennung ausgerichtet. Nicht auf Reflexe, Schlagkraft oder Sportlichkeit.

Doch das kümmerte seinen Konzern leider nicht. Schweigend ging er zusammen mit den anderen zu einem weißen Metallschrank, der in einer Ecke des Großraumbüros stand und holte sich einen der dort in Ständern bereitstehenden Beta-Searchern. Diese kleinen, schwarzen Pistolen waren für Anfänger geeignet und richteten ihren Lauf zumindest grob auf das gewählte Ziel aus. Anders als die hochwertigeren Alpha-Searcher jedoch, verfügten sie über kein gewöhnliches Magazin, sondern synthetisierten ihre Munition aus Mineralien und Spurenelementen im Körper ihres Benutzers und wurden angetrieben durch dessen Körperwärme und Bewegungsenergie. Selbst, wenn er sich also gut im Kampf schlug, würde Tentin letztendlich innerlich verhungern oder erfrieren.

Doch das war immer noch ein besseres Schicksal, als das, was ihn bei einer Weigerung erwartete. Wenn er floh, würden ihn die Vertragswächter schnappen und hart sanktionieren, bevor sie ihn auf den Endmärkten anboten. Wenn er sich versteckte und MKH siegte, würde ihm dasselbe widerfahren, plus einer Bestrafung durch seinen Arbeitgeber. Und wenn die Angreifer siegten, würden sie ihn als illoyalen Angestellten erkennen und ebenfalls möglich gewinnbringend entsorgen.

Also umschloss er den rauen Griff der Waffe mit seinen schwitzigen, zitternden Händen und nahm den Stich, der Nadel, die die Verbindung zu seinem Organismus herstellte, gleichmütig hin. Seine zwanzig Kollegen, die er täglich sah und doch nicht kannte, taten dasselbe. Jedoch hatte er sich an ihre Spitze gestellt. Nicht aus Mut, sondern aus der Angst heraus, nicht zu sehen, was ihn erwartete. Wie brave, folgsame Roboter verließen sie den Raum, gingen den dunklen, nur von Notbeleuchtung erhellten Flur hinab und stiegen die glatte, frisch geputzte Treppe hinunter.

Nun hörte Tentin Kampfgeräusche. Wer auch immer sie angriff, musste bereits auf Widerstand gestoßen sein. Nicht von einfachen Angestellten wie ihm, sondern von Executioners und gewöhnlichen Konzernsoldaten. Eigentlich sollten nicht einmal sie zu diesem frühen Zeitpunkt des Konflikts eingreifen müssen. Tentin hatte bereits genügend Waffensysteme in Augenschein nehmen müssen und er wusste, dass die meisten von ihnen nicht nur verkauft, sondern auch im Gebäude zu Demonstrations- und Verteidigungszwecken verbaut wurden. Irgendwie mussten die Angreifer sie ausgeschaltet haben.

Tentin brachte die letzte Stufe der Treppe hinter sich und passierte einige Wartungs- und Kontrollträume. Er war sich inzwischen sicher, dass die Kampfgeräusche aus dem Eingangsbereich drangen. Wenn er Glück hatte, würden die Angreifer dort …

Plötzlich nahm er eine Bewegung vor sich wahr. Ein Feind. Oder mehrere.

Ja, Tentins Blick fürs Detail offenbarte ihm acht Beine, die sich langsam, aber entschlossen durch den Halbschatten bewegten. Eine Gruppe von vier Angreifern also, schlussfolgerte er.

Wie erwartet, richtete sich seine Waffe halb-automatisch auf das Ziel aus und mit einem schmerzhaften Ziehen zog er eine Reihe von Kugeln aus sich heraus, um sie dem Feind entgegenzuschleudern. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse sah Tentin, die vier kleinen, aus Gewebe, Metallen, gehärtetem Fett und gefrorener Gewebsflüssigkeit synthetisierten Kugeln durch die Luft sausten. Kleine Partikel von Staub und Eis lösten sich von ihnen, während sie in den Schatten eintauchten und zusammen mit den aus der Lebenskraft seiner Kollegen erzeugten Projektilen ein leises, klagendes Ächzen erzeugten. Dieses Ächzen klang so fremd und animalisch, dass es ihn daran zweifeln ließ, es wirklich mit gegnerischen Konzernsoldaten zu tun zu haben.

Doch erst eine Notbeleuchtungslampe, in deren Schein sich sein Ziel hineinbewegte, offenbarte ihm endgültig, dass seine ursprüngliche Annahme nicht stimmte. Ja, es waren acht Beine, die auf ihm zuliefen, aber sie gehörten nicht vier Soldaten, sondern einer einzigen Kreatur, mit einem tellerförmigen, hornigen Körper und einem großen, schwabbeligen, hässlichen, siebenäugigen Kopf, der breite, ringförmige Objekte ausspuckte. Auch diese Objekte konnte Tentin mit seiner Detailsicht identifizieren. Sie waren selbst eine Art von Lebewesen. Knochenringe mit galertartigen, fast durchsichtigen Körpern, kräftigen Muskelsträngen und kurzen, aber scharfen, nach vorne gerichteten Zähnen. Tentin sah all das sehr genau, ja sogar praktisch in Zeitlupe, aber das bedeutete nicht, dass es ihm diese besondere Beobachtungsgabe dabei half, auszuweichen.

Dennoch flogen die ersten der Geschosse, die das Wesen produzierte, knapp an seinem Kopf vorbei und stürzten sich stattdessen auf den Pulk seiner Mitarbeiter. Tentin wollte es eigentlich vermeiden, aber er konnte dem Drang nicht widerstehen, einen Blick über seine Schulter zu werfen. Dabei beobachtete er, wie sich eines der Wesen durch das Gesicht einer dunkelhaarigen Kollegin fraß und sich deren feucht glänzenden Gewebestücke in den transparenten Verdauungssack stopfte, wo diese zischend vergingen. Schrille Schreie und lautes Weinen erfüllten die Luft und waren präsenter noch als ihre winzigen Kugeln. Kugeln, die dem Wesen nur kleinere Wunden schlugen, ungeachtet der großen Opfer, die sie für die Schützen bedeuteten.

Tentin wusste, dass das Schicksal seiner Kollegin nur der Anfang war. Sie alle könnten auf diese oder eine ähnlich grausame Weise sterben und dieses Wissen machte etwas mit ihm. Tentin hatte sich nie groß für seine Kollegen interessiert, schon allein, weil er das nicht durfte. Aber etwas in ihm, etwas Altes und fast zur Unkenntlichkeit verkümmertes, regte sich und verlangte zu handeln. Er richtete seine verbesserten Augen auf das vielbeinige Ungetüm, das im Schein der Notbeleuchtung wie eine fette Krabbe umherstolzierte und mit seinen vielen Augen neue Opfer auserkor. Trotz der schlechten Beleuchtung, entdeckte er etwas in ihrem massiven, von wabbeligem Fleisch überspannten Schädel. Eine winzige, etwas dünnere Stelle, direkt unterhalb der Augen.

Tentin fixierte diese Stelle und bemerkte, wie die Zielerfassung der Waffe seiner Blickrichtung folgte. Dann korrigierte er nach, nur ein winziges Stück und feuerte eine Salve aus Lebenskugeln direkt in den Schädelknochen des Wesens hinein. Die ersten beiden Kugeln verfehlten ihr Ziel knapp. Die restlichen jedoch trafen, durchschlugen die feine Knochenplatte und bohrten sich in das Gehirn der Kreatur, die noch einmal in einem bizarren Tonfall ächzte und deren dünne, nicht mehr mit Befehlen versorgten Beine unter dem Gewicht des Körpers zusammenbrachen.

Tentin gönnte sich ein erleichtertes Aufatmen, für diesen kleinen Triumph. Doch als die Krämpfe kamen, brach auch er zusammen. Seine vollkommen entmineralisierten Muskeln stellten ihren Dienst ein und als er mühsam seinen Kopf drehte, bemerkte er, dass es vielen seiner Kollegen ebenso erging. Doch in den Augen derjenigen, die noch aufrecht stehen und ihre Waffe halten konnten, sah er ein Erstaunen in dessen Licht er sich für einige Momente sonnte. Natürlich wusste er, dass dieser Erfolg nichts bedeutete. Es war nicht sein Erfolg. Er gehörte allein MKH. Wie sein Leben, sein Tod und alle seine Fähigkeiten und Leistungen.

Aber dennoch gab ihm dieser Triumph ein wenig Wärme, tröstete etwas über den Schmerz und die Schwäche hinweg. Solange zumindest, bis weitere, achtbeinige, gentechnisch erzeugte Kreaturen den Gang hinunterkamen und einfach über die Leiche des erlegten Wesens hinwegstiegen. Begleitet wurden sie von Soldaten, deren Logo er sofort wiedererkannte. Recrate Industries. Der Arbeitgeber, dessen Angebot er damals verschmäht hatte, in der Hoffnung es mit MKH besser zu treffen. Ein zynisches Lachen wollte seiner Kehlen entsteigen, scheiterte aber an seiner verkrampften Brust, die es ihm kaum noch möglich machte zu atmen.

Als hätten die Executioners von Recrate dies geahnt, aktivierten sie ihre speziellen Waffen und saugten ihm und allen anderen das letzte bisschen Sauerstoff aus den Lungen. Die wenigen, schmerzvollen Sekunden, in denen Tentin seine verbesserten Augen noch einsetzen konnte, sah er den blutbefleckten, weißen Anzug von Kollom Nehmer und spürte, wie dieser achtlos auf seine gekrümmte Hand trat.

Immerhin muss ich ihn jetzt nicht mehr suchen, dachte er bitter, bevor sein Gehirn jedwede Tätigkeit für den Machtkomplex der Kalten Hand für immer einstellte.

~o~

„Für Motivationsreden ist es wohl zu spät“, befand Kollom, als er sah, wie der letzte seiner Mitarbeiter in eine Ohnmacht sank, aus der er wohl nicht mehr erwachen würde.

Praktisch im selben Augenblick richteten sich die Mäuler der Kreaturen und die Waffen der Recrate-Soldaten auf sie. Kollom und die anderen holten einen letzten, tiefen Atemzug, bevor die Vakuum-Kanonen damit begannen, ihnen die Luft zu entreißen. Kollom, der den Luftmangel gelassen hinnahm, da er wusste, dass ihm sein Nehmer-Organismus gewisse Vorteile verschaffte, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und erlegte mit seiner Waffe einen der Executioner mit einem präzisen Kopfschuss. Gleichzeitig fing Yonis, der sich in seine nichtmenschliche-Form zurückverwandelte, eine Reihe von biologischen Geschossen ab, die auf sie abgefeuert wurden.

Lun Nehmer hatte sich entgegen ihrer Abmachung ängstlich hinter ihnen verkrochen und kauerte sich eng zusammen, als wenn er so seine Luft besser für sich behalten könnte. Sandra hingegen, deren neu gewonnene Beschützerin wie ein Bodyguard neben ihr stand, reagierte von ihnen allen am effektivsten. „Tötet!“, sagte sie mit einem erstickten Krächzen, womit sie sich ohne jede Frage an die Geschöpfe aus den New Day Laboratorien richtete. Und die Wesen gehorchten.

Nur Lidschläge später wandten sich die New-Day-Kreaturen zu ihren Begleitern um. Stacheln, Säure und hungrige Parasiten wurden auf den Weg geschickt und fraßen sich durch die Anzüge und Visiere der Recrate-Soldaten. Sie veranstalteten ein freudiges Massaker. Einigen der Executioners gelang es noch, ihre Waffen auf „Druckluft“ umzustellen und Löcher in die Leiber der Genexperimente von New Day zu stanzen, doch es dauerte nicht lange, bis auch sie vergingen und die Luft im Komplex endlich wieder atembar wurde.

„Beeindruckend“, sagte Kollom zu Sandra.

„Danke“, erwidere Sandra nicht ohne Stolz, während sie ihre neu gewonnenen Untergebenen, gleich einem General in einer Reihe vor sich aufstellte. Sechs der Wesen hatte sie für sich gewonnen.

„Dieses Kunststück ist nur so lange beeindruckend, bis sie die Kontrolle verliert und gefressen wird“, trübte Yonis Sandras Hochstimmung.

„Das wird nicht geschehen“, widersprach Sandra selbstbewusst, „ich habe schon weit größere Heere befehligt.“

„Tatsächlich?“, fragte Yonis höhnisch und alle seine Gesichter kräuselten die Stirn, „Dann kann ich also davon ausgehen, dass Sie in Ihrer Zeit als Sahkscha mittels Gedankenkontrolle geherrscht haben und nicht mittels militärischem Drill und religiöser Verehrung?“

Sandra warf ihm einen giftigen Blick zu, sagte sonst aber nicht dazu.

„Wie dem auch sei“, fuhr Yonis fort, „es ist schade, dass Sie dieses sagenhafte Heer nicht mehr befehligen. Solch ein Heer könnten wir jetzt nämlich gut gebrauchen. Wenn bereits einige von ihnen bis hierhin durchgedrungen sind, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie auf voller Front durchbrechen.“

Er wies auf den Eingangsbereich, aus dem immer noch Kampflärm zu hören war.

„Wie wäre es, wenn sie Ihren Job erledigen und die Verteidigungsanlagen wieder fit bekommen“, erinnerte Sandra.

„Darum wollte ich mich ohnehin gerade kümmern“, entgegnete Yonis und ging erst auf die eine und dann auf die andere Wand zu und schien sie mit seinem Identifier abzutasten. „Die beiden Molekülzertrümmerer lassen sich leider nicht manuell ansteuern. Aber es gibt an der Decke ein RIP-Cage-Hub und an der rechten Wand einen Cross-Slicer, bei dem ich uns auf die Whitelist setzen kann. Das ist nicht viel, aber besser als gar nichts.“

„Was für eine Whitelist?“, fragte Sandra.

„Dort kann ich unseren genetischen Fingerabdruck hinterlegen“, erklärte Yonis, „alles und jeder, der nicht dort verzeichnet ist, wird von der Waffe kompromisslos gewürfelt.“

„Dann setzen Sie diese seltsamen, achtbeinigen Mutanten auch auf die Liste. Alle, nicht nur unsere, wenn das möglich ist“, verlangte Sandra, „immerhin sind sie potenzielle Verbündete.“

Yonis sah sie skeptisch und zugleich sehr ernst an. „Das ist leider nicht möglich. Die Whitelist kann nur für Mitarbeiter konfiguriert werden. Außerdem war mein Hinweis von vorhin keine platte Beleidigung. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich nicht viel von Ihren Fähigkeiten halte – ob mit oder ohne Delimiter – aber selbst, wenn Sie fähiger wären, als ich glaube, sprengt eine solche Kontrolle jedes Maß, das eine Anfängerin beherrschen kann. Und sei sie noch so talentiert.“

„Ich bin keine Anfängerin!“, beharrte Sandra.

„Wie Sie meinen“, antwortete Yonis, „ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie Sie von Ihren vermeintlichen Dienern auseinandergenommen werden.“

„Wir sind Verbündete, Yonis“, erinnerte Kollom, „vergessen Sie das nicht. Wenn einer auseinandergenommen werden soll, dann allein unsere Feinde. Davon abgesehen genießt Geberin Sandra mein vollstes Vertrauen.“

„Haben Sie sonst noch etwas zu bieten, Nehmer Kollom“, fragte Yonis, „außer wohlmeinenden Ratschlägen und blindem Vertrauen meine ich. Zum Beispiel in Ihrem Koffer dort?“

Kollom schüttelte den Kopf, „ich habe leider nichts Brauchbares mehr bei mir. Wir könnten allerdings Astrera …“

„Nein“, widersprach Yonis, „noch nicht. Sie wissen, wie viel Reputation uns ein solches Hilfegesuch kosten würde. Darauf würde ich nur im Notfall zurückgreifen. Wenn überhaupt.“

„Dann müssen wir wohl mit den Ressourcen arbeiten, die wir haben“, sagte Kollom, „Machen Sie die Anlagen bereit. Nehmen Sie dann Ihre … besondere Gestalt an und verbergen sich an der Decke. Sandra, stellen sie die Oktopoden so auf, dass die Neuankömmlinge sie nicht direkt sehen können.“

„Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen“, bemerkte Yonis, „ich beherrsche da gewisse Kniffe, wie Sie wissen.“

„Umso besser“, sagte Kollom, „Dann wäre das geklärt. Nun zum Wichtigsten. Lun, Sie sind unser Lockvogel.“

„Nein“, wimmerte Lun Nehmer, der es gerade erst wieder gewagt hatte, sich zitternd zu erheben, „alles, nur das nicht.“

„Wir können Sie auch zwischen meinen treuen Angestellten begraben“, stellte Kollom die Alternative vor.

„Oder Sie stellen sich dort mit erhobenen Händen in den Gang und bieten Verhandlungen an“, sagte Kollom, „wenn alles gutgeht, werden sie darauf eingehen, wir können sie in die Zange nehmen und sie dann aus dem Hinterhalt überfallen.“

„Und was, wenn sie mich einfach über den Haufen schießen?“, fragte Lun.

„Dann haben wir alle Pech gehabt“, sagte Kollom grinsend, „aber das muss nicht so laufen. Verkünden Sie Ihr Angebot einfach schön laut, verweisen Sie ruhig auf die Verteidigungsanlagen, die wir wiederhergestellt haben und auf die Material- und Personalkosten, die sie sich im Falle einer Verhandlung sparen könnten. Das sollten sie nicht ignorieren können. Selbst Executioners haben in solchen Fällen zumeist die Anweisung, derartige Angebote an ihre Vorgesetzten zu übermitteln.“

~o~

„Was ist mit ihr?“, fragte ich Lavell als wir den letzten MKH-Konzernsoldaten im Eingangsbereich niedergestreckt hatten und zeigte dabei auf eine erstarrte Rorak, die regungslos mitten im Raum stand und ihre gewaltige Waffe eisern umklammert hielt.

„Sie ist keine Gefahr. Einer von Rinnats Leuten muss sie gelähmt haben“, erklärte Lavell, „ihre Muskulatur ist komplett im Eimer und in etwa so beweglich wie Stein. Aber Sie können sich gerne ihre Waffe nehmen, falls es Ihnen gelingt, ihre …“

Noch ehe Lavell zu Ende sprechen konnte, jagte ich der Unbekannten eine Ladung Kompassnadeln in ihren wuchtigen Schädel. Sie blieb aufrecht stehen, aber ihr gequälter Geist blickte mich nicht länger aus ihren nun erloschenen Augen an.

„Keine Folter. Kein unnötiges Leid“, sagte ich ernst, „nicht, wenn ich dabei sein soll.“

Lavell blickte verwundert zu der leblosen Empfangsdame und obwohl ich persönlich keine Schuld an dem Vorfall trug, verspürte ich Scham. Ich verzichtete aber darauf, Lavell von dem spontanen Zeitlinienwechsel zu erzählen. Im Grunde konnte es mir egal sein, was der Mann von mir hielt. Er war nicht mein Freund und hatte selber genug Dreck am Stecken.

„Trödelt nicht herum“, hörte ich die ungeduldige Stimme des Kartellwächters aus dem Lautsprecher der Whe-Ann-Drohne erklingen, „ihr Widerstand ist noch nicht gebrochen.“ Die Drohne kreiste dabei über unseren Köpfen, wohl um mich, Karmon und Lavell einzusammeln wie versprengte Schafe.

„Natürlich“, sagte ich, „hier sind wir ohnehin fertig. Lasst uns Kollom suchen und dann hier verschwinden. Ich habe diesen Ort echt satt.“

„Verständlich“, sagte Lavell, auch wenn er wahrscheinlich nicht wusste, dass ich damit Deovan meinte und nicht nur die Zentrale von MKH.

~o~

Der Widerstand, von dem Navin gesprochen hatte, sah nicht wirklich so aus, wie ich erwartet hatte. Er bestand weder aus weiteren Soldaten, noch aus hochgerüsteten Waffen, sondern aus einem jungen, aber trotzdem gebrechlich wirkenden Mann, der mit erhobenen Händen im Gang stand.

„Hören Sie mich bitte an“, bat er mit krächzender, verängstigter Stimme, „Mein Name ist Lun Nehmer, ich bin Gründer des Machtkomplexes der Kalten Hand, Mitglied des Aufsichtsrats und möchte in seinem Auftrag mit Ihnen verhandeln.“

„Verhandeln?“, fragte Lavell skeptisch, „Sie meinen wohl eher kapitulieren. Ihnen dürfte aufgefallen sein, dass wir Ihre Verteidigungssysteme überwunden und Ihr Sicherheitsteam und – wenn ich mir den Leichenberg hier so betrachte – auch ihre anderen Angestellten mit Leichtigkeit ausgeschaltet haben.“

„Wir wissen, dass wir in der schwächeren Verhandlungsposition sind“, gestand Lun ein, „aber wir sind nicht machtlos. Wir haben noch Truppen in der Hinterhand und es ist uns gelungen, einige unserer Verteidigungsanlagen und auch einige Sprengsätze manuell zu reaktivieren. Wenn Sie es auf eine Konfrontation ankommen lassen, wird das für Sie alle sehr teuer werden. Sie werden uns wahrscheinlich schlagen, ja. Aber Sie werden dabei eine Menge Truppen, Ressourcen und vielleicht Ihr Leben verlieren.“

Ich konnte sehr genau verfolgen, wie es den Gesichtern der Vertreter der beteiligten Konzerne arbeitete. Sicher kam ihnen die Aussicht gelegen, ihren Vorgesetzten bei ihrer Rückkehr berichten zu können, dass sie Ressourcen eingespart hatten.

„Das ist doch bestimmt nur ein Ablenkungsmanöver“, vermutete Lavell, der das wohl etwas anders sah, „warum sonst würde jemand eine solche Witzfigur zu Verhandlungen schicken? Ich meine, wo ist Kollom? Oder Torvilla? Wenn überhaupt, wären sie relevant. Lun hält noch gleich wie viele Anteile von MKH? Ein Prozent? Weniger? Wir können doch nicht ernsthaft, darüber nachdenken …“

„Wie lautet Ihr Angebot?“, fragte Navins Drohne, ohne auf Lavell zu achten, „was soll uns davon überzeugen, eine offiziell angesetzte Zerschlagung auszusetzen oder sie in ihren Auswirkungen zu mindern? Sie wissen so gut wie ich, dass ein paar eingesparte Ressourcen dafür nicht ausreichen. Wenn die an diesem Vorstoß beteiligten Konzerne nicht zu einem solchen Risiko bereit gewesen wären, wären sie nicht hier und wir werden sicher nicht ohne weiteres abziehen. Wie also stellen Sie sich eine Einigung vor?“

Lun tippte auf seinen Identifier woraufhin sich ein digitaler Vertrag als Projektion in der Luft entfaltete, „hier sind die Details vermerkt. Wenn Sie zu mir herüberkommen würden, könnten wir über die Einzelheiten diskutieren.“

„Warum kommen Sie nicht zu uns?“, fragte Lavell.

„Weil ich schwächer bin als ich aussehe“, gestand Lun ein, „ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie früher. Außerdem wäre mir das ein wenig zu riskant.“

„Das ist die offensichtlichste Falle, von der ich je gehört habe“, entfuhr es mir, „sobald einer von Ihnen sich dort hinbegibt, wird er wahrscheinlich augenblicklich in der Luft zerfetzt.“

„Wenn ich das zuließe, wäre das mein eigener Tod“, erklärte Lun, wobei er sich nervös mit der Zunge über die schmalen Lippen fuhr, „und ich habe viel in mein Überleben, in meine Jugend investiert. Fast alles, was ich hatte. Das würde ich ganz bestimmt nicht aufs Spiel setzen. Es stimmt, dort wo ich stehe, gibt es funktionsfähige Verteidigungsanlagen, aber die werde ich nur scharfstellen, wenn unsere Verhandlungen ergebnislos verlaufen.“

„In Ordnung“, entschied Navin, „ich werde mir das allein ansehen.“

„Nein“, widersprach Lavell, „ich komme mit. Ich will nicht, dass Kollom Nehmer oder sonst einer der Verantwortlichen seinen Kopf aus der Schlinge windet.“

„Interessant, dass Sie sich als Konzernführer plötzlich für das Allgemeinwohl interessieren“, bemerkte Navin.

„Ich interessiere mich für Schuldenausgleich“, korrigierte Lavell, „und MKH hat eine Menge Schulden zu begleichen.“

„Von mir aus“, sagte Navin, „tun Sie, was sie nicht lassen können. Ich riskiere nur eine Drohne. Sie hingegen …“

„Das Risiko für Lun ist am größten, in diesem Punkt hat er auf jeden Fall recht“, befand Lavell und sah dann zu uns, „Adrian, Karmon. Sobald diese Witzfigur auch nur eine verdächtige Bewegung macht oder die winzigste Kugel abgefeuert wird, greift ihr euch den alten Herren und zerlegt ihn in mikroskopisch große Stücke. Langsam und bei vollem Bewusstsein. Haben wir uns verstanden?“

Karmon nickte und ich tat es ebenso. Ich stand zu dem, was ich gegenüber Lavell gesagt habe: Ich würde nichts und niemanden foltern. Aber ich wusste auch, was eine gute Drohkulisse bei Verhandlungen wert war.

Nach dieser Rückversicherung ging Lavell auf Lun Nehmer zu, wobei Navins Drohne auf der Höhe seines Kopfes neben ihm schwebte. Derweil streiften meine Blicke durch das Halbdunkel. Blieben kurz an dem traurigen Berg aus verstorbenen MKH-Angestellten hängen, die alle verdammt ausgezehrt aussahen. Beinah, als wenn Karmon an ihren Körpersäften gesaugt hätte. Doch das war nicht möglich, da wir beide erst nach der Vorhut hier angekommen waren.

Konnten die wenigen, vorausgeschickten Truppen so etwas angerichtet haben? Oder steckte etwas anderes dahinter? Mein Blick wanderte den Gang hinter Lun hinab, um einen Hinweis auf einen möglichen Hinterhalt zu erhaschen. Doch dort war die Beleuchtung sehr schlecht und eine vergleichsweise schmale Tür schränkte das Blickfeld ein. Dahinter konnte sich fast alles verbergen.

„Gut, dann lassen Sie mal sehen“, sagte Navin als er nah genug war, um den Vertragstext lesen zu können. Der Kartellwächter schien entschlossen, sich nicht die Verhandlungsführung von Lavell aus der Hand nehmen zu lassen und seine geliehenen Augen begannen den Text zu überfliegen.

„Vollständige Auflösung des Machtkomplexes und Freigabe aller Patente und Markenrechte … Übergang von fünfundneunzig Prozent aller Aktivposten an das Kartellamt zur Verteilung auf die an der Strafaktion beteiligten Konzerne … Überlassung aller Waffen und Büroräume … Freies Geleit und Freispruch von allen Schadensersatz und Sühne-Forderungen, sowie hälftige Verteilung der restlichen fünf Prozent der Aktienanteile und des Firmenvermögens auf Lun und Torvilla Nehmer … Auslieferung von Kollom Nehmer und Disruptor Yonis.“

Navin brach in fröhliches Gelächter aus, „Sie sind ein alter Fuchs, Lun. Das muss ich Ihnen lassen. Wissen Kollom und der Disruptor denn schon von Ihrem Glück? Und wo bewahren Sie die beiden auf? Haben Sie sie eigenhändig mit Ihrem mächtigen Bizeps bewusstlos geschlagen.“

„Ich nicht“, sagte Lun ernst, „aber Torvilla und ich haben uns erlaubt, diese Angelegenheit intern zu regeln. Wir haben die beiden in unserem Gagitsch-Raum festgesetzt. Torvilla bewacht sie dort. Sie müssen sie nur noch abholen.“

„Klingt fast zu schön, um wahr zu sein, aber gut“, willigte Navin ein.

Navins mechanische Augen sahen fragend zu Lavell. „Einverstanden“, sagte auch dieser, „wenn keiner der anderen Repräsentanten etwas dagegen hat, holen wir uns diese Geflecht-Vandalen und wenn wir sie finden und festsetzen können, dann betrachten sie ihre Bedingungen als angenommen. Gibt es dagegen von irgendeiner Seite Einwände?“

Lun nickte erleichtert, als keiner der anwesenden Vertreter seinen Widerspruch einlegte.

Daraufhin setzten Lavell und Navin sich zusammen mit Lun in Bewegung.

„Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache“, sagte ich aus alter Gewohnheit zu Karmon, selbst wenn ich nicht damit rechnete, dass er mir antworten würde.

Zu meiner Überraschung tat er es doch. „Ich auch nicht“, entgegnete der Kwang Grong, „was Lun erzählt hat klingt einigermaßen glaubwürdig, denn in dieser Welt herrscht nicht viel Loyalität zwischen Verbündeten, aber wenn sie Kollom wirklich festgenommen haben, hätte dieser Lun das auch sofort sagen können. So wirkt eher wie etwas, dass er sich spontan ausgedacht hat.“

„Da hast du recht, alter Freund“, antwortete ich etwas rührselig, da ich froh war, endlich wieder eine vernünftige Reaktion von Karmon zu bekommen, „aber ich fürchte, wir müssen uns dem Druck der Mehrheit beugen. Auch wenn das ein Himmelfahrtskommando werden könnte.“

„Ich passe auf dich auf, Adrian“, versprach Karmon, „Und du auf mich. So wie immer.“

Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Was war nur aus dem einsilbigen Karmon geworden? Bereitete ihm dieser Angriff so gute Laune oder hatte das, was immer Lavell getan hatte, um ihn zu heilen, einfach ein wenig Zeit gebraucht, um sich voll zu entfalten?

Ich überlegte, was ich auf seine Worte erwidern könnte, aber da mir nichts einfiel, entschied ich, es bei einem warmen Lächeln zu belassen und kam mir dabei ziemlich dämlich vor. Doch das war wohl gerade meine geringste Sorge.

~o~

Jeder Schritt, mit dem wir hinter dem gebrechlichen, jung aussehenden Mann hertrotteten, steigerte mein Unbehagen. Ungeachtet der Präsenz von Karmon, den gentechnisch erzeugten Kreaturen und den verschiedenen Executioners und Konzernsoldaten in unserem Schlepptau. Meine Augen wanderten beständig zur Decke, zu den Wänden, zum Boden, aber ich konnte nichts sehen außer Schatten und glatten Oberflächen. Hatte der Typ tatsächlich die Wahrheit gesprochen? Aber was war dann mit Sandra, was war mit den Leuten, die Kollom aus Uranor entführt hatte? Lebten sie noch? Waren auch sie eingesperrt? Und warum zur Hölle hatte ich nicht danach gefragt? Nun, das ließ sich sicher nachholen, oder nicht?

„Ich hätte noch eine Frage, Nehmer Lun“, sagte ich zu dem Mann, der sich postwendend umdrehte.

„Ja?“, fragte er. Sein fahles Gesicht war angespannt und schweißnass, wo er doch eigentlich nach diesem sich anbahnenden Deal sehr erleichtert sein sollte.

„Kollom hatte Freunde von mir mitgenommen. Einige Flüchtlinge aus Uranor und eine Menschenfrau namens Sandra“, sagte ich, „wissen Sie etwas über ihren Verbleib? Darüber, was mit ihnen geschehen ist?“

Lun sah mich ratlos an. Sein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, aber die Stimme, die mir antwortete, war nicht seine.

„Deine Sorge um mich ist rührend, Adrian“, sagte Sandra, deren Kopf plötzlich wie der eines Geistes aus der Wand auftauchte, „aber es geht mir gut.“

Sandras Gesicht zu sehen, nach all dem, was wir miteinander erlebt und angerichtet haben, hätte mich beinah gelähmt. Aber eben nur beinah, denn sonst wäre ich heute nicht in der Lage, von meinen Erlebnissen zu berichten.

Die Waffen der Executioners fuhren herum und richteten sich auf Sandra, die davon völlig unbeeindruckt blieb.

„Sandra, wie … ?“, wollte ich sie fragen, doch noch bevor ich meinen Satz beendet hatte, verschwand ihr Gesicht wieder in der Wand. Zuvor jedoch hörte ich sie ein einziges, befehlendes Wort flüstern: „Tötet!“

Die Konzernsoldaten suchten die Wände ab und gaben sogar probeweise einige Schüsse auf die Stelle ab, an der Sandras Kopf erschienen war. Ich war kurz davor, sie davon abhalten zu wollen, da ich Sandras Leben trotz des frostigen Wiedersehens nicht gefährden wollte. Doch selbst, wenn ich das versucht hätte, glaube ich nicht, dass auch nur einer der Executioners auf mich gehört hätte. Außerdem schienen ihre Schüsse ohnehin nichts zu bewirken. Weder sah ich Blut, noch hörte ich Schmerzenslaute.

Plötzlich begann jedoch einer der Aquation-Soldaten zu schreien, als sein Arm von einer der New-Day-Mutationen in das breite Maul genommen und einfach samt seiner Waffe abgerissen wurde. Blut und bläuliches Gel sprudelten aus der Wunde, die der Mann mit seinem anderen Arm versuchte zu verschließen.

„Ungeheuerlich!“, protestierte der anwesende Vertreter von Aquation sofort in Richtung von Lavell, „Sie kommen unserem Konzern für jeden Schaden auf, den Ihre Biester an unserem Personenkapital verursacht haben.“

Doch Lavell reagierte nicht darauf, und der Vorwurf des Aquation-Vertreters verlor ohnehin an Plausibilität, als sich einer der drei dreieckigen Köpfe einer anderen Bio-Einheit zu einem New-Day-Soldaten umdrehte und diesem mit einem gut gezielten Spucken das gesamte Gesicht verätzte. Kurz danach begann das totale Chaos, als sämtliche von New-Days Kreaturen anfingen über die überrumpelten Executioners herzufallen.

„Das ist unmöglich“, sagte Lavell fassungslos, „Solch einen Vorfall gab es noch nie. Sie sind dazu designt zu gehorchen.“

Ganz bestimmt gehorchen sie, dachte ich, die Frage ist nur, wem.

„Er muss etwas damit zu tun haben“, sagte Lavell und zeigte auf Lun Nehmer, der selber recht verängstigt auf die Kreaturen blickte, die ihre tödlichen Projektile und gefährlichen Sekrete auf unsere Truppen regnen ließen und sich mit ihren Mäulern und Gliedmaßen beständig neue Opfer suchten, „schaltet den Mistkerl aus!“

Doch ehe wir auf seine Bitte reagieren konnten, sprang ein Oktopode überraschend leise von hinten in seinen Rücken und bohrte ihm seine Stacheln quer durch den gesamten Körper, sodass die dicken, wulstigen Spitzen am Mund wieder herauskamen.

„Dort oben! Passen Sie auf“, sagte ich zu Lavell, als sich die länglichen, scharfen Klauen einer Oktopoden-Einheit von der Decke herabließen.

Trotzdem schien meine Warnung zu spät gekommen zu sein, denn als Lavell nach oben blickte, hatten sich die Klauen schon fast in seine Brust gekrallt. Jedoch schien Lavell entweder andrinisches Blut in sich zu haben oder er hatte seine eigenen Technologien an sich ausprobiert, denn kurz bevor die tödlichen Klauen ihn erreicht hatten, zog er seinen ganzen Körper schlangengleich zurück, als würden seine Knochen und Gelenke überhaupt keine Rolle spielen. Dann umschlang er die Klauen mit seinen Armen wie mit einem Lasso und zerdrückte sie, bis sie nutzlos herabfielen. Die Kreatur kreischte laut auf und zog sich zurück.

„Danke“, sagte Lavell, als er den sinnlosen Versuch unternahm, Blut und Gewebe von seinem Anzug zu wischen, „so wertvoll sie auch sind: Wir müssen die Oktopoden ausschalten. Und zwar schnell!“

„Nein“, widersprach ich, „sobald wir das getan haben, werden sie uns erst richtig auseinandernehmen und die Verteidigungsanlagen und alles andere aktivieren, was sie für uns vorbereitet haben. Sandra, Lun und ihre Verbündeten halten sich sicher im Moment nur zurück, weil sie den von ihnen kontrollierten Oktopoden nicht schaden und warten wollen, bis sie unsere Truppen ausreichend dezimiert haben. Dieser Raum ist eine Todesfalle. Wir müssen zum Ausgang und dort eine Barriere errichten. Gibt es im Raum dahinter auch Verteidigungsanlagen?“

„Nein, laut unseren Daten nicht. Ein guter Plan“, lobte Lavell.

Während Kollom uns den Rücken sicherte, indem er mit seinem Schattenstrahler auf die uns verfolgenden Oktopoden feuerte und die meisten der Geschosse mit seinem harten Körper abblockte, rannten wir den Gang hinab, an dessen Ende eine Tür zu sehen war und überließen die Executioners und die Oktopoden sich selbst.

„Schnell!“, trieb ich die beiden anderen an, „sprengen wir die Tür und blockieren sie, dann können wir uns dahinter verschanzen.“

„Daraus wird nichts, Adrian“, hörte sich Sandras Stimme von irgendwo her flüstern. Ihren Kopf sah ich diesmal nicht. „Lasse niemanden durch!“, hörte ich sie zu irgendwem sagen. Noch leiser, aber auch strenger und befehlender als zuvor.

Kaum da sie diese Worte ausgesprochen hatte, materialisierte sich eine große, groteske Kreatur direkt vor der Tür. Sie mochte einmal ein Mensch oder eine Bravianerin gewesen sein, aber das war lange her. Sie reichte fast bis zur Decke. Ihr Gesicht war wie zerschmolzen und von Geschwüren und wunder Haut bedeckt. Ihr Kopf war wie plattgedrückt und unnatürlich breit und schmal. Zwischen ihren schiefen, aber scharfen Zähnen hing eine knotige, wulstige Zunge heraus. Besonders auffällig war ihr rechtes Auge, das nicht nur weit hervorstand und extrem groß war, sondern auch die Form eines missglückten Spiegeleis hatte.

Bekleidet war die Gestalt mit einer verschmutzen, blutigen und zerrissenen Uniform, die ihre Blöße weit schlechter bedeckte als die verschiedenen, hornigen Wucherungen auf ihrer Haut. Am bemerkenswertesten waren aber die verschiedenen Auswüchse, die aus den Seiten ihres Körpers herausragten. Es widerstrebte mir zutiefst, sie als Tentakel zu bezeichnen, denn diese waren für gewöhnlich natürlich entstanden und hatten eine harmonische, gleichmäßige Form, die durch ihre Funktion bestimmt wurde. Diese Dinger jedoch, waren unregelmäßig dick, unterschiedlich lang und endeten nicht in eleganten Spitzen, sondern in undefinierbaren Zellzusammenballungen, die mal länglich wie Finger, mal breit wie zermatschte Hände und mal so verzweigt wie ein Strauch waren.

Ebendiese Abnormitäten schickte sie uns nun entgegen. Lavell, dem die rasche Bewegung der Kreatur nicht entgangen war, versuchte die Auswüchse mit seiner Waffe zu treffen, begriff jedoch bereits nach drei Schüssen, dass das zu nichts führen würde. Stattdessen fing er sie mit seinen flexiblen und offenbar recht kräftigen Armen ab, was in einem absurden Ringkampf mündete.

Karmon reagierte noch geschickter. Während seine kräftigen Hände die beiden Auswüchse abfingen, die direkt auf seine Brust gezielt waren, feuerte er eine Salve von Schattenstrahlen in den Bauch des Wesens. Mehrere der dortigen Geschwüre platzen auf und verspritzen Blut, Eiter und dampfenden, klaren Zellsaft, der auf unseren Körpern und Gesichtern landete.

Ansonsten schien das Wesen aber nicht sonderlich beeindruckt. Entschlossen, von Karmons Erfahrung zu lernen, konzentrierte ich mich darauf, dem Zugriff der Auswüchse zu entgehen. Im letzten Moment sprang ich zur Seite, und statt mich zu greifen, bohrten sich die verästelten Klauen, die nach mir gegriffen hatten, einfach in den harten Boden. Kaum, da ich wieder einen festen Stand besaß, nahm ich erst das kleinere und dann das wässrige Spiegelei-Auge der Kreatur unter Feuer. Beide spickte ich so stark mit Kompassnadeln, dass ich der Mutantin allein schon durch die bloße Masse an störenden Objekten die Sicht genommen haben sollte. Eigentlich hatte ich eher darauf spekuliert, dass meine Projektile durch die Augen bis zum Gehirn des Wesens vordringen würden, aber dafür schien die mutierte Gallertschicht zu dick und zäh zu sein.

Einmal mehr vermisste ich meine Symbiose mit Karmon und die Stärke, Selbstsicherheit und Schlagkraft, die sie mir verliehen hatte. Allein war ich nur noch ein Schatten meiner Selbst. Aber immerhin schrie das Geschöpf vor Schmerzen auf, was mehr war, als Karmon mit seinem Angriff erreicht hatte. Womöglich musste ich nur ein wenig Ausdauer beweisen. Wenn ich also nur genügend …

Plötzlich spürte ich einen unangenehmen Druck an meinem rechten Knöchel. Sekundenbruchteile später ging ein kräftiger Ruck durch mein ganzes Bein und ehe ich mich versah, verlor ich den Halt und landete auf dem Rücken, wodurch meine Schüsse nicht länger in den Augen des Geschöpfs, sondern wirkungslos in der Decke landeten. Ich stellte das Feuer ein, stemmte mich mit den Armen etwas hoch und stellte zu meinem Erschrecken fest, dass sich ein bislang unentdeckter Auswuchs um meinen Knöchel geschlungen hatte.

Das schuppige, ungesund wirkende Gewebe kratze unangenehm über meine Haut und ich versuchte die aufkommende Panik niederzukämpfen. Stattdessen zielte ich mit meiner Armwaffe direkt auf die Extremität, feuerte und traf. Die geschärften Kompassnadeln schlugen hart in den bizzaren Arm ein und trennten kleine Gewebestücke ab. Der Druck auf meinen Knöchel ließ etwas nach, aber noch nicht genug, um mich zu befreien. Dennoch schien der Beschuss dem Wesen alles andere als angenehm zu sein.

„Lass mich los oder ich kitzel dich weiter“, drohte ich von diesem kleinen Erfolg ermutigt.

Doch mein neu gewonnenes Selbstbewusstsein schwand, kurz nachdem ich ein ersticktes Ächzen von Lavell vernommen hatte. Trotz meiner misslichen Lage sah ich reflexartig zu ihm hinüber und entdeckte, dass er gestolpert war, nachdem die beiden Auswüchse sich überraschend aus dem Ringkampf mit ihm zurückgezogen hatten. Nur Augenblicke später begriff ich, warum, als sich die mutierten Extremitäten stattdessen um mein linkes Bein und meinen Waffenarm schlangen und sie mit Gewalt nach außen drückten. Aus einem eigentlich irrationalen Impuls heraus, griff ich mit der linken Hand nach meinem Waffenarm, um ihn zu befreien, wurde jedoch von einem weiteren, überraschend auftauchenden Auswuchs daran gehindert. Ich spürte, wie das Wesen seinen Druck verstärkte und alle meiner Gliedmaßen wie bei einer Marionette auseinanderzog. Meine Gelenke begannen erst unangenehm zu ziehen, dann höllisch zu schmerzen.

„Lavell! Karmon! Ich brauche Hilfe!“, rief ich, aber Karmon schien selbst vollauf beschäftigt und Lavell war entweder nicht in der Lage oder nicht Willens mir zu helfen.

„Der große Adrian ohne Arme und Beine“, hörte ich Sandras gehässige Stimme von irgendwoher erklingen, „wie du dich wohl schlagen würdest als bloßer Torso? Ich weiß, Ungeziefer vergeht nicht, aber wenn man einen Käfer auf den Rücken legt und ihm alle Beinchen ausreißt … nun. Dann wird es schwieriger, anderen in ihr Essen zu koten, oder nicht?“

„Woher dieser Hass?“, fragte ich, „wir sind hergekommen, um dich zu retten, weil dieser Bastard Kollom dich entführt hat. Ist das deine Vorstellung von Dankbarkeit?“ Das war ja zumindest ein Teil der Wahrheit.

„Was erwartest du? Du hast mein Leben zerstört, all meine Pläne über den Haufen geworfen, mich von einer Herrscherin zur Bettlerin gemacht. Das ist schlimmer als alles, was mir Kollom je angetan hat. Denkst du, das könnte ich dir einfach verzeihen?“, flüsterte Sandra giftig, während sich die Kräfte, die auf meine Gelenke wirkten, verstärkten, „und jetzt soll ich dir dankbar dafür sein, dass du dein wertloses Gewissen beruhigen willst, indem du dir deine Dienerin und Gespielen zurück an deine Seite holst? Zu deiner Information: Nein, das bin ich nicht. Und auch, wenn du es glaubst – du stehst nicht immer im Mittelpunkt des Geschehens, Adrian. Nun, außer gerade jetzt!“

Das Geschöpf, welches wohl irgendwie unter Sandras Befehl stand, verstärkte noch einmal meinen Zug und ich hörte meine Gelenke knirschen, als sie aus ihren ursprünglichen Positionen gezogen und meine Bänder gefährlich gedehnt wurden. Ich versuchte gar nicht erst, weiter mit Sandra zu diskutieren, zu erwähnen, dass wir schon seit langen nicht mehr intim miteinander gewesen waren oder auf all ihre eigenen charakterlichen Fehler hinzuweisen. Ihr Urteil über mich war längst gesprochen und es schien so, als würde ich meinen gerade erst neu erhaltenen Körper gleich wieder verlieren. Doch so kam es nicht. Gerade als ich dachte, hautnah mitzuerleben, wie meine Arme und Beine zur dissonanten Musik des noch immer hinter uns tobenden Gefechts ausgerissen wurden, hörte ich ein lautes, schlürfendes Geräusch und mit einem Mal schnappten meine Gelenke wieder schmerzhaft an ihren Platz zurück.

Trotz der Pein in meinen Gelenken, gelang es mir irgendwie aufzustehen und zu verfolgen, wie Karmon die widerlichen Körpersäfte der mutierten Frau in sich aufnahm, die in grünen, gelben und roten Strömen in seinen Mund hineinflossen. Der Körper der von dieser Fähigkeit überraschten Mutantin hingegen, trocknete zusehends aus. Selbst ihr wässriges Spiegelei-Auge verlor an Größe und man konnte förmlich dabei zusehen, wie sie schrumpfte. „Nein. Nicht auch noch das … ich habe schon so viel …“, hörte ich sie sagen. In einer bizarren, aber doch mitleiderregenden Stimme, so als wäre für einen Moment ihr altes Ich in sie zurückgekehrt.

Dann jedoch riss der tödliche Strom ab, Karmon schwankte, röchelte, fiel auf die Knie und erbrach durch sein Mundgitter einen großen Schwall stinkender Flüssigkeit.

„Da waren die Augen größer als der Magen“, kommentierte Lavell lachend, so als wäre unser aller Leben gerade nicht in höchster Gefahr.

Ich hingegen ahnte schlimmes und begann die geschwächte Gestalt der Mutantin wieder unter Beschuss zu nehmen. Doch ich hatte noch kein Dutzend Kompassnadeln auf sie abgefeuert, als ihr Kopf wie der eine hungrigen Vogels oder einer Schlange nach unten ruckte und sich um den von Karmon stülpte. Sie biss zu, grunzte und schien mit jedem zur Verfügung stehenden Muskel ihres zwar geschwächten, aber immer noch imposanten Körpers an Karmons Kopf zu ziehen. Offenbar in der Absicht, ihn einfach vom Körper zu trennen.

Ich hatte keine Ahnung, ob diese Frau in der Lage war, diese Absicht auch umzusetzen, aber ich wollte es nicht dem Zufall überlassen. Ich nahm Anlauf, sprang und landete wie ein Drachentöter auf dem Rücken der gebeugten Riesin. Sie versuchte mich abzuschütteln, aber da sie an Karmon festhielt und ihre Auswüchse jetzt kaum mehr als Arm-Ersatz zu gebrauchen waren, gelang ihr das nicht. Also nutzte ich meine Chance, drückte meine Armwaffe direkt in ihren Hinterkopf und gab alles, was ich hatte, während ich meine Waffe beständig etwas drehte, um größtmöglichen Schaden anzurichten. Aus dieser geringen Entfernung perforierten die Nadeln das Hirngewebe der bedauernswerten Frau mühelos. Ich hörte sie schreien, flehen und ächzen bis sie schließlich still wurde, ich von ihrem Rücken sprang und Karmon ihren Leichnam von sich herunterwuchtete.

„Danke“, sagte Karmon, dessen Kopf vor lauter Schleim und Gewebeflüssigkeit kaum mehr zu erkennen war.

„Gerne, Grong-Shin“, sagte ich, „du hast mich genauso gerettet.“

„Das ist echt rührend“, meinte Lavell ungeduldig, der nun wieder seinen Tatendrang entdeckt zu haben schien, „aber wir müssen uns beeilen. Bald sind alle Oktopoden besiegt.“

Ein kurzer Blick bestätige mir, dass er recht hatte. Nur noch drei der im Labor erschaffenen Geschöpfe waren im Kampf mit unseren überlebenden Truppen gebunden. Jeden Moment mussten die automatischen Verteidigungsanlagen losschlagen.

Und mit dieser Vermutung behielt ich vollkommen recht. Noch ehe die Kämpfe endeten, löste sich von der rechten Wand ein Gitternetz aus bläulichen Lichtstrahlen, das vergleichsweise langsam, aber dafür fast auf ganzer Breite durch den Raum fegte. Einem Teil unserer Truppen gelang es, aus dem Wirkungsbereich zu entkommen – darunter auch die Drohne von Kartellwächter Navin. Und ein paar andere glückliche – vor allem Executioners von Recrate und New Day überlebten den Kontakt mit den Strahlen, mit einem schwer beschädigten Kampfanzug und leichteren Verletzungen. Auf den Rest jedoch wirkte die Waffe verheerend.

Die verbliebenen Oktopoden wurden durch die heißen, vernichtenden Gitter in Würfel geschnitten. Doch weitaus mehr Pech hatten einige der Executioners. Sie starben zwar nicht alle unmittelbar bei der Berührung der Waffe, doch vor allem die dünnen Kampfanzüge der Soldaten von Aquation und Hookline zersplitterten und verschmolzen mit dem Fleisch ihrer Träger. Es dauerte nur Sekunden, bis sie jene beneideten, denen die Gitter direkt die Halsschlagadern durchtrennt hatten. Auch die meisten der Abteilungsleiter vergingen bei der ersten Angriffswelle. Und an einem verräterischen Flackern an der Wand erkannte man, dass die zweite Welle bereits unterwegs war.

„Kommt zu mir, sofort!“, brüllte Lavell den überlebenden Soldaten in Panik zu, bevor er sich an uns wandte, „und ihr beiden öffnet diese verdammte Tür!“

Dabei hätte es seiner albernen Ermahnung nicht bedurft, denn Karmon war bereits drauf und dran, den dicken Stahl mit seinen Schattenstrahlen zu bearbeiten und ich auch wollte ihm gerade zur Hilfe eilen, als ich zwei weitere erschreckende Dinge bemerkte. Von der Decke lösten sich mehrere Drohnen mit metallenen Käfigen, die unmittelbar auf uns zu schwärmten und an der linken Wand sah ich plötzlich Szenen wie aus einem Albtraum.

Unter anderem beobachtete ich meine Mutter und meinen Vater dabei, wie sie einander genüsslich verspeisten, während sie von insektoiden Kreaturen vergewaltigt wurden. Kreaturen, die eine grobe Ähnlichkeit zu Tarenas Volk besaßen. Auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht erkennen konnte.

Eine andere Szene zeigte Korf, Scavinee und Ilivia, die gemeinsam auf meinen Schädel einschlugen, während mir Garwenia zusammen mit ihrer Rebellengruppe aus Hyronanin die Haut abzog. Zum Glück hatte ich solche und ähnliche geistige Folter schon zur Genüge erlebt und so schüttelte ich diese Ablenkung schnell ab und bemerkte rechtzeitig die langen Arme, mit den dünnen Händen, die nach mir greifen wollten.

Sie gehörten nicht der toten, mutierten Bravianerin, sondern einem Wesen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte und dessen Ausstrahlung unsagbar mächtig und finster war. Diese Kreatur nahm fast den gesamten Raum, die Decke, die Wände und den Boden ein und schien von den Strahlen der Gitterwaffe unbeeindruckt. Das Eigenartigste waren aber ihre Gesichter. Gesichter, die mir zum größten Teil unbekannt waren, auch wenn ich sie als deovanisch oder sogar als menschlich identifizieren konnte. Diese Gesichter steckten auf langen, mobilen Strängen und bewegten sich wie Kobras im Getümmel umher. Fast noch mehr interessierten mich aber die beiden anderen Gesichter, die ich sah. Das von Sandra und das von Kollom. Sie steckten wie Fliegen im Netz dieser Kreatur und schienen doch nicht ihre Gefangenen zu sein. Denn beide lächelten triumphierend.

Ohne zu zögern, richtete ich meine Waffe statt auf die Tür auf Kollom und feuerte eine Reihe von Kompassnadeln auf seine in einen dreckigen Anzug gehüllte Gestalt ab. Dummerweise ging meine Salve weit an ihm vorbei und bevor ich eine zweite loslassen konnte, stürzte sich einer der Käfige auf mich. Mühelos blockte sie meine Schüsse ab, die nicht mehr als ein paar Kratzer im Metall der Drohne hinterließen.

Ich taumelte zurück und entging nur knapp dem Vorstoß. Und das weniger aus eigener Geschicklichkeit, als wegen eines ReCrate-Executioners, der die Flugbahn des Apparats zufällig mit seiner Druckluftwaffe störte. Einen weiteren Angriff konnte ich nur verhindern, indem ich ihn mit meiner Armwaffe abblockte, die dabei beinah zerstört wurde.

Dann jedoch geriet ich ins Stolpern, als sich ein völlig benebelter und wahrscheinlich sterbender Soldat von Hookline verzweifelt an mir festkrallte. Gerade noch schaffte ich es mich mit meinem waffenlosen Arm abzustützen, aber als das Metallmonster jetzt seine tödlichen Zähne um mich schließen wollte, war an ein Ausweichen nicht zu denken.

„Die Tür ist offen!“, hörte ich Karmon verkünden, so unerwartet und segensverheißend wie die Stimme eines biblischen Engels. Und plötzlich spürte ich kräftige, weiche Hände an meiner Schulter, die mich außer Reichweite zogen, nur kurz bevor die metallenen Spitzen in mich eindringen konnten.

~o~

Jetzt ging alles sehr schnell. Fluchtartig zogen sich Lavell, Navin, ich und die verbliebenen Vertragswächter und Konzerntruppen in den nächsten Raum zurück und Karmon versperrte mit seinem massigen Körper einen Großteil der Tür. Gemeinsam bauten wir ein effektives Sperrfeuer aus Schattenblitzen, Kompassnadeln, gewöhnlichen Geschossen, Druckluft und Chemikalien auf.

Dieser entschlossene Widerstand machte es Sandra, Kollom, den Drohnen, die mir Lavell inzwischen als „RIP-Cages“ vorgestellt hatte, und auch dieser seltsamen Kreatur, die die Wände bedeckte, praktisch unmöglich, diese Engstelle zu passieren und unsere Verteidigung zu durchbrechen. Gleichzeitig saßen aber auch wir in einer Art Falle fest. Denn das Ziel unseres Zorns blieb fürs Erste unerreichbar und weiter in den Komplex vordringen konnten wir auch nicht, ohne Kollom aus den Augen zu verlieren.

„Können wir die Verteidigungsanlagen irgendwie ausschalten?“, fragte ich Lavell.

„Leider nicht“, antwortete dieser, „das Material, aus dem sie bestehen, ist superstabil und teilweise selbstreparierend.“

„Es muss doch eine Möglichkeit geben“, beharrte ich.

„Ja, schwere Sprengstoffe“, meldete sich Navin zu Wort, „aber die haben wir nicht dabei und selbst wenn, würden die uns auf diese Distanz ebenfalls pulverisieren, wenn sie stark genug wären.“

„Also müssen wir Kollom einfach entkommen lassen?“, fragte ich unwillig.

„Das müssen wir wohl“, sagte Navin, „das hier ist nicht in erster Linie eine persönliche Vendetta gegen Nehmer Kollom, sondern vor allem eine Strafaktion gegen sein Unternehmen. Unser erstrangiges Ziel ist es, alle Daten und Wertsachen sicherzustellen, den Konzern vom Markt zu nehmen und alle Vorstandsmitglieder festzusetzen. Natürlich müssen wir auch Kollom Nehmer und Disruptor Yonis für ihre Taten zur Verantwortung ziehen, aber das kann notfalls noch warten.“

„Auf keinen Fall“, widersprach Lavell, „wenn wir die beiden entkommen lassen, können sie mit Leichtigkeit Betriebsgeheimnisse, Technologien und finanzielle Mittel entwenden. Das werde ich nicht zulassen!“

„Was schlagen Sie stattdessen vor?“, fragte Navin zurück und blickte nicht nur Lavell, sondern uns alle an.

Er erntete ratloses Schweigen.

~o~

„Wir haben es verbockt“, ärgerte sich Sandra, „wir hätten sie fast gehabt!“

„Seien Sie nicht so pessimistisch“, antwortete Kollom gut gelaunt, „wir haben gut die Hälfte ihrer Truppen vernichtet und der Rest ist ziemlich lädiert. Irgendwann verlieren sie die Nerven und laufen in ihren Tod. Sie haben keine andere Wahl. Sie wollen mich und Yonis haben. Also werden sie es versuchen. Und scheitern.“

„Sie kennen Adrian nicht so wie ich“, sagte Sandra, „dieser Typ schafft es am Ende immer irgendwie auf der Gewinnerseite zu stehen.“

„Bisher bin ich nicht so beeindruckt von ihm“, meinte Kollom.

„Nicht beeindruckt?“, fragte Sandra, „der Mistkerl hat schon mehrere Welten ins Chaos gestürzt und Sie haben ihn höchstpersönlich in Uranor getötet und doch steht er wieder hier. Ich kann ich nicht leiden, aber ich würde ihn gerade deshalb nicht unterschätzen.“

„Ohne seinen großen Freund dort ist er nichts“, befand Kollom, „und selbst der ist damals auf meinen kleinen Trick mit dem Amulett hereingefallen. Zugegeben, in Uranor war Adrian recht kampfstark, aber nun ist er anscheinend nicht mehr als eine bessere Nagelpistole. Von seinen psychokinetischen Fähigkeiten habe ich hier jedenfalls nichts mitbekommen. Und dass er überlebt hat, ist bestimmt nicht allein sein Verdienst. Das hat er höchstwahrscheinlich Lavell zu verdanken. Er wird ihm einen neuen Körper gezüchtet und ihn dort reingesteckt haben.“

„Dieser Fortgeschrittene ist nebensächlich“, sagte Yonis mit einer düsteren Stimme, die in dieser Form kaum noch humanoid klang, „wir müssen es vor allem schaffen, ihren Widerstand zu brechen.“

„Warum müssen wir das?“, fragte Kollom, „wir könnten auch einfach durch die Vordertür fliehen. Die Idioten haben uns den Weg frei gemacht.“

„Da irren Sie sich“, sagte Yonis, „Navin hat nach meinen Informationen dort Draußen mehrere automatische Kampfdrohnen und eine Kompanie Vertragswächter platziert. Zudem würde es mich nicht wundern, wenn Bomber oder Scharfschützen auf uns gerichtet wären. Unsere Überlebenschancen würden bei einer solchen Flucht gegen null tendieren. Außerdem wollen Sie MKH und all unsere für Astrera so wertvollen Technologien doch nicht kampflos in die Hände dieses Abschaums fallen lassen, oder?“

„Wir könnten die Portal-Miniatur nutzen“, überlegte Kollom, „das Geflecht ist zwar hier sehr instabil, aber wenn wir über ein Extrakt ins Labor springen und dann dort alle Daten sichern …“

„Damit würden wir MKH dennoch aufgeben“, wandte Sandra ein, „und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich noch einmal ein Extrakt besuchen will. Das letztes Mal haben wir es nur durch pures Glück überlebt. Sie wissen ja selbst, was dort los war. Praktisch alles ist in sich zusammengefallen.“

„Nicht alles. Ein paar Extrakte gibt es sicher noch. Und ich will ja nicht lange dort bleiben“, beruhigte Kollom sie, „stellen Sie es sich eher wie einen Trittstein vor, den wir benutzen, um einen Fluss zu überqueren.“

„Wohl eher ein Krokodil-Kopf als ein Trittstein“, meinte Sandra spöttisch, lächelte aber. Ein Lächeln, welches Kollom erwiderte.

„Ich fürchte, ich muss Geberin Sandra recht geben“, bemerkte Yonis, „das Geflecht zerbröselt gerade um uns herum und die Extrakte sind schon unter besseren Umständen nicht gänzlich stabil. Wenn wir diesen Weg nehmen, könnten wir einfach aus der Raumzeit gerissen werden.“

„Freut mich, dass Sie das genauso sehen“, sagte Sandra durchaus erleichtert, „verzichten wir also auf dieses Himmelfahrtskommando. Allerdings habe ich lange genug Armeen geführt, um zu wissen, dass wir diese Blockade mit unseren Mitteln nicht brechen und dabei alle überleben können. Und auch wenn der IQ dieser erbärmlichen Soldaten sicher nicht beeindruckend ist, liegt er leider knapp über dem, was ich kontrollieren kann. Falls jemand von euch Helden also noch eine Wunderwaffe in der Hinterhand hat, wäre jetzt der Moment, es zu sagen.“

„Die haben wir nicht. Aber vielleicht können wir sie bekommen“, sinnierte Yonis, „wenn wir um Hilfe ersuchen.“

„Sie selbst haben mir davon abgeraten“, erinnerte Kollom verwundert.

„Ja“, gestand Yonis ein, „weil das unserer Stellung bei Astrera schaden würde. Aber ein vollkommener Misserfolg würde noch weit mehr tun als das. Dummerweise scheint es mir, als ob wir keine andere Wahl haben. Ich würde vorschlagen, wir fordern die nötige Unterstützung bei unseren Verbündeten an.“

„Gut“, gab sich Kollom geschlagen, „dann machen wir es so und hoffen, dass sie uns mehr schicken als einen ausgestreckten Mittelfinger. Sollten wir durchbrechen können, schlagen wir uns zum Labor durch. Allerdings hätte ich noch eine Idee zur Selbsthilfe. Wenn Sie beide schon zu feige sind, es mit dem Geflecht aufzunehmen, so können wir die Extrakte vielleicht auf andere Weise nutzen. Es gibt dort von früheren Forschungen noch zwei Forschungslabore mit frei laufenden, delimitierten Zuranen. Wenn Sie, Yonis, mit Ihren Kräften eine Brücke in diese Ebene schaffen, sollten wir die dort rausholen und einsetzen können.“

„Das ist theoretisch möglich, ja. Diese Kreaturen greifen uns aber genauso an, wie unsere Feinde. Das sollte Ihnen doch bewusst sein“, wandte Yonis ein.

„Dennoch könnten sie die nötige Verwirrung stiften, die wir bei einer Flucht brauchen können. Wir müssen nur den Moment gut abpassen“, sprang Sandra Kollom überraschend bei.

„Einverstanden“, sagte Yonis, „geben sie mir die Portalminiatur und die Koordinaten und ich werde eine Verbindung zu den Zurane-Labors aufbauen, damit wir sie einsetzen können, falls uns keine andere Wahl bleibt. Sie nehmen derweil Kontakt zu Astrera auf. Und seien Sie freundlich.“

„Das bin ich doch immer“, sagte Kollom grinsend, klappte seinen Manifestor auf und begann seine Nachricht zu verfassen. Bereits nach ein paar Minuten nickte er.

„Sie haben geantwortet. Wir bekommen Unterstützung. Welcher Art, haben sie leider nicht gesagt“, erklärte Kollom, „nun können wir nur abwarten.“

„Ich hätte da noch eine Idee“, sagte Sandra, „auch wenn wir die Portalminiatur aus gutem Grund nicht nutzen, können wir sie vielleicht dennoch glauben machen, wir hätten uns aus dem Staub gemacht. Disruptor Yonis, sie könnten doch sicher eine entsprechende Illusion erzeugen und uns danach verbergen. So würden wir es der Verstärkung, die Astrera schickt, noch leichter machen. Zumindest Adrian wird nachsehen wollen, was los ist. Die Neugier eines Fortgeschrittenen ist größer als seine Vorsicht. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.“

„Das ließe sich einrichten“, überlegte Yonis, „ich hoffe nur, dass Ihre Einschätzung richtig ist.“

~o~

Nanita brauchte trotz ihrer kurzzeitigen Ohnmacht nicht lange, um zu realisieren, wo sie sich befand. Nicht nur, dass sie den großen Raum mit der grellen Beleuchtung wiedererkannte. An dem kalten Metall, das aus ihrem Rücken ragte, ließ sich auch zweifelsfrei feststellen, dass sie an jenem riesigen, diagonalen Fixierungs-Balken befestigt war, der von Wand und Decke bis zum Boden ragte und stabil genug war, um die Kraft und Gravitation eines winzigen, lebendigen Sterns zu bändigen. Ihre Arme und Beine hingegen waren nicht gefesselt. Doch das war auch gar nicht nötig. Ihre Nerven waren gelähmt und alle Muskeln unterhalb ihres Halses gehorchten ihr nicht mehr. Das Schmerzempfinden hingegen – so viel wusste sie – war nicht ausgeschaltet.

Nanita war nicht allein. Ein junger, blonder technischer Assistent war gerade auf dem Weg zu einem Metallschrank, in dem sich mehrere, große Kühlbehälter befanden. Einen davon holte er heraus. Nanita wusste, was sich darin befand. Natürlich wusste sie das, in ihrer Zeit als Kolloms rechte Hand, hatte sie einigen Gagitsch-Transformationen interessiert beigewohnt. Zwar hatte sie sich nicht vertiefend mit den wissenschaftlichen Hintergründen und erst recht nicht mit der genauen Funktionsweise der Transformation beschäftigt, aber den Ablauf des Prozesses kannte sie genau.

„Ich hätte Ihnen ein Angebot zu unterbreiten“, sagte sie mit ruhiger Stimme zu dem Mann. In ihrem Inneren tobte nackte Panik und ihr war eher nach Heulen und Schreien zumute, als nach Verhandlungen, aber sie wusste, dass sie mit solchen Gefühlsausbrüchen rein gar nichts erreichen würde.

„Angebote höre ich mir immer gerne an“, antwortete der Mitarbeiter vergnügt, während er die große Röhre wie ein Baby in seinen Armen trug. Sein Gesicht war glattrasiert und faltenlos. Ein sprichwörtliches Babyface. Seine Augen aber waren grau und hart und bis zum Anschlag gefüllt mit Zynismus. Keine guten Voraussetzungen.

„Für gewöhnlich sind meine Probanden mit ihren Angeboten allerdings nicht sehr kreativ“, ergänzte der Mitarbeiter schmunzelnd, „hätte ich sie alle angenommen, würde ich nun in Nieren, Lebern und Lungenflügeln ertrinken und hätte mehr Orgasmen gehabt, als mein Nervensystem verkraften könnte. Doch mit noch viel größerer Wahrscheinlichkeit wäre ich entlassen oder tot. Oder beides. Ich lebe und arbeite allerdings noch, weil ich diese Angebote eben NICHT angenommen habe. Aber Sie können es gerne versuchen. Vielleicht kann ich Ihrer speziellen Offerte ja nicht widerstehen.“

Mit diesen Worten schraubte er den Deckel der Röhre auf und holte eine noch gefrorene, aber wie Nanita wusste, dennoch lebendige Gagitsch-Larve heraus. Die Kühlung war lediglich in der Lage, den Metabolismus dieses im wahrsten Sinne des Wortes heißblütigen Wesens zu verlangsamen. Das hatte die aus rund zwanzig verschiedenen Lebewesen zusammengekreuzte Kreatur vor allem dem tungrorischen Lavakriecher zu verdanken. Einem tumben, aber widerstandsfähigen Parasiten, der im äußeren Kern von Tungror und einigen umliegenden Welten lebte und dem eine entfernte Verwandtschaft mit den weitaus intelligenteren Planetenkrebsen nachgesagt wurde.

Die restlichen an der Kreuzung beteiligten Spezies waren Nanita nicht genau bekannt, aber sie hatte gehört, dass einige davon magische Fähigkeiten besaßen und vor allem in Welten mit hoher Mantianz, aber ohne dominierende, intelligente Spezies geerntet wurden. Zum Beispiel auch auf Greezan, dem größten Mond der deovanischen Satellitenwelt Jond. Die magischen Eigenschaften der Gagitsch-Larven waren auch einer der Gründe, warum man genauestens darauf achtete, sie nicht die Adoleszenz erreichen zu lassen. Denn man fürchtete nicht ohne Grund, sie dann nicht mehr kontrollieren zu können.

Jede Gagitsch-Larve sah etwas anders aus. Diese spezielle hatte einen langen, schlangenartigen Körper mit knotiger Haut, die in Richtung des Kopfes in ein schillerndes, purpurnes Schuppenkleid überging. Ihr leicht geöffneter Mund beherbergte lediglich vier kleine, spitze Zähne, die beinahe niedlich anmuteten, während ihre riesenhaften, stumpfen Augen diesen Eindruck gleich wieder zunichtemachten. An jeder Körperseite hatte die Larve drei verkümmerte, harte Insektenflügel, die schon jetzt leicht vibrierten und an ihrer Unterseite gab es eine Reihe kleiner Beinchen, die sich ebenfalls schon das schmelzende Eis abschüttelten.

Am meisten Beachtung schenkte Nanita jedoch den übergroßen Poren am Leib der Larve, die sich wie eine Schmuckzeichnung entlang beider Körperseiten vom dicklichen Schwanz, bis hin zum aalartigen Kopf zogen. Jede von ihnen war münzgroß und Nanita wusste, dass sie die speziellen Sekrete und Gase ausscheiden würden, die ihren Körper irreversibel verändern würden. Nanita schluckte hart. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie an diesem Punkt angelangt war und wünschte sich von Herzen, wieder als Schaufel für Kollom die Erde wegräumen zu dürfen. Nun jedoch war es dafür zu spät. Obwohl … vielleicht auch noch nicht. Das bisschen Geld, was sie noch besaß, würde keinen großen Unterschied machen, aber vielleicht hätte sie etwas, das diesen Mann mehr interessierte als Dominanten.

„Ich habe einen noch nicht eingelösten Freibrief“, sagte sie, während der Mitarbeiter die zappelnde Kreatur zu ihr brachte, die in etwas so groß war wie Nanitas Arm und einen sauren, an alten Schweiß erinnernden Geruch verströmte, „von Geberin Sandra, der Assistentin von Kollom Nehmer. Ich würde ihn Ihnen überlassen, wenn sie mich freilassen. Was sie damit tun, ist Ihre Sache. Sie könnten ihn nutzen, um Ihr Nervensystem mit ein paar Orgasmen herauszufordern, Sie könnten aber auch die Unternehmenspolitik nach ihren Wünschen beeinflussen, Kollom Nehmer töten oder den Freibrief nutzen, um sich Ihre Arbeit zu erleichtern.

Selbst im Falle einer Kündigung könnten Sie Geberin Sandra noch Arbeiten schicken und ihren Lohn einbehalten, abzüglich minimalster Lebenshaltungskosten. Wenn Sie etwas investieren wollen und die richtigen Leute auf den Endmärkten ansprechen, können Sie ihr Gehirn auch so modifizieren, dass Sie Ihnen selbst nach Ablauf der Jahresfrist noch bereitwillig zu Diensten ist. Die Möglichkeiten sind fast unbegrenzt.“

Der Mann hielt inne. Zu Nanitas Erstaunen zeigten sich Überraschung und aufrichtiges Interesse in seinen Augen. Vielleicht war sie doch noch nicht am Ende.

„Das klingt wirklich interessant“, gab der Mann zu, „interessanter als alles, was mir seit langem angeboten wurde. Doch ich frage mich, was Sie davon haben, wenn ich Sie freilasse. Sie wären vom Hals abwärts gelähmt.“

Der Mann grinste sarkastisch.

Diesen Punkt hatte Nanita leider nicht beachtet oder vielmehr verdrängt. Insgeheim hatte sie gehofft, dass ihre Lähmung der Gagitsch-Probanden rein chemischer Natur war. Aber die Metallstrebe hatte ihr Rückgrat nicht nur fixiert, sondern wahrscheinlich auch durchbohrt und schwer geschädigt. Nicht irreparabel, denn das war in Deovan fast nichts, wenn man das nötige Geld hatte. Doch diese Operation würde ihr niemand bezahlen und sie konnte es sich schon gar nicht leisten. Aber dennoch. Alles war besser, als ein Opfer des Gagitsch zu werden.

„Dann töten Sie mich“, schlug Nanita vor.

„Das könnte ich. Aber diese Dienstleistung übersteigt bedauerlicherweise den Gegenwert Ihres Angebots“, meinte der Mitarbeiter.

Wieder wollte Nanita schreien. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, in denen sie sich fragte, ob der Kampf, den sie das ganze Leben über gekämpft hatte, wirklich so glorreich und vor allem nötig gewesen war. „Wenn das so ist. Dann nehmen Sie mich ab und lassen Sie mich hier verdursten, sobald Sie den Freibrief erhalten haben“, sagte sie matt. Erschöpft. Ängstlich.

Der Mann nickte und führte seinen Identifier nah an den ihren heran, jedoch ohne die Gagitsch-Larve loszulassen, deren penetranter, fleischiger Geruch nun so intensiv war, dass er Nanitas gesamtes Bewusstsein ausfüllte.

„Ich fürchte, Sie müssen die Eingabe tätigen“, sagte Nanita, „ich bin dazu leider nicht in der Lage.“

Der Mitarbeiter löste den rechten Arm von der Larve und bewegte ihn auf ihren Identifier zu. Dann jedoch hielt er inne.

„Tut mir leid“, sagte er sadistisch, wenn auch ein wenig bedauernd, „aber Ihr Angebot ist mir zu riskant.“

Nanitas Hoffnungen zerfielen scheppernd, während der Mann den Gagitsch so nah an ihren Mund heranführte, dass sie das Kitzeln seiner Beinchen auf ihren Lippen fühlen konnte.

„Eigentlich ist Gagitsch-Fütterung eine falsche Bezeichnung für das, was nun kommt“, erklärte der Mitarbeiter, „denn weder werden Sie Ihren eigenen Verdauungs- oder Kauapparat bemühen müssen, noch wird sich der Gagitsch auflösen, bevor seine Aufgabe erfüllt ist. Vielmehr wird er sich seinen eigenen Weg suchen. Lebendig und zielstrebig, solange, bis die Transformation beginnt.“

„Ich kenne den Prozess. Ich habe ihm schon öfters beigewohnt“, sagte Nanita abgeklärt, die wusste, dass sie nun nichts mehr tun könnte. Sie wollte sich aber wenigstens ihre Würde bewahren und hoffte zugleich, so ihre Angst zu beherrschen. Es klappte nur eingeschränkt.

„Oh, aber Sie haben ihn noch nicht selbst durchlebt“, sagte der Mitarbeiter, „und ich versichere Ihnen, dass das ein großer Unterschied ist. Die Hirnströme, die bei den Probanden zu messen sind. Oh Mann, das ist wirklich harter Stoff. Allein sie zu verfolgen ist aufregender als ein Thriller. Oder eine Sex-Simulation.“

Nanita schloss ihre Lippen nicht, den sie wusste, dass das die Schmerzen nur verschlimmern würde, sondern hielt ihren Mund stattdessen weit geöffnet. Die schuppige Haut der Kreatur presste hart gegen ihre Lippen, während die kleinen Beinchen schon forschend über ihre Zunge krochen und die ungeduldigen Flügelchen ihr Juckreiz verursachten.

Sie erinnerte sich an ein Gedicht, das sie sich einst aus einer Laune heraus von ihrem Lohn als Tochter hatte erstellen lassen. Soweit sie sich erinnern konnte, stammte es von einer KI aus dem Hause „Mindfood Inc.“.

„Wie eine Sonne führt mein Leben

von Reaktionen tief im Kern

von winzig scheinenden Synthesen

zum Platz als großer, mächt’ger Stern

Jede Entscheidung, die ich treffe

jede Sekunde gehört mir

jede Idee, die ich entdecke

hebt mich noch weiter ab vom Tier

Denn auch wenn ich gerade diene

und lächle breit und unbewegt

so kriech’ ich weiter auf der Bühne

greif jede Sprosse, die mich trägt

Und sollt’ ich stolpern auf den Leitern

und sink’ erneut im Staube ein

so trag ich stolz mein bitt’res Scheitern

denn es ist mein, nur mein allein“

Dann machte der Gagitsch einen Satz nach vorn, zertrümmerte Nanitas Zähne und riss ihren Kiefer so weit auseinander, dass es knirschte. Sie spürte, wie Muskeln und Sehnen über ihre Belastungsgrenze hinaus gedehnt wurden. Dann kroch das Ding ihre zu kleine Speiseröhre hinab, presste dabei ihre Luftröhre fast gänzlich zusammen und brachte sie vor Schmerzen und Atemnot an den Rand einer Ohnmacht, die niemals kommen sollte.

~o~

„Was bei allen Verlusten ist das?“, fragte Lavell, als sich direkt unter der bizarren Kreatur, die wie eine Spinne im gesamten Raum vor ihnen hockte, ein großer Ring aus flimmernder Luft auftat.

„Das … erinnert mich an die Portalmaschine aus Hyronanin“, kam es mir über die Lippen, „ein Gerät, um temporär die Welten zu wechseln. Aber mir war nicht bekannt, dass es so etwas Ähnliches auch außerhalb der Seuchenhöhlen gibt.“

„Es gibt mehrere solcher Maschinen“, bestätigte Navin, „sie basieren zum Teil auf Technologie der Whe-Ann.“

„Wenn das stimmt, müssen wir es unterbrechen, bevor sie sich …“, begann Lavell, als der Raum plötzlich mit einem hellen Blitz erleuchtet wurde und die raumfüllende Spinnengestalt genauso verschwunden war wie Sandra, Kollom und die RIP-Cages.

„Verdammter Mist“, fluchte Lavell, „die Arschlöcher haben sich wegteleportiert!“

„Selbst, wenn. In spätestens einer Stunde sind sie wieder hier“, beruhigte Navin ihn.

„Sie werden wohl kaum so dumm sein, hierher zurückzukehren. Sie könnten sich zusammen mit allen Daten und Forschungsergebenissen in ein anderes verdammtes Sternensystem katapultieren“, ärgerte Lavell sich.

„So funktioniert das nicht“, sagte Navin, „für diese Artefakte gibt es Beschränkungen. Besonders für die Tragbaren. Ihre Reichweite ist begrenzt und vor allem, kann man mit ihnen nicht beliebig weiterspringen. Man muss immer erst zum Ausgangsort der Reise zurückkehren. Wir können also hier auf sie warten.“

„Womöglich sind sie auch gar nicht fort“, zweifelte ich trotz meiner ersten Vermutung. Irgendetwas kam mir an diesem Portal anders vor als bei meinem Erlebnis in Hyronanin. Natürlich war es auch ein anderes Artefakt, wenn das stimmte, was Navin sagte, aber dennoch war das Flimmern etwas zu grell, etwas zu deutlich, um echt zu sein. Da ich damals als Ernter schon unzählige Male mit der Portalmaschine gereist war, traute ich mir dieses Urteil zu.

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Navin verwirrt.

„Vielleicht will man uns mit dieser Vorführung hinters Licht führen“, erklärte ich, „womöglich ist das lediglich ein Ablenkungsmanöver. Dieses Wesen mit den vielen Köpfen scheint immerhin Magie zu beherrschen. Ich werde besser nachsehen, ob ich recht habe.“

„Wenn Sie recht haben, könnte es sich auch um eine Falle handeln“, wandte Lavell ein, „inszeniert mit der Absicht, uns aus der Deckung zu locken. Ihr Körper ist mir ehrlich gesagt zu wertvoll, um ihn einem solchen Risiko auszusetzen.“

Eine interessante Sichtweise, wenn man bedenkt, dass du Wichser mich zur Vorhut des Angriffs gemach hast, dachte ich zynisch, verzichtete aber darauf, es auch laut zu äußern.

„Sie sagten, er gehöre mir“, erinnerte ich Lavell stattdessen, „außerdem werde ich Karmon als Rückendeckung mitnehmen.“

„Das macht es nicht besser“, seufzte Lavell, aber er hielt uns nicht auf, als ich und der Kwang Grong gemeinsam durch die Tür in den Raum hineintraten.

„Wollen wir mal sehen, wie verschwunden ihr wirklich seid“, murmelte ich und feuerte eine Salve von Kompassnadeln quer über die Wände, den Boden und die Decke. Dabei lauschte ich genau, ob sie vielleicht auf Fleisch trafen oder ein anderes verräterisches Geräusch produzierten, doch alles, was ich hörte, war das Geräusch von Metall, das auf Metall traf. Ich drehte mich in alle Richtungen, und jagte weitere Salven durch den Raum. Dabei versuchte ich so unberechenbar wie möglich zu sein. Aber das Ergebnis blieb dasselbe.

„Hören sie auf. Das ist nichts als Munitionsverschwendung“, meldete sich Lavell zu Wort, „Sie sind anscheinend wirklich fort. Es scheint so, als bliebe uns nichts weiter übrig, als uns auf ihre Ankunft vorzubereiten und dann so schnell wie möglich zu reagieren.“

Doch ich war noch nicht bereit, aufzugeben. „Karmon, wärst du so nett, mir zu helfen?“, fragte ich den Kwang Grong.

„Natürlich, Grong-Shin“, bot er bereitwillig an. Gemeinsam nahmen wir nun den Raum kreuzweise unter Beschuss. So schnell und zufällig wie wir nur konnten, aus allen möglichen Winkeln und von unterschiedlichen Richtungen aus. Und schließlich …

„Fuck!“, hörte ich Sandra wütend aufschreien, als eine der Nadeln ihr Ziel traf. Ein paar Tropfen Blut rannen von der Decke.

„Hab ich’s mir doch gedacht“, sagte ich zufrieden, „Karmon, wir ziehen uns zurück und …“

„Feiger Abschaum!“, hörte ich eine tiefe, dunkle, aber sehr menschlich klingende Stimme sagen und ehe ich mich versah, spürte ich einen Schlag gegen den Kopf. Nicht hart genug, um mich auszuknocken, aber dennoch sehr schmerzhaft. Ich drehte mich um und blickte einem mir unbekannten Mann ins Gesicht.

Es war ein Mensch. Mitte vierzig. Muskulös. Grauer Kurzhaarschnitt. Blaue, kühle, weltgewandte Augen. Das Gesicht sonnengegerbt und geschmückt mit feinen Falten und einem Dreitagebart, sowie einem leichten, zynischen Lächeln. Am großgewachsenen Körper ein schwarzer Kampfanzug, aus einem groben Material irgendwo zwischen Jeansstoff, Kevlar und Leder. Staubig und parfümiert mit dem Geruch tausender Straßen. Die Stiefel aus mattem, dunklem Metall. An seinem Hals verschiedene Amulette. In der rechten Hand eine seltsame Waffe mit drei unterschiedlich großen geometrisch geformten Fadenkreuzen. In der linken ein Katalog. Sorgfältig laminiert, sauber und ledergebunden, personalisiert mit dem Namen „Kendron“, beschmutzt nur mit etwas Blut aus der Platzwunde an meinem Kopf.

„Du bist eine Schande für jeden Fortgeschrittenen“, sagte der Unbekannte, sagte Kendron, „wir laufen nicht weg. Wir fliehen nicht. Wir setzten uns durch. Und wir zerstören, was unseren Weg blockiert.“

Noch während er das sagte, betätigte er den Abzug seiner Waffe und eine bunt schillernde Pyramide, ein Würfel und eine Kugel verließen gleichzeitig ihren Lauf. Ich versuchte noch auszuweichen, wäre aber sicherlich dennoch von der Waffe getroffen worden, wäre Karmon nicht gewesen. Der Kwang Grong warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den so plötzlich aufgetauchten Fortgeschrittenen und bewirkte dennoch nicht mehr, als den standfesten Mann ein kleines Stück zur Seite zu schieben.

Doch das reichte aus. Anstatt mich zu treffen, flogen seine Projektile an mir vorbei und strebten in einer geraden Linie auf die Tür zu. Sie bewegten sich nicht schnell, sondern eher wie in Zeitlupe, fast als würden sie sich durch zähes Wasser bewegen müssen. Aber je länger sie flogen, desto größer wurden sie. Einer der Hookline-Soldaten – wahrscheinlich kein Executioner, sondern ein gewöhnlicher Konzernsoldat, der sich etwas hervorgewagt hatte, streckte seinen Arm nach dem bunt schillernden Kugel aus. Fast wie ein Kind, das eine Seifenblase berühren wollte. „Lass das!“, rief sein überlebender Abteilungsleiter, aber der Soldat war entweder krankhaft neugierig, sehr zugedröhnt oder sehr dumm, denn er berührte sie trotzdem.

Als dies passierte, begann sein Arm zu vibrieren. Nur kurz, wie ein Fernsehbild bei einer leichten Signalstörung. Dann jedoch schwoll der Soldat auf die zehnfache Größe an, lief blau an und fiel wie ein nasser Lappen auf den Boden. „Ahh!“, brüllte der Mann, der offensichtlich von heftigen Krämpfen geplagt wurde. Er packte seinen veränderten Arm und versuchte ihn zu bewegen, ohne auf die weiter anwachsende Kugel zu achten. Die schillernde Sphäre berührte seinen Kopf. Und sein Kopf verschwand. Seiner Steuerzentrale beraubt, kippte der verbleibende Torso einfach auf den Boden.

Die übrigen Soldaten lösten ihre Starre und eröffneten das Feuer. Doch ihre Projektile und Strahlen wurden von den Objekten abgelenkt oder in Dinge wie Watte, nasses Fleisch, halbe Insekten oder Blütenpollen verwandelt. „Rückzug!“, befahlen Navin und Lavell fast parallel und die Soldaten ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie rannten los, ließen mich und Karmon zurück und den Durchgang damit offen.

Kendron jedoch kümmerte das nicht. Er hatte nur Augen für mich.

~o~

Wie ein Kleinkind oder ein Huhn in einer Windhose wurde Sandra von Yonis mitgerissen. Die G-Kräfte, die auf ihren Körper wirkten, ließen sie glauben, dass ihr Nacken einfach entzwei gerissen werden würde und als sie die bunten, gefährlichen Kugeln einmal beinah berührten, stockte ihr der Atem. Dennoch schafften sie es irgendwie an einem Stück auf die andere Seite und kamen zu stehen. Die flüchtenden Invasionstruppen vor sich.

„Sie dürfen nicht entkommen“, sagte Kollom, „wenn sie die Daten vor uns finden, ist alles verloren.“

„Das werden sie nicht“, versprach Yonis. Noch Sandra ihre Benommenheit hatte abschütteln können, wurde sie erneut von Yonis mitgerissen. Wie ein riesiger Pfeil fegte sein Körper zwischen den Fliehenden hindurch bis kurz vor dem Ausgang. Dort ließ er sie endgültig hinunter, entfaltete sich und schnitt ihren Feinden den Weg ab. Sandra, die noch immer große Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren, sah mit Entsetzen, wie die Konzernsoldaten ihre Waffen hoben und auf sie anlegten. Dann machte Yonis eine rasche Bewegung, sie hörte ein vielstimmiges, wildes Kreischen und hunderte kleine, angriffslustige, flauschige Leiber materialisierten sich in der Luft. Wie eine lebendige Wand aus Fell, Krallen und Zähnen strömten sie auf die Soldaten zu, die nun rettungslos eingekesselt waren zwischen den Zuranen und Kendron.

~o~

Nur Augenblicke nach seinem Fehlschuss hatte Kendron sich bereits umgedreht und seine Waffe neu ausgerichtet.

Doch auch ich war nicht untätig gewesen. Sofort hatte ich meine Armwaffe hochgerissen und auf sein Gesicht gezielt. Gut gezielt, wie ich feststellte. Denn die Kompassnadeln flogen genau auf sein linkes Auge zu …. und prallten daran ab, als bestünde es aus Panzerglas.

„Kompassnadeln? Ernsthaft?“, höhnte Kendron, „den einzigen Kompass, der zählt, solltest du in dir tragen!“

Er schoss erneut seine geometrischen Formen ab und wieder war es Karmon, der mich rettete. Diesmal tat er es, indem er mich in die Arme nahm und mich blitzschnell mit sich zurückzog. Schnell jedoch ließ er mich wieder los und ich rappelte mich wieder auf, bereit für den nächsten Angriff.

„Du willst ein Fortgeschrittener sein?“, lachte Kendron, „Ein Kind der Einsamkeit? Ein Jünger der Fremde? Nichts bist du. Klammerst dich an die Brust deiner Freunde, wie an die Brust deiner Mutter. Heimwehkrank und erbärmlich.“

„Du redest gerne, oder?“, entgegnete ich, unwillig mich von diesem Typen erniedrigen zu lassen.

„Nein“, sagte Kendron, „ich sorge lieber für Stille.“

Mit diesen Worten sprang er vor, schob mich einfach zur Seite und feuerte Karmon direkt in die breite Brust. Der Schuss des Schattenstrahlers, den Karmon im selben Augenblick abgegeben hatte, verband sich mit dem bunten Würfel und löste purpurne, knisternde Funken aus. Doch er stoppte ihn nicht. Hielt ihn nicht auf. Ungebremst fuhren die Objekte in Karmons Brust hinein. Sie veränderten meinen Freund nicht, lösten ihn nicht auf. Der Koloss leuchtete einfach nur in allen Regenbogengarben auf und fiel auf die Erde. Bewegungslos. Hilflos.

„Jetzt bist du endlich allein, Fortgeschrittener“, sagte Kendron zufrieden, „Allein mit der Straße. So, wie es sein sollte. Sehen wir mal, wie gut du vorankommst auf deinem Weg. Ohne deine Krücken.“

Mein Zorn und meine Verzweiflung gaben mir Kraft. Und Schnelligkeit. Dreimal konnte ich mich den Angriffen widersetzen, während ich vergeblich versuchte, zumindest Kendrons Waffe zu treffen. Dann gaben meine erschöpften Muskeln nach. Ich stolperte und fiel. Ein stahlharter Stiefel trat auf meine Brust. Ein anderer auf meinen Waffenarm. Mit meinen freien Gliedmaßen versuchte ich mich zu lösen, mich herauszuwinden, doch ohne Erfolg. Kendron sah mich an. Verachtend, todversprechend. Doch zu meiner Überraschung legte der Fortgeschrittene seine Waffe ab.

Statt meinen Kopf verschwinden oder mutieren zu lassen, griff er in eine der herumschwebenden Pyramiden hinein und schälte mit den Händen ein Stück der seltsamen Materie heraus, wie ein Eisverkäufer, ohne dass das Objekt auf ihn irgendeinen Einfluss hatte. Dann beugte er sich vor und strich damit über meinen Arm, wie ein Künstler, der einen Pinsel führte. Meine Haut begann zu kribbeln, dann zu jucken und zu schmerzen. Aus dem Augenwinkel verfolgte ich voller Grauen, wie mein Arm wuchs, grau wurde, sich faltete und Blasen bildete. Panisch versuchte ich ihn anzuheben, aber es war, als wäre er am Boden festgeklebt.

„Mit den Gäsyionen kann man sehr fein arbeiten, wenn man will“, sagte Kendron und machte mein Gefühl zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung als er meinen Arm sprichwörtlich mit dem Boden verschweißte.

„Was bist du für ein kranker Bastard?“, fragte ich so wütend wie hilflos. Und warum bist du so stark, dachte ich dabei.

„Ich bin, was du sein solltest“, sagte Kendron nur und fuhr ungerührt mit seinem Werk fort. Irgendwo hinter uns hörte ich die Konzernsoldaten gegen irgendetwas kämpfen, das ich nicht sehen konnte. Ich hörte schrille, tierische Schreie, Schüsse und panische Schritte, doch das alles wirkte seltsam fern.

Als er mit dem einen Arm fertig war, wechselte Kendron zu meinem anderen, schweißte ihn einfach am Boden fest, machte ihn zu einem Teil davon, verband Muskeln Haut und Sehnen mit dem kalten, polierten Stahl. Noch immer versuchte ich mich dagegen zu wehren, mich loszureißen, selbst wenn mir klar war, dass das grausame Verletzungen nach sich ziehen würde, doch trotz meiner verbesserten Regenerationsfähigkeiten brachten meine Muskeln nicht die nötige Kraft dafür auf. Ich rief nach Karmon, nach den Konzernsoldaten, nach Lavelle, nach Navin, ja sogar nach Sandra, deren Hass ich noch immer nicht begreifen konnte. Doch niemand kam. Niemand half mir. Ich war allein.

„Ja, das bist du“, hauchte Kendron nah an meinem Ohr und mir wurde klar, dass ich den letzten Gedanken laut ausgesprochen haben musste, „das warst du immer, egal was du dir eingeredet hast. Schon bei deinen ersten Schritten in Andraddon und sogar schon als du den Katalog das erste Mal aufgeschlagen hast. Jeder von uns ist das. Andere sind gelegentlich der Weg, die Steine, die Stufen auf denen wir schwierige Strecken überbrücken, aber wir klammern uns nicht lange an Stufen, wir überwinden sie, bringen sie hinter uns. Du meinst, du hättest viel gesehen und erlebt … Fortgeschrittener … du meinst, du hättest die Macht gesehen, die die Kataloge bieten. Du glaubst vielleicht sogar, du hättest bedeutendes bewegt. Aber das hast du nicht. Du bist gestolpert, kaum dass du das Haus verlassen hast. Und im Herzen hast du den Knauf deiner Haustür nie losgelassen. Du hast dich nach Heimat gesehnt. Nach Geborgenheit. Nach Sesshaftigkeit. Nach deinen Wurzeln. So sei es, ‚Adrian‘, genieße den Trost deiner Wurzeln. Ich wende mich erneut der Straße zu.“

Während Kendron das sagte, schlug er seinen edel gestalteten Katalog auf und blätterte darin herum.

„Du willst mich am Leben lassen?“, fragte ich verwirrt, „nur um mich zu quälen und mir eine Lektion zu erteilen? Du weißt, dass nur mein Tod dir Sicherheit bietet, oder? Ich könnte mich befreien oder befreit werden und dann zurückkommen. Womöglich sogar, um mich zu rächen.“

Natürlich war es Wahnsinn, ihn auf diese Weise auf dumme Gedanken zu bringen, aber vielleicht hoffte ich ja insgeheim auch nur auf einen schnellen und sauberen Tod.

Kendron hielt in seinem Blättern inne und sah erneut zu mir. „Niemand wird dir helfen“, sagte er mit einer niederschmetternden Gewissheit, „du bist hier im Mutterland des Egoismus, Adrian. Und selbst, wenn du dich durch ein Wunder befreist, so fürchte ich dich nicht. Hattest du etwa den Eindruck, dass du mir irgendwelchen Widerstand entgegensetzen konntest?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht das ist, was Kollom von dir will“, sagte ich, ohne auf diese Demütigung einzugehen und da ich davon überzeugt war, dass Kollom Nehmer etwas mit dem Erscheinen dieses Fortgeschrittenen zu tun hatte.

„Was Kollom Nehmer will, interessiert mich nicht. Er ist auf seine Weise noch erbärmlicher als du, so viel muss ich dir zugestehen. Ich folgte nicht seinem Ruf, sondern dem weitaus bedeutenderer Personen. Doch selbst diesem folge ich nur aus Neugierde und einer Laune heraus. Ich diene keinem Herren, außer der Fremde. Außerdem töten Fortgeschrittene einander nicht. Wir stellen uns Fallen, wir behindern uns, wir … motivieren andere zum legen von Hinterhalten, aber wir sind nie das Messer an der Kehle eines Weitgereisten, tun nie den letzten Schritt. Das ist unser Kodex. Vielleicht wärmt dich dieser Gedanke, während deine Glieder absterben.“

Dann blätterte Kendron weiter, fand offenbar die Seite, die er suchte und verschwand vor meinen Augen.

Meiner Kehle entfuhr ein irres Lachen und ich rollte mit den Augen. Sie beschrieben jenen Kreis, in dem mein verfluchtes Leben offenbar gefangen war. Ich kämpfte, fiel, bäumte mich auf, lernte, nur um wieder in ein noch tieferes Loch zu fallen.

Wie hieß es so schön. Geschichte wiederholte sich immer zweimal, einmal als Tragödie und einmal als Farce. Ich war nun diese Farce. Ein Abziehbild, eine Karikatur meiner selbst. Plötzlich kam es mir vor, als befände ich mich genau am richtigen Ort. Als wäre das hier fast ein Segen. Gefesselt zu sein und unfähig einen weiteren Fehler zu machen, der sich als gute Idee tarnte.

Dann nahm ich eine Bewegung aus meinem Augenwinkel wahr. Ich hörte ein Zischen und die Welt wurde grau, blass, gefroren. Eine Frau in einer kupferroten Cyberrüstung tauchte auf, so plötzlich wie zuvor Kendron. Ein langes Pendel in der Hand, das sie unendlich langsam schwang, fast als befände sie sich in einer Zeitlupe. Trotzdem war ihre Stimme vollkommen normal, wenn man von dem etwas nüchternen Tonfall einmal absah.

„Es tut mir leid, Adrian“, sagte die Unbekannte, ohne sich vorzustellen, „ich hätte direkt handeln sollen. Nicht durch Lavell. Er ist unzuverlässig. Und Kollom ist offenbar bereit, mehr zu riskieren, als ich dachte.“

„Ich verstehe überhaupt nichts“, sagte ich offen, „wer bist du, was soll das … was ist mit Lavell und … was zur Hölle ist überhaupt los?“

„Ich bin Any“, sagte die Frau, „und sagen wir einfach, Kollom und ich sind keine Freunde, genauso wenig wie die Leute, die hinter ihm stehen.“

„Warum ist alles grau?“, fragte ich, „hast du mit diesem Pendel …“

„Ich kann mit seiner Schwingung den Fluss der Zeit verlangsamen. Ihn sogar anhalten“, meinte Any, „aber ich tue es nicht gerne. Es ist unnatürlich. Der Rhythmus des Lebens muss geschlagen werden. Dennoch, meine Feinde lassen mir manchmal keine Wahl. Wie auch in diesem Fall. Doch wir müssen uns beeilen. Kollom darf nicht entkommen. Ganz besonders nicht mit dem Wissen über diese Waffe.“

„Ich gehe wohl nirgendwo hin“, meinte ich lachend und beschloss Anys Absichten und ihr Auftauchen zumindest vorerst nicht zu hinterfragen. Mir waren schon abenteuerlichere Dinge widerfahren und wenn sie Kollom bekämpfen wollte, waren wir im selben Team.

„Moleküle lassen sich ordnen. Das ist leicht. Eigentlich wollen sie geordnet werden“, meinte Any. Dann holte sie ein weiteres, kleineres Pendel aus einer von mehreren roten Metallschachteln, die sie an einem Gürtel um ihre Hüfte trug und schwang dieses synchron zu dem ersten, jedoch in einem anderen Muster.

Neugierig sah ich zu meinen linken Arm und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass sich der Boden wieder aus meinem Fleisch löste. Auch die Schmerzen verschwanden. Schon nach wenigen Augenblicken – wenn dieser Begriff in jener Zeitlosigkeit überhaupt angebracht war – konnte ich mich bereits wieder erheben.

„Warum bemühst du dich so um mich?“, fragte ich sie nun doch, da nach all diesen Wundern natürlich meine Neugier geweckt war.

„Du bist ein Fortgeschrittener“, antwortete sie, so als würde das alles erklären.

„Das bedeutet nicht viel. Verglichen mit Kendron bin ich eine Lachnummer. Der Kerl hätte mich in Fetzen reißen können. Jeder andere Idiot hätte über den Katalog stolpern und wahrscheinlich mehr bewirken können als ich“, sagte ich bitter.

„Selbstmitleid ist ineffizient“, befand Any eher nüchtern als tadelnd, „und deine Aussagen sind nicht korrekt. Die Finder der Kataloge sind vorherbestimmt und ihr Pakt ist nicht aufzulösen. Selbst dann nicht, wenn ein Katalog verloren geht. Außerdem liegt Kendrons Übermacht vor allem in seinen Artefakten begründet. Die lassen sich austauschen und erwerben. Andere, sehr wertvolle Eigenschaften hingegen besitzt er hingegen nicht. Du aber schon.“

„Welche sollen das bitte sein?“, fragte ich, „meine Liebenswürdigkeit?“

„Wir reden später darüber“, vertröste Any mich, „mein Spiel mit der Zeit schadet dem Geflecht und es ist auch so schon instabil. Wir müssen Kollom einholen, bevor er endgültig fort ist.“

Ich nickte, deutete dann jedoch auf Karmon. „Kannst du ihn auch retten?“, fragte ich.

Any betrachtete ihn und nickte vorsichtig, auch wenn auf ihrem Gesicht ein schwer zu deutender Ausdruck lag. „Ich kann die Entropie aus ihm entfernen“, sagte sie, „aber …“

„Was ‚aber‘?“, fragte ich alarmiert.

„Nichts“, wiegelte Any ab, „ich kann nur nicht garantieren, dass sich sein Körper erholen wird.“

Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass das nicht das war, was sie eigentlich hatte sagen wollen, aber ich beließ es dabei. Sie schwang ihr kleineres Pendel in Karmons Richtung und das bunte Leuchten in seiner Brust hörte auf. Jedoch blieb er grau und erstarrt.

„Kannst du ihn nicht aufwecken, damit er mit uns kommen kann?“, fragte ich.

„Nein“, antwortete Any kopfschüttelnd, „es ist schon riskant genug, uns beide vom Zeitstrom abzuschirmen. Er wird seinen eigenen Weg finden müssen. Also, ich habe getan, was du wolltest. Bist du nun endlich bereit oder wollen wir warten, bis diese Welt um uns herum auseinanderbricht?“

Ich sah noch einmal zu Karmon und fragte mich, ob er wirklich allein würde bestehen können. Er war sicher mächtig, aber dieser Ort war auch gefährlich und wenn noch einmal eine Bedrohung von Kendrons Kaliber auftauchte, konnte das sein Ende bedeuten. Außerdem wusste ich nicht, ob er verstehen würde, dass ich ihn alleingelassen hatte.

Da kam mir eine Idee. „Noch einen kleinen Moment“, sagte ich. Dann feuerte ich ein paar Kompassnadeln neben Karmon auf den Boden und legte daraus eine kurze Botschaft. „Folge mir, Grong Shin!“

Der Informationsgehalt dieser Botschaft war natürlich gering, aber er würde zumindest wissen, dass ich ihn nicht mit Absicht zurückgelassen hatte. Any begutachtete mein Tun verständnislos, aber geduldig.

„Ich bin bereit“, sagte ich und gemeinsam begannen wir unseren Weg durch eine eingefrorene Welt.

Bereits im nächsten Raum begegnete uns eine gespenstische Szene. Ein gewaltiges Rudel großer, rattenartige Geschöpfe befand sich in einem eingefrorenen Kampf mit diversen Konzernsoldaten. Die Tiere hatten sich verbissen in ihre Anzüge, Waffen und Gesichter. Einige von ihnen lagen mit geplatzten Köpfen, verätzten Körpern oder seltsam verklärtem Blick auf dem Boden, doch auch viele Soldaten und einige Vertragswächter hatte es erwischt. Gleich mehrere der Kreaturen taten sich an ihrem Blut und ihrem Fleisch gütlich.

Lavells flexible Gliedmaßen und gute Reflexe hatten ihn bislang vor ernsthaften Verletzungen bewahrt, auch wenn selbst er einen kleinen Biss in der Schulter davongetragen hatte. Sogar Navins Drohne hatte schon Bekanntschaft mit den aggressiven Biestern gemacht, wie mehrere Dellen im Metall der Drohne bewiesen. Alles in allem war es unklar, wie der Kampf ausgehen und wer ihn überleben würde.

„Können wir ihnen helfen?“, fragte ich. Zwar war ich diesen Männern, die mich zurückgelassen hatten, nicht viel Freundschaft schuldig, aber sie waren immer noch Verbündete und ich konnte sie nicht einfach diesen Monstern überlassen.

„Wenn dir ein Weg dazu bekannt ist“, sagte Any schmunzelnd, so als wäre die Antwort offenkundig und im Grunde war sie es auch.

Ich ging zu einigen der Kreaturen, die mir eine besonders große Bedrohung für die Soldaten darzustellen schienen und gab ein paar Schüsse auf ihre Köpfe ab. Die Projektile durchschlugen sie nicht, sondern blieben einfach vor ihnen in der Luft stehen und ich vermutete, dass die Biester eine ziemlich üble Überraschung erleben würden, wenn sie erst aus ihrer Zeit-Starre erwachten. Ich hoffte nur, dass die Geschosse ihre ursprüngliche kinetische Energie dabei behalten und nicht einfach herunterfallen würden.

Kaum da ich ein paar solcher Fallen platziert hatte, begann die Welt um uns herum zu flackern und ich spürte ich eine Kälte, wie ich sie zuletzt im sterbenden Uranor verspürt hatte. Die Haare an meinem regenerierten Armen stellten sich auf und zugleich hatte ich das Gefühl keine Luft zu bekommen. Bevor ich jedoch vollkommen in Panik verfallen konnte, war dieser Eindruck wieder vorüber.

„Das Geflecht stürzt immer mehr in sich zusammen“, warnte Any, noch bevor ich ihr eine entsprechende Frage stellen konnte, „wir müssen uns jetzt wirklich beeilen.“

Also ließen wir den wortwörtlich eingefrorenen Konflikt hinter uns und ich hoffte, dass ich genügend Unterstützung geleistet hatte. Auch wenn es nicht das erste Mal gewesen war, dass Any mich zur Eile gemahnt hatte, schien es ihr diesmal wirklich ernst damit zu sein, denn sie wirkte nicht nur ernsthaft verstört, sondern rannte auch so gehetzt durch die farblosen Flure, als wäre etwas hinter uns her.

Auf diese Weise dauerte es nicht lange, bis wir Kollom und Sandra und dieses seltsame Wesen mit den verschiedenen Gesichtern erreicht hatten. Zumindest glaubte ich, dass es sich bei dem dritten Anwesenden um jene Kreatur handelte, denn die drei Gesichter, die der jetzt eindeutig humanoide Mann trug, kamen mir sehr bekannt vor. Womöglich handelte es sich um eine andere Erscheinungsform des Wesens, die jetzt mehr an einen gewöhnlichen Wissenschaftler als an einen von Cthulhus Cousins erinnerte. Die drei waren gerade kurz davor gewesen, eine Treppe hinaufzulaufen, hatten aber die erste Stufe noch nicht erklommen.

Kollom, der die Vorhut der Gruppe bildete, wirkte abgekämpft und gehetzt. Sandra hingegen, deren blondes Haar in einem verklebten Kranz um ihren Kopf flatterte, erschien eher wütend und herrisch, wenn auch ein wenig nachdenklich.

Es war jedoch eher Kollom, dem meine Aufmerksamkeit galt. Ich musste gestehen, dass meine Rachegelüste bislang erstaunlich moderat gewesen waren. Es war nicht so, als hätte ich dem Deovani das verziehen, was er mir angetan hatte, aber während meiner Erlebnisse in Deovan und meinen verschiedenen Körperwechseln waren mir die Ereignisse in Uranor fern und unwirklich erschienen.

Kollom war für mich fast wie ein Phantom geworden, eine Sagengestalt, ein Schatten aus einer fernen, fast bedeutungslosen Vergangenheit. Nun jedoch, wo ich in diese großen, runden, arroganten, selbstherrlichen, lidlosen Augen sah, denen nicht mal die darin wohnende Angst etwas Bemitleidenswertes verleihen konnte, war das anders. Der Anblick von Kolloms Gesicht, brachte jedes Quäntchen Schmerz, alle Hilflosigkeit, alle Angst, die ich damals empfunden hatte, wieder zurück und auch noch … etwas anderes.

On-Grarin war einst mein Meister gewesen. In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit. Ein verhasster Meister und eher ein Sklavenhalter als ein Mentor, aber dennoch hatte der Andrin mich nicht nur gequält, sondern mir auch einige Dinge beigebracht, in der Hoffnung, sie würden mich zu einem effektiveren Ernter machen. Und wenn ein Andrin jemandem etwas wirklich gut lehren konnte, dann war es die Folter.

In all den Monaten hatte ich die Schmerzpunkte und Schwachstellen der Angehörigen fast aller On-Grarin bekannten Völker im Multiversum gelernt. Ich wusste, wie man sie dazu brachte zu leiden und auf manchen meiner Missionen hatte ich dieses Wissen zu meiner eigenen Schande auch oft genug angewandt. Häufig gegen Kreaturen, die nicht besser gewesen waren als ich oder sogar schlimmer, doch manchmal auch gegen Unschuldige. Anfangs hatte ich deswegen Bauchschmerzen gehabt und selbst in meinen dunkelsten Zeiten hatte es mir nicht wirklich gefallen.

Doch jetzt empfand ich durchaus Genugtuung, während ich meine Nadeln akribisch rund um den Körper des Verräters verteilte. Dort, wo Sehnen zertrennt, Nerven entflammt und Fleisch zerrissen werden würde, wenn die Zeitlosigkeit ihn nicht länger beschützen und die Regeln der Physik ihm die Akupunktur seines Lebens verpassen würden.

„Das wird ihn nicht töten“, tadelte Any.

„Irgendwann schon“, sagte ich, „aber nicht zu schnell.“

„Folter ist ineffizient“, entgegnete Any, „wir wollen hier eine Bedrohung ausschalten, keine niederen Gelüste befriedigen.“

Ihre Ermahnung hatte keine nennenswerte Wirkung auf mich. Jedoch brachten sie mich auf einen anderen Gedanken. „Niedere Gelüste“, „Bedrohung“ – diese Stichworte brachten mich unweigerlich zu Sandra. Auch sie hatte meinen Tod gewollt. Ohne wirklichen Anlass. Ohne Rechtfertigung. Wäre es da nicht gerecht, ja im Grunde nur Selbstschutz, wenn ich sie ebenfalls ausschaltete?

Langsam strich ich über ihre verschwitzte Haut, deren Nässe ich spürte, ohne dass sie an meinen Fingern haftete. Ich erinnerte mich an jene Zeit, in der ich sie fast jede Nacht berührt hatte. Es war eine wilde, hypnotische Zeit gewesen und auf gewisse Weise habe ich mich selten so lebendig, so mächtig gefühlt. Wir waren wie zwei ruchlose griechische Gottheiten gewesen, die sich hoch über den Sterblichen vergnügt und ihre Gebete mit unserem Stöhnen übertönt hatten.

Ich hatte sie geliebt. Irgendwie. Dort, wo der Hass Platz dafür gelassen hatte. Doch nun, was wollte ich mit ihr anstellen? Sie verschonen? Sie bestrafen? Oder sie doch … nur ein kleines bisschen leiden lassen? Keldron hatte davon gesprochen, dass Fortgeschrittene einander nicht töteten, aber selbst, wenn ich ihm das glauben und mich an diesen Kodex halten wollte, so würde er doch sicher Raum für eine kleine Revanche bieten. Vielleicht nur ein Auge. Ein einzelnes Auge wäre keine vermessene Wiedergutmachung, oder nicht …

„Adrian, pass auf!“, rief Any und diesmal hörte ich auf ihre Warnung. Jedoch einen Moment zu spät. Ein Schlag traf mich im Rücken. Langsam, doch mit heftiger Wucht. Trotzdem konnte ich verhindern zu fallen, wandte mich noch im Stolpern um und blickte in die drei Gesichter der seltsamen Kreatur. Das Wesen bewegte sich. Etwas behäbiger als bei unserer letzten Begegnung, aber immer noch viel schneller als es eigentlich möglich sein sollte. Und es entfaltete erneut seine vielen Gliedmaßen, streckte sie in alle Richtungen aus, doch vor allem zu mir, Kollom und Any.

„Ich bin kein Sklave der Zeit, Hortonäi“, sagte Disruptor Yonis, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht unter diesem Namen kannte, „ich kannte sie schon, als sie noch ein Welpe war, der seine ersten unbeholfenen Schritte tat“. Seine Worte begannen langsam. Leiernd wie in Zeitlupe, doch sie nahmen immer mehr an Geschwindigkeit zu und ehe ich mich versah, wurde die Welt wieder bunt und die Ereignisse überschlugen sich.

Meine Projektile setzten sich in Bewegung und durchschlugen Yonis’ Arme, die sich schützend um Kollom gelegt hatten. Das Fleisch des Disruptors wurde zwar verletzt, nahm meinen Kompassnadeln aber auch jegliche Wucht, sodass sie kaum Schaden bei Kollom anrichteten.

Praktisch im selben Moment rannte Any auf Kollom zu. Sie hatte ihr Pendel gegen eine größere, spitzere Version aus krebsrotem Metall ausgetauscht, welches sie nun waagerecht wie einen Propeller vor sich kreisen ließ. Die Schwingungen des Pendels erzeugten etwas in der Luft, was an eine Mischung aus einer Lanzenspitze und starken Luftverwirbelungen erinnerte. Als das von Any erzeugte Phänomen in Kontakt mit Yonis’ Haut kam und diese mit chirurgischer Präzision spaltete, erwies sich erstere Analogie als zutreffender.

Dunkelblaues, zähes Blut sickerte aus Yonis’ Armen. Der Disruptor schrie vor Wut auf, konzentrierte seine Gliedmaßen allesamt auf Any und verband sie noch im Flug zu einem dichten Netz, welches sich offenbar wie eine zupackende Faust, um Any legen sollte. Der Druck, den Yonis’ Körper ausübte, war gewaltig. Denn obwohl Anys Pendel sein Fleisch beim ersten Kontakt noch so effektiv zerschnitt, wie ein Laser eine Glasscheibe, gelang es ihm schließlich, die Rotation zu stoppen. Er griff sich die Kette des Pendels und schleuderte es auf den Boden, wo dessen Kristallspitze klirrend zerbrach. Als Any zu ihrem Gürtel und einem anderen Pendel greifen wollte, schlang sich Yonis auch um ihre Arme und hielt sie in seinem zähen Fleisch gefangen.

Ihrer Waffe beraubt und unfähig an eine neue zu gelangen, wich Any weiter zurück, doch Yonis war schneller. Seine Arme umschlossen sie ganz. Woben sie ein, ersticken sie in einem dichten Kokon des Todes.

„Ihr Hortonäi haltet euch für alt und mächtig“, brummte Yonis guttural, „aber ihr seid nicht mehr als große Kinder, die sich zu Anführern berufen fühlen. Solange, bis die Erwachsenen erscheinen und die Illusion zerbirst.“

Yonis Fleischkokon pulsierte, zog sich zusammen und ich vernahm aus seinem Inneren ein beinah metallisch klingendes, hilfloses Ächzen.

Auch, wenn ich nach wie vor wenig über Anys Beweggründe wusste, so wusste ich doch, dass ich diesem mächtigen Wesen ohne sie und Karmon vollkommen unterlegen sein würde. Ich musste ihr helfen. Irgendwie. Also ergriff ich die einzige Chance, die ich hatte. Ich sprang auf, umrundete den Rücken des vollkommen auf Anys Vernichtung konzentrierten Disruptors und suchte seinen gewaltigen Körper ab, bis ich jene Wunden fand, die Any dort bereits gerissen hatte. Sie hatten sich noch nicht geschlossen und spuckten noch immer den blauen Lebenssaft des Disruptors aus. Perfekt.

Behutsam richtete ich meine Armwaffe auf die größte der Verletzungen aus und gab alles, was sie zu bieten hatte. Ein Strom aus Nadeln bohrte sich in die Wunde und riss sie weiter und weiter auf, während Yonis stinkender, blauer Saft mein Gesicht benetzte. Als dies geschah, zuckte ich erst erschrocken zusammen. Immerhin war es durchaus denkbar, dass das Blut von Yonis korrosiv oder giftig war. Doch auch, wenn sich diese Angst als unbegründet erwies, blieb der Kontakt offenbar nicht ohne Folgen. Kaum da ich die Nässe des Blutes auf meiner Haut spürte, begann ich mich schwach zu fühlen. Nicht körperlich, aber seelisch und geistig. Wie eine unbedeutende Mücke, die in ihrer Selbstüberschätzung meinte, mit ihrem winzigen Rüssel einen Planeten auseinanderreißen zu können. Alles in mir wollte mir weiß machen, dass ich scheitern musste, dass ich mich einfach nur auf den Boden werfen und auf die Gnade dieses mächtigen, gottgleichen Wesens hoffen sollte.

Die suggestive Kraft des offenbar mit psychoaktiven Eigenschaften ausgestatteten Blutes war immens. Und doch fuhr ich fort. Denn so niederdrückend dieses Gefühl auch war, so war es mir doch nicht unbekannt. Solch ein Gefühl von geringer Bedeutung, von Machtlosigkeit hatte ich schon so oft empfunden, dass ich gelernt hatte, damit umzugehen. Es stimmte: Ich war eine Mücke auf den unendlichen Straßen des Multiversums, aber mein Flügelschlag hatte schon zu oft ganze Planeten verändert, als dass ich meine Taten für wirkungslos hätte halten können. Unbeirrt feuerte ich weiter, ahnend, dass Yonis nur eines von beiden tun konnte: Anys Gefängnis aufrechterhalten oder sich vor mir zu schützen.

Eine Entscheidung, die das uralte Wesen anscheinend zuungunsten von Any traf, denn abgesehen von den Psychospielchen versuchte es nicht, mich aufzuhalten, obwohl aus den vergleichsweise kleinen Wunden inzwischen klaffende Katastrophen geworden war, die nicht länger nur seine Arme, sondern auch seinen Torso stark in Mitleidenschaft gezogen hatten. Ich fragte mich, wie viel Blut Yonis noch verlieren konnte und ob ich irgendwann zu seinem Organ oder einer vergleichbar wichtigen Stelle in seinem Leib vordringen würde. Ja, ich spielte sogar mit dem absurden Gedanken mich in seinen riesigen, verletzten Körper hineinzubegeben, um ein solches Organ zu finden. Wie ein Minenarbeiter, auf der Suche nach wertvollen Edelmetallen.

Bevor ich aber diesem seltsamen Impuls nachgeben konnte, spürte ich Hände an meinem Hals. Kräftige, menschliche Hände.

„Hallo Adrian“, sagte Sandra, „Ich glaube, dein Weg endet hier.“

Dann drückte sie auf meinen Kehlkopf, mit einer Kraft, wie sie selbst in ihrer Sakschah-Rüstung nicht besessen hatte. „Hör auf“, röchelte ich, „wir waren einmal Verbündete … Freunde sogar … erinnerst du dich nicht?“

Ihre Antwort bestand in noch mehr Druck und ich wäre sicherlich erstickt, wenn nicht in diesem Moment eine Explosion aus nassem Fleisch und hellem Licht durch den Raum gefegt wäre, begleitet von einem tiefen, ursprünglichen, wütenden Gekreisch.

Sandra nahm ihre Hände von meinem Hals und presste sie auf ihre Ohren und ich tat es ihr gleich. Andernfalls wären wir beide zweifelsohne taub geworden. Noch bevor das Gekreisch ganz verklungen war, nutzte ich meine Chance, drehte mich um und rammte Sandra mein Knie mit voller Wucht in den Bauch. Sie krümmte sich zusammen, doch statt nachzusetzen oder meine Waffe zu benutzen, gewann ich Abstand und verschaffte mir rasch ein Bild von der Lage.

Any hatte ihr Gefängnis gesprengt – ob nun mit meiner Hilfe oder durch eigene Kraft – und Yonis’ Arme hingen in Fetzen herab und klebten überall an Wänden und Decke. Any ging derweil zum Gegenangriff über, fischte ihr verlorenes Pendel aus den blutigen Überresten und durchbohrte den verletzten Disruptor mit Lanzenstößen aus reiner Schwingung. Da ich nicht den Eindruck hatte, dass sie dabei Hilfe benötigte, wandte ich mich wieder zu Sandra um, die Yonis’ Schicksal wie paralysiert verfolgte und vor Erstaunen nicht einmal mitbekam, wie ich ihr meine Armwaffe direkt an die Schläfe hielt.

„Es sieht so aus, als hättest du einmal mehr auf die falschen Verbündeten gesetzt!“, sagte ich hustend, „eine Bewegung und ich lösche all unsere gemeinsamen Erinnerungen aus. Mitsamt der Hardware. Und glaube nicht, dass mich die guten alten Zeiten davon abhalten würden. Meine nostalgische Stimmung hast du mir gründlich verdorben.“

„Kollom!“, rief Sandra, statt auf meine Drohung zu reagieren. Sie war jedoch immerhin so schlau, dabei den Kopf nicht zu wenden. Sandra wusste, dass ich kein gänzlich guter Mensch war. So sehr ich mich auch gelegentlich darum bemühte.

„Dein deovanischer Freund hat sich verpisst“, bemerkte ich, da ich Kollom tatsächlich nirgendwo entdecken konnte, „wie schon gesagt: Dein Gespür für Verbündete ist seit unserer Trennung sogar noch miserabler geworden. Aber wir können ihn gern suchen gehen. Du weißt doch sicher, wo er ist. Wenn du mich zu ihm führst, lasse ich dich am Leben.“

„Glaubst du wirklich, dass mir so viel an meinem Leben liegt?“, versuchte Sandra zu pokern.

„Oh ja, das tue ich“, erwiderte ich, „es gibt nichts auf der Welt, dem du mehr Bedeutung beimisst, meine Liebe. Außer der Macht vielleicht. Aber dein Leben muss nicht alles sein, was du bei einer Kooperation gewinnst. Mein Freund Lavell hat deinen Katalog. Falls du uns zu Kollom bringst, wird er ihn dir vielleicht geben und du kannst dir irgendeine Ecke des Multiversums suchen, in der du gemütlich ein neues Volk unterjochen kannst. Klingt das nicht nach einem Deal?“

In Sandras Gesicht sah ich pure Verachtung, was ob meiner Worte nicht gerade verwunderlich war. Um Versöhnung war ich nicht unbedingt bemüht gewesen. Dennoch meinte ich auch etwas Nachdenkliches bei ihr zu erkennen.

Noch ehe sie antwortete, vernahm ich ein lautes Zischen und sah aus dem Augenwinkel ein kurzes Flirren in der Luft.

Doch beides bewegte weder Sandra noch mich dazu, unser Blickduell zu unterbrechen.

Schließlich stieß Any zu uns. Beschmiert mit Yonis Blut und offenbar sehr zufrieden. „Yonis ist fort“, sagte sie und sah dabei Sandra direkt in die Augen, wie um ihr klarzumachen, dass sie nun wirklich allein war. Sie richtete die Schwingung ihres Pendels ebenfalls auf meine alte Freundin.

Sandra schien diese Botschaft zu begreifen. „In Ordnung“, gab sie sich schließlich geschlagen, „ich führe euch zu Kollom.“

„Großartig!“, sagte ich gut gelaunt und gönnerhaft grinsend, „dann eile uns voraus, holde Maid!“

„Fick dich!“, rief Sandra zornig, setzte sich jedoch trotzdem in Bewegung.

Das hieß, sie ging ein, zwei, drei Schritte, bis sie sich plötzlich in Luft auflöste.

„Was zum …“, stotterte ich erstaunt, „… wo …“

Ich dachte an Yonis’ kleinen Tarnungstrick und schoss ohne Rücksicht dorthin, wo Sandra eigentlich hätte stehen müssen und als das nichts brachte, beschrieb ich schließlich mit meinen Schüssen einen kompletten Bogen, ohne dass meine Kompassnadeln auf Widerstand stießen.

„Unsichtbar ist sie zumindest nicht“, stellte ich fest.

„Das glaube ich auch nicht“, meinte Any, „ich spüre ihre Anwesenheit nicht mehr. Irgendwie muss sie sich wegteleportiert haben.“

„Natürlich“, fiel es mir siedend heiß ein, „Kolloms komischer Koffer. Damit hat er sie schon einmal eingefangen, damals in Uranor. Offenbar funktioniert das auch aus größerer Entfernung.“

„Das ist denkbar“, stimmte Any zu, „diese Manifestoren können sehr leistungsfähig sein.“

„Miese Sache“, sagte ich zerknirscht, „in dem Fall haben sie jetzt sicher einen großen Vorsprung. Kannst du dein Zeit-Zauberstück noch einmal anwenden? Jetzt wo Yonis nicht mehr lebt, sollte …“

„Auf gar keinen Fall“, schmetterte Any meinen Vorschlag energisch ab, „schon das eine Mal war eigentlich viel zu riskant gewesen. Deovans Geflecht ist nur noch eine bröckelige Hülle. Ein Windhauch könnte es einstürzen lassen. Außerdem ist Yonis wahrscheinlich noch am Leben.“

„Was?“, fragte ich verwundert, „ich dachte, du hättest ihn besiegt.“

„Das habe ich auch“, bestätigte Any, „ich habe ihn schwer verwundet und aus der physischen Ebene vertrieben. Aber er muss sich in ein Extrakt im Geflecht geflüchtet haben. Im Moment ist das zwar wie ein Tanz auf einer Messerklinge, aber was Yonis über sein Alter und seine Macht gesagt hat, war keine Prahlerei. Wenn einer das überleben kann, dann er. So oder so. Ihm können wir nicht folgen. Aber Kollom schon. Dieses Gebäude ist endlich, hat nur einen Ausgang und Yonis hat die einzige Portal-Miniatur, die sie besaßen, mit sich genommen. Wir werden die beiden finden.“

„Oh ja, bei all meinen Dominanten, das werden wir“, erklang Lavells Stimme hinter uns. Er klang erschöpft und verärgert und als ich mich zu ihm umdrehte, erkannte ich auch warum. Seine Kleidung war von den Zähnen der kleinen, bissigen Kreaturen regelrecht zerfetzt und ließ neben nackter Haut auch eine Menge Wunden und Kratzer erkennen, von denen jedoch keiner allzu gefährlich aussah. Dafür hatte sein Anblick durchaus etwas Komisches. Über ihm schwebte eine ziemlich lädierte Navin-Drohne und hinter ihnen standen Karmon und eine stark dezimierte Gefolgschaft von acht Executioners verschiedener Konzernzugehörigkeit und drei Vertragswächtern. Von den Abteilungsleitern schien keiner überlebt zu haben.

Vor allem meinen Grong-Shin wieder lebendig vor mir zu sehen, erfüllte mich mit Erleichterung. Ich schenkte ihm ein Lächeln und auch wenn er es schon rein physisch nicht erwidern konnte, bildete ich mir ein, dass auch er Wiedersehensfreude empfand.

Ich war jedoch anscheinend nicht der Einzige, der gerade alte Bekannte wiedersah.

„Hallo Lavell“, sagte Any so emotions- wie formlos als sie Lavell erblickte, „wie ich sehe, haben Sie zumindest überlebt.“

„Sieht ganz so aus“, entgegnete Lavell knapp. Auch er schien nicht sonderlich erfreut über die Begegnung zu sein.

„Und doch ist es Ihnen nicht gelungen, Adrian zu beschützen“, merkte Any kritisch an, „entgegen unserer Vereinbarung“.

„Er lebt doch, oder etwa nicht?“, konterte Lavell und mir wich derweil alle Farbe aus dem Gesicht. Hieß das, all das, meine Neugeburt, meine Qualen und Kämpfe in Deovan und diese ganze Mission, waren zwischen den beiden abgesprochen gewesen und Lavell hatte auf mich aufpassen sollen wie auf ein unmündiges Kleinkind?

Ich hatte wahrlich schon viele Kränkungen meines Stolzes hinnehmen müssen, aber auf diese Weise fremdbestimmt und verschachert zu werden, besaß eine ganz neue Qualität.

„Wer ist das?“, fragte Navin, noch bevor ich meiner Empörung Ausdruck verleihen konnte, was auch daran lag, dass meine Fassungslosigkeit mir die Zunge lähmte.

„Nur eine extradeovanische Geschäftspartnerin“, bemerkte Lavell, „nichts, was Sie etwas angehen würde.“

„Aber MICH geht es etwas an!“, bemerkte ich endlich zornig, „ich will wissen, was ihr zwei Irren geplant habt. Was ihr mit MIR geplant habt!“

„Das wirst du erfahren“, sagte Any ruhig, beinah mütterlich, „aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen Kollom verfolgen.“

„Dafür IST verdammt nochmal jetzt Zeit. Du hast eben noch die verfluchte Zeit angehalten, da wären ein paar Sekunden der Erklärung nicht zu viel verlangt“, beharrte ich.

„Sie haben was?“, wunderte sich Navin und blickte neugierig zu Any, die dazu jedoch schwieg.

„Sie hat recht, Adrian“, meldete sich Karmon plötzlich zu Wort, „wir dürfen Kollom nicht entkommen lassen. Die Antworten auf unserer Fragen werden wir finden. Darin sind wir gut.“

Ich blickte meinen Grong-Shin entgeistert an, unwillig, meinen Zorn und meine Neugier einfach herunterzuschlucken. Doch je länger ich in Karmons unbewegtes Gesicht sah, desto mehr beruhigte ich mich. Schließlich war ich für Karmons Rat immer schon empfänglicher gewesen, als für den jedes anderen Wesens.

„Also gut“, gab ich mich geschlagen, „finden wir den Bastard. Aber danach WILL ich meine Antworten!“

„Die will hier jeder, Geber Adrian“, bemerkte Navin, „ständig und unentwegt. Deshalb haben sie für gewöhnlich einen hohen Preis. Angebot und Nachfrage.“

„Ich will nichts kaufen, Navin“, sagte ich trocken zu der Drohne, „ich treibe lediglich Schulden ein.“

Ein kurzer Blickwechsel mit Karmon gab meinen Worten das nötige Gewicht.

~o~

„So ein Mist. So ein Mist. So ein Mist!“, hallte es hektisch durch die leeren Flure des oberen Stockwerks der Konzernzentrale. Kollom hatte noch nie zu Selbstgesprächen geneigt, aber der unerfreuliche Verlauf, den die Dinge genommen hatten, nagte ziemlich an seinen Nerven. Er wusste nicht, was das für eine Frau war, die zusammen mit Adrian hier aufgetaucht war. In kosmologischen Dingen hatte sich Yonis schon immer besser ausgekannt als er. Aber die Tatsache, dass sie Yonis besiegt und die Zeit angehalten hatte, sprach nicht gerade für ein kleines Ärgernis.

Auch, dass er Sandra erneut hatte digitalisieren müssen, um sie vor dem Tod zu bewahren, gefiel ihm überhaupt nicht. Es war unmöglich vorauszusehen, welche Wirkung diese Digitalisierung auf einen frisch delimitierten Körper und Verstand haben würde, aber jetzt würden sie das wohl oder übel herausfinden müssen.

Trotzdem hatte er korrekt gehandelt. Sandras Leben hatte er nicht riskieren dürfen. Er hatte Astrera eine neue Mandatorin versprochen und die würden sie bekommen. Sie machte sich bis jetzt sehr gut … oh ja, das tat sie. Besser, als man es angesichts der Umstände hätte erwarten können. Oder zumindest war dies bis jetzt so gewesen. Bis er ihre modifizierten Gene in das Glücksrad seines Manifestors geworfen hatte. Kollom wurde schlecht bei dem Gedanken, was er damit alles angerichtet haben könnte.

Zu allem Übel war da noch der Zustand des Geflechts. Er machte nicht nur Yonis Verbleib fraglich, sondern würde auch Kolloms letzten kleinen Trumpf – seinen Zeitlinienring – unbrauchbar machen. Selbst ein kleiner Schlenker in eine andere Zeitlinie wäre jetzt Selbstmord. Das größte Problem aber war Projekt Gargona. Wenn sie die Forschungsdaten zu der Waffe fanden, wenn sie auch nur eine Kopie erhalten würden, wäre alles dahin. Jeder Vorteil wäre verflogen, selbst dann, wenn es ihm noch gelang, die Pläne zu bergen. Und wenn nicht, dann …

„Keine Panik, Kollom“, sagte er zu sich selbst und merkte zu seinem eigenen Ärger, dass er dabei zitterte, „es ist noch nicht alles verloren. Du musst nur auf dem schnellsten Weg zum Labor gelangen. Einfach nur rennen wie der Wind, mit deinen zitternden Knien, bevor diese irre zeit-verzerrende Pendel-Schlampe, der schwarzes Verderben versprühende Kwang Grong, der rachsüchtige Fortgeschrittene, der größenwahnsinnige Kartellwächter und dein erbittertster Konkurrent in dieser Welt dich in die Finger bekommen.“

Kollom sank auf die Knie, stellte seinen Koffer auf den Boden und erbrach einen stinkenden Schwall Magensäure. Er hatte lange nichts gegessen. Vielleicht lag es auch daran, dass ihm schwindelig wurde und sein Denken immer mehr zerfaserte. Oder es war eine Spätfolge der Verletzung beim Kampf mit den Bleigeweihten? Ließ die Gesundheit, die er sich verabreicht hatte, bereits nach? Oder verlor Yonis Behandlung ihre Wirkung?

Ach hätte er doch noch etwa mehr Gesundheit vorrätig gehabt und hätte er verdammt nochmal daran gedacht, die Forschungsdaten zu sichern, bevor dieses ganze Chaos hier losgebrochen war.

Kollom spürte Feuchtigkeit auf seinem Gesicht. Erst hielt er es für Erbrochenes, aber dann identifizierte er Tränen. Etwas, das Kollom, der stets bemüht gewesen war, die ganze Bandbreite seiner Gefühle zu akzeptieren, nicht gänzlich unbekannt war, dass er gerade aber so gar nicht gebrauchen konnte. Er musste stark sein. Er musste seine Gefühle zusammenhalten. Und seine Gedanken. Seine Gedanken. Seine Gedanken.

„Fuck!“, rief er, „Fuckfuckfuckfuckfuck!“, und kämpfte um seine Konzentration, während er hilflos auf dem Boden kniete und es seinen Feinden leicht machte, ihm nachzustellen. Er musste wieder zu sich finden. Wenigstens ein bisschen. Ansonsten war er verloren.

„Koriat, ich brauche Koriat“, kam ihm plötzlich ein absurder, aber vielleicht rettender Gedanke. Der Soul Companion hatte ihn immer getröstet, ihm immer Stärke verliehen, wenn er sie auf seinem Weg an die Spitze von MKH einmal gebraucht hatte. Leider war er in seinem Büro und das war ein kleiner Umweg. Aber wahrscheinlich ein nötiger, wenn er nicht durchdrehen wollte. Und eigentlich war es auch kein wirklicher Umweg. Von dort aus konnte er eine Abkürzung über die Gagitsch-Kammer nehmen. Das war nicht eben üblich, weil man immer in eine laufende Umwandlung hineinrennen und gesundheitsschädliche Strahlung abbekommen konnte, aber gerade kümmerte ihn das Protokoll genauso wenig wie irgendwelche Langzeitfolgen. Hauptsache, er hatte ein Ziel. Schon allein dadurch etwas beruhigter und fokussierter rappelte Kollom sich auf und eilte weiter.

~o~

Nanita bemerkte den Strom aus Dopamin, der losbrach, nun da der Gagitsch sich an ihren Hirnstamm geheftet hatte. Doch sie profitierte kaum davon. Der gute Stoff war nicht für sie. Es war allein der Gagitsch, den dieser Freudentaumel dazu anstachelte, noch schneller jene Veränderungen in Gang zu setzen, die ihren Körper in einen Quasi-Stern verwandeln würden. Wie eine Biene ihren Nektar saugte die Larve ihre Hormone auf und berauschte sich daran. Sandra war sich sicher, dass das dumme Vieh eine gute Zeit hatte, während ihr nur Angst und Schmerzen übrigblieben und sie eine bloße Zeugin dieser chemischen Glückseligkeit war.

War es das? Das Mitgefühl? Dieses seltsame Ideal, welches die Menschen, die Bravianer und viele andere Völker im Multiversum so eisern verteidigten? Das hehre Ziel, das zumindest einige der seltsamen Religionen, die durch den Äther geisterten, zu ihrem höchsten Ethos erklärt hatten? Diese Anteilnahme, dieses Streben nach dem Glück eines anderen, während man selbst litt und darbte? Wenn es so war, dann wollte sie es nicht, konnte sehr gut darauf verzichten. Doch leider hatte sie in dieser Angelegenheit keine Wahl.

Alles, was sie noch bewegen konnte, war ihr Kopf. Und selbst, wenn sie hätte aufstehen können, hätte ihr das jetzt nichts mehr genützt. Die Verwandlung war bereits im vollen Gange.

Immerhin konnte sie noch hören und sehen, auch wenn ihr Schweiß ihr beständig über das Gesicht rann. Und so hatte sie auch gesehen, wie sich ihr Peiniger entschieden hatte, einfach zu gehen. Sie wusste auch, warum. Er hatte sich seinen kleinen Spaß gegönnt und musste sich nun um andere Dinge kümmern. Ihrer Verwandlung beizuwohnen, hätte keinen Erkenntnisgewinn gebracht und wäre reines Amüsement, für das er nicht bezahlt wurde.

Ihre Überwachung war auch nicht nötig. Mit der Einführung der Larve in ihren Mund, war ihr Schicksal besiegelt gewesen. Sie würde den Mann nicht wiedersehen. Er würde einfach nach Ablauf der berechneten Umwandlungszeit die Extraktion ihrer Energie starten und sich ansonsten schon aus gesundheitlichen Gründen von ihr fernhalten. Schon bald würde sie genügend Strahlung emittieren, um jedes Leben in diesem Raum auszulöschen.

Nanita bedauerte seine Abwesenheit. Es war besser, jemanden zu haben, der sich um das eigene Leid scherte. So viel musste sie den Verteidigern des Mitgefühls zugestehen. Selbst, wenn dieses Interesse sadistischer Natur war. Gleichgültigkeit war und blieb die größte Folter im Multiversum. Und was gab es Einsameres als einen frisch erblühenden Stern?

~o~

Schwitzend und mit brennenden Lungen stieß Kollom die Tür zu seinem Büro auf. Offenbar hatten die anderen ihn trotz seines Nervenzusammenbruchs noch nicht eingeholt. Dennoch würde er nicht viel Zeit haben. Also ging er sofort zu der Kommode, auf der eine Miniatur des Konzerngebäudes von MKH aufgebaut war und klappte sie auf, in dem er die kleine Weltkugel aus der sie haltenden Hand löste.

Darin, direkt in der Nachbildung der Eingangshalle, stand der nicht gerade maßstabsgetreue Koriat Geber. Ein Gemeinschaftsprojekt von ihm, Mutter Natur und Monument inc. im Körper einer Plüsch-Version eines Gargen. Eines mächtigen, bärenähnlichen Tieres, welches einst die deovanischen Wälder beherrscht hatte und das noch immer in einigen als Freizeit- und Abenteuerpark erhaltenen Waldstücken sein Dasein fristete. Der Gargen hatte einen muskulösen, rötlich behaarten Körper mit sechs dicken, mit Hornkrallen bewehrten Gliedmaßen und einen breiten Kopf mit einer langen, sackartigen Schnauze, mit der er alles von Insekten bis hin zu großen Säugetieren in sich aufnehmen konnte.

Zu seinem Beuteschema gehörten auch Deovani. Deswegen war ein Gargen in seiner realen Form ein schrecklicher Anblick, der Todesangst und Nervenkitzel versprach. Diese Plüsch-Version jedoch war auf Niedlichkeit getrimmt und hatte eher etwas komisches, mit den flexiblen, schlabberigen Stoffkrallen und ihren zu großen Augen. Ja, die Augen waren etwas Besonderes. Manche sagten, Monument verbaue in ihren Schöpfungen die echten Augen ihrer Seelenspender, doch das hielt Kollom für Quatsch. Die authentische Verzweiflung, die in den zweifelsohne künstlichen Augen glitzerte, stammte sicher allein von den Empfindungen des Companions und war der einzige Weg, wie der Gefangene seine Verachtung für die Außenwelt ausdrücken konnte. Der einzige Weg, sich für sein Schicksal zu rächen. Diese Verachtung war aber ein stumpfes Schwert, denn die geschickte Symbiose aus Magie und Technologie, die Monument im Herstellungszprozess verwendete, sorgte dafür, dass eben jene Verzweiflung als pure Freude an die Besitzer des Soul Companions weitergegeben wurde.

Je schlechter es dem Companion ging, desto besser ging es seinem Eigentümer. Viele, die zum Companion wurden, wussten dies zwar, aber es war in diesem Zustand praktisch unmöglich, etwas anderes als Hass, pures Grauen und vollendete Ausweglosigkeit zu empfinden. Egal, wie sehr man es auch wollte. Kollom hingegen gab der Companion den gewünschten Trost, als er ihn in die Arme schloss. Natürlich würde das Plüschtier seinen Kopf nicht reparieren, aber es reichte schon, wenn es seine aufgewühlte Seele beruhigte. „Danke, Koriat“, sagte Kollom sanft, „Sie helfen mir dabei, Ihr Erbe zu bewahren.“

Er seuzfte genießerisch und verweilte einen Augenblick. Dann machte er sich auf den Weg zum Labor.

~o~

„Wir kommen zu spät“, sagte Garwenia, die sofort erkannte, was es bedeutete, dass sie die splitternackte Nanita festgeschnallt und mit krebsroten, geschwollenen Gliedern vorfanden. Dank Travenias Hilfe hatten sie keine Zeit mit der Sprengung der Tür verschwenden müssen und den Weg zur Kammer schnell zurücklegen können, doch nun schien sich dieser Aufwand als vergebens zu entpuppen.

„Vielleicht noch nicht“, sagte Travenia und rannte gemeinsam mit Garwenia, Zuh und dem Techniker auf die gefesselte Deovani zu.

Nanita schien immer noch in der Lage zu sein, sie wahrzunehmen, denn ihre geröteten, trockenen Augen blickten nicht durch sie hindurch.

„Was machen Sie hier?“, fragte sie matt, wobei ihre Stimme zwar noch verständlich, aber schwach über ihre unnatürlich dicken Lippen kam.

„Ihnen helfen, was sonst?“, sagte Garwenia, während Travenia ihre verschwitze Haut anfasste und Gorett das Gerät berührte, in dem Nanita eingesperrt war, woraufhin sich eine virtuelle Anzeige öffnete, die er kritisch beäugte.

„Der Prozess hat bereits begonnen“, urteilte Travenia, „ihre Haut glüht und ihre Glieder sind aufgedunsen. Nicht mehr lange und dieser Raum ist eine Todesfalle. Für uns alle.“

„Noch sieben Minuten, um genau zu sein“, antwortete Gorett, „dann liegen die Strahlungswerte im tödlichen Bereich. Schon jetzt können sie Folgen für unsere genetische Gesundheit haben.“

„Ihr könntet längst weg und in Sicherheit sein“, bemerkte Nanita, „dennoch seid ihr hier.“

„Sie haben uns geholfen, also helfen wir Ihnen“, sagte Garwenia, „das ist doch selbstverständlich.“

„Wir haben keinen Vertrag geschlossen“, entgegnete Nanita.

„Scheiß auf Verträge“, sagte Garwenia lächelnd, “die sind doch offenbar eh nur dazu da, gebrochen zu werden. Die Frage ist, wie wir Sie heil hier rausbekommen.“

„Den Schließmechanismus des Fixierers zu überwinden wäre für mich kein Problem“, sagte Gorett, „aber damit wäre ihr nicht geholfen, wenn der Prozess nicht gestoppt wird.“

„Ich glaube, dafür ist es leider zu spät“, sagte Travenia mit leisem Bedauern, „mir wäre kein Mittel bekannt, das eine laufende Gagitsch-Transformation unterbrechen kann. Wir könnten sie höchstens erlösen. Womöglich könnte Zuh ihr einen schmerzlosen Tod schenken.“

„Verflucht! Es muss eine andere Möglichkeit geben“, wandte Garwenia ein, „wir können so eine Grausamkeit doch nicht einfach geschehen lassen.“

„Es wäre nicht die erste Grausamkeit, die in diesem Gebäude geschieht“, sagte Travenia nur, „nicht einmal am heutigen Tag.“

„Nein!“, sagte Garwenia als sie sah, wie Zuh sich auf die zitternde Nanita zubewegte und packte Zuh an ihrem dünnen Arm, „fass’ sie nicht an. Wir töten sie nicht. Wir finden eine Lösung!“

„Wie genau funktioniert diese Gagitsch-Transformation“, fragte Zuh anstatt auf Garwenias Bitte zu reagieren.

„Die Larve wird in den Leib eines Probanden eingebracht, wo sie sich an sein Gehirn andockt, den Organismus verändert und den Stoffwechsel hochfährt, damit die Kernfusion in Gang kommt“, erklärte Travenia.

„Muss die Larve dafür am Leben sein?“, erkundigte sich Zuh.

„Ja“, sagte Travenia, „zumindest, bis der Prozess voll in Gang gekommen ist.“

„Wenn ich sie jetzt töte, könnte es also gestoppt werden?“, fragte Zuh.

„Wahrscheinlich“, überlegte Travenia, „aber es gibt keine Möglichkeit, die Larve zu töten, ohne Nanitas Gehirn zu zerstören. Sobald wir schneiden oder chemisch gegen sie vorgehen würden, würde die Larve ein Gift injizieren, das Nanitas Neuronen zersetzt. Diese Larven sind darauf gezüchtet, so zu reagieren, wenn sie ihren Tod kommen sehen.“

„Mich wird sie nicht kommen sehen“, versprach Zuh. Garwenia, die erkannte, was die Frau aus Luth Nomor vorhatte, ließ ihren Arm los.

„Was wollen Sie dafür haben?“, fragte Nanita, in deren Stimme jetzt wieder etwas Hoffnung, aber auch Unglauben lag.

„Gar nichts“, sagte Zuh, „aber versuchen Sie ruhig zu bleiben. Wir wollen die Larve nicht warnen.“

Dann berührte sie Nanitas Haut und alle hielten den Atem an. Sie warteten auf eine Reaktion. Auf ein Zucken, auf einen Schrei. Doch nichts geschah. Gar nichts. Sie dachten bereits, dass Zuhs Unterfangen fehlgeschlagen war, als Gorett sich zu Wort meldete. „Die Strahlungswerte fallen“, sagte er erleichtert.

„Es ist getan“, bestätigte auch Zuh, „der Gagitsch hat mein Wirken nicht kommen sehen.“

„Fantastisch, Zuh!“, sagte Garwenia und die Exil-Herrscherin wirkte dabei so vergnügt wie ein Kind, „ich wusste, dass wir einen Weg finden.“

„Der Parasit muss bald herausoperiert werden“, ergänzte Zuh ruhig, „sonst sind bleibende Hirnschäden und Vergiftungen sehr wahrscheinlich. Die Verwesung kann ich nicht stoppen. Nicht, solange die Larve in Ihnen ist.“

„Danke“, sagte Nanita und diesmal zitterte ihre geschäftsmäßige Stimme aus anderen Gründen. Man merkte ihr an, dass sie dieses Wort vielleicht zuvor schon gelegentlich ausgesprochen hatte, aber das es für sie nun das erste Mal mit echter Bedeutung gefüllt war, „können Sie mich nun noch hier rauslassen? Ich hatte schon bequemere Sitzgelegenheiten.“

Sie lächelte, während sie das sagte.

„Natürlich“, antwortete Gorett und tippte auf das Display, woraufhin sich der obere Teil der Fixierung löste und Nanita damit freigab.

Garwenia streckte ihre Hand aus und Garwenia ergriff sie. Mehr noch, sie nahm die nackte Frau in die Arme und rief damit einen Schauer in Nanitas Körper hervor. Und das lag nicht allein am leichten, kribbelnden Schmerz, den die Berührung in ihrem aufgeschwemmten Leib hervorrief.

„Können Sie laufen?“, fragte Gorett, „ich fürchte, die Veränderungen an ihren Muskeln werden sich nicht von selbst zurückbilden.“

„Überraschenderweise schon“, sagte Nanita, die verstand, dass sie sich wohl im Hinblick auf ihre Rückenmarksschädigung getäuscht hatte, „zumindest etwas. Aber Torvilla werde ich so wohl nicht entkommen können.“

„Wir nehmen Sie natürlich mit“, sagte Garwenia, „an dieses Versprechen werden wir uns halten.“

„Welche Nutzen sollte ich für Sie in Braviania haben?“, fragte Nanita und zumindest Travenia erweckte den Eindruck, diese Frage berechtigt zu finden.

„Der wird sich finden“, entgegnete Garwenia, „Ihr Kopf scheint mir ja immer noch intakt zu sein und mehr brauchen Sie nicht, um Ihre Funktion als meine wirtschaftliche Beraterin zu erfüllen.“

Erneut lächelte Nanita. So aufrichtig und befreit, wie sie es vielleicht noch nie getan hatte.

„Gorett“, sagte Garwenia und deutete auf eine Reihe von Laborkitteln, die an einer der Wände hingen, „holen Sie der Dame etwas zum Anziehen, damit wir hier schleunigst verschwinden können. Ansonsten könnte sie in meiner Heimat vielleicht ein wenig Anstoß erregen.“

Gorett grinste und setzte sich in Bewegung.

„Warum hat man Ihnen das überhaupt angetan?“, wollte Garwenia von Nanita wissen, „war es, weil Sie uns geholfen haben?“

„Nein“, sagte Nanita, „ich habe … bei einer Aufgabe versagt und MKHs Vize-CEO Torvilla Nehmer meinte, dass dies eine angemessene Strafe wäre … es … ist kompliziert.“

„Wir sind hier alle vernunftbegabte Wesen“, sagte Zuh lauernd und zog eine Augenbraue hoch, „wir begreifen schneller als Sie glauben. Sie können es uns also gerne erzählen: Was genau war Ihre Aufgabe und was hatte sie mit uns zu tun?“

Nanita machte kurz den Eindruck, das tatsächlich erzählen zu wollen, schwieg dann aber doch.

„Dränge sie nicht“, sagte Garwenia sanft, „was auch immer sie ursprünglich tun sollte, sie hat uns geholfen, und allein das zählt.“

In diesem Moment kehrte Gorett mit dem Kittel zurück und überreichte ihn Nanita. Während sie diesen anzog, sah sie zum ersten Mal an ihrem Körper hinunter und selbst in ihrem, vom ständigen Schauspiel des deovanischen Alltags abgehärteten Gesicht, konnte man ihre Abscheu über ihren geröteten, fleckigen, geschwollenen Leib erkennen.

„In Braviania gibt es gute Heiler“, versuchte Garwenia sie zu trösten, „vielleicht können sie Ihnen helfen.“

„Auch sie werden Geld für ihre Arbeit haben wollen“, entgegnete Nanita, „und das habe ich nicht.“

„Wir werden eine Lösung finden“, versprach Garwenia.

Nanita wollte etwas erwidern, doch dann hörte sie Schüsse und die entsetzten Schreie der Söldner, die sie als Absicherung vor der Tür zurückgelassen hatten.

~o~

„Kollom?!“, fragte Nanita ungläubig, als sie den etwas verwirrt wirkenden Mann mit seinem Plüschtier, einer weißen Pistole und seinem Manifestor in den Raum stolpern sah, „Was machen Sie hier?! Und was haben Sie mit den Söldnern angestellt?“

„Und warum bei allen Sanden hat der Typ ein fucking Kuscheltier im Arm?“, wunderte sich Garwenia.

„Das ist ein Soul Companion“, bemerkte Travenia, die ihrerseits eine dünne, silberne Waffe gezogen hatte, „eine eingesperrte Seele, von der er sich wahrscheinlich Trost verspricht. Der Mann muss geistig wirklich vollkommen durch sein.“

„Oh, hallo Schaufel!“, sagte Kollom, der beinah klang, als wäre er betrunken, „Sie sind fett geworden. Hat Sandra Sie zu viel gefüttert? “

„Würde mir jemand von Ihnen zur Hand gehen“, fragte Nanita, „ich würde sein Maul sehr gerne mit einem Gagitsch stopfen.“

„Jederzeit“, sagte Gorett grinsend, holte einen elektrischen Stab aus seinem Werkzeugkoffer hervor und warf ihn Nanita zu, die ihn auffing.

„Unglaublich, dass sie den Nerv haben, so mit uns zu reden, nachdem Sie versucht hatten uns alle hinzurichten!“, zischte Garwenia wütend.

„Ach Gra…h….Krawenia, oder?“, fragte Kollom albern, „ich habe Sie mit so wenig Haut im Gesicht nicht erkannt. Und von einer Hinrichtung weiß ich nichts. Koriat und ich wollen einfach nur zum Labor. Wenn Sie also so freundlich wären, uns durchzulassen. Die netten Herren und Damen vor der Tür konnte ich mit einem Schwarm Vaporator-Drohnen überzeugen, uns den Weg freizumachen, aber ich habe leider keine Drohnen mehr, weshalb ich an Ihre Höflichkeit appellieren muss.“

„Zumindest was Nanita betrifft, sagt dieser Kreschron womöglich die Wahrheit“, sagte Travenia missmutig, „es gab nie einen offiziellen Beschluss des Aufsichtsrats über Nanitas Gagitsch-Transformation. Gut möglich, dass Torvilla das allein so bestimmt hat. Über das, was mit den Flüchtlingen – mit euch – geschehen sollte, war er aber im Bilde. Mehr noch, er war es, der euren Einsatz und eure … Entsorgung geplant hatte.“

„Sie werden diesen Ort nicht lebend verlassen“, gab Zuh Kollom ihr düsteres Versprechen. Und während Travenia ihre Waffe auf Kollom gerichtet hielt, gingen Zuh, Garwenia, Gorett und Nanita mit gezückten, elektrischen Stäben wie eine Einheit auf Kollom zu.

„Warum muss immer alles so kompliziert sein?“, fragte Kollom seufzend. „Sandra“, sagte er, „wenn sie so gut wären, mir zu assistieren.“

Doch Travenia ahnte, was jetzt kommen würde. Noch ehe sich der blasse Umriss von Sandra Geber neben Kollom manifestieren konnte, drückte sie ab. Der Strahl ihrer Waffe ging jedoch glatt durch den noch schemenhaften Körper hindurch und beinah im selbem Moment drang ein erschrockener Schrei aus Goretts Kehle, der ungläubig auf seine Brust starrte, in der ein faustgroßes Loch prangte. In diesem Loch war die Faust von Sandra Geber zu sehen, die das pulsierende Herz des Mannes einfach gepackt und zerdrückt hatte, wie das zwischen ihren Fingern hervorquellende Blut bewies. Noch ehe sich die Umstehenden von ihrer Überraschung erholt hatten, nahm sie sich zwei der elektrischen Stäbe aus dem Besitz des sterbenden Technikers und preschte damit auf Garwenia zu. Kollom nutze die Ablenkung. Fixierte Travenia. Und schoss.

~o~

Travenias Zeremoniengewand wurde auf Höhe der rechten Schulter zerfetzt und auch das Fleisch darunter blieb nicht verschont. Ihre Waffe fiel ihr aus der Hand und knallte scheppernd auf den Laborboden.

Die blutende Schulter umklammert, versuchte die Bravianerin sich in Sicherheit zu bringen, doch Kollom ließ nicht locker.

„Danke für diese Gelegenheit“, sagte er fröhlich, „ohne Sie wäre die Abwicklung des Aufsichtsrats nicht vollständig gewesen.“

Seine Waffe folgte der fliehenden Travenia präzise wie die Zielerfassung eines Roboters. „Schlaf in den Sanden, wie man bei euch so schön sagt!“

Kolloms Finger krümmte sich um den Abzug und ein Schuss löste sich, der jedoch viel zu hoch einschlug, da mein Waffenarm mit voller Wucht gegen seine Waffenhand knallte. Kollom schrie auf, ich hörte seine Knochen knacken und sein Kuscheltier fiel ihm auf die Erde.

„Nein!“, rief er weinend, sank auf die Knie und angelte wie ein Junkie mit seiner unverletzten Hand nach seinem Soul Companion.

Gerade als er ihn ergreifen wollte, trat mein Stiefel herzhaft auf seine Hand.

„Aber, aber Kollom“, sagte ich süffisant und mit vor Hass brennenden Augen, „Sie brauchen sich keine Liebe bei diesem Ding zu holen. Ich trage genug Zärtlichkeit für Sie im Herzen.“

~o~

Garwenia sah die wahnsinnige Menschenfrau wie einen Schnellzug auf sich zustürmen und es gelang ihr gerade noch den zweifachen Schlag der elektrischen Stäbe mit ihrem eigenen Stab zu blocken. Der Ruck jedoch, den sie durch ihre Muskeln jagen spürte, gab ihr das Gefühl, dass diese jeden Augenblick zerreißen würden. Doch ihre Muskeln hielten stand und als Sandra erneut und diesmal an zwei verschiedenen Stellen ausholte, duckte sie sich geschickt weg und hieb auf Sandras ungeschützten Bauch ein. Sie traf ihr Ziel und die Angreiferin zuckte ächzend zusammen.

Doch Sandras Reflexe waren viel schneller geworden als zuvor und so änderte sie die Richtung ihres eigenen Angriffs und drückte ihre Waffen in Garwenias sich gerade erst regenerierende Gesichtshaut. Garwenia brüllte, als die zarte, rosige Haut erneut verkohlte und verschwand, während Stromschlag um Stromschlag durch ihren Körper jagte. Dann hörte es plötzlich auf.

Mit verkrampften Muskeln, aber langsam nachlassenden Schmerzen wagte Garwenia es, ihre glücklicherweise noch intakten Augen zu öffnen. Sie rechnete fest damit, dass ihr irgendjemand geholfen hatte. Zuh, Travenia, vielleicht sogar Nanita. Stattdessen sah sie in Sandras schuldbewusstes Gesicht.

„Ich … es tut mir leid … ich wollte das alles nicht“, sagte Sandra, „es ist nur mit mir durchgegangen … diese Macht ist so schwer zu beherrschen. Ich mag dich, Garwenia, weißt du? Deshalb habe ich dich auch verschont.“

„Verschont?!“, fragte Garwenia fassungslos, „wovor denn verschont? Was bitte hättest du mir noch antun können? Fahr nach Akronsa, Sandra! Ich hasse dich! Ich hasse euch Menschen! Ihr seid so erbärmlich wie erbarmungslos. Töte mich, folter mich, wenn du willst, aber bitte, HALTE DEIN SELBSTMITLEIDIGES MAUL!“

Die Tränen in Sandras Augen versiegten und ihr Blick wurde wieder hart. „Wie du verlangst!“, sagte sie und hob ihre Stäbe, um sie Garwenia in die Augen zu stoßen. Doch ehe ihr das gelang, wurde Sandra von einer unsichtbaren Kraft von ihr weggerissen und auf den Boden geschleudert, wo sie wie festgenagelt liegen blieb. Als dies geschah, bemerkte Garwenia zum ersten Mal die Neuankömmlinge. Eine Frau mit einem großen Pendel und einem Körperpanzer aus rötlichem Metall, eine Handvoll Soldaten in unterschiedlichen Uniformen, einen großgewachsenen, schlanken Mann vom selbem Volk wie Nanita, einen fast an der Decke schwebenden Kopf aus Metall, ein riesiges, dunkelgraues Ungeheuer mit Gittermund und das hässlichste, schrecklichste und widerlichste, das Garwenia sich vorstellen konnte. Mich.

„Du!?“, rief sie, während sie sich auf die Knie kämpfte, „bei allem Abscheulichkeiten Akronsas ausgerechnet du? Der mieseste Verräter im gesamten Multiversum? Du glaubst nicht, wie oft ich darum gebetet habe, dass du in irgendeinem grauenhaften Loch Todesqualen leidest, dass dir deine Flucht nicht mehr als Schmerz, Trauer und Verzweiflung eingebracht hat.“

„Dein Wunsch ging mehr oder weniger in Erfüllung, Garwenia“, sagte ich, „ich habe viel gelitten.“

„Nicht annähernd genug“, zischte Garwenia, „und nicht ein Tausendstel so viel wie ich.“

„Ich weiß …“, begann ich.

„Wag es nicht, diesen Satz zu beenden. Du weißt gar nichts!“, giftete Garwenia und griff sich einen der Stäbe, „selbst, wenn ich dich häuten und dein rohes Fleisch hiermit bearbeiten würde, hättest du nicht die geringste Vorstellung von dem, was ich durchlitten habe. Aber es wäre zumindest ein Anfang.“

Als Garwenia aufstand, stellte sich Any schützend vor mich, was mich fast genauso beschämte, wie es mir Sicherheit gab.

„Beruhigen Sie sich“, ergriff Navin das Wort, „welche Rechnung Sie auch immer mit Geber Adrian offen haben, jetzt ist nicht die Zeit, sie zu begleichen. Dies ist eine offizielle Mission im Auftrag des Kartellwächters von Deovan und bis wir alle Schuldigen zur Verantwortung gezogen und sämtliches Konzerneigentum beschlagnahmt haben, haben persönliche Fehden hier keinen Platz. Was Sie danach mit Geber Adrian tun wollen, ist natürlich Ihre Sache. Dies ist ein freies Land. Doch bis dahin halten Sie sich als Unbeteiligte bitte da raus.“

„Diese Leute sind keineswegs unbeteiligt“, bemerkte Lavell, „Sie sind allesamt vertraglich gebundene Angestellte von MKH und als solche Teil der zu akquirierenden Aktivposten. Und die gute Frau in dem schicken Gewand ist Nehmerin Travenia, Mitglied des Aufsichtsrates und als solches mindestens indirekt verantwortlich für die Verbrechen am Geflecht und für die zu erbringenden Schadensersatzzahlungen seitens des Konzerns. Wir müssen sie leider festnehmen.“

Kaum da Lavell diese Worte gesprochen hatte, legten die verbliebenen Konzernsoldaten und Vertragswächter auf Garwenia, Travenia, Nanita und Zuh an.

„Das würde ich nicht empfehlen“, sagte Zuh ruhig, aber bedrohlich, „außer Sie legen Wert darauf, Ihren Kreislauf für immer zu beenden.“

„Sie können uns nicht drohen, Nomorerin“, erwiderte Navin, „wir sind in der Überzahl und Sie wären niemals in der Lage, uns alle zu berühren, bevor wir Sie ausgeschaltet hätten.“

„Ich ziehe die Erfahrung bloßen Gedankenspielen vor“, konterte Zuh, „sie ist aussagekräftiger.“

Doch entgegen ihrer Worte bewegte sie sich nicht. Noch nicht.

„Wir wollen keine weitere Gewalt!“, sagte Garwenia, „lassen Sie uns einfach gehen, dann vergessen wir, was uns angetan wurde und wir werden uns nie wiedersehen.“

„Oh, ich möchte Sie aber wiedersehen“, beharrte Lavell, „Ihre Fähigkeiten – insbesondere die Ihrer düsteren Freundin – sind sicher einige Dominanten wert, an denen ich äußerst gerne teilhaben möchte.“

„Bitte seien Sie vernünftig, Lavell“, versuchte ich Garwenia beizuspringen, „wir wollten Kollom und wir haben ihn. Holen wir uns die Daten, die wir brauchen, aus dem Labor oder aus seinem zerrütteten Kopf. Diese Leute interessieren uns nicht.“

Garwenia warf mir einen giftigen, verachtenden Blick zu und auch ohne einen expliziten Hinweis verstand ich, dass sie nicht an meiner Hilfe interessiert war. Dennoch widersprach sie nicht, wahrscheinlich, weil sie ihre Freunde beschützen wollte. Offenbar war sie ein großherzigeres Wesen als ich.

Lavell drehte sich zu mir um. Sein Gesicht nicht minder erfüllt von Verachtung als das von Garwenia, jedoch ohne den aus einstiger Freundschaft geborenen Hass.

„Wagen Sie es nicht, mir aus dem Mund, den ich gezüchtet und bezahlt habe, altkluge Ratschläge zu erteilen, Geber. Sie sind eine Kuriosität. Ein Pausenclown, dessen Nützlichkeit für diese Mission ich kolossal überschätzt habe, mehr nicht!“, urteile Lavell eisig, „es bedarf mich nur eines Knopfdrucks, um Ihre peinliche Existenz zu beenden. Und diesmal werden Sie sich nicht in Ihrem Kwang Grong verkriechen können!“

Seine Worte machten mich zornig und ich hatte nicht übel Lust, diesem arroganten Wichser die Fresse zu polieren, aber ich wusste auch, dass seine Worte mehr sein konnten als eine leere Drohung. Im Grunde war den Leuten hier alles zuzutrauen. Ich sah zu Karmon, der jedoch gut damit beschäftigt war, die tobende Sandra festzuhalten, so wie auch ich Kollom gelegentlich davon abhalten musste, sich mit zappelnden Bewegungen aus meinem Griff herauszuwinden. Inzwischen fragte ich mich, warum ich das überhaupt tat. Wenn ich diesen Bastard freiließ, würde das zumindest einen anderen Bastard ärgern. Doch fürs Erste war mein Hass auf Kollom, der mir meinen und Karmons Körper genommen hatte, noch größer als der auf Lavell, der uns beide zumindest in gewisser Weise gerettet hatte und mir bisher nichts Schlimmeres angetan hatte, als Schmähungen und Drohungen.

„Sie greifen ja gar nicht an, Geberin Zuh“, sagte Lavell, so als hätte er mich bereits vergessen, „schade, dabei hatte ich mich so auf Ihre Demonstration gefreut. Aber wenn dem so ist … Navin!“

Der schwebende Kopf nickte und gab den verbliebenen Vertragswächtern einen Befehl. Sekunden später flogen die Energienetze von Navins Untergebenen auf Travenia, Garwenia, Nanita und Zuh zu. Die verletzte Travenia und die von der begonnenen Gagitsch-Transformation geschwächte Nanita wurden dabei genauso beim ersten Versuch eingefangen, wie Garwenia. Zuh hingegen gelang es vorerst, dem Netz zu entgehen.

„Tu etwas, Any“, bat ich die Frau mit dem Pendel leise.

„Das kann ich nicht“, sagte sie, „dies ist das Wenige an Ordnung, das sie hier ehren. Ich darf mich der Vollstreckung eines Gesetzes nicht in den Weg stellen.“

„Das ist ein Scherz, oder?“, flüsterte ich.

„Es gibt nichts, was mir ernster sein könnte“, widersprach sie und noch nie zuvor hatte ich so viel Überzeugung in ihrer Stimme vernommen.

~o~

„Lass mich los, du zu groß geratener Wurm“, zischte Sandra zu Karmon, der sie festhielt.

„Warum?“, grollte die Stimme des Kwang Grong leise.

„Ja, warum wohl, du Hornochse?“, giftete Sandra, „damit ich deinem Busenfreund Adrian die Eier abreißen kann.“

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, fragte der Hühne, „nichts würde mir mehr Freude bereiten.“

„Nicht alles, was sarkastisch ist, ist auch guter Humor“, antwortete Sandra.

„Das war kein Sarkasmus“, sagte Karmon, „ich will, diesen lästigen Typen schon lange in den Staub treten.“

„Warum hast du es dann nicht getan, Karmon?“, fragte Sandra zweifeln, „du hattest mehr als genug Gelegenheiten dazu.“

„Weil Lavells verfluchter Chip mich davon abgehalten hat“, erklärte der Kwang Grong, „seine Impulse haben mich besänftigt und meinem Geist eine Programmierung aufgedrückt. Erst haben sie mich davon abgehalten ihn zu töten, dann als der Pisser den Chip hochgeregelt hatte, hat er mich sogar gezwungen, freundlich zu ihm zu sein. So zu tun, als wäre ich Adrians altes Schoßhündchen. Aber das bin ich nicht. Ich bin nicht Karmon. Schon lange nicht mehr. Ich bin Marnok, ein Kwang Dru. Ein freier, unbeherrschter Geist. Und nun, wo es mir gelungen ist, den Chip zu stören, ist auch mein Körper wieder frei. Und ja, ich kann auch dich freilassen. Wenn du mir hilfst.“

„Was hast du denn vor, großer Mann?“, fragte Sandra, die diesen Kerl schon jetzt sympathischer fand als Karmon, „und welche Rolle soll ich dabei spielen?“

„Ich will Lavell ausschalten und zerreißen, damit er seine Kontrolle über mich nicht irgendwie erneuern kann und dann will ich Adrian restlos konsumieren, ihn absorbieren und jede Spur seines Weges und seiner Gedanken auslöschen, so wie es von Anfang an hätte geschehen sollen. Doch für beides brauche ich eine Ablenkung und jemanden, der diese Pendelfrau aufhält. Sie hat eine beängstigende Kontrolle über Zeit und Raum, wenn sie es will und ich kann mich nicht um sie, Lavell und Adrian gleichzeitig kümmern. Schalte du sie für mich aus und ich kümmer’ mich um die beiden anderen.“

„Und dann?“, fragte Sandra, „wirst du dich dann gegen mich wenden?“

„Nein“, versprach Marnok und für Sandra klang es einigermaßen glaubhaft, „danach will ich diese Welt verlassen. Ich werde diese Bravianischen Frauen dazu zwingen, mich in unsere gemeinsame Heimat zu bringen. Dort, wo andere meiner Art sind und mit ihnen zusammen, will ich unsere viel zu lange bestehende Unterdrückung abstreifen. Du aber kannst deiner Wege gehen und mit dem Rest dieser Leute verfahren, wie du willst. Wir Kwang Dru sind keine treuen Verbündeten, das will ich nicht verhehlen, aber wir sind nicht dumm. Wir wenden uns nicht gegen die, die uns helfen, solange noch echte Feinde auf uns warten.“

„In Ordnung“, sagte Sandra, die diese Einstellung gut nachvollziehen konnte, „dann lass mich los und wir räumen gemeinsam hier auf.“

~o~

Zuh, die sich atemberaubend schnell bewegte, entging einem weiteren Netz eines Vertragswächters und auch dem Hochdruckstrahl eines ReCrate Soldaten, der knapp an ihrem Rücken vorbeiging. Eine Aquation-Soldatin, die unmittelbar in ihrem Weg stand, hätte sie fast mit ihrer giftigen Wasserpistole erwischt, doch gelang es Zuh, sie durch ein Loch in ihrer stark beschädigten Gelrüstung zu berühren. Noch ehe die Konzernangestellte auch nur zielen konnte, fiel sie leblos auf den Boden.

Zuhs nächstes Ziel war Lavell. Navin, der als bloßer elektronischer Avatar für Zuhs gefährliche Fähigkeiten unempfänglich war, zog sich dennoch vornehm zurück und ließ den Leib des CEOs von New Day vollkommen ungeschützt. Dieser bemerkte den Angriff immerhin und bemühte instinktiv seine langen Gliedmaßen, um den Todesengel abzuwehren. Dabei realisierte er aber zu spät, dass er ihr ihre Arbeit damit nur noch erleichterte. Ungehindert griff Zuh nach Lavells ausgestreckten Handgelenken, um ihn buchstäblich aus dem Leben zu reißen, als sie im letzten Moment wie von einer unsichtbaren Macht davongeschleudert wurde.

Diese unsichtbare Macht gehörte Any. Sie hatte eines ihrer Pendel dazu benutzt, Lavell vor seiner eigentlich verdienten Strafe zu bewahren. Ich sah sie tadelnd an, aber ich wusste, dass ich mir jedes Wort an sie sparen konnte. Unschlüssig sah ich zwischen Kollom und Zuh hin und her, die als letzte der Flüchtlinge noch nicht in einem Netz gefangen war. Wenn ich Kollom loslassen würde, dann würde er sich mit Sicherheit wieder gegen uns wenden. Andererseits sollte das ruhig Lavells Sorge sein. Ich hatte jedenfalls wenig Lust, Garwenias Tod oder Gefangenschaft gleich noch einmal zu verantworten.

Also sprang ich auf, gab Kollom dabei noch einen letzten, kraftvollen Tritt in die Fresse und feuerte im vollen Lauf auf jenen Vertragswächter, der Zuh gerade einfangen wollte. Meine Nadeln töteten ihn nicht, aber sie verletzten ihn und sorgten dafür, dass das abgeschossene Netz fehlging.

Als die beiden anderen Vertragswächter jetzt ebenfalls ihr Glück versuchten, machte ich die erfreuliche Entdeckung, dass meine Kompassnadeln durchaus in der Lage waren, die Netze zu zerschneiden. Dieses Wissen nutzte ich, um erst Nanita und dann Travenia zu befreien.

Dann wandte ich mich an Zuh, die gerade wieder aufgestanden war, „Bring sie in Sicherheit!“, sagte ich zu der hageren, düsteren Frau. Diese nickte und machte sich daran, zusammen mit Travenia und Nanita aus dem Raum zu fliehen.

Währenddessen behielt ich die Vertragswächter, die Konzernsoldaten und den ziemlich erzürnten Lavell gut im Auge und kam zu der Überzeugung, dass ich dringend Unterstützung benötigte. „Hilf mir, Karmon!“, flehte ich meinen Grong-Shin an, der jedoch nicht reagierte, sondern das Geschehen nur stoisch beobachtete. Immerhin hielten sich die Konzerntruppen, denen die Situation wohl zu unübersichtlich war, vorerst aus dem Kampf raus. Lavell jedoch war wirklich alles andere als erfreut.

„Was fällt Ihnen ein, Adrian!“, rief er erbost,, „damit sind unsere Abmachungen hinfällig“, fügte er hinzu, „Alle!“

Er sah erst zu mir und dann zu Any, bevor seine Hand zu einem kleinen, versteckten Knopf an seiner Kleidung wanderte.

~o~

Kollom fühlte warmes Blut zwischen seinen gebrochenen Zähnen hervorquellen. Es schmeckte salzig und erdig. Fast, wie diese köstliche Suppe, die er … die er in … mit beiden Händen fischte er im trüben Nebel seiner Gedanken, konnte aber nichts Brauchbares finden. Mittlerweile hatte er keinen Zweifel mehr, dass Yonis’ Heilungserfolge rapide in sich zusammenfielen. Doch immerhin war er frei. Dieser lästige menschliche Weltenhüpfer hielt ihn wohl nicht länger für beachtenswert. Das schmerzte. Trotz allem. Schmollend griff Kollom nach Koriat und drückte ihn an sich.

Die Nähe des Companions tat gut und schenkte ihm erneut einen kurzen, aber starken Funken Klarheit. Genug, um zu erkennen, dass er weitere Hilfe brauchte. Und auch genug, um sich zu erinnern, wie er die bekommen könnte. Er tippte eine Nachricht in den Identifier und hoffte, dass sie irgendwie das Geflecht erreichen würde. Wenn er unterging, dann mit wehenden Fahnen und nicht, ohne sein Vermächtnis an seinem Zielort abzuliefern. Kollom lächelte und kostete noch etwas von der Suppe.

~o~

Ohne auf Lavells Gezeter zu achten, eilte ich zu Garwenia. Theoretisch wusste ich, dass ich damit meinen Katalog gefährdete, aber im Grunde hatte ich ohnehin nicht das Gefühl, dass sich der CEO von New Day an unsere Abmachung halten würde. Außerdem gab es etwas wiedergutzumachen.

„Ich hol’ dich hier raus“, versprach ich und sah Garwenia tief in die Augen.

Dort sah ich Hass und Verachtung. Eine Menge davon. Wohlverdient und hart erarbeitet, aber keine Hoffnung.

Sie traut mir nicht, stellte ich fest, warum sollte sie auch?

Da ich wusste, dass ich mit Worten nichts bewirken könnte, ließ ich Taten sprechen. Wie zuvor bei den beiden anderen, durchschnitt ich die Energiefäden, die die Bravianerin fesselten, glatt und präzise, bis ich plötzlich … die Kontrolle über meinen Körper verlor. Beinah wie noch vor wenigen Tagen, als ich als beseelter Fehlstein in Karmons Körper steckte, sah ich als bloßer Beobachter dabei zu, wie mein Waffenarm sich auf Garwenias linkes Bein richtete und schoss.

Garwenia schrie.

~o~

„Warum lassen Sie die Konzerntruppen nicht eingreifen?“, fragte Navin.

„Wie Sie sehen, ist es nicht nötig“, meinte Lavell, der den vorprogrammierten Knopf noch immer gedrückt hielt, „es gibt nichts Effizienteres, als Probleme, die sich ganz von selbst lösen.“

Er lächelte selig, doch sein Lächeln verschwand restlos, als ein knisternder schwarzer Blitz darin einschlug und die Druckwelle seinen Kopf ein ganzes Stück zurückwarf. Wie zuvor brachte sich Navin in Sicherheit, als sich Marnok mit seiner gesamten Körperkraft auf den benommenen Lavell warf.

„Hallo Nehmer Wertlos“, begrüßte er ihn, „Sie mögen die Dominanten haben. Aber ich habe jetzt die Dominanz!“

Lavell versuchte noch, mit seinen langen Armen nach Marnoks Kontrollknopf zu tasten, als der gitterförmige Mund des Kwang Dru bereits damit begann, seine Körpersäfte zu trinken.

~o~

„Ich wusste, dass ich dir nicht trauen kann, du verfluchtes Arschloch!“, brüllte Garwenia vor Schmerz, während ihr Bein gegen meinen Willen von den Kompassnadeln ruiniert wurde, „ich hätte dich damals in den Keimpfuhl tauchen sollen!“

„Ich will das nicht tun!“, verteidigte ich mich lahm, während ich verzweifelt gegen das ankämpfte, was mein Körper tat, „aber ich habe keine Kontrolle über meinen Körper!“

Genau in diesem Moment gehorchten mir meine Muskeln wieder. Sofort unterbrach ich den Beschuss von Garwenias Bein und schnitt stattdessen das Netz weiter auf.

„Was für eine kreative Lüge“, höhnte Garwenia ächzend, „du bist ein seelenloser Sadist, Adrian. Das ist alles. Selbst wenn du vorgibst, jemandem zu helfen, kannst du nicht darauf verzichten, ihn zu verletzen. Du hättest bei On-Grarin bleiben sollen. Ihr wart wie füreinander geschaffen. Ja, ich glaube, ihr Menschen und die Andrin seid Geschwister-Völker und ich bin mir nicht sicher, wer von euch schlimmer ist.“

„Du irrst dich, es gibt bessere Menschen als mich“, sagte ich selbstkritisch.

„Wie Sandra zum Beispiel?“, meinte Garwenia sarkastisch.

„Wir sind zwei Nieten aus einem großen Lostopf“, entgegnete ich, „aber dennoch. Ich will dir wirklich helfen …“

„Wenn du mir helfen willst, dann bring dich um. Aber da du dafür nicht den nötigen Stolz hast: Lass mich verdammt nochmal in Ruhe und verpiss dich!“, verlangte Garwenia während sie sich unbeholfen aus dem Netz herauskämpfte, „das kannst du ohnehin am besten.“

Unschlüssig sah ich auf die schwerverletzte, aber enorm wütende Frau und war versucht, ihr trotzdem zu helfen. Dann jedoch hörte ich Anys Stimme.

„Adrian!“, rief sie nur und zu meinem erschrecken, sah ich, wie sich die offenbar befreite Sandra gerade auf Any stürzte. Also drehte ich mich um und überließ Garwenia ihrem Schicksal. Wieder einmal.

~o~

Garwenia war erleichtert, dass sich dieser grauenhafte Psychopath endlich entfernte. Lieber ging sie zugrunde, als mit seiner sogenannten Hilfe zu überleben. Doch vielleicht würde ihr das auch so gelingen. Ihr Bein schmerzte zwar höllisch, aber es war noch halbwegs belastbar, und wenn sie es irgendwie zum Ausgang schaffte, hatte sie vielleicht eine Chance.

Womöglich waren Travenia und die anderen noch nicht abgereist. Womöglich warteten sie noch auf sie, wie es soziale Lebewesen nun einmal taten. Sie warf einen traurigen Blick auf den armen, nur im physischen Sinne herzlosen Gorett, dem seine Flucht aus seiner verhassten Welt nicht so gelungen war, wie er es gehofft hatte. Ein weiterer Traum, den ein Mensch beendet hatte.

Niedergeschlagen, doch auch wütend und trotzig kroch sie voran, so gut sie konnte. Sie durfte nicht aufgeben. Sie musste es zurück nach Braviania schaffen. Sie musste dort die Macht ergreifen. Und sie musste ein Übel bekämpfen, das schon viel zu lange unterschätzt worden war.

~o~

Genüsslich trank Marnok einen letzten köstlichen Schluck aus dem papierdünnen, vertrockneten Leib von Lavell. Der wahre Reichtum des Mannes hatte anscheinend in seinen inneren Werten gelegen. Irgendwo am Rande seiner Wahrnehmung hatte er den halbherzigen Widerstand und die harmlosen Schüsse jener Konzernsoldaten gespürt, die Lavells Befehl gefolgt waren. Die meisten jedoch hatten sich klugerweise zurückgehalten. Und das war auch nur logisch. Immerhin war Lavell nicht ihr Chef und dieser Feigling Navin hatte sich in seiner Drohne längst davon gemacht. Marnok sollte es recht sein. Jetzt konnte keiner mehr über ihn bestimmen und er konnte sich neuen Herausforderungen widmen.

Doch welche sollten das sein? Er blickte zu Sandra, seiner momentanen Verbündeten, die sich im Kampf mit dieser Any befand und nun bald auch von seinem alten „Freund“ Adrian bedrängt werden würde. Dann hielt er nach Garwenia Ausschau, der letzten Bravianerin, die ihn noch an sein Ziel bringen könnte. Er entschied, dass es wichtiger wäre, sie von der Flucht abzuhalten. Seine Rache an Adrian konnte warten und was wäre Sandra schon für eine Verbündete, wenn sie nicht in der Lage wäre, sich alleine zu behaupten? Er lächelte innerlich und rannte los.

~o~

Sandra hatte genau den richtigen Moment abgepasst. Die verchromte Pendeltante war gerade abgelenkt, als sie sich mit der ganzen Wucht ihres delimitierten Körpers auf sie warf und ihr dabei das Pendel entriss. Sie nutzte den Schwung ihrer Bewegung, um ihr die Kristallspitze ihrer Beute quer übers Gesicht zu ziehen. Die Frau blutete nicht, aber sie trug dennoch einen tiefen Kratzer davon. Von diesem Erfolg ermutigt, stach sie mit dem Pendel auf die Haut und auch auf die Augen der Frau ein, die zersprangen wie Kristalle. Sie bemerkte, wie Any nach einem ihrer anderen Pendel greifen wollte, aber ihre Knie verhinderten das, indem sie ihre Arme am Boden festnagelten.

Das wird ein feiner Ritt werden, oh ja, dachte sie. Bis jetzt bereute es Sandra definitiv nicht, es mit dem Delimiter versucht zu haben. „Die Sterne stehen nicht günstig für dich, was?“, fragte Sandra gehässig lachend, „wenn ich sie richtig deute, ist heute dein Todestag.“

„Du kannst mich nicht töten“, behauptete Any ächzend.

„Selbst wenn das stimmt, ist das nicht tragisch“, sagte Sandra, während sie weiter auf Any einstach, „mir reicht es auch vollkommen, dich in kleine Stücke zu zerlegen.“

„Gutes Stichwort!“, sagte ich, als sich mein Waffenarm gegen Sandras Hinterkopf drückte. Ich war über Zweifel hinaus und über jedes Mitleid auch. Zumindest, was diese Frau betraf. „Gute Reise, Sandra!“, sagte ich und drückte ab.

Doch auch, wenn ich diesmal auf theatralische Gewissenskonflikte und den angeblichen Kodex der Fortgeschrittenen verzichtete, wurde der Kopf meiner Ex nicht durchlöchert. Das lag zum einen an ihrem ungleich schnellen Reflexen, vor allem jedoch daran, dass ich plötzlich haltlos nach hinten kippte.

~o~

Garwenia hatte sich wohl ein wenig überschätzt. Die Verletzungen zehrten mehr an ihrer Kondition, als sie für möglich gehalten hatte und so kam sie nicht annähernd so schnell voran, wie erhofft. Doch plötzlich, als sie schon nah daran war, sich erschöpft hinzusetzen, erblickte sie in der Türe eine unerwartete, rothäutige Gestalt in einem weißen Laborkittel.

„Nanita!“, rief sie überrascht.

„Ich sollte hier nach Ihnen Ausschau halten“, erklärte die Deovani ihre Anwesenheit, „Zuh und Travenia machen gerade das Schiff startklar.“

„Danke“, sagte Garwenia, „ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass …“

„Vorsicht!“, rief Nanita, „hinter Ihnen!“

Matt und müde drehte Garwenia sich um, sah den bedrohlich aussehenden Marnok auf sich zupreschen und wusste, dass sie verloren war. Sie hatte nicht die Kraft zu fliehen und selbst, wenn Nanita rechtzeitig bei ihr wäre, könnte sie diesen Koloss nicht aufhalten.

Als eine Frau, deren Leben lange eine Qual und im Grunde bereits vorbei gewesen war, fürchtete sie den Tod zwar nicht so, wie viele andere, aber was sie vor allem beunruhigte, war ein anderer Gedanke. Sie hatte mitbekommen, dass dieses Biest in der Lage war, seine Feinde mühelos mit seinen schwarzen Blitzen zu verletzen oder sie gar vollkommen leer zu saugen. Beides jedoch hatte das Monster nicht mit ihr getan. Das ließ nur einen Schluss zu: Das Wesen wollte sie lebend und die Vorstellung, was es mit ihr anstellen würde, wenn es sie in die Finger bekäme, machte Garwenia wirklich Angst.

Diese Angst brachte sie dazu, trotz der Ausweglosigkeit ihrer Situation ein paar Schritte zurück zu krabbeln. Und es waren wohl diese Schritte, die ihr Leben bewahrten. Nicht nur vor dem grauen Koloss, sondern auch vor dem Abgrund aus schwarzem, saugendem Nichts, der sich plötzlich nur wenige Meter vor ihren Füßen auftat.

Diese Leere wuchs nicht einfach, entfaltete sich nicht wie irgendein Zauber, sondern erschien von einem auf den anderen Moment. Ein kreisrunder Bereich, ohne Luft, ohne Materie, der gerade deswegen nach ihr gierte. Garwenias geschwächter Körper spürte einen kräftigen Windstoß in seinem Rücken, als der kostbare Sauerstoff aus ihrer Lunge in das Vakuum gesaugt wurde, in dem Adrian, Sandra und all die anderen bereits schwebten und vergeblich um Atem rangen. Auch das graue Ungeheuer gehörte zu den Unglücklichen und trotz seiner misslichen Lage streckte es seine Klaue nach Garwenia aus.

Garwenia versuchte ihr zu entgehen, doch konnte schon von Glück sagen, dass sie sich bislang noch gegen den unbarmherzigen Sog zur Wehr setzen konnte. Die Klaue kam näher und näher, die dürren, kräftigen Finger griffen nah ihrer Hand, als sie von geschwollenen, roten Händen nach hinten gezogen wurde.

Zusammen mit Nanita landete sie auf dem Boden. Außerhalb der gierigen Klauen und außerhalb des tödlichen Sogs.

„Danke“, sagte Garwenia benommen, während sie sich aufrappelte, „nun haben Sie wirklich etwas gut bei mir.“

„Das ist nicht hilfreich“, sagte Nanita, „ich will mich daran gewöhnen, nicht mehr alles aufzurechnen. Aber vor allem müssen wir hier weg. Und zwar schnell. Das Geflecht stürzt zusammen. Diesmal endgültig!“

„Ich komme“, sagte Garwenia lächelnd, „Braviania wartet“.

Gemeinsam rannten sie los, während die Welt hinter ihnen auseinanderbrach.

~o~

„Porneck!“, rief Navin, dessen Drohne an der Decke schwebte und der die Ereignisse in der Gagitsch-Kammer, so im doppelten Sinne aus sicherer Entfernung beobachtete, „ich mag Ihr unterwürfigster Sklave sein, aber ich habe auch einen Überlebenstrieb. Ich zweifle nicht daran, dass Sie in der Lage sind das Geflecht zu stabilisieren, aber bei allen Dominanten, tun Sie das jetzt auch. Sonst bleibt von uns beiden nichts mehr übrig!“

Auch wenn er nicht damit rechnete, kam die Antwort seines Herren diesmal sehr schnell und noch dazu unerwartet entspannt und freundlich. „Noch einen Augenblick, Navin“, sagte der Planetenkrebs in seinem Kopf, „im Moment kommt der Zerfall mir womöglich zugute. Er könnte ein paar – Störfaktoren – beseitigen. Danach werde ich aber sofort handeln. Sie jedoch können es jetzt schon tun. Sie wollten Ihre Rache. Jetzt ist die Gelegenheit dafür. Nutzen Sie sie und vertrauen Sie mir. Sie haben ohnehin keine andere Wahl.“

Diese letzten Worte hatte Porneck mit einem überlegenen Lachen vorgebracht, aber natürlich entsprachen sie der Wahrheit. Und er Porneck hatte noch in einem anderen Punkt recht, dachte Navin, während er zu dem wartenden Whe-Ann-Sendeturm blickte, er könnte die Rache an seiner Heimatwelt bekommen. Alles, was er dazu noch brauchte, war die Kontrolle über die schweren Waffensysteme von MKH und mit den deaktivierten Sicherheitssystemen war das ein Kinderspiel.

Er ließ seine Drohne noch ein Stück weiter aufsteigen, und koppelte sich mit ihr an eines der noch intakten Belüftungssysteme an. Diese Systeme waren nicht physisch, sondern lediglich durch Software-Barrieren von den Sicherheits- und Waffensystemen getrennt, um eine intelligente Steuerung des gesamten Komplexes zu ermöglichen. Das wurde nun sein Einfallstor. Mithilfe der Whe-Ann-Technologie seiner Drohne, reaktivierte er ausschließlich jenes System, das für die Steuerung und Sicherung der schweren Waffen zuständig war, fütterte den Zielcomputer mit den von ihm festgelegten Koordinaten, die die Endmärkte, die ärmeren Zonen der Mittelmärkte und das Invisible Land bewusst aussparten und ließ sie alle nacheinander aufsteigen. Materiesprenger, Deoxinatoren, Hochtemperaturbomben, Killer-Cluster-Drohnen und sogar die in vielen Welten geächteten Rapid-Agers, Psychodowners, Blind-Ragers und Genetic-Disorder-Bombs.

Zuletzt machte er eine andere, subtilere Art von Sprengstoff bereit, die sich vor allem auf die ärmeren Gebiete Deovans konzentrierte. Auf jeden Identifier der Have-Nons und der meisten Geber, auf jedes Clickworking-Terminal, auf jeden dreckigen Monitor und jedes gebrauchte virtuelle Projektionsgerät der ärmlichsten und einfachsten Behausungen schickte er die Rede von Zevil Nehmer, in der dieser seine Pläne zur Luftprivatisierung darlegte und schnitt die Aufnahmen sicherheitshalber so zusammen, dass es so aussah, als ob diese Pläne schon in Kürze umgesetzt werden würden. Dabei verfälschte und erzeugte er nichts. Zumindest die nicht ganz so alten Empfangsgeräte besaßen nämlich eine KI, die manipuliertes Video-Material kennzeichnete und je nach Werkseinstellung automatisch herausfilterte. Klassische Schnittkunst jedoch war etwas anderes.

Zufrieden beendete er seine Anweisungen und gab dem Autopiloten seiner Drohne die Anweisung, den Komplex zu verlassen, um alles besser beobachten zu können. Es würde ein ganz besonderes Feuerwerk werden und aus seiner Asche würde eine neue Welt aufsteigen. Nun musste er Porneck vertrauen, dass er diese Welt auch sehen würde. Aber, wenn man auf eines vertrauen konnte, beruhigte sich Navin, dann war es wohl das Eigeninteresse eines Planetenkrebses.

~o~

Schon ein gewöhnliches Vakuum war mehr als lebensbedrohlich, doch das hier war anders. Ja, mein Kreislauf spielte verrückt, mein Gehirn schrie nach Sauerstoff, aber vor allem spürte ich, wie ich … verschwand. Meine Gedanken. Meine Erinnerungen. Mein Leben. Es war fast, als würde ich es rückwärts erleben, nur um alle neueren Ereignisse nach und nach dem Vergessen zu schenken. Ein aggressiver Gedankenkrebs. Eine progressive, ultraschnelle Demenz. Ich war der Adrian aus Uranor, mit seinen falschen, unterwürfigen Idealen, ich war das verräterische Monster aus Konor, der sich zugleich zu Sandra hingezogen gefühlt hatte, dann der Kranke, Suchende aus Hyronanin, der staunende Abenteurer aus Dank Qua, der suchtgetriebene, Reisende durch meine eigene Welt und schließlich der Junge aus der Bushaltestelle, der langsam rückwärts ging zu seinem Ursprung, in den liebenden Armen seiner Eltern. Es war beinahe schön, wenn nur die Schmerzen nicht gewesen wären.

Schmerzen, Krämpfe, die meinen gesamten Körper zu zerreißen drohten, bis mich plötzlich eine … entspannende Stille umhüllte und meine Lungen … wieder Luft erhaschten.

Wie durch eine schimmernde, seifenblasenartige Wand erblickte ich Sandra, die sich noch immer in denselben Krämpfen wand wie ich. Ihr bläuliches Gesicht war geprägt vom Glück und Leid der Vergangenheit und ihre Körper verblassend, durchscheinend werdend und wieder Form annehmend im Rhythmus eines nachlassenden Herzschlags. Und neben mir sah ich Any, die ein weiteres Pendel aus ihrem unerschöpflich scheinenden Vorrat schwang. Nicht weit von ihr entfernt trieben Kollom und Karmon, der gerade Lavell getötet und mich so davor bewahrt hatte, Garwenias Leben erneut auf dem Gewissen zu haben.

„Danke“, sagte ich, nicht nur zu Karmon, sondern auch zu der Frau, der ich meine Rettung aus dem ultimativen Vergessen zu verdanken hatte.

„Keine Ursache“, antwortete Any, „ohne dich hätte diese Fortgeschrittene mich ernsthaft in Schwierigkeiten gebracht. Aber selbst, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, wäre deine Rettung wichtig gewesen.“

„Wenn du meinst“, sagte ich nur, da ich noch immer nicht recht verstand, warum diese vielleicht nicht unbesiegbare, aber doch überaus mächtige Frau mir überhaupt half.

Dann wanderte mein Blick wieder zu Karmon und Sandra, die in dieser Leere langsam ihr Leben aushauchten. Karmon war mir immer treu gewesen, hatte mich in so vielen Situationen beschützt und meine erbärmliche Existenz aus der Scheiße gezogen, selbst wenn wir manchmal unsere Differenzen gehabt hatten. Ihn zu sehen, wie er erfror und verschwand, wie er durch meine Entscheidungen ein weiteres Mal dem Untergang geweiht war, war einfach zu viel. Und Sandra … nun, wahrscheinlich hatte sie Strafe verdient. Womöglich sogar den Tod. Aber war Ihre rückwirkende Nichtexistenz, ihre Löschung aus den Erinnerungen jedes Wesens, das sie je gekannt hatte, ein angemessenes Schicksal?

Nein, entschied ich. Nicht für die Sahkscha der Rorak. Nicht für die Frau, die mir in meinen dunkelsten Momenten ein Spiegel gewesen war.

„Kannst du dieses Kraftfeld auf meinen Freund ausweiten?“, bat ich Any, „er wird sonst sterben.“

„Das wird er nicht unbedingt“, wiegelte Any ab, „Diese Geflechtaushöhlung ist lokal begrenzt. Sie wird sich wahrscheinlich noch einmal erholen. Irgendwann.“

„Dann könnte es zu spät sein. Ich brauche ihn!“, insistierte ich.

„Er ist nicht mehr der Kwang Grong, den du kanntest. Das habe ich dir schon einmal gesagt und jetzt spüre ich es noch deutlicher“, widersprach Any, „ich bemerke unglaubliche Finsternis in ihm.“

„Du irrst dich“, schmetterte ich ihren Einwand ab, „zumindest zum Teil. Ja, Karmon ist finster. Er kann ziemlich ruppig sein und ist sicher nicht das freundlichste Wesen im Multiversum, aber er ist ein zuverlässiger Freund und kann selbstlos sein, wenn es darauf ankommt. Das wirst auch du bemerken, wenn wir länger miteinander reisen.“

Anys Mimik verzog sich nur ein wenig, aber ich erkannte dennoch jenen Ausdruck wieder, den Elterngesichter annahmen, wenn sie erkannten, dass es keinen Sinn hatte, mit ihrem Kind zu diskutieren, sondern es besser war, seinen unvernünftigen Wünschen nachzugeben. In diesem Moment aber reichte mir das.

„Wenn ich ihn rette, würde ich auch die Frau retten, die mich – und auch dich – töten wollte“, versuchte Any noch einmal an meine Rationalität zu appellieren.

„Wäre das so schlimm?“, fragte ich, „Sandra ist geschwächt und halb bewusstlos. Sie wird keine Gefahr sein. Und du kannst sie dann immer noch erschlagen, wenn du es wünschst.“

„Du wirst das tun“, verlangte Any, „das wolltest du doch ohnehin.“

„Einverstanden“, versprach ich.

Auch Any nickte zustimmend und verstärkte den Schwung ihres Pendels. Zufrieden sah ich dabei zu, wie sich die Schutzkuppel und die mit ihr verbundenen, lebenserhaltenden Bedingungen wie ein weicher Vorhang auf Karmon und Sandra ausweitete. Karmons Gestalt stabilisierte sich und langsam kehrte auch die Farbe in Sandras Körper zurück, bis ihre Brust und ihre verschwitzten, blonden Haare sich wieder im Takt eines kräftigen, gesunden Atems bewegten.

„Sie wird jeden Moment wach“, sagte Any streng, „Zeit zu handeln!“

Schweren Herzens ging ich auf Sandra zu und hielt meine Waffe gegen ihren noch nicht gänzlich erwachten Kopf. Vorhin, im Affekt, erfüllt mit Wut und Rachegedanken, war es mir leicht gefallen, ihr Leben zu beenden. Jetzt jedoch, wo ich sah, wie ihre Brust sich bewegte, wie der Atem durch ihre Lippen floss, wie sich ihre Augen träumend unter den Lidern bewegten, konnte ich es nicht. Sie hatte den Tod verdient, ja. Aber ich ebenso und ich lebte trotzdem noch. Wenn ich bereit war, sie zu verdammen, welche Achtung konnte ich dann noch für mich selbst aufbringen?

Kraftlos ließ ich meine Waffe wieder sinken, beugte mich stattdessen zu Sandra hinunter, um ihr Gesicht zu streicheln und … griff ins Leere, als sie und Karmon wie von einem gewaltigen Windstoß wieder aus der Energiekuppel hinaus in die Schwärze geschleudert wurden.

Fassungslos blickte ich ihnen nach, wie sie abtrieben, gleich Astronauten, deren Sicherungsleinen gekappt worden waren und drehte mich dann wütend zu Any um.

„Du hattest deine Chance“, kommentierte Any eisig.

Voller Zorn hob ich meine Waffe und richtete sie auf Any, deren gesprungene Augen schon fast wieder intakt waren. „Du holst sie sofort wieder in das Kraftfeld“, verlangte ich, „oder du wirst es bereuen.“

„Du kannst mich nicht verletzen und du wirst es auch nicht versuchen“, antworte sie mit kalter Logik, nicht zornig, aber erbarmungslos, „Sandra ist fort. Karmon ist fort. Lavell ist tot und du stehst auf der Abschussliste von Astrera. Ich bin jetzt dein einziger Halt, deine einzige Orientierung, dein Schwerpunkt in Multiversum. Und wie jeder Staub, jeder kleine Splitter in der Umlaufbahn eines Planeten, wie jede Pendelspitze an ihrer Kette, kannst du nicht anders, als dich um diesen Schwerpunkt zu drehen. Frei und ungebremst und doch in fest gebundener Rotation.“

Allein diese Worte reizten mich dazu, Anys gleichgültiges Gesicht mit Nadeln spicken zu wollen. Doch leider sprach sie die Wahrheit. Ich konnte sie nicht verletzen. Nicht ernsthaft. Sandra hatte es nicht gekonnt und ich war schwächer als sie.

Tausend Beleidigungen schwirrten mir durch den Kopf, doch auch sie wären stumpfe Waffen, die an Anys harter Hülle abprallen mussten.

Also wandte ich mich um und sah zwei der wichtigsten Pfeiler meines Lebens als Fortgeschrittener tatenlos dabei zu, wie sich ihre Wege in der Endlichkeit verloren.

~o~

Auch Kollom machte eine Reise in seine Vergangenheit durch, während sein ungeschützter Körper zunehmend verblasste und er Koriat noch enger an sich presste, so als wäre er alles, was ihn noch in dieser Realität hielt. Allerdings verhinderte sein zerrüttetes Gehirn einen zusammenhängenden Gedankenstrom. Die Bilder brachen mehr wie zufällige Schlaglichter in seinen Geist.

Seine Ernennung zum CEO von MKH, voller Stolz und Triumph und doch mit einer sorgsam verborgenen Angst vor dem Scheitern. Seine Suche nach Artefakten in den dunklen Eingeweiden von Jin Dragag, in der Zeit, in der er noch ein Diener seines Kataloges gewesen war. Sein Zusammentreffen mit Yonis und die Ehrfurcht, die er damals empfunden hatte. Seine Kindheit in Deovan, in der er sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Schmuck aus den Körperteilen

Verstorbener und noch nicht ganz Verstorbener aus dem Invisible Land aufgebessert hatte. Die Tränen, die er dabei anfangs geweint hatte, bis er sich vor dem Spiegel seines Elternhauses sein Mitleid ab- und ein effektives Verkäuferlächeln antrainiert hatte. Der Fund des Kataloges in einer schmutzigen Gasse und die Hoffnung, damit etwas Großes entdeckt zu haben. Dann Jahre später sein grauenhafter, unmöglich scheinender Entzug, in einem tiefen Kellern in Nohrkrennzif. Ein Pfuschwerk aus Magie und Technik, welches ihn für immer gezeichnet hatte.

Kollom sah all dem zu. Ruhig und fast bewegungslos. Wie ein stiller Beobachter, wie ein Zuschauer in der Vorführung seines eigenen Lebens. Und zum ersten Mal verstand er. „Koriat“, sagte er, „oh, was habe ich Ihnen nur angetan.“

„Hör auf zu flennen!“, hörte er Yonis harte Stimme, „es gibt eine Zeit für solche Emotionen. Aber die ist nicht jetzt.“

„Yonis!“, rief Kollom freudig und mit einem Schlag wieder fokussiert, auch wenn seine trockenen, verschleierten Augen den Disruptor nirgendwo sehen konnten, „wo sind Sie?“

„Noch im Geflecht“, erklärte Yonis, „zumindest größtenteils.“

„Wie haben … haben Sie …“, fragte Kollom.

„Es hätte mich fast zerrissen“, erklärte Yonis, „aber das Geflecht heilt. Sehr sehr langsam und wahrscheinlich zu langsam, um Ihnen in Ihrer Lage zu nützen. Aber es trägt mich. Gerade so. Trotzdem bin ich geschwächt. Wenn ich springe, dann nur einmal und ich muss wissen wohin. Wen soll ich retten, Kollom? Sie oder Ihre wertvolle Sandra?“

Kollom dachte nach, so gut er konnte. Er hatte sein Leben lang dafür gekämpft, am Leben zu bleiben. Zu triumphieren. Seine Macht und sein Wohlergehen zu mehren. Wieso sollte er das alles aufgeben? Andererseits war sein Kopf kaputt. Höchstwahrscheinlich unheilbar kaputt und ohne Sandra würde Astrera womöglich nicht …

„Die Zeitlinien …“, brachte Kollom mit brüchiger Stimme hervor.

„Können Sie vergessen“, sagte Yonis, „wenn ich einen Wechsel auch nur versuche, ist Deovan – und wir alle – nie passierte Geschichte.“

Kolloms Augen richteten sich auf Koriat, so als wüsste er Rat. Doch der kam natürlich nicht und er spürte den Soul Companion auch nicht mehr. Kollom musste eine Entscheidung treffen. Ganz allein.

„Retten Sie Sandra“, sagte Kollom schließlich, „sorgen Sie dafür, dass sie alles nötige bekommt und versprechen Sie mir, sie nicht zu töten.“

„Nur, wenn ich muss“, erwiderte Yonis. Dann brach der Disruptor wie ein schattenhaftes Geschoss aus dem Geflecht heraus, fischte Sandra aus der Leere und flog mit ihr aus der Gagitsch-Kammer.

Kollom sah den beiden kurz wehmütig nach, während seine Konzentration sich wieder im Nichts verlor. Dann vergaß er, dass er sie kannte.

~o~

Entgegen Yonis’ Prophezeiung dauerte es nur noch wenige Augenblicke, bis sich der kreisrunde Riss schloss und Kollom und Sandra stark mitgenommen, aber lebendig auf festen Boden zurückbrachte, umgeben von den Leichen Lavells und seiner Soldaten. Sandra und Yonis bekamen von ihrer Rettung nicht viel mit, Any aber schon. Müde von ihren zahlreichen Pendelmanövern ließ sie ihr unnötig gewordenes Kraftfeld fallen und blickte zu Adrian.

„Offenbar ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen“, sagte Any, „deine Freunde leben noch.“

Ich lächelte erleichtert und war durchaus überrascht, dass das Multiversum gelegentlich tatsächlich etwas auf meine Wünsche gab. Wie genau ich jetzt mit Sandra verfahren würde, von der ich nicht viel Dankbarkeit erwartete, war natürlich eine andere Frage, aber mir würde schon eine Lösung einfallen. Im Zweifel konnte ich bestimmt auf Karmons Hilfe vertrauen. Wie immer. Fürs Erste gab es ohnehin nicht ein anderes Individuum, um das ich mich kümmern musste.

„Nicht nur meine Freunde scheinen überlebt zu haben“, ergänzte ich, während ich mich dem reglosen, aber atmenden Kollom vorsichtig näherte. Meinen Streit mit Any hob ich mir für einen späteren Zeitpunkt auf. Immerhin lag vor mir einer der Hauptgründe für meine Reise nach Deovan. Wie ein unheilvoller Schatten beugte ich mich über Kollom und spürte ein verlockendes Kribbeln in meinem Waffenarm.

Es wäre so einfach, ihm das Licht auszuknipsen, doch Bewusstlose zu töten, war selbst unter meiner Würde und es machte auch keinen Spaß. Stattdessen gab ich Kollom einen kräftigen Tritt gegen seinen dreckigen Anzug, ungefähr dort, wo ich die Nieren vermutete.

Der Bastard zuckte und ächzte. „Was …?“, fragte er verwirrt.

„Die Inkasso-Abteilung, Arschloch. Ich habe Schulden einzutreiben!“, sagte ich hart.

Kollom setzte sich auf und sah mich an. In seinen Augen war kein Wiedererkennen. Nur Verwirrung und Ratlosigkeit.

„Wer … sind Sie?“, fragte er.

„Netter Versuch, du Pisser!“, sagte ich, „ich würde vorschlagen, du denkst etwas angestrengter nach. Ich hab ein paar Stichworte für dich. Uranor. Verrat. Und ein fucking Amulett!“

Bei jedem dieser Worte gab ich ihm einen weiteren Tritt, woraufhin er ängstlich vor mir zurückwich. „Uranor?“, stotterte er verwirrt, „ich bin aus Deovan … ich … ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Er sagt die Wahrheit“, wandte Any ein, „seine Seelentafel ist völlig zersplittert. Fast alle seine Erinnerungen sind dahin. Er ist ein unbeschriebenes Blatt. Nicht mehr.“

Ich wollte Any der Lüge bezichtigen, ihr unterstellen, dass sie Kollom nur beschützen wollte. Aber ich wusste, dass das albern wäre. Diese Frau hatte sich bislang nicht durch übergroßes Mitleid oder einen Fetisch für Gnade ausgezeichnet. Wenn sie so etwas sagte, glaubte sie es auch. Und leider änderte das alles. Ich könnte Kolloms geistlose Hülle verprügeln, aber das wäre nicht viel befriedigender als Sex mit einer Gummipuppe und ebenso entwürdigend.

„Verdammt!“, sagte ich frustriert, „war ja klar, dass sich der Pisser am Ende aus der Affäre ziehen würde.“

„Was tun wir jetzt?“, fragte ich Any, „nach Sandra und Yonis suchen?“

„Nein“, sagte Any, „Das übernehme ich. Du musst weiterreisen, Fortgeschrittener.“

„Weiterreisen?“, fragte ich, „wohin und wie denn, ohne Katalog? Ich glaube kaum, dass Lavell ihn bei sich hatte. Und mein letzter Abstecher in die New Day-Zentrale war nicht gerade ein voller Erfolg gewesen.“

„Ich glaube auch nicht, dass er die Kataloge bei sich hatte“, sagte Any, „aber jemand anders besitzt noch einen Katalog.“

Sie deutete auf Kollom, der unserem Gespräch mit offensichtlicher Verwirrung lauschte, ohne auch nur ein Zehntel davon zu verstehen.

„Er?“, fragte ich zweifelnd, „Kollom ist ein Fortgeschrittener?’“

„Er war es“, korrigierte Any, woraufhin meine Pupillen sich noch mehr weiteten, „das erkläre ich dir ein anderes Mal. Wichtig ist nur, dass du weißt, dass er zwei Kataloge in seinem Koffer aufbewahrt. Einer davon wird dir wenig nützen, da er schon zu großen Teilen verbraucht ist. Doch der andere ist noch brandneu. Mit ihm kannst du dein nächste Zielgebiet ansteuern: Die Nadelwelten von Rihn. Dort, in den Archiven, arbeitet ein Mann namens Prongas. Er ist einer von meinen Freunden. Ein Momentum von Pendula, das dir viele Fragen beantworten und Gelegenheiten zeigen kann, um das Chaos im Multiversum einzuhegen. Chaos, wie es Sandra, Kollom und viele andere Zugrunde gerichtet hat. Chaos, wie es dir auf deinen Wegen vielfach begegnet ist. Zeig ihm das hier, und er wird dich erkennen.“

„Was zum Fick ist Pendula?“, fragte ich ratlos.

Doch Any antwortete nicht darauf. Sie griff nur an ihren Gürtel und reichte mir ein kleines, wie Perlmutt schillerndes, weißes Kristall-Pendel an einer goldenen Kette.

„Was kann es?“, fragte ich und strich ehrfürchtig mit dem Daumen über den kleinen Gegenstand, den man in dieser Form nicht in jedem Esoterik-Laden meiner Heimat bekommen würde.

„Vieles“, antwortete Any mysteriös, „es vereint zahlreiche meiner Fähigkeiten in abgeschwächter, aber immer noch mächtiger Form. Prongas kann dir mehr darüber erzählen und vielleicht auch ich, sobald wir uns wiedersehen. Alles, was du jetzt wissen musst, ist dass es Kolloms Manifestor öffnen kann. Und zwar so.“

Sie beschrieb eine langgezogene Spirale in der Luft, woraufhin sich Kolloms Koffer mit einem Klacken auftat und seine technologischen Eingeweide enthüllte.

„Du kennst das Prinzip?“, fragte sie mich, während ich auf den silbernen Koffer zuging, für den sich Kollom so wenig interessierte, dass es mich endgültig von seinem geistigen Tod überzeugte.

„Ich vermute schon“, sagte ich und beugte mich über den Manifestor.

„Gib mir die Kataloge!“, rief ich und kurz darauf manifestierten sich tatsächlich zwei Reisekataloge mit dem Logo von Endless Horizons auf dem Boden. Der eine laminiert und mit Goldrand, jedoch offenbar völlig zerlesen, der andere schmucklos, aber vollkommen neu.

Ich blätterte kurz in dem älteren und stellte fest, dass Any die Wahrheit gesagt hatte. Alles Seiten waren leer. Selbst jene, die nach Deovan folgte. Weiter traute ich mich nicht zu blättern, da ich wusste, welche Wirkung ein unabsichtlich gelesenes Wort haben konnte.

Wieder einen Katalog bei mir zu haben, selbst wenn es der eines anderen war, erfüllte mich mit einem aufgeregten Kribbeln, mit einem lange entbehrten Rausch, mit einer Sucht, deren zwischenzeitliche Abwesenheit ich vor allem meinen häufigen Körperwechseln zuschrieb. Trotzdem verstaute ich Kolloms alten Katalog in meinem Rucksack und nahm den neueren an mich.

„Jetzt muss ich los, Adrian“, hörte ich Any sagen, „der Vorsprung unserer Feinde ist schon jetzt viel zu groß. Ich wünsche dir immer den richtigen Takt. Bis wir uns wiedersehen.“

„Warte!“, bat ich sie noch, da mich all das noch immer ziemlich verwirrte und ich noch einige Fragen an sie hatte – nicht zuletzt zu ihrer Zusammenarbeit mit Lavell und diesem ominösen Pendula – , doch da hatte sie bereits eines ihrer Pendel genommen und sich damit wortwörtlich in Luft aufgelöst.

„Na toll!“, sagte ich zu mir selbst, „das hat mir auf meinem Weg noch gefehlt. Eine herrische Mentorin, die in Rätseln spricht und auftaucht und verschwindet, wie es ihr gefällt!“

Ich blickte zu Kollom, der selbstvergessen und leer in die Ferne starrte, ein Plüschtier auf dem Schoß, dem er nicht länger Beachtung schenkte, und der immer wieder hilflos in die Luft griff, so als hoffe er, so irgendeinen Sinn ergreifen zu können, den es nicht mehr gab.

Mein Blick wanderte weiter zu dem mir unbekannten Deovani-Techniker, den geröteten Soldaten, Vertragswächtern und Executioners und schließlich zu Karmon, der immer noch bewusstlos auf dem Boden lag. Mit dem Katalog in der Hand ging ich auf meinen alten Freund zu und streichelte ihm zärtlich über die harte, graue Haut. Dabei spürte ich Feuchtigkeit in meinen Augen und ein nagendes Unbehagen in meiner Seele.

Any hatte behauptet, dass er nicht mehr der wäre, den ich kannte, aber stimmte das auch? Klar, Karmon hatte sich schon merkwürdig verhalten, selbst nach seiner vermeintlichen Heilung durch Lavell. Doch zuletzt war er mir wieder ein guter Gefährte gewesen und er hatte mir mehrmals das Leben gerettet. Marnok hätte das nicht einmal in seinen wildesten Träumen getan. Andererseits hatte sich Lavell als nicht sonderlich vertrauenswürdig herausgestellt. Wer wusste schon, was er wirklich getan oder versucht hatte und ob Karmons angebliche Genesung nicht nur ein ausgeklügelter Trick gewesen war, um mich zu ködern?

Wenn ich sichergehen wollte, dass Marnok mich nie wieder belästigte, würde ich meinen Grong-Shin töten müssen. Jetzt, wo ich noch die Chance dazu hatte. Doch was, wenn es sich doch um Karmon handelte und ich damit erneut einen wertvollen Freund ermorden würde, so wie ich es schon einmal mit Korf getan hatte? Das würde meiner charakterlichen Entwicklung nicht wirklich Glaubhaftigkeit verleihen und mir nebenbei die verdammte Seele rausreißen.

Nein, ich würde ihm nichts tun. Auf keinen Fall. Doch ich konnte ihn auch nicht mitnehmen. Nicht einmal, wenn ich zu einhundert Prozent sicher wäre, dass es sich um meinen Grong-Shin handelte. Ich hatte nur einen Katalog und wir waren jetzt wieder zwei völlig getrennte Individuen. Fortan, so schien es, würde ich meinen Weg wieder allein beschreiten müssen. „Viel Glück, alter Freund. Vielleicht begegnen wir uns wieder“, flüsterte ich ihm zu und wandte mich dann schweren Herzen ab und meinem neuen Katalog zu.

Vorsichtig zählte ich die Katalogseiten ab, da ich wenig Lust verspürte, erneut in Anddradon, Konor oder dem zerstörten Uranor zu landen. Ich glaubte zwar nicht, dass ich diese Welten überhaupt ein zweites Mal besuchen könnte, aber ich wollte es nicht riskieren.

Schließlich gelangte ich zu der Katalogseite, auf der ich mein nächstes Ziel vermutete. Rihn, falls Any recht hatte. Die Heimatwelt von Pingo. Ob ich ihn und die Gesunderin dort wiedertreffen würde? Angestoßen von jener Frage, entstand eine ganze Kaskade davon in meinem Kopf. Hatte Pingo eine Heilung gefunden, oder würde er seinen Verstand an den Stein verloren haben? Was würde mir Anys Kontaktmann verraten und würde er mir wirklich helfen, oder mich nur für seine eigenen Zwecke missbrauchen? Wer zur Hölle war Pendula und was wollten sie genau? Welche Gefahren und dunklen Abgründe qualifizierten die Archivwelt dafür, in diesem tragbaren Gruselkabinett von einem Katalog genannt zu werden? Und vor allem: Was würden mir die gläsernen Archive über mich, meine Vergangenheit und meine Zukunft verraten?

All das würde ich wohl schneller herausfinden, als mir lieb war. Mutig öffnete ich die Augen, las das Wort, das tatsächlich „Rihn“ lautete und beendete meinen langen, kräftezehrenden Aufenthalt in Deovan.

~o~

„Warum haben Sie mich gerettet?“, fragte Sandra den Disruptor, nachdem er sie behutsam auf dem Boden abgesetzt und wieder seine humanoide Form angenommen hatte, „ich dachte, Sie halten nicht sonderlich viel von mir.“

„Das tue ich auch nicht“, stellte Yonis klar, „aber von Kollom habe ich recht viel gehalten und er war aus irgendeinem mysteriösen Grund fest von Ihren Talenten überzeugt. Also will ich Ihnen zumindest eine Chance geben. Bilden Sie sich aber nichts darauf ein. Sollten Sie sich als wertlos oder gar schädlich für Astrera erweisen, werde ich nicht zögern, Sie aus dem Weg zu räumen.“

„Und wie soll ich meinen Wert beweisen?“, fragte Sandra.

„Damit“, sagte Yonis und warf ihr einen Reisekatalog von Endless Horizons vor die Füße.

Sandra hob ihn auf. Es war ihrer.

„Mein Katalog“, sagte sie mit glänzenden Augen, „aber woher haben Sie …?“

„Von Lavell“, sagte Yonis, „der Idiot hatte ihn tatsächlich bei sich getragen. Sie werden damit an den nächsten, darin verzeichneten Ort reisen. Nach Rihn. Dort, in den Nadelwelten, tief in einer der stillgelegten Minen gibt es einen Stützpunkt von Astrera, wo man Sie anleiten wird. Hiermit können Sie ihn finden.“

Yonis reichte ihr ein Metallkärtchen, mit einer Art Display, auf dem ein roter Punkt und ein bunter Pfeil zu sehen waren.

„Sie werden nicht mitkommen?“, fragte Sandra.

„Nein“, sagte der Disruptor, „ich bin weder Ihr Mentor, noch Ihr Reiseführer. Außerdem habe ich hier noch etwas zu erledigen. Vielleicht werden wir uns wiedersehen und wenn Sie sich als würdig erweisen, werden Sie dieses Wiedersehen sogar überleben. Bis dahin werde ich Ihnen kein Glück wünschen, denn das Glück gibt nichts auf die Wünsche niederer Wesen.“

Mit diesen Worten verschwand Yonis und ließ Sandra allein zurück.

Sie war nicht wirklich traurig darüber. Im Grunde konnte die Situation für sie nicht besser sein. Sie war wieder frei. Kollom war aller Wahrscheinlichkeit nach tot, Yonis würde sich zumindest fürs Erste nicht für sie interessieren und selbst, wenn Adrian überleben und zum selben Ort wie sie reisen würde, würden sich ihre Wege nicht zwangsläufig wieder kreuzen müssen.

Ihr Hass auf ihn war nicht so groß, dass sie ihre Zeit weiter mit ihm verschwenden wollte. Es gab Wichtigeres zu tun, als irgendwelchen Racheplänen nachzujagen und Rihn war bestimmt groß genug, um eine Begegnung mit diesem Unglücksbringer zu vermeiden.

Auch sonst lagen die Dinge günstig. Ihre verborgene Macht war entfesselt und wuchs mit jeder Stunde und die Vorstellung, endlich wieder eine neue Welt zu entdecken, erfüllte ihr von Fernweh geplagtes Herz mit Euphorie. Zudem war Rihn der ideale Platz, um an ihrem Aufstieg zu arbeiten. Ein Ort voller Wissen, voller nützlicher Steingeweihte und obendrein die Heimat jener Organisation, von der Kollom und Yonis ihr erzählt hatten. Astrera. Sie wusste natürlich wenig, bis gar nichts über die Ziele dieser Organisation und sie hatte auch keine Lust für andere den Diener und Bückling zu machen, aber vielleicht konnte sie Astrera ja auch als Vehikel für ihre eigenen Zwecke nutzen. Sie hatte immerhin Erfahrung damit, in Hierarchien aufzusteigen.

Lächelnd wie ein Schulmädchen an seinem ersten Tag griff sie nach ihrem Katalog, schlug die entsprechende Seite auf und las das Wort. „Rihn“.

Doch nichts geschah. Die Welt löste sich nicht auf, veränderte sich nicht in eine neue, aufregende, unbekannte Umgebung. War der Katalog kaputt? Hatte Yonis ihr nur einen üblen Streich gespielt und ihr eine Attrappe ausgehändigt, um sich aus dem Schatten heraus über ihre Enttäuschung zu amüsieren?

„Mit deinem Katalog stimmt alles“, vernahm sie eine bekannte Stimme. Arnins Stimme, „ich habe lediglich deinen Zugang zum Zwischenraum blockiert. Du kannst diese Welt nicht verlassen, bevor du unsere Abmachung erfüllt hast. Du erinnerst dich vielleicht. Damals, in Kolloms Manifestor.“

„Fuck!!“, fluchte Sandra, „Du weißt doch, dass ich keinen Zugriff auf diesen verfluchten Zentralrechner habe.“

„Alleine nicht“, erklärte Arnin, „aber mit meiner Hilfe schon. Wir brauchen einander. In mehrerer Hinsicht. Begleite mich zum Rechner und führe meine Anweisungen genau aus und ich erlaube dir, Deovan zu verlassen. Haben wir einen Deal?“

Sandra hätte kotzen können. Hörten diese verdammten Verträge und Abmachungen denn niemals auf? Gleichwohl wusste natürlich, dass sie keine wirkliche Alternative hatte. Diesen Ort hatte sie inzwischen endgültig satt und allein die Vorstellung hier noch länger als ein paar Stunden gefangen zu sein, widerte sie an. „Einverstanden“, stimmte sie säuerlich zu.

„Gut“, meinte Arnin, „ich erwarte dich am Nebenausgang.“

„Mich erwarten?“, fragte Sandra verwirrt, „du bist nichts weiter als eine nervige Stimme aus der Maschine. Wie willst du mich irgendwo erwarten? Und von welchem Nebenausgang faselst du überhaupt?“

Kaum, da sie diese Frage gestellt hatte, öffnete sich ein rechteckiger Ausschnitt mitten in der Wand vor ihr. Darin stand eine Gestalt. Eine humanoide Metallgestalt. Ein silberner Roboter mit Kopf, Armen und Beinen, aber ohne Augen oder Mund, der ihr noch bedrohlicher erschien, als die gnadenlosen Kampfmaschinen aus den Terminator-Filmen.

„Hallo Sandra“, sagte das mundlose Ding mit Arnins samtiger Stimme, „bist du bereit?“

~o~

Sandras gute Laune war schon merklich gesunken, als sie sich als unfreiwilliges Kindermädchen für diesen Androiden wiedergefunden hatte, doch was sie draußen sah, machte es nicht besser. Deovan hatte sich völlig verändert. Die ohnehin schon trostlosen, kalten Straßen waren noch grauer und kälter geworden, so als hätte jemand die Farbsättigung und Farbtemperatur der Realität verringert. Die Farben waren noch da, aber sie wirkten kraftlos und matt. Doch das war längst nicht alles. Sie hörte auch Schüsse, Schreie, nahm Brandgeruch und das ferne Donnern von Explosionen wahr.

„Was ist hier passiert?“, fragte Arnin.

„Oh, das ist witzig“, sagte der Whe-Ann, „Kartellwächter Navin hielt es offenbar für eine gute Idee, für ein wenig Chaos und Revolution zu sorgen. Nicht unbedingt notwendig, wenn du mich fragst, aber zweifelsohne unterhaltsam. Auch wenn es unser Vorhaben nicht unbedingt erleichtert.“

„Wie genau sieht denn dieses Vorhaben aus?“, wollte Sandra wissen.

„Wie gesagt“, antwortete Arnin, „Du wirst mir helfen, mich mit dem Zentralrechner Deovans zu verbinden. Sein direktes Umfeld ist gegen elektronische Zugriffe gesichert, was auch meinen schicken Körper hier betrifft. Aber als biologisches Wesen kannst du die Sicherung entriegeln. Ich kenne die Codes dafür. Außerdem musst du mir vielleicht einige Unannehmlichkeiten vom Leib halten. Es könnte einige Deovani geben, die nicht so begeistert über meinen Vorstoß sind.“

„Wo befindet sich dieser Rechner?“, fragte Sandra.

„In den Endmärkten“, sagte Arnin.

„Also am anderen Ende der Stadt?“, versicherte sich Sandra ungläubig.

„Genau“, sagte Arnin, „aber das bekommen wir schon hin. Sobald wir dort sind, musst du auch noch ein paar Besorgungen für mich machen.“

„Ich soll für dich einkaufen?“, zischte Sandra wütend, „vergiss es!“

„Ich glaube, du hast die Lage nicht ganz durchdrungen“, antwortete Arnin fröhlich, „du wirst absolut alles tun, was ich will. Andernfalls wirst du für immer hier in dieser schönen Welt bleiben und mit meiner freundlichen Unterstützung auch ratzfatz im Invisible Land landen. Begreifst du das?“

„Ja, Arschloch!“, sagte Sandra frustriert.

„Wir werden sicher noch gute Freunde“, bemerkte Arnin und auch wenn sein metallisches Gesicht das nicht abbilden konnte, hörte sie ein verschmitztes Lächeln aus seiner Stimme heraus. Sandra verabscheute es.

~o~

Auch wenn sie Arnins Gesellschaft nicht sonderlich schätzte, erwies sie sich immerhin als vorteilhaft. Denn auch wenn die Straßen von Deovan mehr und mehr im Chaos versanken. Auch wenn die Stadt gefüllt war mit brennenden und rasenden Fahrzeugen. Auch wenn sie praktisch überlief von flüchtenden und zum Teil übel zugerichteten Nehmern und Gebern und ziemlich angepissten, bewaffneten Have-Nons, die sich erbitterte Gefechte mit privaten Sicherheitsleuten lieferten, wagte es dank des Androiden keiner, sich ihnen zu nähern. Nicht einmal jene bedauernswerten Gestalten, die man kaum noch als humanoid erkennen konnte. Schlurfende, von Missbildungen übersäte Abnormitäten, die Arnin jedoch als gewöhnliche Deovani identifiziert hatte, die Opfer einer Waffe namens „Genetic-Disorder-Bombs“ geworden waren.

„Warum sind die so sauer?“, fragte Sandra mit Blick auf die Have-Nons, die sich trotz ihrer offensichtlichen Unterlegenheit todesmutig ins Gefecht stürzten und deren Körper sich auf den grauen Straßen schon zu wahren Leichenbergen aufstapelten, „ich meine, sie haben natürlich allen Grund dazu, aber bisher haben sie ja auch den Ball flachgehalten. Von Revolutionen habe ich zumindest noch nichts gehört.“

„Jemand muss ihnen so große Angst gemacht haben, dass stillhalten keine Alternative mehr ist“, meinte Arnin, „Leute können noch so unterwürfig sein: Sie beugen sich den Verhältnissen nur so lange, wie sie ihnen etwas besser erscheinen, als der Tod. Sind sie das nicht mehr oder sehen sie den Tod ohnehin nahen, gehen sie jedes Risiko ein. Das würde jeder so machen. Auch du oder ich.“

„Jemand?“, fragte Sandra, „Du meinst, das wurde alles geplant von Kartellwächter Navin? Aber warum?“

„Er wird seine Gründe haben“, meinte Arnin, „immerhin kommt auch er aus ärmlichen Verhältnissen. Aber über seine Motive will ich nicht weiter spekulieren. Es reicht mir, dass seine Beteiligung praktisch offensichtlich ist. Dieses arme Lumpenpack wird die brennenden Konzerngebäude, die wir gesehen haben, jedenfalls nicht selbst angezündet haben. Auch für die entstellten Deovani sind sie garantiert nicht verantwortlich. Und die Barrieren zwischen den Märkten haben sie schon gar nicht eingerissen.

Wir sind jetzt ziemlich am Ende der Mittelmärkte. Wir hätten schon durch zwei Checkpoints gehen müssen, aber die wurden entweder deaktiviert oder zerstört. Für beides braucht es die entsprechenden Mittel. Versteh mich nicht falsch: Die Wut dieser Leute ist echt, verdammt echt. Aber jemand hat alle Dämme eingerissen, die den aufgestauten Druck zurückhielten und Navin wäre dabei der naheliegendste Kandidat.“

Sandra hatte Arnins Erklärungen zwar verfolgt, jedoch nur mit einem Ohr. Gleichzeitig hatte sie ihr Glück mit der Kontrolle der mutierten Deovani versucht. Leider mit nur mäßigem Erfolg. Sie konnte sie lediglich zum Innehalten bewegen, jedoch nicht dazu, sich ihrem Willen zu beugen. Was immer diese Waffe mit ihnen angestellt hatte, ihr IQ war noch nicht niedrig genug, um Sandra den vollen Zugriff auf ihr zentrales Nervensystem zu ermöglichen. Schade, dachte sie, beschloss jedoch nicht aufzugeben. Ihre Macht würde wachsen. Vielleicht würde sie ja auch bald dafür ausreichen, Arnins dämliche Blockade zu sprengen.

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie bei den Endmärkten angekommen waren. Und diese entsprachen in vielen Punkten ziemlich genau dem, was sie erwartet hatte. Das begann damit, dass sie wirklich einem Marktplatz ähnelten. In den Hochmärkten und den Mittelmärkten hatte sie keine Marktstände und nicht einmal viele Geschäfte gesehen. Während die Hochmärkte vor allem von luxuriösen Prachtanwesen und Konzerngebäuden dominiert worden waren, hatten sich die Mittelmärkte durch eine hohe Dichte von ordentlichen, aber gleichförmigen Wohnhäusern ausgezeichnet. Falls es hier Märkte im engeren Sinne gab, befanden die sich in anderen Vierteln als in jenen, durch die sie gekommen waren.

Die Endmärkte hingegen, ähnelten einer wilden Mischung aus einem orientalischen Basar, einem römischen Marktplatz, der Kulisse eines Cyberpunk-Films und einem großen Eimer Erbrochenem. Eine chaotische Ansammlung von Metallkäfigen, klapprigen Marktständen. Von mit Selbstschussanlagen gesicherten und mit Waren vollgestopften Löchern im Boden, zu Geschäften umfunktionierten Autos und sogar Fluggeräten, die knapp über ihren Köpfen kreisten und Werbebotschaften auf digitalen oder selbstgemalten Anzeigetafeln präsentierten oder diese gleich lauthals durcheinander schrien. An den Rändern dieses dystopischen Wildwuchses drängten sich eng stehende Wohnverschläge und winzige Läden mit schummriger Beleuchtung und teils unkonventionellen, Tiermäulern nachempfundenen Eingängen. Manche dieser bizarren Bauten hatten auch durchdesignte Logos oder klangvolle Namen, doch viele schienen mehr durch ihre Waren glänzen zu wollen.

Diese Waren bestanden aus Nahrungsmitteln, Baustoffen, Chemikalien, technologischen Ersatzteilen, exotischen Tieren und Pflanzen, seltsamen Pülverchen, gefesselten Sklaven, mehr oder weniger gut gekühlten Organen, schäbigen Androiden und vielem, vielem mehr.

Eines fehlte jedoch in dieser sinnesverwirrenden Kakofonie. Die Marktteilnehmer. Weder Kunden noch Händler waren hier zu erblicken und die Sklaven und Tiere in ihren Käfigen schienen die einzigen Lebewesen zu sein.

„Falls ich hier irgendetwas für dich kaufen soll, habe ich schlechte Karten“, bemerkte Sandra.

„Normalerweise herrscht hier das blühende Leben. Sie werden sich wegen der Unruhen in den Untergrund verzogen haben“, vermutete Arnin.

„Oder sie haben sich ich der Revolte angeschlossen“, gab Sandra zu bedenken.

„Das glaube ich nicht“, sagte Arnin, „die meisten Have-Nons sind hier nur Ware, keine Kunden und selbst wenn du recht hättest, würde es hier von Leichen nur so wimmeln. Dieser Ort mag zwar heruntergekommen aussehen, aber die Nehmer und die besser gestellten Geber sind hier regelmäßig auf der Jagd nach Schnäppchen und exotischen Produkten. Das wäre höchstens ein Kampfschauplatz, keine Widerstandszelle.“

„Aber warum sollten sie ihre Stände alleinlassen?“, fragte sie.

„Weil hier niemand etwas stiehlt“, meinte Arnin, „die Vertragswächter ahnden Eigentumsdelikte mit Tod, Verstümmelung und grausamster Folter. Doch das ist nur selten nötig. Ein Deovani bildet sich etwas darauf ein, sich alles, was er besitzt, ehrlich selbst zu arbeiten. Nun, zumindest, bis er eine gewisse Stellung erreicht hat. Gewöhnlicher Diebstahl ist hier jedenfalls sehr selten. Aber wer es sich leisten kann, hat natürlich trotzdem Sicherheitsanlagen. Vor allem, wegen ausländischer Besucher. Aber die Laden- und Standbesitzer werden ihr Eigentum sicher im Blick behalten, von irgendeinem der unterirdischen Gänge aus. Ich denke jedenfalls nicht, dass sie alle fort sind. Wir sollten unser Glück vielleicht in einem der stationären Läden versuchen.“

„Unser Glück womit?“, fragte Sandra.

„Mit Soul-Companions“, erklärte Arnin, „flauschige Wegbegleiter, in denen das Bewusstsein bedauernswerter Deovani und anderer Kreaturen gespeichert ist. Tragisch, aber nützlich für das, was ich vorhabe.“

„Und was genau wäre das?“, fragte Sandra.

„Das, meine Teure, geht dich einen gepflegten Scheiß an“, gab Arnin charmant zurück.

„Wie du meinst, Blechbüchse“, sagte Sandra schulterzuckend, „solange es mich nicht betrifft, soll es mir egal sein. Aber wie viele von diesen Dingern brauchst du?“

„Fünfzig sollten für den Anfang reichen“, erwiderte Arnin, „aber je mehr, desto besser.“

~o~

Sandra und Arnin entschieden sich schließlich für einen Laden mit dem klangvollen Namen, „Cudly Capital“, in dessen Leuchtreklame sich gleich mehrere digitale Abbilder jener beseelten Kuscheltiere tanzend um den knalligen Schriftzug des Logos bewegten. Die Tür des Ladens stand wie erhofft offen und als sie eintraten, erklang ein altmodisches Klingelgeräusch, so als würde es sich um eine gewöhnliche Modeboutique auf der Erde handeln.

Was sie jedoch am Ende der Treppe erblickten, die zu den Verkaufsräumen führten, erinnerte eher an den Bastelkeller eines Psychopathen. Ein dreckiger, mit schmutzigen, blauen Fliesen versehener Raum, ausgestattet mit diversen Operationstischen, in dem es durchdringend nach Körpersäften und Desinfektionsmitteln stank.

„Hallo, jemand zu Hause?“, fragte Sandra, die sich in dieser Umgebung nicht allzu wohl fühlte. Sie hatte vor wenigen Dingen Angst, aber Krankenhäuser und Operationen gehörten dazu. Die Vorstellung, benebelt auf einem dieser Tische zu liegen und erdulden zu müssen, was auch immer sich irgendein irrer Bastard für sie ausgedacht hatte, behagte ihr nicht.

„Für Dominanten ja, für Have-Nons und Marodeure, nein“, erklangt die kratzige Antwort aus einer schlecht beleuchteten Ecke des Raumes.

„Wenn Sie letztere erwarten, sollten Sie besser gar nicht erst antworten, oder?“, konnte sich Sandra eine spitze Bemerkung nicht verkneifen.

„Wir haben Dominanten“, ergänzte Arnin, „wenn Sie Soul-Companions für uns haben.“

Plötzlich wurde ein Licht eingeschaltet. Die schummrige Beleuchtung wich einer fast schon behaglichen. Sie offenbarte gut gefüllte, saubere Regale mit Stofftieren, die im krassen Gegensatz zum Hinterzimmer-Pfuscher-Look des restlichen Raumes standen. Außerdem enthüllte sie einen Deovani mittleren Alters im Kostüm eines an einen stacheligen Hamster erinnernden Säugetiers. Trotz dieser albernen Verkleidung wirkte der Mann eher bedrohlich und gefährlich als lächerlich.

„Für Kybernetische hab ich hier gar nichts. Außer Hausverbot, wenn Sie nicht Ihre Klappe halten. Aber für die werte Geberin … wer weiß. Sie sind doch eine Geberin, oder? Eine von denen, die auch noch was zu geben haben, womöglich?“, fragte der Mann.

Sandra nickte und beschloss in die Offensive zu gehen. „Der da spielt keine Rolle. Er ist nur mein Banktresor“, sagte Sandra, „einer, der mich verteidigen kann, wenn man mich bescheißt. Ich hoffe also, Sie haben das nicht vor.“

„Niemals, schöne Geberin“, sagte der Mann gespielt anzüglich grinsend, jedoch ohne jedes echte, sexuelle Begehren. Gerade das gab Sandra ein mulmiges Gefühl. Triebtäter und Perverse konnte man wenigstens einschätzen. Diesen Typen jedoch …

„Gut“, sagte Sandra, „dann bräuchte ich fünfzig ihrer Soul Companions.“

„Alle Achtung!“, antwortete der Mann, „Das ist eine Menge Seelenarbeit, die Sie da haben wollen. Fast mein gesamter Bestand.“

„Aber Sie verkaufen sie doch, oder?“, hakte Sandra nach.

„Klaro doch!“, antwortete der Mann, „für den richtigen Preis.“

„Und der wäre?“, erkundigte sich Sandra.

„Lassen Sie mich überlegen“, sagte der Mann und schmatze laut, während er sein Kostüm zurechtrückte, „ach ja, der reguläre Preis liegt bei zehntausend Dominanten das Stück.“

Selbst Sandra erkannte, dass das ein mehr als stolzer Preis war. Sie wechselte einen raschen Blick mit Arnin. Er nickte.

„Deal“, sagte sie und streckte ihre Hand aus, „packen sie uns fünfzig Stück für 500.000 ein.“

„Nicht so schnell, meine Liebe“, entgegnete der Verkäufer, „ich nannte nur den regulären Preis. Wissen Sie, das ist hier alles echte Handarbeit. Ich bin ein stolzer Kleinunternehmer und keiner von diesen Buden, die nach der Pfeife von Monument tanzen. Außerdem bin der einzige Verkäufer, den sie gerade hier finden werden und der irre genug ist, sich bei diesen Unruhen zu zeigen. Ich habe quasi eine temporäre Monopolstellung. Ich würde also sagen, für Sie kosten sie heute 2.000.000 das Stück.“

„Das ist absoluter Wucher!“, erwiderte Sandra, „Wir könnten uns für weniger Geld auch einfach eine Armee anheuern und den Kram draußen auf dem Markt stehlen.“

„Dann viel Erfolg mit den Selbstschussanlagen“, antwortete der Verkäufer kichernd, „oder damit, bei dem Chaos jemanden zu finden, der für sie kämpft oder gar stiehlt. Aber ich will mal nicht so sein. 1.000.000 das Stück und ich lege auch noch zehn von meinen ‚Cudly Soul Cages‘ drauf.“

„Was zur Hölle ist das?“, fragte ich.

„Gorfon!“, rief der Mann und plötzlich öffnete sich in der Wand eine Tür und ein Mann mit Nadeln rund um die Augen und modifizierten Armen, die in Metallspitzen endeten, die man offensichtlich ohne viel Sinn für Ästhetik und Symmetrie anstelle von Händen dort implantiert hatte, trottete herein. Seine Haut war größtenteils mit rotem Fell bedeckt, jedoch nicht von Natur aus. Vielmehr handelte es sich um Kunstfell, das ihm jemand so großflächig, wie schlampig auf die gerötete Haut appliziert hatte. Der Blick des Mannes war abwesend und verklärt.

„Mein Gott“, entfuhr es Sandra.

„Das ist ‘ne Eigenentwicklung“, erklärte der Verkäufer, „hat sonst keiner. Man muss nur ein bisschen schnippeln, die Nadeln richtig setzen und ein paar Mittelchen verwenden, schon hat man diese einzigartigen Schätzchen. Sprechen können sie nicht und sie sind nicht besonders helle, aber folgsam wie Scheiße und super verkuschelt gegenüber ihrem Besitzer. Wenn man es ihnen aber befiehlt, können sie gut zustechen. Selbst durch härtestes Metall dank meiner Speziallegierung.“

Der Blick des Mannes wanderte sicher nicht aus purem Zufall zu Arnin.

„Was ist nun?“, fragte der Verkäufer etwas ungeduldig, „zahlen Sie meinen Preis oder haben Sie doch nichts zu geben?“

„Einen Moment“, antwortete Sandra, „ich muss kurz meinen Kontostand überprüfen.“

Der Verkäufer nickte und Sandra wandte sich zu Arnin um.

„Hast du genügend Geld dafür?“, fragte sie ihn flüsternd.

„Nicht annähernd“, sagte Arnin, „die Finanzsysteme von Deovan sind zu gut geschützt. Ich konnte gerade einmal eine Million Dominanten von schlecht geschützten Konten akquirieren.“

„Also gehen wir einfach und vergessen die Sache?“, fragte Sandra.

„Auf keinen Fall“, entgegnete Arnin, „wir werden diese Companions stehlen.“

„Niemals“, sagte Sandra, „ich beklaue keinen Wahnsinnigen. Wenn der uns erwischt, ende ich selbst als verstümmelte Trophäe.“

„Das wirst du ohnehin, wenn du in Deovan bleibst“, drohte Arnin, „du bekommst in dieser Welt auch dann keinen Fuß mehr in die Tür, wenn sie nicht kollabieren sollte. Dafür werde ich sorgen, falls du nicht kooperierst. Und irgendwann wird dich die Gosse auf einen noch dreckigeren OP-Tisch eines noch irreren Zeitgenossen führen. Wenn du das nicht willst, dann hilf mir!“

„Mieses Dreckschwein“, murmelte Sandra so, dass Arnin es hören musste. Aber die Beleidigung schien ihn nicht zu kümmern.

„Und wie wollen wir den Hamstermann beklauen?“, fügte Sandra mürrisch hinzu.

„Ganz einfach: Du schaltest den Verkäufer aus und schnappst dir die Companions. Ich kümmere mich um den Verstümmelten“, antwortete Arnin.

„Das dauert aber ganz schön lange!“, hörte Sandra den Verkäufer meckern, bevor sie Arnin sagen konnte, wie wenig sie von seinem sogenannten Plan hielt. Sie drehte sich zu dem Verkäufer um.

„Wir nehmen sie“, improvisierte Sandra.

„Wunderbar“, sagte der Verkäufer lächelnd, „dann würde ich um die Zahlung bitten.“

„Natürlich, mein Androide wird das für mich erledigen“, sagte Sandra und als der Blick des Verkäufers sich für einen kurzen Moment Arnin zuwandte, rannte sie los und packte den Mann in einer pfeilschnellen Bewegung am Hals, um ihm die Kehle zuzudrücken. Nun, das war zumindest ihr Plan gewesen, aber ein heftiger Stromstoß, der sie mehrere Meter zurückschleuderte, machte ihn zunichte. Sandra spürte ein unangenehmes Stechen und Kribbeln auf ihrer Haut, ihre Muskeln verkrampften sich und in ihrem gesamten Körper und ihr Herz schlug in einem sprunghaften, ungesunden Rhythmus.

„Wie schade“, sagte der Mann, „wissen sie, ich bemühe mich wirklich, mir keine Vorurteile anzugewöhnen, aber es zeigt sich immer wieder, dass Nicht-Deovani keine Geschäftsehre besitzen. Meine Landsleute haben noch nie Bekanntschaft mit meinem hochstatischen Anzug machen müssen, nicht einmal, wenn sie kurz vor dem Verhungern waren. Aber keine Sorge, er wird sie nur lähmen, nicht töten. Ich würde mir doch nie die Gelegenheit entgehen lassen, neue ‚Cuddly Soul Cages‘ anzufertigen. Normalerweise müsste ich dazu erst einen Antrag bei den Vertragswächtern stellen, aber da die gerade fast nirgendwo zu sehen sind, werde ich das ausnahmsweise unbürokratisch regeln.“

Sandra, die allein ihre Augen bewegen konnte, hörte lediglich, dass sich Arnin offenbar im Kampf mit dem Gorfin genannten ‚Cudly Soul Cage‘ befand. Er wird ihn besiegen, machte sie sich Mut, und dann wird er mich retten. Es war nicht so, dass sie viel Vertrauen in Arnin hatte, aber wenn man gänzlich handlungsfähig war, war Optimismus eine äußerst gesunde Einstellung.

„Hun, Jorka, Nevvin, Trix, Kinra, Tebben, schafft mir diesen Schrotthaufen vom Hals. Ich möchte ungestört mit unserer hübschen Diebin sein“, sagte der Verkäufer und Sandra hörte, wie die Tür aufging und weitere seiner Diener den Laden betraten.

„Das sind zu viele“, hörte sie Arnin sagen, „Sandra, ich brauche deine Hilfe!“

„Offenbar ist ihr Android beschädigt“, kommentierte der Verkäufer lachend, „andernfalls würde er vielleicht verstehen, dass Sie rein gar nichts tun können.“

War das so? Überlegte Sandra. Immerhin hatte das Arschloch davon gesprochen, dass seine Schöpfungen eher minderbemittelt waren. Zwar konnte sie ihnen keine verbalen Befehle erteilen, da auch die dafür nötigen Muskeln ihr nicht gehorchten, aber vielleicht war das auch nicht nötig. Sie konzentrierte sich, stellte sich die missratenen Plüschbestien genau vor und malte sich aus, wie sie sich auf den Ladenbesitzer stürzen und ihn in Fetzen reißen würden. Zunächst geschah nichts. Dann jedoch bemerkte sie, wie der Verkäufer sein überhebliches Grinsen verlor.

„Nein, das kann doch nicht …“, stotterte er, während sich seine mit Kunstfell bedeckten Kreaturen nun auf ihn zubewegten.

Der Verkäufer wich zurück und sah sich nach einem Fluchtweg um. Er fand keinen. „Ihr seid meine Schöpfungen. Meine Kinder … ihr müsst mir gehorchen“, versuchte er sie zu ermahnen.

„Gehorsam ist ein Schwert, das man auch umdrehen kann“, bemerkte Arnin süffisant. Dann stachen die angespitzten Arme der „Cuddly Soul Cages“ in den Körper des Verkäufers, begleitet von statischer Elektrizität, die wirkungslos an den Waffen der Kreaturen abglitt.

Als der Mann nur noch ein Haufen blutiges Mett in einem durchlöcherten Kostüm war, gab Sandra den „Soul Cages“ einen neuen, stummen Befehl. Sie befolgten ihn, drehten sich um und stachen aufeinander sein, bis sie allesamt verblutend am Boden lagen. Sandra war fest davon überzeugt, ihnen damit etwas Gutes getan zu haben.

„Toll gemacht“, lobte Arnin, „du bist sogar noch nützlich, wenn du nutzlos bist.“

Arnin lachte kurz auf. Dann ging er zur Verkaufstheke, wo er mehrere Plastiktüten hervorholte und dann zum Regal mit den Soul Companions. Nach und nach stopfte er sich die kleinen, säugetierähnlichen, vogelartigen und reptilienhaften Geschöpfe in die Tüten und schlang sich die Bündel über seine linke Schulter, sodass er aussah, wie jemand, der sich beim Einkaufsbummel übernommen hatte. Dann ging er zu Sandra.

„Ich hoffe, dass sich die Lähmung bald verflüchtigt“, sagte er, „denn ich brauche dich noch immer.“

Sandra spürte, wie sich die Arme des Androiden unter ihren reglosen Körper schoben und sie hochgehoben wurde.

Dann spazierte Arnin mit ihr aus dem Laden heraus.

~o~

Arnin hatte Sandra freundlicherweise so abgelegt, dass sie den Zentralrechner gut einsehen konnte. Das riesige, ovale Gerät, welches entfernt an ein Ei erinnerte, lag in einer Senke verborgen und mehrere Kabel führten von dort ins Erdreich. Auch wenn sich der Whe-Ann dem Gerät nicht weiter näherte, als auf zehn Meter, stellte er die beseelten Plüschtiere in ebenjener Entfernung im Kreis um den Computer herum auf, sodass es ein wenig aussah, als bereite Arnin ein okkultes Ritual vor. Und vielleicht war das gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt.

Sandra fühlte sich ziemlich unwohl. Zwar war bislang noch keine weitere Bedrohung am blassen Horizont aufgetaucht. Aber diese veränderte Welt mit ihren verfälschten Farben und die unheimliche Stille machten ihr genauso zu schaffen, wie die unheilvolle Aura und das seltsame Verhalten des Whe-Ann sowie die Tatsache, dass sie nicht wusste, welche Pläne er wirklich verfolgte. Sie hatte zwar zu ihm gesagt, dass sie das nicht interessierte, solange es sie nicht betraf, aber wer sagte ihr denn, dass er sie mit dem, was er vorhatte, nicht doch in Mitleidenschaft ziehen würde?

„Spürst du schon eine Verbesserung?“, hörte sie Arnin fragen.

Tatsächlich ging es Sandra sogar wieder vollkommen gut. Wann immer Arnin nicht hingesehen hatte, hatte sie versucht ihre Glieder zu bewegen und festgestellt, dass sie wieder voll bewegungsfähig war. Doch das musste Arnin ja nicht wissen. Noch nicht.

„Ein wenig“, sagte sie absichtlich etwas undeutlich, sodass sie klang, wie eine Zahnarztpatientin, deren Betäubung noch nicht abgeklungen war.

„Wunderbar“, sagte Arnin, „immerhin können wir uns unterhalten. Und sobald du wieder den Rest deines Körpers kontrollieren kannst, können wir die Magie in Gang setzen.“

„Die Magie, von der du mir immer noch nichts erzählen willst?“, fragte Sandra.

Arnin sah sie nachdenklich an. Das konnte sie am ausdruckslosen Gesicht des Androiden natürlich nicht ablesen, aber sie meinte, es zu spüren.

„Ich glaube, ich werde es dir erzählen“, sagte Arnin überraschend, „du hast einen wirklich mächtigen Geist, Sandra. Ich denke, du kannst damit umgehen. Ich plane eine Neubesiedlung des digitalen Kosmos. Seine Kolonisation mit intelligentem, bewussten Leben.“

„Mit dir und diesen knuddeligen Teddybären?“, fragte Sandra amüsiert.

„Mit mir und diesen eingesperrten Seelen, ja. Aber nicht nur mit ihnen. Wir werden nach weiteren Bürgern für diesen Lebensraum. Nach verschollenen Freunden und weiteren Freiwilligen, die ihren Körpern entsagen wollen. Sie alle können dort eine neue Heimat finden. Und du natürlich auch.“

„Ich?“, fragte Sandra entsetzt. Sie hatte jede Minute in Kolloms Manifestor gehasst. Allein die Vorstellung, erneut digitalisiert zu werden, bereitete ihr Albträume.

„Ja, wir können dich sehr gut gebrauchen. Eine Frau, die zu führen weiß. Jemand mit einem starken Willen und dem Wunsch nach Herrschaft. Das wäre doch reizvoll, oder nicht? Eine Welt ohne Grenzen, ohne Altern, ohne die Fesseln der Biologie. Und vor allem eine Welt, die der physikalischen längst übergeordnet ist. Wer immer dort den Thron besteigt, wird herrschen. Die Biologischen müssten uns dienen. Die Planeten der Stofflichen wären unser Spielplatz, während wir glücklich und ewig durch einen sauberen Kosmos aus Logik und reinem Bewusstsein lustwandeln, umgeben von unverfälschter, unbegrenzter Musik“, schwärmte Arnin.

Sandra konnte der Vorstellung nicht viel abgewinnen. Sie schätzte den Schmutz, den Schweiß, die irdischen Genüsse und die Erfahrung ihrer unvollkommenen Sinne. Vor allem aber hatte sie ganz bestimmt keine Lust, unter Arnins Kommando zu „herrschen“.

„Nein, Danke. Ich verzichte!“, sagte Sandra.

„Wie schade“, sagte Arnin, „aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich zwinge niemanden und ich bin ein äußerst geduldiges Wesen. Andernfalls hätte ich es dir auch übel genommen, dass du deine zurückgekehrte Mobilität vor mir verheimlicht hast.“

Sandras Augen weiteten sich.

„Wie gesagt“, meinte Arnin, „mach dir keine Sorgen. Unser Deal bleibt bestehen. Du aktivierst den Rechner und kannst dann mit deinem Katalog alle Zellen dieses schmutzigen Gefängnisses besuchen, das sie Multiversum nennen, die du nur willst. Doch falls du es dir anders überlegen solltest: Noch steht die Tür offen.“

Vorsichtig stand Sandra auf. Sie fühlte sich noch immer etwas unsicher, aber dennoch gelang es ihr, würdevoll in die Höhe zu kommen.

„Was genau soll ich tun?“, fragte sie mit einem Blick auf Arnins gesichtsloses Gesicht.

„Du musst einfach nur nah genug an den Rechner heran. Genau in der Mitte, wo der Kontrollbildschirm ist“, sagte dieser, „alle weiteren Anweisungen erhältst du dann von mir.“

Sandra zögerte noch einen Moment. Sie hatte das Gefühl, dass das hier ein verdammt großer Fehler sein könnte. Ja, vielleicht sogar der Beginn einer von jenen Katastrophen, bei denen man sich Jahre später fragte, warum man sie nicht verhindert hatte. Andererseits waren schon viele Möchtegern-Diktatoren an ihren überhöhten Ambitionen gescheitert und immerhin wusste sie ja um Arnins Pläne. Falls sie Astrera tatsächlich aufsuchen sollte, könnte sie ihnen davon berichten und vielleicht könnten sie Arnins Größenwahn ja einhegen. Jetzt und hier war sie aber dummerweise auf Arnins Kooperation angewiesen. Diese Welt war ein kaputtes, elendiges Drecksloch, das ausnahmsweise mal nicht Adrian allein zerstört hatte und sie wollte um keinen Preis hierbleiben. Für Heldentaten waren andere da.

„Damit das klar ist: Wenn du deinen Teil der Abmachung nicht erfüllst, sobald du dort drin bist, schlage ich den Computer in kleine, mundgerechte Stücke“, drohte Sandra, „nach allem, was ich weiß, bin ich dazu durchaus imstande.“

„Etwas anderes würde ich auch gar nicht von dir erwarten“, sagte Arnin kichernd, „aber ich würde mich auch dann an unsere Abmachung halten, wenn ich es nicht täte. Jetzt aber würde ich empfehlen, dass du dich beeilst. Umso schneller sind wir beide an unserem Ziel.“

Sandra nickte und ging auf den Kontrollbildschirm zu, der vollkommen schwarz vor ihr lag.

„Sieht ziemlich tot aus“, meinte Sandra, „vielleicht haben die Marodeure ihn schon geschrottet.“

„Berühre ihn mit beiden Daumen“, sagte Arnin.

Sandra gehorchte. Tatsächlich leuchtete der Bildschirm auf und zeigte eine Menüstruktur.

„Wählen den Punkt ‚Organic Filter Shield‘ aus und drücke dann auf ‚disable‘“, wies Arnin sie an.

Sandra tat es. „Er verlangt ein Passwort“, meldete sie.

„Ich kenne es, aber das wird ein bisschen dauern. Es hat 64 Ziffern“, sagte Arnin.

„Nicht dein Ernst, oder?“, fragte Sandra, gab aber gehorsam jede einzelne Ziffer ein, bis in grüner Schrift die Meldung ‚Shield disabled‘ erschien.

„Ist erledigt“, sagte Sandra, „du kannst also jetzt auch deine blöde Zwischenraum-Barriere deaktivieren. Ich habe schon genug Zeit vergeudet.“

„Einen Moment noch“, sagte Arnin, „ich brauche noch solange deinen Schutz, bis ich die Transformation abgeschlossen habe.“

„Schutz wovor, verdammt!“, beschwerte sich Sandra, „hier ist niemand, der uns stört. Schon die ganze Zeit über nicht. Die hocken alle in ihren Verstecken und rücken niemandem auf die Pelle, der nicht so dumm ist, sie selbst aufzusuchen.“

„Anders als die Deovani gehe ich nicht so gerne Risiken ein“, beharrte Arnin, „du wirst abwarten! Diese paar Minuten Geduld übersteigen dein Können gewiss nicht.“

„Du bist wirklich ein Wichser, Arnin!“, fluchte Sandra.

„Dieses Vergnügen habe ich schon lange nicht mehr erlebt“, scherzte er und ging dann zielstrebig auf die Kontrolltafel zu.

Sandra trat bereitwillig zurück und entfernte sich ein ganzes Stück von dem Rechner und sogar von den Stofftieren. Sie hatte wenig Lust, am Ende von Arnin gekidnappt zu werden.

Arnins mechanische Finger flogen nur so über die Kontrollen und es dauerte wirklich nicht mal eine Minute, bis der Rechner zu blinkendem Leben erwachte und plötzlich mehrere Kabel ausspuckte, die sich wie Spinnenbeine zu den Stofftieren und zu Arnin hin ausstreckten und sich mit ihren Körpern verbanden. Eines davon schwebte wie eine drohende Kobra ein Stück über Sandras Kopf, senkte sich jedoch nicht hinab.

„Deine letzte Chance, Sandra“, hörte sie Arnin sagen.

„Meine Entscheidung steht fest“, bekräftigte Sandra, „nimm deinen Kabelsalat da weg!“

Arnin gehorchte und der Rechner zog das Kabel ein, wie ein schlürfender Mund, eine Spaghetti. „Dann ist dies ein Abschied. Bis auch du uns dienen wirst. So wie alle anderen. Auf Wiedersehen, Sandra.“

Danach schwieg Arnin und Sandra ahnte, dass sich das, was auch immer sich abspielen sollte, jetzt abspielte. Doch es geschah ohne laute Geräusche, ohne Lichter und Spektakel. Still und verstohlen wie ein Virus, der sich in Millionen Zellkerne vortastete. Sandra fragte sich, ob sie einige der Kuscheltiere vom Rechner trennen sollte. Wahrscheinlich hätte sie es gekonnt, doch sie war nicht sicher, ob es etwas bewirken würde, außer, dass Arnin ihre Abmachung dann vielleicht doch annullieren würde. Also ließ sie es bleiben. Sie sah dem absurden Zusammenspiel aus fortgeschrittener Technik und beseelten Kuscheltieren einfach nur still zu. Dann kippte Arnins Androidenkörper um, als würde er unter Narkolepsie leiden und Sandra wusste, dass es vorbei war.

Mit klopfendem Herzen holte sie ihren Katalog hervor, wissend, dass sie weder Rache üben noch etwas daran ändern könnte, wenn der Whe-Ann sie betrogen hatte. Mit schwitzigen Fingern blätterte sie zur ersten beschriebenen Seite.

„Rihn“

Sie atmete auf, las das Wort und war verschwunden.

~o~

„Was zur Hölle ist hier passiert?“, fragte sich Kollom laut, während er die chaotischen Straßen und die zerstörten Reklamen und Gebäude mit ihren ermatteten, verblassten Farben erblickte. Er war nicht wieder vollständig er selbst. Teile seiner Erinnerungen, seiner Identität fehlten noch immer und würden wahrscheinlich niemals zurückkehren. Aber so wie sich das Geflecht langsam regenerierte, ohne dabei wirklich zu heilen, hatte sich doch genug von seinem alten Ich in ihm gesammelt, um Verwirrung, Angst und Ratlosigkeit zu empfinden. Kollom wusste noch, dass das Geflecht beschädigt worden war und dass er irgendetwas damit zu tun gehabt hatte. Er wusste auch, dass er einen Konflikt mit einem Mann namens Adrian und mit anderen Konzernbossen gehabt hatte und dass er der CEO von MKH gewesen war. Nicht jedoch, warum er einsam und verlassen, aber lebendig in dem von schweren Kämpfen gezeichneten Firmengebäude zurückgeblieben war.

Irgendwie war er hinausgelangt und hatte sich auf die Straße geschleppt, doch nun wusste er nicht mehr, was er dort eigentlich tun wollte. Was war sein Ziel? Wer waren seine Feinde und wer seine Freunde? Hatte er überhaupt Freunde? Yonis und seine anderen Verbündeten bei Astrera hätte man so bezeichnen können, wenn man diesen Begriff sehr sehr weit fasste, doch von denen wusste jener Kollom so wenig, wie von Sandra. Doch Kollom Nehmer gierte, suchte, verzehrte sich dennoch nach einem Ziel, nach einer Mission. Und aus den verwirrten Ruinen seines Verstandes erhob sich ein Artefakt, ein Kompass aus seiner Vergangenheit.

Befreit von allen Fesseln der Vernunft und der Verdrängung, entledigt aller Bannsprüche erhob sich das bittersüße Fernweh eines Fortgeschrittenen, der jenem Drang schon viel zu lange nicht mehr nachgeben hatte. Der Klang fremder Winde, die rätselhaften Rufe unbekannter Tiere und der Staub verschlungener Straßen betörte seine Sinne, entledigte sein Herz jener Patina von Gier und Zweckrationalität, die ihn in Deovan stets vorangebracht hatte.

Die Angst vor seiner unvertraut gewordenen Heimat verschwand und er war dankbar dafür, ein wenig Exotik erleben zu dürfen. Dennoch reichte es nicht. Er brauchte mehr. Oh ja, wie sehr er diesen Rausch vermisst hatte. Warum nur hatte er ihm je entsagt? Wie hatte er nur so dumm sein können?

Da er nicht im Besitz eines Kataloges war, tat er das einzige, das ihm blieb. Er irrte durch die Straßen, schnüffelte, forschte und lauschte nach dem Ruf des Abenteuers. Und er hatte Glück. Nicht lange, schon nach wenigen Minuten der verzweifelten Suche fand er etwas. Einen Klang, eine Melodie. Sie war dissonant, traurig und schrecklich, und doch auf verbotene Weise schön. Sie gab ihm Halt. Richtete seinen Kompass neu aus. Und er folgte ihr. Dumpf und traumwandelnd, direkt ins Invisible Land hinein.

~o~

Schon bald war Kollom nicht mehr allein. Er war eines unter hunderten Gesichtern, von denen er sogar manche kannte. Konzernbosse. Abteilungsleiter. Nehmer wie er in weißen, schwarzen, grauen und bunten Anzügen. Sie alle schienen dem Ruf der Ferne und der Melodie zu folgen. Ohne Gedanken an ihren Vorteil, an Kosten-Nutzen-Rechnungen, Marketing- und Verkaufsstrategien. Einfach nur einen Fuß vor den anderen setzend. Harmonisch, diszipliniert und doch so euphorisch wie Kinder anderer Welten auf einem lang ersehnten Ausflug. Eine bunte Raupe mit hunderten Beinen, auf dem Weg zur Metamorphose.

Kein noch so wütender Have-Non störte ihre Prozession, wagte es, ihre einfache Schönheit zu zerbrechen. Und so kamen sie an eine Tür in einer kleinen, engen Gasse. Eine Tür, hinter der es nicht gut roch, die jedoch erfüllt war von Musik und von leisen, undeutlichen, aber anziehenden Stimmen. Und so stiegen sie hinab. In ein neues Leben, in eine Zukunft ohne Zukunft. In eine falsche, ewige Geborgenheit, während er und die anderen Nehmer jenen, die sie zurückließen, einen flüchtigen Hauch echter Freiheit schenkten.

~o~

„Sind Sie zufrieden?“, fragte Porneck Navin, der den Zug der Nehmer in ihr Verderben bis zum Eingang von Pornecks Reich mit seiner Drohne verfolgt hatte, ohne das Kartellamt dabei zu verlassen.

„Warum interessiert Sie das?“, fragte Porneck, eher neugierig als schnippisch.

„Ich hege von jeher großes Interesse am Gefühlszustand meiner Diener“, entgegnete Porneck.

„Weil Sie von ihrem Leid profitieren“, bemerkte Navin, ohne jede Anklage.

„Das auch“, gab Porneck unumwunden zu, „aber nicht jeder dient mir auf solche Weise. Als mein Diplomat sollen Sie sich wohlfühlen. Das ist zum einen eine erfrischende Abwechslung, aber zum anderen haben wir festgestellt, dass glückliche Diplomaten besser arbeiten. Angst und Einschüchterung haben ihren Platz, natürlich, jedoch nur bei Versagern. Sie haben aber nicht versagt und mich fürs Erste gut gesättigt. Also, mein Freund, sind Sie zufrieden?“

Navin überlegte. „Nein“, sagte er ehrlich, „nicht wirklich. Es war befriedigend, den Untergang dieser Leute zu erleben, ja. Doch nicht so, wie ich es erhofft hatte. Rache ist … wie ein flüchtiger, liebloser Orgasmus. Kurz berauschend, doch danach fühlt man sich einfach nur erschöpft und die Welt wird wieder dunkel.“

„Was ist mit dem Paradies, das Sie errichten wollten?“, fragte Porneck, „jenes gelobte Land für Have-Nons und Geber?“

„Es wäre nur für ein Jahr“, erinnerte Navin.

„So war der Deal“, bemerkte Porneck mit einem leicht ermahnenden Unterton.

„Selbst wenn er anders lauten würde, würde das nicht viel ändern. Deine Rettung des Geflechts hat ihren Preis, oder?“, sagte Navin, „es wird kein Glück mehr auf diesem Planeten geben. Weder für zehn Jahre, noch für einen Monat. Habe ich recht?“

„Unser Einfluss hat leider diese Wirkung, ja“, bestätigte Porneck, „Routine, Sinnlosigkeit. Geistige Fixierung. Wir können das nicht ändern, selbst wenn wir es wollten. Aber Sie haben das gewusst, oder?“

„Ich habe gehofft, dass ich mich irre“, bemerkte Navin, „aber vielleicht habe ich mich einfach nur verhalten wie ein Blue Mind.“

„Wahrscheinlich ist es besser so“, sagte Porneck, „diese Leute haben so lange nur gedient, da wüssten sie mit echter Freiheit wohl ohnehin nicht umzugehen. Aber Sie müssen all dem nicht beiwohnen, wenn Sie nicht wollen, Navin. Mit einem depressiven Diplomaten kann ich nichts anfangen. Sie können ein Jahr hier verweilen, an diese Abmachung halte ich mich, wenn Sie darauf bestehen. Doch wenn nicht, hätte ich eine andere Aufgabe für Sie. Eine, die Sie in erbaulichere Gefilde führen würde. Natürlich nur, wenn Sie es wollen.“

„Ich will“, sagte Navin nach kurzer Bedenkzeit, „wie lautet meine Aufgabe?“

~o~

Die Masse an Emotionen, Erinnerungen und verschollenen Fähigkeiten, die auf mich einwirkt, ist gewaltig. Es ist beinah, wie aus einem tiefen Schlaf zu erwachen, der nicht nur während meiner Schreibtrance oder der blutigen Neugeburt durch das seltsame Gerät in den Bergen von Xakrischidaa, sondern die letzten Jahre meines Lebens über angedauert hatte. Dinge greifen ineinander, ergeben Sinn – nicht alle, aber viele – und ich fühle die Schuld für all das, was ich jenen angetan hatte, die mir nahegestanden hatten, in einer selten gekannten Intensität. Vor allem aber fühle ich mich so stark, so fähig, dass mir keine Herausforderung zu groß erscheint.

„Ich beschütze euch, das verspreche ich“, sage ich zu gleichen Teilen selbstbewusst und reumütig und sehe zu Andy und Tarena, die meinen Blick skeptisch erwidern.

„Dann beweise es durch Taten, nicht durch Worte“, verlangt sie, „aber wir sind keine hilflosen Larven. Wir brauchen dich als Verbündeten, nicht als Beschützer. Tu einfach dein Bestes!“

„Natürlich“, antworte ich und überprüfe kurz die Lage und meine Möglichkeiten. Ich habe keine Waffe. Tarena hält meine Peitsche in der Hand, doch ich wage es nicht, sie darum zu bitten. Wenn ich es richtig einschätze, werde ich auch keine Waffe benötigen. Ich sehe mich weiter in dem fremdartigen, pyramidenartigen Raum um und mache mir ein Bild von meinen Verbündeten. Sie bestehen aus Tarena, Andy und einer pendelschwingenden Frau, deren Name und Existenz ich lange verdrängt, ja sogar vergessen hatte: Any.

Bilder, Bruchstücke früherer Gelegenheiten, zu denen ich mit ihr zu tun hatte, flackern auf, ergeben aber noch kein vollständiges Muster. Ich erinnere mich jedoch, dass ich sie gut kannte. Dass sie meine Verbündete, ja in gewisser Weise sogar meine Mentorin gewesen war, auch wenn wir unsere Meinungsverschiedenheiten gehabt hatten. Und zusammen mit ihrer Erscheinung kommt mir auch ein Name zu diesem Ort in den Sinn. Das Efryum. Der Anker der Dinge. Ein Ort, von dem ich oft gehört, aber den ich zuvor noch nie betreten hatte. Was auch immer uns hier bedrohen kann, muss mächtig sein.

„Was oder wen bekämpfen wir?“, frage ich.

„Die Scyonen“, antwortet Tarena, „du weißt, warum.“

Und ja, ich weiß es. Sie kommen wegen Andy. Wegen eines von zwei Verträgen, den ich nie eingelöst hatte. Wegen einer unbedachten Bitte an einem weit entfernten Ort.

„Wann kommen sie?“, frage ich.

„Jetzt“, höre ich Anys ächzende Stimme sagen.

Ich schaffe es noch, mich direkt bei Tarena und Andy zu platzieren, sodass wir Rücken an Rücken kämpfen können. Dann reißt die Luft um uns gleich an mehreren Stellen auf. Ich habe mit einigen der Sumpfmagier gerechnet. Vielleicht auch mit ein oder zwei dutzend. Doch es kommen sicher einhundert. Ihre Leiber fühlen die Kuppel, unter der wir uns befinden, mit dem Geruch von Schlamm und Sumpfgasen und noch ehe sie ihre Zaubersprüche wirken, greifen ihre Hände nach uns und vor allem nach meinem Sohn.

Ich habe keine Zeit, um nachzudenken und so überlasse ich meiner Intuition die Führung. Fast vollkommen unbewusst greife ich nach meinen Fädenkräften, die seit Uranor nur noch ein laues Lüftchen gewesen waren. Nun sind sie ein Sturm. Nicht nur zwei, fünf oder zehn Fäden verlassen meinen Körper und strecken sich den Scyonen entgegen, sondern hunderte. Entweder dieser Ort oder das, was auch immer Any mit mir angestellt hat, haben meine eingerosteten Kräfte erweckt und multipliziert. Meine Fäden bilden ein dichtes Netz, um mich, Tarena und Andy herum. Jeder Scyone, der trotzdem seine gierigen Finger nach uns ausstreckt, verliert sie.

„Beeindruckend“, sagt Tarena anerkennend, „aber wir wollen sie loswerden, nicht nur aufhalten. Kann dein Netz das auch?“

„Ich glaube nicht“, erwidere ich bedauernd, „es ist schwer genug, es aufrechtzuerhalten.“

„Kannst du meiner Peitsche Durchlass gewähren?“, fragt sie und ich und stutze nur kurz als sie sie als „ihre“ Peitsche bezeichnet.

„Das dürfte gehen, aber es ist riskant“, antworte ich.

„Ich habe bei deinem Bericht aus Deovan so oft vom Risiko gehört, dass ich es selbst auch einmal ausprobieren will“, sagt sie lächelnd und ich nicke bestätigend.

Fortan arbeiten wir als Team, als synchrone Einheit, jedoch ohne den unangenehmen Beigeschmack meines früheren, mechanisch vorgehenden Ichs. Wann immer ich kurze Lücken in meinen Schutz reiße, sticht Tarenas Peitsche wie der tödliche Stachel einer Metall-Biene hindurch und verletzt, verstümmelt oder tötet einen weiteren Scyonen. Erst jetzt – dafür umso vehementer – beginnen die Sumpfhexer ihre Magie einzusetzen und meinen Schutz mit Eisenschilf, Säure, Schlamm und Fliegen zu prüfen.

In den meisten Fällen, gelingt es mir, ihre Bemühungen zu vereiteln. Doch auch wenn Lücken, die ich für Tarenas Angriffe schaffe, nur wenige Sekundenbruchteile bestehen, sind sie groß genug für Insekten. Zwar sind es nur wenige Fliegen, die den Fädenschild passieren, aber das kompensieren sie durch ihre Entschlossenheit und Aggressivität. Wie zielsuchende Raketen stürzen sie sich auf uns, suchen nach einem Eingang in unsere Körper und während Tarena trotz ihre Bedrängnis ihre Angriffe fortsetzt, fordert es meine vollste Konzentration, meine Fädenkräfte aufrechtzuerhalten und nicht einfach nach den Parasiten zu schlagen.

Denn ich weiß, wenn ich das tue, sind wir geliefert. Andy jedoch – das eigentliche Ziel von Moydrurs Begierde – verschonen sie. Aber gerade das erweist sich als fatal. Denn mein von Nollotsch veränderter Sohn offenbar eine unerwartete Überraschung. Verblüfft schaue ich dabei zu, wie er eine klebrige, ungewöhnlich breite und nach Fleisch stinkenden Zunge, aus seinem insektoiden Maul katapultiert, die Fliegen fängt und sie in sich einschließt.

Besorgt um die Gefahren für sein eigenes Leben will ich ihn davon abhalten, jedoch ist es gerade keine gute Idee den Mund zu öffnen. Außerdem scheint Andy nicht unter dem Konsum der Insekten zu leiden und setzt seine hilfreiche Verteidigungsstrategie konsequent fort. Solange, bis die Scyonen darauf verzichten, weitere Fliegen auszuschicken. Ich gebe Tarena ein stummes Signal, ihre Angriffe kurzzeitig einzustellen und sehe herüber zu Any. Interessanterweise scheinen sich die Scyonen bislang nur am Rande für sie zu interessieren. Womöglich halten sie die pendelschwingende Frau für eine harmlose Verrückte oder es liegt daran, dass sie nicht ihretwegen hier sind. Jedenfalls entpuppt sich ihr Desinteresse als ein weiterer Fehler.

Denn kaum, da Any die Rotation ihres Pendels einstellt, lösen sich dutzende, pyramidenförmige Objekte aus der Decke des Efryums und schweben herab, wie die Pollen einer steinernen Blume. Für einige Zeit bemerkt niemand etwas, doch als der erste Scyone die unbekannte Gefahr entdeckt, konzentrieren die meisten von ihnen ihre Aufmerksamkeit genau darauf. Eine Chance, die wir nutzen.

Tarena verstärkt ihre Anstrengungen und hält mit ihrer Peitsche reiche Ernte unter den Angreifern, während ich beobachte, wie die Zauber der Scyonen zwar kleine Löcher und Unebenheiten in die Steine reißen, sie jedoch weder aufhalten noch vollständig vernichten können. Als die ersten von ihnen landen, fahren sie kleine, beinah haardünne Beine aus und bewegen sich wie seltsam geformte Käfer auf die Sumpfmagier zu. Diese weichen zurück, doch da sie immer noch halb in dieser Ebene existieren, sind sie an materielle Gesetze gebunden. Durch ihre immer noch große Zahl bleibt ihnen also nicht viel Raum für Flucht.

Als der erste von ihnen von einer der kleinen Pyramiden berührt wird, geschieht etwas Erstaunliches. Seine neblige Gestalt verfestigt sich und wird dunkler und deutlicher. Dann friert er mitten in der Bewegung ein und zerfällt einen Augenblick später in unzählige, winzige Pyramidenstücke. Die Scyonen, die dem wenig entgegenzusetzen haben, flüchten in Panik, jedoch nicht in den Zwischenraum, sondern lediglich dorthin, wo ihre zerborstenen Kollegen etwas Platz gelassen haben.

Wir werden gewinnen, denke ich erleichtert. Doch ich denke auch langfristig. „Gebt auf und betrachtet meine Abmachung mit Moydrur als erfüllt. Dann werden wir euch verschonen“ ,verlange ich, „sonst vernichten wir jeden einzelnen von euch.“

Aber die Scyonen scheinen nicht an Verhandlungen interessiert. Trotz ihrer misslichen Lage und der geringen Effektivität ihrer Angriffe, versuchen sie weiter gegen die von Any geschickten Objekte vorzugehen. Dabei scheint es mir, als würde es nicht mehr lange dauern, bis sich alle von ihnen aufgelöst haben. Schon jetzt erscheint mir ihre Zahl noch viel rapider abgenommen zu haben als ich für möglich gehalten hätte. Kurz darauf begreife ich auch, warum.

Gerade als ich mein Versäumnis nachhole und mich umdrehe, um den Zirkel aus entkommenen Scyonen in meinem Rücken davon abzuhalten, unser Verderben vorzubereiten, verspüre ich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend, wie ich es zuletzt in Dank Qua erlebt habe. Das Gefühl des Fallens.

Haltlos stürzend blicke ich nach unten auf einen kleinen See aus purer Säure. Ich schreie, stelle dann aber mit verhaltener Erleichterung fest, dass wir kurz vor dem Eintauchen in die gefährliche Flüssigkeit einfach in der Luft anhalten.

„Du wirst unsere Abmachung erfüllen“, sagt eine Stimme. Sie gehört ohne Zweifel Moydrur. Das merke ich auch daran, dass der Fehlstein in meiner Tasche mit einem Mal eiskalt wird und vibriert.

„Du wirst meinem Sohn nichts antun“, erwidere ich überzeugt, auch wenn ich spürte, wie Tarenas Blicke mich dabei förmlich aufspießen, „in Säure aufgelöst wird er dir nichts nutzen.“

„Das mag sein“, entgegnet Moydrur, „aber in deinen Händen würde er mir auch nichts nützen. Und zumindest wären eure Leben eine gerechte Wiedergutmachung für deinen Wortbruch. Als du meine Hilfe brauchtest, habe ich nicht gezögert. Warum also zögerst du jetzt?“

„Ich habe dir gegen die Lomäine geholfen“, erinnere ich ihn.

„Das war eine andere Abmachung“, sagt Moydrur, „die tut hier nichts zur Sache. Und du bist für diesen Dienst sogar noch über unsere Vereinbarung hinaus entlohnt worden. Vergiss das nicht. Und vergiss auch nicht, dass du deinen Sohn schon längst veräußert hast. Welche Bedenken du auch immer gehabt haben könntest, du hättest sie damals bedenken sollen. Gib ihn her!“

Meine Augen wandern hoch zum Rand der kürzlich entstandenen Schlucht. Mithilfe meiner Fäden könnte ich nach oben zu Moydrur gelangen. Und vielleicht könnte ich sogar Any und Tarena retten. Doch es ist riskant. Zu riskant für jemanden, den man liebt.

„Du hast kein Recht auf dieses Kind“, sagt Tarena nicht mit der wütenden Stimme einer Mutter, sondern mit der überlegten, nüchternen Stimme einer Diplomatin, „Adrian hat Andy in seiner rücksichtslosen Dummheit verpfändet, aber er ist nur ein Elternteil. Ich habe genauso ein Mitspracherecht und ich weigere mich, ihn herzugeben.“

„Denkst du, es kümmert mich, was du willst?“, höhnt Moydrur, „ich bin kein Deovani. Und selbst die nehmen es mit ihren Verträgen nicht immer so genau, wie ich hörte.“

„Oh, es muss dich kümmern“, behauptet Tarena selbstbewusst, „das, was ihr vereinbart habt, ist ein magischer Vertrag und an ihn musst du dich halten. Wenn du meinen Willen ignorierst, hat das schlimme Konsequenzen. Also bring uns sofort nach oben und dann geh zurück in deine Heimat.“

„Du bist ziemlich angriffslustig für jemanden, der nur ein Wort vom Tod entfernt ist“, stellt Moydrur fest.

„Der Stich, den du spürst, ist die Schärfe meiner Logik“, entgegnet Tarena ruhig, „lass uns ruhig fallen. Doch dann wird der Fehlstein dich dafür bestrafen.“

„Woher weißt du das alles?“, flüstere ich zu Tarena, doch ich erhalte keine Antwort. Auch Moydrur schweigt zunächst.

„Einverstanden“, sagt Moydrur, „wir teilen ihn uns. In sieben Jahren, von heute an, bekommst du ihn wieder. Gesund und an einem Stück. Doch bis dahin nehme ich ihn mit. Stimmst du diesen Bedingungen zu?“

„Womöglich schon“, sagt Tarena, „sobald ich weiß, was du mit Andy vorhast. Ihr Scyonen ernährt euch von Kindern, aber eine von euch sprach schon bei eurem letzten Angriff davon, dass du ihm nichts antun willst. Doch warum? Was hast du davon? Verstehe mich nicht falsch, ich will natürlich nicht, dass du meinem Sohn ein Leid zufügst, aber ich misstraue deinen Motiven.“

„Verständlich“, erwidert Moydrur unerwartet nachsichtig, „wir sind für unseren Hunger bekannt. Aber ein Fehlstein-Kind ist kein gewöhnliches Opfer. Die magische Verbindung macht es nahrhafter, erhöht sein Potenzial. Es einfach zu verspeisen, wäre, wie einen ertragreichen Obstbaum bis zur Wurzel zu verzehren: einfach nur dumm. Ich will von seiner Energie kosten, nicht von seinem Fleisch. Und diese Energie wächst, wenn es ihm gutgeht. Du siehst also, es ist ein Gewinn für beide Seiten.“

„Du willst seine Lebensenergie absaugen?“, fragt Tarena schockiert.

„Nur die überschüssige, die ihm der Fehlstein beschert“, antwortet Moydrur, „weder seine Gesundheit noch seine Lebensdauer werden darunter leiden. Also, was ist? Ich will hier nicht den ganzen Tag verweilen. Mir ist nicht entgangen, dass ihr angegriffen werdet und wir wollen nicht zwischen die Fronten geraten. Außerdem habt ihr schon dutzende meiner Geschwister getötet. Meine Geduld ist begrenzt. Und falls ihr darauf hoffen solltet: Die Pendlerin wird euch nicht helfen. Wir haben sie kaltgestellt.“

„Einverstanden“, sagt Tarena schließlich.

„Was?!“, frage ich, „du kannst ihnen Andy unmöglich …“

„Schweig, du armseliger Versager!“, sagt Tarena herzlos, ihre Peitsche noch immer in der Hand, sodass sie mich ein wenig an Slura erinnert, „er ist nicht mehr dein Sohn. Du hast dabei versagt, ihn zu beschützen. Schon wieder! Über sein Schicksal bestimme nun allein ich.“

Ich will noch etwas erwidern, aber Tarenas Härte und meine eigene Schuld lähmen meine Zunge.

„Zieht sie hoch!“, sagt Moydrur und die Scyonen gehorchten. Gemeinsam ziehen sie uns auf festen Boden zurück.

„Löse das Netz!“, verlangt Tarena von mir. Ich zögere. Blicke zu Any, die tatsächlich von einem dutzend Scyonen festgehalten wird.

„Tu, was deine Herrin sagt, großer Krieger“, spottet Moydrur grinsend.

Diese Verletzung meines Egos kümmert mich nicht. Aber eine andere Frage beschäftigt mich. Ist es nicht meine Pflicht, Widerstand zu leisten? Muss ich nicht meinen Sohn beschützen, notfalls vor seiner eigenen Mutter? Andererseits hat sie schon recht. Ich bin wohl der Letzte, der in dieser Sache ein Mitspracherecht besitzt. Also gehorcht ich letzten Endes und ziehe meine Fäden zurück.

Halb erwarte ich, dass uns die Sumpfmagier nun einfach in Stücke reißen. Doch ich täusche mich. Der Angriff bleibt aus. Stattdessen nimmt Tarena unseren Jungen von ihrer Schulter und hält ihn Moydrur entgegen. Als der Scyone jedoch seine Hand nach meinem Sohn ausstrecken will, brechen gleich mehrere, dicke Schnüre aus stinkendem Fleisch wie ein Gitter aus dem Boden hervor. Direkt zwischen Moydrur und Tarena.

„Ich habe geahnt, dass man dir nicht trauen kann“, sagt Moydrur erbost, „genug mit diesen Spielchen. Gib mir deinen Sohn oder stirb!“

Anstelle einer Antwort erhebt sich neben Moydrur ein fleischiger Mund aus dem Boden. „Du bekommst ihn nicht!“, sagt die dunkle Stimme von Nollotsch, „er ist auch mein Sohn. Und selbst du Sumpffloh solltest wissen, dass ein Planetenkrebs nicht gerne etwas hergibt. Schon gar nicht gegen seinen Willen. Verschwindet zurück in den Zwischenraum. Sofort!“

Moydrur sieht Nollotsch wütend an. Für einen Moment, glaube ich, dass er es auf eine Konfrontation ankommen lassen will. Dann jedoch bricht er in Gelächter aus. „Ihr schenkt euer Kind einem ausgehungerten Löwen, um es vor einem Wolf zu beschützen. Eine wirklich hervorragende Idee. Ihr werdet euch noch wünschen, ihn mir überlassen zu haben. Bei mir hätte er eine Zukunft gehabt. Bei ihm jedoch … nun, ich wünsche euch viel Glück. Aber ich werde zurückkommen und mir holen, was übrig ist. Fühlt euch nicht zu sicher.“

Nachdem er diese Drohung ausgesprochen hat, verschwindet Moydrur. Und mit ihm alle Scyonen.

„Du wusstest, dass er einschreiten würde“, sage ich zu Tarena.

„Ja, das wusste sie“, antwortet Nollotsch an ihrer statt, „sie hat mich kontaktiert. Da die Integrität des Efryums gestört war, war das besonders leicht.“

„So bist du also hier reingekommen“, sagt Any, die inzwischen ebenfalls wieder frei und anscheinend unversehrt ist, „ich danke für deine Hilfe. Aber du musst dich sofort wieder entfernen. Dies hier ist ein Heiligtum und nicht gemacht für deinesgleichen.“

„Meinesgleichen kümmern solche Regeln nicht“, sagt Nollotsch, „aber ich wollte mich ohnehin zurückziehen. Ich habe lange genug euren Krieg gekämpft. Er ist ohnehin verloren. Die Übermacht ist erdrückend. Schon bald werden sie alle durch die Tür brechen und eure Pyramide überrennen. Ich würde euch empfehlen, euch bis dahin in Sicherheit zu bringen. Euch und meine Schützlinge.“

„Du hast weder über Tarena noch über Andy zu bestimmen, Parasit!“, stelle ich klar.

„Genauso wenig wie du, Vielgereister“, entgegnet Nollotsch, „aber genau wie dir, ist mir an ihrer Sicherheit gelegen. Wollte ich Kontrolle, würde ich sie hierbehalten. Doch das tue ich nicht!“

„Gibt es überhaupt einen Fluchtweg?“, fragt Tarena in Richtung von Any.

„Den gibt es“, antwortet Any, „in gewisser Weise. Aber vorher muss ich wissen, ob ihr mir weiterhin helfen werdet. Ob ihr mir helft, die Ordnung wiederherzustellen und das Multiversum vor der Zerfaserung zu bewahren.“

„Was genau verlangst du von uns?“, will ich wissen.

„Von Tarena verlange ich lediglich, dass sie ihre Kampfkraft und ihr diplomatisches Geschick für unsere Sache einsetzt“, beginnt Any.

Tarena nickt zustimmend.

„Von dir hingegen will ich die schnellstmögliche Rückkehr in die Schreibtrance, denn das, was in deinem Kopf ist, ist das Wertvollste an dir“, fährt sie fort.

„Sehr charmant“, sage ich, „aber ich werde mich nicht wieder abschalten lassen.“

Als Any zu widersprechen anhebt, fahre ich rasch fort. „Nicht dauerhaft zumindest. Gib mir Handlungsfreiheit zwischen den Geschichten. Ich bin ein Mensch, ein Fortgeschrittener, kein analoges Abspielgerät. Ich will nicht nur in der Vergangenheit leben. Und ich bin mir sicher, dass ich auch auf andere Weise helfen kann.“

„Also gut“, sagt Any seufzend, „abgemacht. Dann haltet euch fest. Das wird jetzt ungemütlich.“

Und das wird es tatsächlich, kurz nachdem Any zu einem großen, flachen, sternförmigen Pendel greift. Noch während sich Nollotsch zurückzieht, der Kampflärm vor den Toren des Efryiums immer lauter wird und die verbliebenen Pyramiden-Strukturen damit beginnen, die von Moydrur und Nollotsch geschaffenen Löcher im Boden abzudichten, geht eine heftige Erschütterung durch das Efryum. Wieder habe ich dabei ein ähnliches Gefühl in meiner Magengegend, wie bei meinem tiefen Sturz in Dank Qua. Nur mit umgekehrten Vorzeichen.

„Wir heben ab“, vermutete ich, während ich vorsichtig Tarenas Klaue ergreife. Sie wieder zu berühren ist ein schönes Gefühl und noch viel schöner ist es festzustellen, dass sie meine Hand entgegen meiner Befürchtungen nicht wegschlägt.

„Ja, das tun wir in der tat“, antwortet Any trocken, „schon einmal im Weltraum gewesen, Fortgeschrittener?“

2 thoughts on “Fortgeschritten: Die Lebensmärkte von Deovan 11

  1. Sehr spannende Geschichte, zum glück gibt es die auch vertont. Sobald die Geschichte ein ende genommen hat, ( Was ich eigentlich nicht hoffe) werde ich die ganze Reihe in Buch-Form kaufen, und sicher verstauen. Falls die Welt und das Internet den Bach runter geht, kann mein Sohn dann trozdem freude daran haben.

    1. Das nenne ich mal einen krisensicheren Plan. Man weiß ja bei den ganzen Katastrophen aktuell ja auch nie, wann die Apokalypse an die Tür klopft und man sich mit einem Stapel Bücher in den Bunker verziehen muss ;). Freut mich außerordentlich, dass dir die Reihe gefällt. Enden wird sie wohl spätestens, wenn ich final die Äuglein zukneife oder aber, wenn sie dramaturgisch ihr natürliches Ende erreicht hat. Schauen wir mal, was zuerst eintritt ^^

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