Fortgeschritten: Die Lebensmärkte von Deovan 4

„Wärme mich!“, vernehme ich die schrille, verlangende Stimme Tarenas, die mich abrupt aus meiner Gedankenreise reißt. Dann spüre ich die klammernde Berührung einer dünnen, eiskalten Hand. Einer Hand, keiner Klaue.

Verwirrt blicke ich an mir herunter und entdecke tatsächlich fünf dünne, beinah skellethafte Finger, die sich begehrend in mein Fleisch krallen. Tiefstes, finsterstes Grauen durchfährt mich, aber dennoch gelingt es mir den Ursprung der Hand zu verfolgen, die an einem knochigen, schwach ausgebildeten Arm hängt, der sich seinerseits in dem amorphen, unscharfen Schattenumriss von Tarenas Körper verliert.

Im Halbdunkel blicke ich in ihr verzweifeltes, schmerzverzerrtes Gesicht und was ich dort sehe, lässt mich sehr froh darüber sein, Andy erst vor kurzem Nollotschs zweifelhafter Obhut übergeben zu haben. Denn in ihren nun wasserblauen, spiegelnden Augen erkenne ich ein unstetes Verlangen, ein saugendes, hungriges Nichts, welches bereit scheint alles in sich aufzunehmen, ganz gleich ob Liebe, Berührungen, Worte oder rohes, zuckendes Fleisch.

„Ich glaube, das wäre keine gute Idee“, sage ich zu ihr und weiche ein kleines Stück zurück, wobei ich mich zugleich schützend vor Andy stelle, der noch immer wie ein Welpe an Nollotschs Zitze hängt.

Tarena kommt etwas näher und sowohl ihre verkümmerten Hände, als auch ihre Klauen strecken sich gierig nach mir aus. Zugleich sind ihre Augen starr auf Andy gerichtet.

„Dann ihn“, faucht sie primitiv, „gib mir das Fleisch, das ich geboren habe! GIB ES MIR!“

„Auf keinen Fall!“, widerspreche ich energisch. Dabei halte ich meine Peitsche erhoben und mache mich bereit, sie notfalls zum Einsatz zu bringen. Tarena sieht zurück zu mir und unsere Blicke treffen sich, verbinden sich wie zusammengeschmiedetes Eisen und fechten ein stummes, erbittertes Duell aus, bei dem ich mir zunehmend sicherer werde, dass es in einem Blutbad münden wird. Doch plötzlich bricht der fiebernde Wahn in Tarenas Augen wie zerschmettertes Glas in sich zusammen. „Es … tut mir leid … mir ist nur so kalt … so unendlich kalt, ich brauche Wärme, irgendwo her, ich …“

Ich bemerke, wie es in ihren Augen erneut zu flackern beginnt, wie sich der Funke Vernunft daraus verabschieden will. Diesmal vielleicht endgültig. Ich handle instinktiv. Meine Angst vollkommen ignorierend lasse ich die Peitsche fallen und schließe Tarenas zitternden, kalten Leib in meine Umarmung ein, drücke sie an mich, halte sie fest und versuche nicht darüber nachzudenken, was geschehen könnte.

Doch es folgt kein Angriff, weder ihre Klauen, noch ihre neu gewachsenen Hände oder ihre Zähne krallen sich in mein Fleisch. Stattdessen hört ihr Körper auf zu zittern, entspannt sich.

„Besser?“, frage ich sie vorsichtig, noch immer bereit auf jede Stimmungsschwankung zu reagieren.

„Für den Moment, ja“, erwiderte Tarena erschöpft, „deine Wärme hilft etwas. Ich danke dir dafür. Ich weiß nicht, was sonst … was sonst passiert wäre.“

„Glaubst du, ich kann dich wieder loslassen?“, frage ich und werfe einen Blick auf meine Uhr, „nicht dass ich das will, aber uns bleibt nicht mehr sehr viel Zeit.“

„Ich weiß nicht“, erwidert Tarena, „ich … der Hunger … die Kälte. Sie sind noch in mir. Es ist ein Drang, über den ich kaum Kontrolle habe. Er verlangt etwas von mir. Oh mein Gott, Adrian, ich glaube er verlangt nach Fleisch. Nach lebendigem Gewebe.“

Ich sehe das Entsetzen in ihren Augen und fühle Mitleid, doch zugleich verspüre ich eine ungewohnte Ruhe und Gelassenheit. „Dort ist Fleisch“, sage ich und zeige auf die von Nollotschs stinkendem Muskelgewebe bewachsenen Wände, „eine Menge, soweit ich das sehe. Bedien dich!“

Ein sarkastisches Lächeln wächst auf meinen Lippen, das Tarena erwidert, als sie begreift, was ich meine. Sie nickt knapp und ich lasse sie los, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob das eine so gute Idee ist.

Doch sie wendet sich weder gegen mich, noch gegen Andy, sondern beginnt zu fressen. Wie ein ausgehungerter Wolf stürzt sie auf Nollotschs noch lebendiges Gewebe zu und beißt hinein wie in einen saftigen Apfel, während rosafarbenes, helles Blut aus ihrem Mund rinnt und sich ein ekelhaft würzig-fleischiger Geruch im Raum verteilt.

Sie frisst schneller und schneller, klettert wie eine Spinne die Wände hinauf bis zur Decke, wo sie wie manisch reißt, beißt und schlingt und blutige Schneisen in Nollotschs Leib gräbt.

„Wer bist du?“, frage ich Tarena stumm und verfolge ihr Massaker voller Ekel, Faszination und ja sogar mit einem gewissen, seltsamen Stolz. Sie ist wie ein scharfgemachter Hund, der seinen Herren beißt, denke ich und schäme mich zugleich ein wenig für diesen herablassenden Gedanken.

Leise, so leise, dass ich eine Einbildung nicht gänzlich ausschließen kann, meine ich dünne, gequälte Schreie zu hören. Ob sie wohl von Nollotsch stammen?

Schließlich bleiben in dem kleinen Raum nur noch totes Fleisch und der winzige Geweberest an den Wänden zurück, an dem Andy angeschlossen ist und den ich mit meinem Körper abgeschirmt hatte, für den Fall, dass Tarena doch wieder die Kontrolle verlieren würde.

„Jetzt ist es besser“, sagt Tarena schmatzend und mit einer Stimme, die wie vor Lust bebt. Ihre Lippen sind geschwollen und rot, ihre Augen fiebrig leuchtend, aber nicht mehr vom Wahn beherrscht.

„Das freut mich“, sage ich, auch wenn mir erste Zweifel an meinem Vorschlag kommen. Was, wenn ich die Arbeit der Ernährer übernommen und sie zum Fressen ermutigt habe? Was, wenn das ihre Veränderung noch weiter vorantreiben wird? Doch von diesen Bedenken erzähle ich Tarena vorerst nichts. Jetzt ist es ohnehin zu spät.

„Denkst du, wir haben ihn verärgert?“, frage ich stattdessen und blicke unruhig zu dem mit einer dünnen Membram geschützten Eingang.

„Das hoffe ich“, antwortet Tarena angriffslustig, „ich hoffe, der Mistkerl hat gelitten.“

„Da würde ich nicht widersprechen“, gebe ich zurück, „aber wenn seine Ernährer oder andere Wesen hierherkämen, um Rache zu üben, wäre das nicht hilfreich.“

„Ich glaube nicht, dass er sie hierherschicken wird. Er weiß längst, wo ich mich befinde“, erinnert Tarena abgeklärt, „und wahrscheinlich hatte er auch das hier als Risiko einkalkuliert. Trotzdem freut es mich sehr, ihm Leid zugefügt zu haben.“

Ich nicke zustimmend. Auch ich hatte wenig Mitleid mit Nollotsch. „Denkst du, du musst bald wieder fressen?“, will ich von Tarena wissen und stelle mir vor, was passiert wäre, wenn kein Nollotsch hier gewesen wäre, um sie zu nähren. Frage mich, was dort draußen mit Unschuldigen passieren könnte, die in ihrer Nähe geraten, falls wir je wieder auf solche treffen sollten.

„Ich glaube nicht“, erwidert Tarena, „ich vermute, dass das etwas mit meiner erneuten Veränderung zu tun hat …“, dabei blickt sie angewidert auf das neue Paar Arme, „Ich denke, der Prozess benötigt Energie. Aber auch wenn ich mir natürlich nicht sicher sein kann, habe ich das Gefühl, dass das hier meine letzte Transformation war. Fürs Erste zumindest.“

„Na, das ist ja mal beruhigend“, sage ich mit einem aufmunternden Lächeln, das von Tarena nach einigen Sekunden erwidert wird. Ich habe mich noch nicht so recht an ihre neue Mimik gewöhnt. Fast wünsche ich mir, ihr Gesicht wäre wieder so starr, wie ich es von früher kannte. All diese Veränderungen sind einfach etwas zu viel für mich.

„Es tut mir leid“, sage ich laut, wie um diesen unfairen, unsolidarischen Gedanken zu vertreiben.

„Was tut dir leid?“, fragt Tarena verwirrt.

„Wie sich alles entwickelt hat. Du, Andy, ich. Es scheint, als blieben wir alle Sklaven der Umstände, egal was wir auch tun“, erkläre ich.

„Ist das etwa eine neue Erkenntnis für dich?“, erkundigt sich Tarena.

„Schon“, gestehe ich ein, nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht habe, „eigentlich habe ich fast mein ganzes Leben daran geglaubt, selbst bestimmen zu können, wie die Dinge für mich laufen. Klar, andere hatten stets auch ihre Pläne und Wünsche, aber für mich waren sie meist eher wie ein Spielfeld, wie ein Rahmen, an dem ich mich orientieren muss, und aus dem ich ausbrechen muss, wenn ich nicht ersticken will. Ich denke, auch deswegen wollte ich schon immer so gerne reisen, und deswegen hat mich auch der Katalog so fasziniert. Er ließ mich das Spielfeld wechseln, fliehen und neu beginnen und gab mir immer wieder die Chance mich zu beweisen. Freiheit eben, wenn du verstehst, was ich meine.“

Tarena schüttelt den Kopf, „ich verstehe, was du sagen willst, aber ich weiß schon lange, dass es nicht so läuft. Wahrscheinlich ist das kein Wunder. Immerhin komme ich aus einem Volk, das vor nicht allzu langer Zeit noch ein Kollektiv gewesen ist. Dem trauere ich nicht nach. Ein Schwarm ist wie ein dumpfes Grab und der Tod jeder Entwicklung. Wahres Leben heißt Veränderung und Freiheit ist etwas Gutes. Aber Freiheit heißt nicht aus dem Gefängnis auszubrechen und alle aus dem Weg zu stoßen, denn wenn du so denkst, wartet immer ein neues Gefängnis auf dich. Freiheit ist etwas Soziales. Es kommt darauf an, seine eigene Note im großen Gesang zu finden, die eigenen Grenzen abzustecken und sich Verbündete zu suchen für das, was man erreichen will.“

„Wow!“, erwidere ich respektvoll, „das ergibt irgendwie Sinn. Und nebenbei bemerkt finde es noch immer faszinierend, wie sehr sich deine Ausdrucksweise seit unseren ersten gemeinsamen Schreibversuchen weiterentwickelt hat.“

„Das ist weder mein noch dein Verdienst, wie du weißt“, antwortet Tarena bitter, „und letztlich ist es nur Fassade. Ich war nie dumm, Adrian. Und meine Gedanken werden nicht schlauer, nur weil ich sie in hübschere Worte kleiden kann. Und ja, irgendwie vermisse ich unsere Schriftwechsel. Es war aufregend, neu, inspirierend sich das alles anzueignen, es gemeinsam mit dir zu entdecken. Ein echtes Abenteuer, das mir Nollotsch gestohlen hat, indem er jeden Nebel vertrieben und alle Geheimnisse der Sprache gelüftet hat. Auch dafür hasse ich ihn. Aber das ist jetzt egal. Was zählt ist erst mal, dass wir hier rauskommen. Wie viel Zeit haben wir noch?“

Ich blicke auf meine bravianische Uhr. „Noch knapp zehn Minuten“, antworte ich.

„Gut“, sagt Tarena und bewegt sich auf Andy zu, um ihn aus Nollotschs nährender Umklammerung zu befreien, „Dann wird es Zeit ein paar Grenzen abzustecken.“

~o~

„Ist dies die Stelle, die du in deiner Vision gesehen hast?“, fragt Tarena mich, als wir die Kammer verlassen und ich sie ein Stück durch das verworrene Labyrinth von Nollotschs Leib geführt habe, immer den Bildern aus meiner Erinnerung folgend und gelegentlich irritiert von leisen, vage bekannten Stimmen, die ich nicht genau zuordnen kann. Eine Art psychologischer Kriegsführung seitens Nollotsch, wie ich vermute.

„Ja“, sage ich und sehe erneut auf die Uhr, „und in exakt einer Minute wird es passieren. Halte dich bereit und tritt ein Stück weiter zurück, sonst wirst du direkt in die Falte hineinstürzen und dem Wesen zum Opfer fallen.“

Tarena nickt und streichelt dem unruhigen Andy mit ihrer Klaue über den aufgeblähten Schädel. Als mein Sohn mir ebenfalls einen gequälten Blick schenkt, droht mein Herz zu brechen. Gleichzeitig fällt es mir schwer zu glauben, dass dieses … Ding hier … noch mein Sohn ist.

Ich sehe von meiner Uhr auf und zählte die verbliebenen Sekunden im Kopf herunter, damit mir nichts von dem entgeht, was nun passiert. Dabei frage ich mich, wie genau Nollotschs neues Opfer aussehen wird. Das Gesicht des Mädchens habe ich in meiner Vision nicht richtig sehen können. Aber vielleicht ist das auch besser so.

Schließlich bleiben uns nur noch zehn Sekunden und ich blicke mich ein letztes Mal um. Noch ist keiner der Ernährer zu sehen, was mich weniger beruhigt, als man meinen könnte. Eine Flucht aus einem solchen Gefängnis sollte nicht so einfach sein. Jedoch verdränge ich diesen Gedanken wieder und konzentriere mich stattdessen ganz auf das Hier und Jetzt. Ich fahre meine Peitsche aus und halte sie schlagbereit über den Kopf, während mein Herz bis zum Hals pocht.

Noch vier Sekunden, Drei, Zwei, Eine. Der Boden unter uns beginnt sich nach oben zu wölben, sich auszubeulen wie ein übergroßes Ei. Ganz genau wie in meiner Vision.

Immer mehr davon kommt zum Vorschein, bis das Gewebe reißt und ein etwa menschengroßer Sack emporgehoben wird. Für einen Wimpernschlag erscheint eine klaffende, ringförmige Lücke im Boden, durch die ich den vermeintlichen Supermarkt sehen kann. Durch diese Öffnung windet sich jedoch sofort – gleich einer fremdartigen Schlange – eines der „Lampenwesen“, die den sackartigen Kokon fest in ihrem Griff hält. Als ich sie sehe, schlage ich sofort zu.

Danach passieren mehrere Dinge zugleich. Irgendwo hinter mir vernehme ich schleifende, trippelnde Geräusche. Meine Peitsche wickelt sich um den dünnen Leib des Lampenwesens und der Fleischkokon öffnet sich und bringt ein junges, menschlich aussehendes Mädchen mit schulterlangen braunen Haaren zum Vorschein, das betäubt auf den organischen Boden fällt.

Das Lampenwesen kreischt auf, als sich die Widerhaken von On-Grarins Peitsche in seinen hässlichen Körper fressen und hellrotes Blut aus ihm herausquillt. Sofort schießt der Greifarm der wütenden Kreatur zu mir hinauf und versucht mich zu packen. Ich versuche noch auszuweichen, doch meine eigene Peitsche wird mir zum Verhängnis. Ich will sie für einen erneuten Angriff lösen, aber die Muskeln des Wesens halten die Widerhaken in den Wunden fest und hindern so meine Bewegungsfreiheit, da mir zu spät der Gedanke kommt, die Peitsche einfach loszulassen. Unfähig seinem Zugriff zu entgehen, spüre ich die steinharte Umklammerung der Kreatur um meinen Brustkorb, deren Druck mehr und mehr zunimmt. Schlagartig wird mir klar, dass Nollotsch seine anfängliche Zurückhaltung nun endgültig aufgegeben hat. Er will mich töten. Um jeden Preis.

Zu meinem Glück hat er dabei nicht mit Tarena gerechnet, die ihre Klauen und ihre neu gewachsenen Hände dafür benutzt, den Greifarm des Lampenwesens in einer Explosion von Blut und Gewebe auseinanderzureißen. Kraftlos fällt das erdrückende Fleisch von mir ab und endlich gelingt es mir, die Peitsche wieder aus der erschlafften Kreatur zu befreien.

„Danke!“, rufe ich Tarena zu und während ich mich kurz zu ihr umdrehe, entdecke ich eine neue Bedrohung in meinem Augenwinkel.

„Hinter dir! Pass auf!“, rufe ich ihr zu, da ich bemerke, wie sich indessen dutzende, ja womöglich hunderte von Ernährern wie ein Rattenschwarm auf uns zubewegen. Ich widerstehe dem Impuls Tarena beizuspringen und drehe mich stattdessen zu meinem ursprünglichen Gegner um, der sicher noch nicht völlig ausgeschaltet ist.

Doch das verletzte Lampenwesen ist einfach verschwunden. Ob es sich wieder mit Nollotschs Körper verbunden hat oder durch die Öffnung geflohen ist, kann ich nicht sagen, aber dafür wird eine andere Sache überdeutlich.

„Komm schnell, die Öffnung schließt sich!“, rufe ich Tarena zu, während ich sehe, wie die Lücke in unserem organischen Gefängnis mehr und mehr zuwächst. Erneut zücke ich meine Peitsche und schwinge sie gegen das zuwachsende Fleisch, wobei ich meine Schläge wohl dosiere, um zu verhindern, dass sie erneut stecken bleibt. Das immerhin gelingt mir und trotz meiner Zurückhaltung reiße ich mit der teuflischen Waffe blutende Wunden in das Gewebe. Mehr noch, ich habe sogar das Gefühl, das Schließen des Lochs durch meine Angriffe zu verlangsamen. Doch wie lange wird mir das noch gelingen?

Ich wage einen Blick auf Tarena. Inzwischen haben die Ernährer sie erreicht. Überraschenderweise scheinen sie sich jedoch nicht für sie oder Andy zu interessieren, sondern versuchen an ihr vorbei und direkt zu mir und dem Mädchen zu gelangen. Doch Tarena gelingt es vorerst, genau das zu verhindern. Ihre Klauen und Hände zerdrücken in einem geradezu eleganten, kraftvollen Tanz Köpfe, zerteilen Leiber und reißen Fütterungsorgane ab, als wäre sie genau für diese Aufgabe geboren worden. Gleichzeitig gelingt es ihr das scheinbar bewusstlose Mädchen zu packen und näher an die Öffnung zu befördern.

Auch Tarena selbst bewegt sich auf mich und die Öffnung zu, rückwärts und Schritt für Schritt, doch leider viel zu langsam. Nervös blicke ich zu der klaffenden Lücke, die nun kaum breiter ist als ein einzelner Menschenkörper.

„Verdammt, komm endlich her!“, brülle ich Tarena entgegen, doch statt meiner Aufforderung zu folgen, beugt sie sich hinab und versucht das Mädchen mit ihren beiden Armpaaren hochzuheben.

Wieder sehe ich nervös zu dem Loch, durch das wir schon bald nicht mehr hindurchpassen werden. In meinem Kopf beginnen die metaphorischen Räder im Takt meines Herzschlags so laut zu rattern, dass ich sie fast zu hören glaube.

„Du würdest jetzt noch hindurchpassen“, flüstert mir eine verräterische Stimme zu, „du könntest fliehen, bevor es zu spät ist. Das wäre Okay. Du kannst sie nicht alle retten.“

„Nein, das kann ich nicht“, stimme ich dem Verräter in mir halblaut zu, während ich mit der Peitsche die ersten Ernährer verscheuche, denen es nun doch gelungen ist zu mir durchzubrechen, „aber die, die mir wichtig sind!“

Dann schwinge ich die Peitsche mit einer weit ausholenden Bewegung und sehe zu, wie sie sich fest um Tarenas Leib schlingt, während die Widerhaken brutal ihre Haut durchstoßen.

„Es tut mir leid“, flüstere ich. Dann ziehe ich mit aller Kraft.

Die völlig überrumpelte Tarena, brüllt vor Schmerz, verliert den Boden unter den Füßen, lässt das Mädchen, das sie schon halb in den Armen gehalten hat, fallen, schlittert auf die Öffnung zu und … rutscht direkt durch sie hindurch.

Ohne Andy, der unsanft von ihren Schultern zurück in Nollotschs Körper gerutscht ist, und nur gehalten von der dornenbesetzten Peitsche hängt sie an meinem Arm, der von dem plötzlichen Gewicht beinah aus meinem Gelenk gerissen wird. Meine Muskeln protestieren, ächzen wie zu straff gespannte Seile unter der Belastung. Keuchend ziehe ich die Peitsche zurück, was Tarenas Körper glücklicherweise ohne Widerstand zulässt und spüre, wie das Gewicht verschwindet, als sie unsanft, aber augenscheinlich nicht lebensgefährlich verletzt auf dem Boden und in der Freiheit ankommt. Doch für Erleichterung bleibt mir keine Zeit. Schon spüre ich, wie Nollotsch zuwachsendes Fleisch meine Brust einschnürt wie ein Korsett. Und mein Sohn und dieses Mädchen sind noch immer dort oben. Hilflos und gefangen.

Die Helden in vielen der Filme und Bücher, die ich gesehen und gelesen habe, hätten sie dem Monster einfach in einem todesmutigen Manöver aus dem Bauch gepflückt und theoretisch habe auch ich nichts gegen so eine Vorgehensweise. Doch zwei Dinge hindern mich daran: Die Naturgesetze und meine Gefühle. Erstere verlangen mir nicht nur eine Entscheidung binnen Sekundenbruchteilen ab, sondern konfrontieren mich auch mit dem Problem, dass dieses Loch schlicht zu klein ist, um uns alle drei hindurchzuquetschen. Letztere schenken einem zwar Mitleid und Empathie, folgen aber auch einer Regel, die über allem steht und die für Fremde in Not eine ziemlich beschissene Sache ist: Die eigene Familie hat Vorrang.

So also greife ich mir Andy, überlasse Nollotsch seinen neuesten Fang und winde mich – meinen Jungen hoch über meinen Kopf erhoben – aus dem organischen Gefängnis heraus, das ihn und Tarena so sehr verändert hat. Während ich mich jedoch durch die enge Öffnung quetsche, was inzwischen schon erheblichen Muskeleinsatz erfordert, mache ich den Fehler, ein letztes Mal nach oben zu sehen. Was ich dort erblicke, ist kein Ernährer und auch keine Lampenkreatur, sondern ein Gesicht. Das fein geschnittene, traurige, enttäuschte Gesicht des zurückgelassenen Mädchens, das seine Benommenheit – etwas zu spät – abgeschüttelt hat. Als wäre das allein nicht schon schlimm genug, fällt mir aber noch etwas anderes auf. Ich kenne sie. Ich weiß nicht, woher, aber ich weiß, dass ich dieses Mädchen zuvor schon einmal gesehen habe. Und in ihren leuchtenden grünen Augen, die Nollotschs zuwachsender Leib kurz darauf vor mir verbirgt, lese ich etwas, dass mich noch viel mehr verstört: Sie kennt mich ebenfalls.

~o~

Leider – oder vielleicht auch zum Glück – bleibt mir keine Zeit, weiter über die bekannte Unbekannte nachzugrübeln, denn kaum da ich zusammen mit Andy und neben einer zwar blutenden, aber immerhin wieder aufrecht stehenden Tarena auf dem Boden aufkomme, ist unsere gerade erst wiedergewonnene Freiheit bereits wieder in Gefahr.

„Vorsicht!“, schreit Tarena und ihre Warnung sorgt dafür, dass ich einem Angriff zweier hinabstoßender Lampenwesen knapp entgehe.

Eine dritte Attacke pariere ich mit der Peitsche, gerate jedoch ins Stolpern, sodass es einem vierten Wesen gelingt, sich um meinen Fuß zu schlingen. Natürlich versuche ich es abzuschütteln, doch ehe ich überhaupt die nötige Kraft dafür aufbringen kann, geht ein Ruck durch meinen Leib und das Ding beginnt damit, mich einmal mehr zur Decke hinaufzuziehen, wo Nollotsch auf seinen entflohenen Gast wartet.

„Lass ihn in Ruhe, du widerwärtiges Monster!“, höre ich Tarena brüllen, mit einer befehlenden Stimme, die so klingt wie ein ganzer, bunt gemischter Chor und ich habe fast das Gefühl sogar Andy in diesen Chor einstimmen zu hören, „ich weiß nicht, was du mit mir und meinem Sohn vorhast, aber ihn lässt du gefälligst in Ruhe. Es reicht!“

Einige Sekunden lang geschieht nichts. Die Zeit ist wie eingefroren und alles in diesem falschen Supermarkt scheint den Atem anzuhalten. Dann jedoch zieht sich das Lampenwesen zu meiner Überraschung wirklich zurück und lässt mich hart auf den Boden aufschlagen.

„Verdammt!“, ächze ich, als ein spitzer Schmerz durch meinen Rücken fegt und stemme mich langsam und mühselig wieder hoch. Misstrauisch blicke ich zur Decke, an der nun wieder ganz gewöhnliche, harmlose Lampen zu hängen scheinen. Nichts bewegt sich dort, alles wirkt vollkommen friedlich und nicht mal von Nollotschs stinkendem Gewebe ist irgendetwas zu sehen.

„Wie hast du das geschafft?“, frage ich Tarena verblüfft und streiche über meinen schmerzenden Rücken.

„Ich weiß es nicht“, antwortet Tarena, die nicht weniger verwirrt zu sein scheint, „aber vielleicht wäre etwas Dankbarkeit angebracht.“

„Danke für meine Rettung“, sage ich aus ganzem Herzen und drücke Tarena einen Kuss auf ihre Lippen, die sich schon wieder ein wenig kalt anfühlen. Nicht sehr, aber ein wenig.

Plötzlich erklingt ein lautes, donnerndes Geräusch, als sich die Eingangstür des Supermarktes wie von Geisterhand öffnet und goldenes Licht hineinlässt.

„Was zum …“, stottere ich, „du scheinst dieses Ungeheuer wirklich im Griff zu haben.“

„Vielleicht“, antwortet Tarena skeptisch, „ich fürchte allerdings, dass dieser Griff nicht so einseitig ist, wie ich es mir wünschen würde.“

„Egal, wir sind erst Mal frei“, erwidere ich, „das ist es, was wir wollten. Jetzt sollten wir diesen Ort schnellstens verlassen, bevor Nollotsch es sich anders überlegt. Alles Weitere wird sich zeigen.“

Tarena nickt und so durchqueren wir so schnell wie möglich das Geschäft, ohne daran gehindert zu werden. Da ich mir bei meinem Sturz offenbar keine schwerwiegenden Verletzungen zugezogen habe, schaffe ich es dabei problemlos mit Tarena schrittzuhalten, deren eigener Körper seine Verletzungen überraschend gut weggesteckt hat und die selbst meinen Sohn ohne jede Mühe zu tragen scheint. Trotzdem fühle ich mich nicht wie ein erfolgreich entflohener Häftling oder gar wie ein Held. Denn natürlich bin auch ich nicht so naiv zu glauben, dass Nollotsch uns aus reiner Freundlichkeit entkommen lässt. Irgendetwas hat er damit im Sinn. Er will offenbar, dass Tarena und auch Andy nach Draußen gelangen und wahrscheinlich hat er entschieden, auch mich gehen zu lassen, damit genau das auch geschieht und sie keine Zeit mit irgendwelchen Rache- oder Rettungsaktionen verschwenden.

Doch welchen Plan verfolgt er damit? Trägt Tarena – oder vielleicht auch Andy – eine Art Virus in sich, das sie verbreiten sollen? Und wenn ja, wen sollten sie an diesem abgelegenen Ort damit infizieren?

Andererseits gibt es – wie ich selbst am besten weiß – diverse Möglichkeiten, die Welten zu wechseln und es sagt ja auch niemand, dass es sich wirklich um ein Virus handelt. Eigentlich wäre so etwas auch eher der Stil der Gesunder.

Aber was dann? Soll sie dort draußen irgendetwas für Nollotsch tun, was er selbst nicht erledigen kann, da er aus irgendeinem absurden Grund die Gestalt eines Supermarktes angenommen hat? Ist sie vielleicht sogar Nollotsch? Ein Teil von ihm, der lediglich Tarenas Gestalt gewählt hat? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr beunruhigt mich dieser Gedanke. Er wuchert, wächst in meinem Kopf und selbst als wir endlich vor die Tür treten und ich das diffuse goldene, unterirdische Sonnenlicht auf meiner Haut spüre, will er mich nicht loslassen.

Wenn ich doch nur einen Weg wüsste, um eine Antwort zu finden, um Gewissheit zu erlangen und meine Zweifel zu beruhigen.

Natürlich, fällt es mir siedend heiß ein, es gibt einen Weg. Keinen perfekten natürlich, aber vielleicht besser als nichts. Mit einem Handgriff verwandele ich meine Peitsche zurück in eine Münze und führe sie zu der Murmel an meinem Hals, als … ich einen kurzem, schmerzhaften Ruck an meinem Nacken fühle und dünnes Chitin reißen höre. Für einen Moment spüre ich noch das kalte Metall der Münze auf meiner nackten Haut. Dann fühle ich nichts mehr.

~o~

„Adrian, worauf wartest du?“, fragt Tarena den Mann, der nun bereits seit einer geschlagenen Minute still und mit halbgeöffneten Mund vor der noch immer geöffneten Tür des seltsamen Nahrungsmittelgeschäftes steht.

„Adrian, wir können hier nicht bleiben“, ermahnt Tarena ihr Gegenüber, „hier ist es nicht sicher. Wir müssen weiter!“

Wieder zeigt der Angesprochene keine Reaktion.

„Rede mit mir, du Idiot!“, versucht Tarena es ein drittes Mal und schlägt Adrian mit ihrer Klaue so kraftvoll gegen die Wange, dass es eigentlich weh tun müsste, doch er lässt es regungslos über sich ergehen.

Als Tarenas Blick hinab zu Adrians Hals gleitet, erstarrt auch sie.

„Nein“, flüstert sie entsetzt zu sich selbst, „verdammt, Nein!“

„Nollotsch, du Dreckskerl. Gib sie zurück! Gibt ihm die Murmel zurück!“, verlangt sie von ihrem ehemaligen Kidnapper, doch anders als zuvor beugt sich Nollotsch ihrem Willen nicht und gerade als sie wieder in den Markt hineinstürmen will, um die Kreatur zur Rechenschaft zu ziehen, schließt sich die Tür direkt vor ihrer Nase.

Sofort versucht sie sich mit ihren Klauen, ihren neu gewachsenen Händen und sogar mit Adrians Peitsche Zugang zu verschaffen, doch alle Versuche, die Tür zu öffnen, erweisen sich als sinnlos. Selbst als es ihr in ihrem Zorn schließlich doch gelingt, die Glasscheibe einzuschlagen, springt diese nach wenigen Augenblicken wieder zurück in ihre ursprüngliche, intakte Form. Nollotsch ist nicht nur der Herr dieses Ladens, erinnert sich Tarena, Nollotsch ist dieser Laden.

Resigniert und erschüttert wendet sich Tarena wieder der antriebslosen Hülle des Mannes zu, an dessen Seite sie fast jede Stunde der letzten Wochen und Monate verbracht hatte, die sicher die aufwühlendsten, schlimmsten und schönsten ihres ganzen Lebens gewesen waren. Sein Gesicht, in dem sonst Freude, Trauer, Zweifel, Sarkasmus und Euphorie ihre wechselhaften Gastspiele geben, ist endgültig zu einer wächsernen Maske erstarrt.

Nach wie vor atmet er, hält seine Körperspannung, aber darüber hinaus scheint ihm kaum noch etwas von einer Statue, einer Puppe zu unterscheiden. Die kleine schwarze Kugel, die Chaos-Murmel, wie Adrian sie genannt hat, ist fort; entwendet von einem von Nollotschs Dienern oder Körperteilen und sie hat es weder bemerkt, noch verhindern können. Tränen rinnen über Tarenas Gesicht und auch wenn ihr dieses Phänomen nicht sonderlich vertraut ist, sind es die düsteren, verzweifelten Emotionen dahinter durchaus.

„Was tue ich jetzt?“, flüstert Tarena zu sich selbst, während sie sich im Schneidersitz auf den Boden setzt, Andy, das letzte lebende Wesen in ihrer Nähe und in ihrem Leben, von ihrer Schulter hinunternimmt, und auf ihren Schoß setzt. Andys Anblick bietet ihr so wenig Trost wie das fremdartige Sonnenlicht auf ihrer Haut. Sie sieht, dass er leidet und dass es ihm große Schwierigkeiten bereitet seinen eigenen, übergroßen Kopf zu tragen. Zudem fühlt er sich schon wieder heiß an, so heiß, wie sie kalt ist, was ein dunkles, abscheuliches Verlangen in ihr erweckt, welches sie jedoch für den Moment leicht niederkämpfen kann.

Sie zwingt ihre Gedanken zurück zu ihrer ursprünglichen Frage, was ihr schwerer fällt, als erwartet. All diese Worte, die nun in ihrem Kopf herumschwirren und doch hat sie nicht das Gefühl schlauer geworden sein, als zuvor, sondern findet lediglich hunderte Wege, um ihre Ratlosigkeit auszudrücken.

Sie kann nicht wieder in ihren Bau zurück. Selbst ihre wenigen Freunde würden sie nicht vor dem Gesetz und dem Zorn der anderen beschützen. Über sie ist ein Todesurteil gesprochen worden und ihre Flucht hat es sicher nur noch schlimmer gemacht. Davon abgesehen weiß sie nicht einmal, ob ein Rückweg überhaupt möglich ist. Das Pendel, die Maschinenkreaturen, die Staubwesen, die einseitigen Türen – all diese Dinge stehen zwischen ihr und ihrer Heimat. Und selbst, wenn es ihr irgendwie gelingen würde, diese Hindernisse zu überwinden, wäre alles, was sie erwarten würde, ein einsames, trostloses Leben voller Angst und Heimlichkeit in stetig wechselnden Höhlen und fernab von den Jagdverbänden, die ihr Sicherheit gegeben hatten. Noch dazu weiß sie weder, was aus ihr, noch was aus Andy werden wird, nun, nachdem Nollotsch in ihre Biologie eingegriffen hat. Neben all diesen praktischen Erwägungen bleibt noch die Sache mit Adrian. Er war so etwas wie ihr Ersatzschwarm gewesen und doch auch so viel mehr als das.

Adrian hatte sie geistig herausgefordert, ihren Horizont gestreckt und ihr dabei geholfen mehr zu werden als sie gewesen war, so wie sie es auch mit ihm getan hatte. Er war nicht unbedingt ein gutes, aber zumindest ein sehr echtes Wesen gewesen, und von denen hat sie in ihrem Leben noch nicht allzu viele getroffen. Alles, was sie zuvor erlebt hatte, vom Moment ihrer Geburt, bis zu Adrians Auftauchen, hat sich angefühlt wie ein matter, unbewusster Traum. Wie eine taumelnde Wanderung im Halbschlaf, bei der sie fast nur Schatten und Puppen begegnet war. Adrian dagegen hatte immer wahrhaft lebendig gewirkt. Auf eine kantige, schmerzhafte, berauschende Weise, deren seltsamen Wert sie erst jetzt richtig erkennt, nun, wo er seinen Körper verlassen hat.

Selbst jetzt kann sie ihm nicht wirklich verzeihen, was er alles getan hat, wie oft er sie und Andy im Stich gelassen oder sich über ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinweggesetzt hatte, so wie sie selbst sich nicht ihre eigenen Fehler verzeihen kann.

Wenn er noch hier wäre, würde sie ihm womöglich Vorwürfe machen, ihn zurechtweisen, ihn anschreien, aber all das wäre besser als diese Stille. Diese nagende, gierige Stille.

Unwillkürlich denkt Tarena an all die Abenteuer, die dieser Mann erlebt hat, die ihn geformt haben und von denen sie nach wie vor nur einen Bruchteil kannte. Vor allem aber an seine Bereitschaft, sich mit Neugier und ohne jedes Vorurteil auf das Unbekannte einzulassen. Wahrscheinlich hat dies zu seinen besten Eigenschaften gehört, und wenn sie sein Andenken bewahren will, sollte sie sich wohl daran ein Beispiel nehmen. Immerhin ist sie nun fast allein in einem fremdem Land, einem völlig unbekannten Abschnitt ihrer Heimat und sieht einem ungewissen Lebensweg entgegen. Gibt es eine bessere Gelegenheit, um sein Fernweh zu entdecken?

Sie sieht zu der bizarren Pyramide, die wie ein versprengter Splitter im Auge der Realität vor ihr aufragt und deren unbestimmbar großer Eingang düster und verlockend zurückstarrt.

Hier wird mich meine erste Reise hinführen, denkt Tarena, denn immerhin wollte sie diesen Ort schon betreten, als Adrian sich noch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat. Warum sollte ihr Verlangen dorthin zu gehen sonst so groß sein, wenn nicht, weil ihre Intuition es ihr rät, weil sie erkennt, dass es der richtige Pfad ist? Erfüllt von ein wenig neuem Mut erhebt sie sich, was ihr zumindest körperlich sehr leicht fällt. All die Wunden, die Adrian ihr mit der Peitsche geschlagen hat, sind dank ihres veränderten Körpers bereits so gut wie verheilt und die Kraft und Geschmeidigkeit, die Nollotsch ihren Muskeln ungefragt geschenkt hat, verleiht ihr eine ungekannte Leichtigkeit. Auch wenn diese leider nicht ihr Herz erreicht.

Noch einmal streichelt sie über Andys Kopf und drückt ihn fest an sich, heißt seine fast schmerzhafte Wärme an ihrer kühlen Brust willkommen. Sie spürt, dass diese Wärme ihre Kälte nur auf eine Weise ausgleichen könnte, doch dieses dunkle Verlangen ist gerade ganz schwach in ihr. „Mutter“, krächzt ihr Sohn rau und spricht damit zum ersten Mal seit Stunden. Tarena lächelt, und auch wenn diese Muskelbewegungen für sie noch immer ungewohnt sind, fühlen sie sich gut an. Um sich zu trösten, könnte sie sich vorstellen, dass Adrian in seinem Sohn weiterlebt. Doch das stimmt nicht. Nicht wirklich zumindest. Andy ist ein eigenständiges Wesen, keine schlechte Kopie von ihr oder ihm. Davon abgesehen hat er nun zwei Väter.

Tarena tritt ein paar Schritte ins Sonnenlicht hinaus. Dann blickt sie zurück zu Adrian, dem Lehrer, Verräter, Geliebten, Verfluchten und Gesegneten und erschaudert.

Sollte sie seine Hülle töten, ihm so vielleicht endlich Frieden geben oder sollte sie ihn hierlassen, an einem der fremdesten aller fremden Orte, als Denkmal seiner Selbst, als Meilenstein all seiner Reisen und Abenteuer, bis die Zeit ihn zerreibt, aufweicht und seinen Staub in den Boden eingehen lässt?

Beide Möglichkeiten erwägt sie für einen Moment. Doch letztlich entscheidet sie sich für eine dritte. Sie geht zu ihm, gibt ihm einen Kuss auf Lippen, noch unbewegter als es ihre einst gewesen waren. Dann ergreift sie seine Hand und zieht ihn mit sich, woraufhin er sich gehorsam in Bewegung setzt. Automatisch und ohne erkennbaren Antrieb, jedoch flüssig und ohne zu stolpern. Er ist ein laufendes Andenken, sagt sie sich und der Gedanke tröstet und beschwert sie gleichermaßen. Sie glaubt nicht wirklich daran, ihn wiedererwecken zu können. Es müssten schon viele seltsame Zufälle zusammenkommen, damit dies geschehen könnte.

Andererseits ist dies hier ohne Zweifel eine seltsame Welt und keine Reisende tut auch nur einen einzigen Schritt, ohne ein wenig Hoffnung im Gepäck.

Also hebt sie Andy wieder auf ihre Schultern und gemeinsam setzen sie sich in Bewegung. Drei Körper und zwei Seelen, auf dem Weg ins Ungewisse.

~o~

Als Tarena den verwirrenden Eingang der Pyramide erreicht, scheint sich dieser endlich auf eine Größe festgelegt zu haben. Leider ist diese Größe selbst mit dem Wort „klein“ nur unzureichend beschrieben. Die rauen Sandsteinwände haben sich nicht einfach nur zusammengeschoben, sondern die Form humanoider Umrisse angenommen. Und auch wenn Tarena über keinen Spiegel verfügt, so ist sie sich doch recht sicher, dass es ihre Umrisse, sowie die von Andy und Adrian sind, die hier nachgeahmt werden.

Tarena, die einen großen Teil ihres Lebens in engen, unterirdischen Gängen verbracht hat, leidet nicht an Klaustrophobie, aber dennoch ist ihr nicht wohl dabei, das Gebäude auf diese Weise zu betreten. Immerhin ist es gut möglich, dass es sich um eine Falle handelt, hatte ihr doch schon ihr letzter Besuch in einer der unbekannten Strukturen dieses Areals einen Gutteil ihrer Identität und noch dazu die Seele ihres Begleiters geraubt, von der Auswirkung auf Andy ganz zu schweigen.

Prüfend streckt sie ihre Klaue nach der seltsam geformten Lücke aus und beobachtet, wie der Sandstein sich erneut verschiebt, offenbar, um sich an ihre veränderte Körperhaltung anzupassen. Als sie jedoch ihre Klaue schließlich durch die Öffnung schiebt, in der nichts als vollständige Finsternis zu sehen ist, wird diese weder zerquetscht, noch mit Säure, Blitzen, Patronen oder einer anders gearteten Bedrohung bestraft.

Tarena atmet erleichtert auf und kommt außerdem zu dem Schluss, dass es nicht nur sehr aufwendig wäre, so einen Zirkus um eine Falle zu veranstalten, sondern auch sehr kontraproduktiv. Ein derart merkwürdiger Eingang müsste zwangsläufig das Misstrauen jedes Besuchers erwecken.

Er ist – wenn man so will – der perfekte Antiköder. Wenn dieses Phänomen also überhaupt einen Sinn hat, dann wohl eher den, unerwünschte Personen vom Eintreten abzuhalten. Sie aber würde sich nicht abhalten lassen.

Sicherheitshalber nimmt sie Andy von ihrer Schulter herunter und hebt ihn auf den Arm, um ihn besser im Blick behalten zu können und ihm die direkte Berührung der Mauern zu ersparen. Dann packt sie Adrians schlafe Hand fester und geht mit den beiden auf den Durchgang zu, der sich sofort wie eine zweite Haut um sie legt, da die Steine nicht nur als Ganzes verschwinden oder erscheinen, sondern auch ihre Länge und Form so flexibel verändern, als bestünden sie sie aus Wasser.

Dieses Gefühl von rauem Sandstein, der sie überall, in jeder Pore, jedem Haar bis auf die molekulare Ebene hinab berührt, gehört sicher zu den unangenehmsten Dingen, die sie bislang erlebt hat, aber immerhin dauert diese Erfahrung nur einige Augenblicke an und als sie die andere Seite erreicht, wird sie nicht nur von einer unerwarteten Helligkeit, sondern auch von einer zwar schon eher erwarteten aber dennoch befremdlichen Weite entschädigt. Jene räumliche Weite nämlich besitzt nicht die Form einer Pyramide, sondern die eines perfekten Würfels. Und diese geometrische Besonderheit bleibt nicht das einzige bemerkenswerte an der Innenausstattung dieses unterirdischen Bauwerks.

So erstreckt sich vor ihr eine Art Weg – oder Brücke – aus silbernen, quadratischen, etwa einen Meter breiten, mit Golddraht umspannten Fliesen, die in gerade Linie aneinandergereiht sind. Zu ihrer Linken befindet sich nichts als eine Fläche voll massiver, undurchdringlicher Schwärze, während zu ihrer rechten helles, weißes Licht träge und flackernd emporsteigt, wie Suppe in einem brodelnden Kessel. Am Ende des Pfades wartet eine geräumige, wabenförmige Plattform und dahinter ein großes, silbernes, in konstanter Bewegung befindliches Pendel, welches sie abgesehen von seiner Farbe sehr stark an das erinnert, was ihnen in den Tunneln jenseits des schlimmen Lochs begegnet ist. Der Anblick dieses Pendels lässt Tarena noch einmal zögern, denn immerhin war es ein solches Pendel gewesen, mit dem ihre Probleme erst so richtig angefangen hatten.

Dann jedoch fasst sie sich ein Herz und entscheidet sich, dem Weg zu folgen, auch wenn sie nicht so recht weiß wozu, denn weder scheint es hier eine weitere Tür zu geben, noch gibt es hier ein Anzeichen der Anwesenheit irgendeines Bewohners, ganz gleich ob magischer, biologischer oder künstlicher Natur. Doch vielleicht existierte hier ja irgendein Geheimgang, eine Falltür oder sonst ein Weg, der sich unversehens vor ihr auftun würde und selbst wenn nicht, müsste sie sich, wenn sie diesem Weg folgte, wenigstens erst einige Sekunden später eingestehen, dass sie vollkommen verloren war.

Also lässt sie Adrians Körper vorausgehen, um ihn besser im Blick zu behalten und darauf achten zu können, dass er nicht hinunterfällt. Denn auch wenn es sich nicht genau bestimmen lässt, ob es sich bei diesen hellen und dunklen Arealen um Abgründe, Hindernisse oder begehbaren Untergrund handelt, hat sie nicht das Gefühl, dass es gut wäre, damit in Kontakt zu kommen.

Als sie die erste der Fliesen betritt, scheinen ihre Innereien vor Schreck aus ihrem Bauch zu rutschen, als sich diese urplötzlich um einige Meter absenkt, bevor sie schließlich abrupt zum Stillstand kommt. Nur durch gute Reflexe und einen großen Kraftaufwand gelingt es ihr, die Balance zu halten und weder sich selbst, noch Adrian oder Andy in einer der beiden Blöcke aus Licht und Dunkelheit geraten zu lassen, die sich nun wie massive, aber vor statischer Energie knisternde Wände neben ihr erheben.

Tarena atmet tief durch, bevor sie die nächste Kachel betritt, gefasst darauf, einen erneuten Fall zu erleben. Sie wird nicht enttäuscht, allerdings senkt sich diese Kachel nur ein wenig, wodurch sich eine Art Treppe andeutet, die sich auch bei den nächsten Fliesen fortsetzt. Am Ende steht Tarena ein ganzes Stück tiefer vor einer etwa zehn Meter breiten und hohen Glaskuppel mit wabenförmigem Eingang, deren Spitze von der Plattform gebildet wird, die sie oben bereits gesehen hatte und über der unablässig das silberne Pendel schwingt.

„Hallo“, fragt sie in ihrer Muttersprache, als sie die Kuppel betritt, deren Boden aus vielen kleinen messing- und kupferfarbenen Segmenten zusammengesetzt ist, die unterschiedlichste geometrische Formen aufweisen, aber dennoch wie ein komplexes Puzzle ineinandergreifen, „ist hier irgendjemand?“

Tarena erscheint diese Frage nicht so sinnlos, wie man angesichts der vollkommen leeren Kuppel annehmen könnte. Sie spürt eine Präsenz. Eine Materieverdichtung, irgendwo hier in diesem Raum.

Als keine Antwort kommt, wiederholt sie ihre Frage auf Bravianisch, Andrin, Hyronisch, Deutsch, Englisch und sogar Ägyptisch, doch ihre Worte halten trostlos und unerwidert von den gläsernen Wänden zurück.

Was mache ich hier eigentlich, denkt sie sich resigniert und kommt zu dem Schluss, dass sie in dieser Pyramide lediglich ihre Zeit verschwendet. Vielleicht könnte sie umkehren und in einen der anderen Läden neben dem Supermarkt einbrechen, in der Hoffnung, dass diese einfach nur harmlose Gebäude mit etwas nützlichem Inhalt sind, oder sie könnte die verwirrende Landschaft an der Oberfläche genauer erkunden und …

„Waren das schon alle Sprachen, die du beherrschst?“, erklingt eine freundliche, weibliche Stimme hinter ihr, deren Sympathiewert lediglich ein wenig unter der übertriebenen Exaktheit und dem fast versartigen Rhythmus leidet, mit dem sie benutzt wird.

Sofort fährt Tarena herum und aktivierte die Peitsche, die sie sich von Adrian angeeignet hat. Sie sieht sich einer jungen, nicht allzu bedrohlich wirkenden Frau gegenüber, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Auf den ersten Blick ist ihre Erscheinung relativ menschlich, doch die Details unterscheiden sich deutlich vom ihr so vertrauten Körper Adrians, deren Merkmale sich ja auch in ihrer eigenen Spezies wiederfinden.

Ihre rückenlangen, gelockten Haare, die offen über ihre Schultern fallen, sind nicht nur von rostroter Farbe, sondern scheinen – wenn man ihre staubige, matte Beschaffenheit zugrunde legt – tatsächlich aus Rost zu bestehen. Ihre Augen sind organisch und humanoid, jedoch mit silbrigen Augäpfeln, kupferfarbener Iris und messingfarbenen Pupillen. Ihre makellose Haut ist von einem gelblichen Farbton und ist nur an Hals, Schultern und in ihrem schlanken Gesicht erkennbar. Aus eben jenem Gesicht wölben sich volle, cremeweiße Lippen hervor, die trotz ihrer Attraktivität unangenehm an Maden und schwammige Pilze erinnern. Der Rest ihres Körpers steckt in einem engen Kupferpanzer, bei dem sich nicht genau sagen lässt, ob es sich um ein Kleidungsstück oder ein Exoskelett handelt. In einer kräftigen, zwölffingrigen linken Hand mit stiftdünnen Fingern, deren Nägel ebenfalls an staubiges Kupfer gemahnen, hält sie ein kleines, silbernes Pendel, das vollkommen ruhig über dem Boden hängt.

„Ich beherrsche noch weit mehr Sprachen“, antwortet Tarena, nachdem sie die erste Überraschung überwunden hat, „ich sah nur keinen Sinn darin weitere Worte in die Leere zu sprechen.“

„Oh, das ist schade“, erwidert die Unbekannte, „die Leere will gefüllt werden, weißt du? Das ist ihr größtes Begehren, selbst wenn sie es sich selbst nicht eingesteht. Und manchmal ist sie gar nicht so leer, wie man meint. In diesem Fall heißt die Leere ‚Any‘“.

„Ein recht beliebiger Name, oder?“, antwortet Tarena, die sich diese Bemerkung nicht verkneifen kann.

„Nicht unbedingt“, gibt Any zurück, „ich kenne sonst niemanden, der so heißt und damit erfüllt er seinen Zweck ein Individuum zu bezeichnen ganz gut. Zufällig ist mir bewusst, welche Bedeutung er in bestimmten Erdensprachen hat und diese Ironie entgeht mir nicht. Aber so ist es nun einmal mit den Sprachen. Es gibt viele von ihnen. Viel mehr als wir brauchen, wenn du mich fragst. Ja geradezu ein wucherndes Chaos, in dem sich kaum jemand zurechtfinden kann und das nicht immer präzise darin ist die Dinge zu bezeichnen. Tarena etwa heißt auf Alt-Bravianisch „Die Glückliche“, und wenn ich mir dich so ansehe, bist du das nicht gerade, oder?“

„Nein, das bin ich nicht“, gesteht Tarena ein, „aber woher zum Henker kennst du meinen Namen?“

„Das Multiversum ist ein offenes Buch, wenn man weiß, wie man es lesen muss“, erwidert Any, wobei sie ihre metallisch glänzenden Augen bedeutungsschwanger anstarren. Dabei erinnert Tarena sich an einige der Dinge, die sie in Adrians Aufzeichnungen gelesen hat.

„Bist du eine Steingeweihte?“, fragt sie geradeheraus. Immerhin würde das womöglich die Fähigkeit von Any erklären, sich einfach aus dem Nichts heraus materialisieren zu können. Ob es auch ihre quasi-hellseherischen Fähigkeiten erklären würde, ist natürlich eine andere Frage.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, widerspricht Any verächtlich und spuckt kupferroten Speichel auf den Boden, „ich habe nichts mit diesen Kreaturen gemein. Sie sind ein Affront gegen die Ordnung der Dinge.“

„Eine ziemlich harte Art über Kranke zu urteilen“, meint Tarena.

„Oh, es sind nicht nur Kranke. Sie sind auch die Krankheit“, erwiderte Any mysteriös.

„Wenn du keine Steingeweihte bist, wer bist du dann?“, fragt Tarena.

Any lässt ihr Pendel ein klein wenig kreisen, woraufhin Tarena meint, ein leichtes Vibrieren in ihrem Körper, aber auch im Boden zu spüren.

„Ich bin Any, wie ich dir bereits mitgeteilt habe. Alles weitere werde ich dir dann offenbaren, wenn du es wissen musst“, antwortet Any, „aber es gibt sicher andere Dinge, über die wir sprechen sollten. Deinen Freund hier zum Beispiel.“

„Was weißt du über Adrian?“, fragt Tarena aufgeregt, „kennst du eine Möglichkeit ihn zu retten?“

„Nein“, sagt Any, „er muss nicht gerettet werden.“

„Aber sieh ihn dir doch an“, widerspricht Tarena, „er ist nichts weiter als eine leere Hülle. Ein Wesen Namens Nollotsch hat ihm seine … Chaos-Murmel entwendet. Seitdem scheint er keine Seele mehr zu haben. Keinen Antrieb, gar nichts.“

„Meinst du diese Murmel hier?“, fragt Any. Sie hält die rechte Hand unter ihr Pendel, in der kurz darauf eine kleine, schwarze Kugel erscheint, „ein sehr schöner Begriff dafür. So erfrischend kindlich.“

„Was … wie ist das möglich?“, fragt Tarena verblüfft, die kaum glauben kann, was sie dort sieht, „Nollotsch hat sie doch …“

„Nollotsch hat ein Abkommen mit uns getroffen“, erklärte Any, “ein Abkommen, an welches er sich leider nicht vollständig gehalten hat. Er muss gedacht haben, dass er mit seinem Ungehorsam durchkommt. Das ist das Problem mit jungen Planetenkrebs-Sporen, sie überschätzen regelmäßig ihre Fähigkeiten.“

„Planetenkrebs …“, stottert Tarena, „du kennst Nollotsch? Du führst Verhandlungen mit diesem … Ding?“

„Er ist eine Abscheulichkeit“, entgegnet Any, „ein Geschwür am Körper der Materie und das nicht nur metaphorisch. Aber auch wenn mir da einige meiner Freunde widersprechen würden, ist für mich Ästhetik nicht gleichbedeutend mit Funktion. Jede Lebensform hat ihre Daseinsberechtigung. Nun, fast jede. Auch wenn ich zugeben muss, dass Nollotsch und die meisten anderen seiner Art wirklich keine sehr angenehmen Zeitgenossen sind. Aber das ist nun mal der Sinn von Diplomatie: Das Unangenehme nutzbar zu machen. Doch wem sage ich das. Das solltest du eigentlich am besten wissen.“

„Gib ihm sofort die Murmel zurück!“, verlangt Tarena schroffer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.

„Nein“, antwortet Any streng, „zumindest noch nicht. Und das nicht nur, weil ich gerne freundlicher angesprochen werde.“

„Ich bin nicht so harmlos, wie ich aussehe“, droht Tarena und spürt dabei, wie die Kälte in ihrem Leib ein wenig zunimmt. Ob Any wohl etwas Wärme zu geben hätte?

„Du siehst nicht harmlos aus“, meint Any wenig beeindruckt, „aber du siehst auch nicht dumm aus. Als Krebsbotin solltest du das auch nicht sein. Das widerspricht sich. Deshalb solltest du wissen, dass ich gerade in der stärkeren Position bin.“

„Krebsbotin?“, fragt Tarena, die beim Klang dieses Wortes innerlich erzittert.

„Ach natürlich, Nollotsch hat dich nicht über deine neue Rolle informiert“, erwidert Any kopfschüttelnd und durchaus ein wenig mitfühlend, „das sieht ihm ähnlich. Dabei ist so ein Verhalten in hohem Maße ineffizient. Einem erwachsenen Planetenkrebs würde so etwas wohl nicht passieren. Aber gut, dann ist es eben an mir, dich zu informieren. Du bist nun Nollotschs Sendbotin, sein Senneschall, seine Diplomatin und Stimme in der Außenwelt. Was immer er verlangt, was immer ihm dient, wirst du tun.“

„Nein“, schreit Tarena, auch wenn sie genau so etwas bereits vermutet hatte, ohne es sich selbst einzugestehen, „nein, das ist unmöglich! Woher willst du das wissen?“

„Ganz einfach, ich kann es sehen“, antwortet Any und beginnt ihr Pendel ausgreifender zu schwingen. Erneut geht ein Vibrieren durch Tarenas Körper. Nur diesmal ist es ungleich intensiver als beim ersten Mal.

„Dreh dich um“, verlangt Any und als Tarena diesem Wunsch nachkommt, sieht sie eine dünne, rote Schnur, die aus ihrem Rücken entspringt und sich durch den Eingang der Kuppel die Treppe hinaufzieht. Instinktiv versucht Tarena sie zu ergreifen, aber ihre Hände gleiten einfach hindurch.

„Was zum …“, stammelt Tarena erstaunt, „was ist das?“

„Eine Verbindung, eine Art Nabelschnur“, erklärt Any, „sie besteht aber auf einer anderen Ebene. Genauer gesagt ist ihr Ursprung im Geflecht, falls dir das etwas sagt. Du wirst sie also nicht einfach so lösen können und selbst wenn, würde ich das nicht empfehlen. Es würde wahrscheinlich dein Tod sein.“

Erneut erschaudert Tarena und diesmal hat es nichts mit dem Pendel zu tun. Der Gedanke fremdgesteuert zu werden, bereitet ihr Übelkeit. „Aber er hat noch nichts von mir verlangt. Er hat nie mit mir geredet, mir nichts eingeflüstert, weder während meiner Gefangenschaft noch danach. Meine Gedanken gehören noch immer mir!“

„Bist du dir da sicher?“, fragt Any, wobei sie eine Augenbraue fragend hochzieht.

Tarena antwortet mit einem düsteren Blick. „Ja, das bin ich“, zischt sie trotzig.

„Na wenn das so ist, kannst du ja erleichtert sein“, erwidert Any lächelnd, „im Grunde könntest du damit sogar recht haben. Die meisten Planetenkrebse sind faule Geschöpfe. Sie nutzen ihre Macht nicht die ganze Zeit. Sie veranstalten kein Puppentheater mit ihren Boten und flüstern ihnen nicht unablässig ihre Gedanken ein. Aber wenn es nötig ist, setzen sie einen Impuls, kreieren einen Wunsch oder eine spontane Eingebung. Das ist alles, was nötig ist. Und glaube mir, du würdest es nicht bemerken. Höchstens dein Umfeld, falls es dich gut kennt und diese Handlung gegen deinen sonstigen Charakter verstößt. Aber wenn man dich darauf anspricht, würdest du Begründungen finden, dich rechtfertigen und alles tun, um dieses Misstrauen zu besänftigen.“

„Das ist … das ist einfach grauenhaft“, entfährt es Tarena.

„Du wirst damit klarkommen“, kommentiert Any nüchtern, „du stammst aus einem Schwarm, einem wohlgeordneten Kollektiv, in dem jeder seine Aufgabe hatte. Ihr mögt euch von diesem harmonischen Zustand entfernt haben, aber die Anlage dazu ist noch immer in dir. Gewiss, es gibt weit bessere Verbindungen in die man sich einfügen kann, aber in dieser Sache hast du wohl einfach keine Wahl.“

„Ich will mich aber nicht damit abfinden. Gibt es keine Möglichkeit diese Verbindung zu lösen?“, verlangt Tarena zu wissen.

„Vielleicht gibt es die“, antwortet Any, „aber darüber wird später noch zu reden sein. Willst du gar nicht erfahren, was es mit Adrian und seiner ‚Murmel‘ auf sich hat?“

„Doch, natürlich“, nutzt Tarena die willkommene Möglichkeit das Thema zu wechseln und sich nicht der ihr gerade eröffneten, grauenhaften Wahrheit stellen zu müssen, „aber ich dachte, du willst ihm nicht helfen.“

„Natürlich will ich das“, widerspricht Any, „sonst hätte ich kaum diese … Murmel von
Nollotsch zurückgefordert. Ich meinte lediglich, dass er nicht gerettet zu werden braucht. Er ist im Grunde intakt und lebendig, lediglich ein wenig … verstreut.“

„Verstreut, was bedeutet das?“, erkundigt sich Tarena.

„Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen. Ich hoffe, du hast ein bisschen Zeit mitgebracht“, erwidert Any, „zumindest, solange du hier an diesem Ort bist, sollte Nollotsch sie nicht beanspruchen. Also, wie sieht es aus?“

„Ich höre mir gerne an, was du zu sagen hast“, antwortet Tarena, die sich eingestehen muss, dass sie nicht viele andere Möglichkeiten hat. Sie muss so viel über ihre Situation erfahren, wie sie nur kann und es scheint ihr, als wäre hier der beste Ort dafür.

„Eine Frage habe ich aber noch“, fügt sie nervös hinzu, „was ist mit meinem Sohn? Auch er wurde von Nollotsch verändert, wie du sehen kannst. Ist auch er ein Krebsbote oder was hat dieses Ungeheuer mit ihm vor?“

„Auch darüber können wir später reden“, wiegelt Any ab, „wir haben schon genügend Zeit vergeudet. Dabei ist Zeit so kostbar. Sie ist zwar nur ein Konstrukt, aber ein atemberaubend Schönes.“

„Ich will nicht warten. Wenn du etwas weißt, dann sag es mir jetzt!“, verlangt Tarena.

„Später!“, beharrt Any.

„Aber ich …“, beginnt Tarena, doch Any unterbricht sie, „jetzt ist keine Zeit mehr zu reden, Tarena. Nicht für dich. Jetzt ist Zeit zuzuhören. Also höre zu, oder geh deines Weges. Dann bleiben dir diese Pforten aber für immer verschlossen und ich überlasse dich Nollotschs Willen. Was soll es sein?“

„Das ist Erpressung“, beschwert sich Tarena.

„Mein Haus, meine Regeln“, beharrt Any schmunzelnd, jedoch unnachgiebig, „also?“

„Ich höre zu“, antwortet Tarena widerwillig, da sie diese Möglichkeit, Andy, Adrian und sich selbst zu retten, nicht leichtfertig wegwerfen will.

„Gut“, antwortet Any, „ich könnte dir jetzt einiges erzählen. Darüber, wie das Räderwerk des Lebens funktioniert, über den Widerstreit der Mächte, das Austarieren des Prozesses und dergleichen und das werde ich auch noch. Aber beginnen wir am besten mit unserem Freund Adrian.„

Noch bevor Tarena fragen kann, was Any mit ihren nebulösen Andeutungen meint, streckt ihren Arm aus und schwingt ihr Pendel einmal in einem perfekten Kreis, woraufhin eine große, schwebende Metallscheibe senkrecht in der Luft erscheint.

Die Scheibe ist farblich geteilt in einen weißen, einen grauen, einen schwarzen und einen roten Bereich. In den ersten drei befinden sich jeweils drei kugelförmige Vertiefungen, während der letzte Abschnitt ganze einhundert winzige Fassungen enthält. Der schwarze Sektor ist dabei vollkommen leer, der weiße und der graue sind vollständig mit murmelgroßen Kugeln gefüllt und auch im roten Bereich steckten dreiundneunzig kleiner Kugeln. Manche davon schillernd und blutrot, andere von einem mattem Blassrot und einige wenige beinahe grau und mit Rissen durchzogen.

„Was ist das?“, fragt Tarena vollkommen verwirrt.

„Das ist eine Seelentafel“, erklärt Any, „dieser Raum und mein Pendel bergen gemeinsam die Fähigkeit sie zum Vorschein zu bringen. Und darauf zuzugreifen.“

„Das ist unmöglich“, entfährt es Tarena unwillkürlich, „du willst mir doch nicht erzählen, dass …“

„Stopp!“, unterbricht Any sie, „erinnere dich an das, was du mir versprochen hast. Du wolltest dir anhören was ich zu sagen habe und mich nicht unterbrechen. Regeln sind Regeln und an die hält man sich, in Ordnung?“

Tarena nickt.

„Alles klar. Wo waren wir? Ach ja. Die Seelentafel. Jedes Geschöpf im Multiversum besitzt eine und bei jedem sieht sieht ein wenig anders aus, je nachdem was für Talente und Handlungsmöglichkeiten es besitzt und ob es Zugriff auf die Kraft der Magie hat. Aber die von Fortgeschrittenen sind eine ganz besondere Kategorie. Doch dazu komme ich noch. Zunächst einmal solltest du wissen, wofür diese Farben stehen. Man nennt sie Quartale. Das graue Quartal ist für die Körperfunktionen verantwortlich. Für die vegetativen Prozesse – wie das Atmen und die Verdauung, den Bewegungsapparat und die Sinne sowie die Denkfähigkeit.

Letztere ist bei deinem Freund ziemlich beeinträchtigt, wie du an der matten Färbung erkennen kannst. Aber er hat keinen Hirnschaden oder dergleichen, sein momentaner Zustand hat einen anderen Grund.

Kommen wir zu dem weißen Quartal. Es steht für Struktur, Organisation, Regeln und Logik. Hier ist bei Adrian alles in Ordnung. Sogar mehr als das. In dieser Hinsicht ist er ein regelrechter Musterschüler.

Das schwarze Quartal symbolisiert im Grunde das genaue Gegenteil und steht für Impulse, Leidenschaft, Emotionen und Intuition. Überschätzte Eigenschaften größtenteils, aber ein bisschen davon brauchen wir. Es ist wie mit Brennstoff in einer komplexen Maschine. Gibt man zu viel Energie hinein, schmilzt oder explodiert sie, aber entfernt man sie vollständig, regt sich nichts mehr. Genau das ist mit „Adrian“ passiert.

Du musst wissen, dass wir unser Bestes tun, um allzu undisziplinierte Personen, insbesondere Fortgeschrittene, von diesem Ort, dem „Efryum“, fernzuhalten. Zu groß ist der Schaden, den sie hier anrichten könnten. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzen wir auch den Reiniger im großen Pendelraum. Er soll das Chaos in all jenen reduzieren, die passieren wollen. Dummerweise jedoch hat Adrian auf all seinen Reisen bereits viel von seiner anfänglichen Wildheit verloren und so war es nun leider ein wenig zu viel des Guten. Doch das ist nicht tragisch. Ich bin in der Lage ihm diesen Anteil wiederzugeben, doch ich werde es, wie gesagt, noch nicht tun.

Der Grund dafür ist aber nicht Bosheit, sondern das vierte Quartal. Hier nämlich wurden seine Erinnerungen gespeichert. All die Welten, die er besucht hat. All die Dinge, die er erlebt hat und die er Tag für Tag in blumigen Worten niederlegt. Er spürt, dass es wichtig ist, sie niederzuschreiben, sie zu reaktivieren. Deswegen ist er ständig davon getrieben, es zu tun.

Und damit hat er sogar recht. Es ist wichtig. Wichtiger, als er selbst ahnt. Ganz besonders nach dem, was mit den Archiven passiert ist und seitdem die Dinge … nun, seitdem die Dinge so sind, wie sie sind. Wir müssen, erfahren, was alles in diesen Erinnerungsfragmenten steht. Viel hängt davon ab. Natürlich brauchen wir nicht all diese Erinnerungen. Weder von denen, die er noch frisch im Gedächtnis hat, noch von denen, die er verdrängt, verzerrt oder vergessen hat, aber manche davon sind so kostbar, dass nicht mal ein Deovani ihren Wert bemessen könnte.

Leider können wir sie nicht einfach auslesen, wie einen Datenträger der Whe-Ann. Wenn Dinge wie Biologie oder Magie ins Spiel kommen, wird es immer kompliziert, schmutzig und ungenau. Wir müssen die gewöhnlichen, biologischen Wege der Kommunikation nutzen. Die Sprache und die Schrift. Deswegen muss er reden, muss er berichten, was er erlebt hat und sollte besser nicht erwachen, bevor es vollendet ist. Andernfalls kann es trotz allem sein, dass er sich vor seiner Verpflichtung drücken oder irgendetwas Unüberlegtes unternehmen würde und natürlich kann es passieren, dass er Dinge auslässt oder falsch wider gibt, um sich zu schützen oder sich sein Leben schönzureden. Wie gesagt, sein Chaos-Anteil mag nicht mehr so hoch sein, wie zu Beginn seiner Reise, aber er ist gefährlicher als bei vielen anderen. Ich denke, du kennst ihn gut genug, um das zu wissen. Wir werden also lange zuhören müssen, aber es lohnt sich, glaube mir. Ich weiß das, weil er und ich uns schon früher getroffen und in gewisser Weise zusammengearbeitet haben. Ich habe zwar nur Kenntnis von einigen seiner Erlebnisse, aber schon die geben einige sehr hörenswerte Geschichten ab.“

„Was geschieht danach?“, fragt Tarena, die sich von der schieren Wucht dieser neuen Erkenntnisse zwar nicht intellektuell, aber doch emotional überfordert fühlt, nun doch, „was hast du mit ihm vor, nachdem du ihn benutzt hast? Nachdem du weißt, was du wissen willst? Machst du ihn dann endlich wieder vollständig oder wirfst du ihn einfach weg? Und was ist mit mir und meinem Sohn?“

„Du hast mir versprochen …“, versucht Any sie zu unterbrechen.

„Ich habe lange genug geschwiegen“, beharrt Tarena mit ruhiger aber fester Stimme und einer kompromisslosen Entschlossenheit in ihren ehemaligen Facettenaugen, „antworte mir!“

„Du bist wahrlich keine gute Diplomatin“, antwortet Any lächelnd, „aber in Ordnung. Nein, ich werde ihn nicht wegwerfen. Ich brauche ihn noch. Nicht nur sein Wissen, sondern auch seine Fähigkeiten. Und auch dich werde ich vielleicht gebrauchen können, je nachdem wie sich die Dinge entwickeln.“

„Ich lasse mich nicht von dir gebrauchen“, knurrt Tarena, „es reicht mir schon, die Dienerin eines Geschwürs sein zu müssen.“

„Wir alle werden für irgendetwas gebraucht und wollen letztlich auch gebraucht werden. Das liegt in unserer Natur“, widerspricht Any, „und was deinen Dienst für Nollotsch betrifft, so lassen sich manche Verstrickungen lösen, wenn man die Knoten ausfindig machen kann. Dasselbe gilt für deinen Nachwuchs. Wir müssen einfach die Augen und vor allem unsere Ohren offenhalten.“

„Sprich nicht in Rätseln“, verlangt Tarena, „sag mir einfach im Klartext, was genau du damit meinst und was du mir für meine Kooperation anbieten kannst.“

„Nun sprichst du schon etwas mehr wie ein Diplomatin“, erwidert Any schmunzelnd, „aber ich kann dir nicht geben, was du verlangst. Noch nicht. Ich weiß vielleicht etwas mehr als du, aber ich weiß nicht alles, was ich wissen muss. Längst nicht. Wir beide müssen zuhören und sehen, wie sich die Fäden entfalten, bevor wir ihr Muster verstehen können. Bist du bereit dazu?“

„Von mir aus“, erwidert Tarena.

„Gut“, sagt Any, „gib ihm seinen Katalog, dann können wir anfangen. Er wird wissen, welche Dinge er uns berichten muss. Und falls nicht, werde ich ihn anleiten.“

Schweren Herzens geht Tarena zu ihrem leblosen Freund, öffnet seinen Rucksack, den er immer noch auf dem Rücken trägt, holt alles Nötige hervor, legt den Katalog auf seinen Schoß und drückt ihm eine in altes, halb getrocknetes Käferblut getauchte Käferscherbe in die Hand.

Der Anblick macht Tarena wehmütig. Wie oft hatte sie ihn in der kleinen Höhle oder in ihrem Bau schreiben sehen? Nicht zum ersten Mal wünscht sie sich, einfach wieder dort sein zu können. An seiner Seite und mit all ihren Kindern, wenn auch natürlich am liebsten mit der Fähigkeit zu sprechen und ihm klar zu machen, dass sie keine Bedrohung für ihn darstellt. So ist es nun mal, denkt sie, ganz egal ob man in die Zukunft oder in die Vergangenheit blickt, immer strebt man nach unerreichbarer Perfektion.

Flüchtig streicht sie ihm über seine Wange, doch zu einem erneuten Kuss kann sie sich nicht überwinden. Es hätte zu sehr geschmerzt und gespürt hätte er es ohnehin nicht.

„Wie willst du Adrian dazu bringen zu Sprechen oder zu Schreiben?“, will Tarena wissen, „er kann ja nicht mal aus eigenem Antrieb gehen.“

„Er braucht keinen eigenen Antrieb“, antwortet Any, hält wieder eine Hand unter ihr Pendel und lässt es mit der anderen Hand kreisen, woraufhin wie aus dem Nichts eine Messingkugel aus feinen, sich überlappenden Ringen entsteht und schließlich in ihrer Handfläche landet, „ich mache ihm einfach einen.“

Dann geht sie auf Adrians Seelentafel zu und drückt die Kugel in eine der schwarzen Fassungen, wo sie mit einem elektrischen Knistern einrastet. Sofort beginnen die kleinen Ringe sich ratternd zu drehen.

„Das verleiht ihm kein wirkliches Leben“, erklärt Any, „aber für unsere Zwecke wird es genügen. Adrian?“

„Ja, Any?“, gibt der Fortgeschrittene zurück. Seine Stimme klingt nicht mechanisch, sondern moduliert und organisch, aber dennoch auf unbestimmte Weise seelenlos. Ein Schauer läuft über Tarenas Rücken und sie drückt Andy noch fester an sich.

„Erzähl uns deine Geschichte“, verlangt Any.

Adrian nickt. Zielgerichtet blättert er durch die Seiten, senkt schließlich die Scherbe auf das Papier und beginnt.

~o~

Sandra spürte ein scharfes, schmerzhaftes Ziehen, als sich ihre Haut wieder über ihr rohes Fleisch stülpte, gefolgt von ihrer Kleidung, und sie endlich vollständig dort erschien, wo auch immer Kollom sie hingebracht hatte. Der Schmerz ließ sie in die Knie gehen und vernebelte ihre Sinne für einige Augenblicke. Trotzdem bekam sie einen ersten vagen Eindruck von ihrer Umgebung. Der Raum, in dem sie sich befand, erinnert sie dabei an ein Labor, selbst wenn er sich sehr von dem Labor unterschied, in dem sie mit Disruptor Yonis gearbeitet hatte.

Direkt vor ihr stapelten sich in fünf Reihen mehrere große Glaskästen mit kleinen, fellbewachsenen Säugetieren darin, die sie grob an Mäuse erinnerten. Anders als diese besaßen sie jedoch sechs Hinterbeine, zwei Vorderbeine mit affenartigen Händen, winzige Ohröffnungen, kleine Fühler auf ihren Köpfen und einen platten, breiten, hornigen Schwanz. Jenseits dieser Tiere und ihrer mit Luftlöchern, Tränken und Futterschalen ausgerüsteten Kästen, die vor einer aus schwarzen Ziegeln bestehenden Wand standen, hatte dieser Raum nicht viel zu bieten.

Zu ihrer rechten gab es eine kleine Computerkonsole und auf dem Boden, unmittelbar vor ihr, prangte ein auffälliges Symbol. Fünf bunte, verschieden große Sterne mit unterschiedlicher Zacken-Anzahl und Länge. Direkt über ihr verströmte eine flache, Deckenlampe ein leicht rötliches Licht und sowohl links als auch rechts von ihr schien es Durchgänge zu geben. Was dahinter lag, konnte sie jedoch nicht genau erkennen. Denn diese Durchgänge schluckten mal einen Großteil und mal alles von dem farbigen Licht, das sich dort hineinwagte. Wie viel, änderte sich mit jedem Blinzeln. Dadurch schien es so, als würde ein Nebel aus Dunkelheit seine Finger in den Raum hinein strecken, oder als wäre das Licht selbst nicht mehr als eine glitzernde Suppe, die man in ein Meer aus Finsternis geschüttet hatte.

„Ich hätte mir denken können, dass ich Ihnen nicht trauen kann“, ätzte Sandra zu Kollom, der gerade in ihrem Sichtfeld auftauchte und ihr hilfreich seine Hand hinstreckte, „wohin haben Sie mich gebracht, Sie Bastard?“

Sie erhob sich aus eigener Kraft und ignorierte Kolloms Hilfsangebot, was dieser schulterzuckend zur Kenntnis nahm.

„Es stimmt, ich habe Ihnen tatsächlich nicht die Wahrheit erzählt“, gestand Kollom ein, „aber ich habe Sie auch nicht verraten. Das hier ist keine Entführung, sondern ein Angebot.“

„Ein Angebot?“, Sandra lachte humorlos auf, „auf wie viele Angebote soll ich noch eingehen? Ich habe mich bereits so oft verkauft, dass selbst ich nicht mehr weiß, wer mein Mehrheitseigner ist.“

„Oh, das sollten Sie besser nie vergessen. Erst recht nicht hier in Deovan“, bemerkte Kollom trocken, „aber so eine Art von Angebot soll es nicht sein. Es geht nicht darum, Ihnen weitere Pflichten aufzuerlegen. Ganz im Gegenteil, ich will Ihnen etwas schenken.“

„Sie wollen was?“, fragte Sandra zu überrumpelt, um sarkastisch sein zu können.

„Das muss Sie nicht wundern“, sagte Kollom plötzlich sehr ernst, „ich kann großzügiger sein, als Sie denken. Dass ich es für gewöhnlich nicht bin, hat mit den Regeln von Deovan zu tun. Wer ihnen nicht folgt, kann dort nichts erreichen.“

„Ach, und jetzt sind wir etwa nicht in Deovan?“, fragte Sandra.

„Nein, technisch gesehen nicht“, entgegnete Kollom, „dies ist ein Extrakt. Ein abgetrennter Teil des Geflechts, den wir für begrenzte Zeit nutzen können. Für etwa eine Viertelstunde, um genau zu sein. Dann müssen wir diesen Ort erst einmal verlassen, da es für uns sonst … unangenehm werden kann. Aus diesem Grund will ich auch keine Zeit verschwenden.“

„Oh, das trifft sich gut“, erwiderte Sandra, „ich will nämlich auch so schnell wie möglich von hier weg, immerhin wollte ich ja gar nicht erst hierher kommen. Also schießen Sie los, unterbreiten Sie mir Ihr Angebot, damit ich es endlich ablehnen kann.“

Kollom zog eine Augenbraue hoch, wohl um zu verdeutlichen, dass er dies als Scherz verstand, auch wenn Sandra es nicht so gemeint hatte.

„Nun gut“, begann Kollom seufzend, „wir beide wissen, dass Sie nicht für Deovan geboren sind. Dafür fehlt es Ihnen zwar nicht an Fähigkeiten, wohl aber an der nötigen Disziplin und der Bereitschaft zur Selbstausbeutung. Das ist keine Kritik. Ich kann das sehr gut verstehen. Disziplin ist keine Tugend, sondern mehr ein notwendiges Übel. Genau wie Verträge, Vereinbarungen und fest installierte Hierarchien. Wahrhaft große Geister benötigen derlei nicht.“

„Ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass Sie etwas gegen Verträge haben“, kommentierte Sandra, „und für einen Anarchisten hätte ich Sie schon gar nicht gehalten.“

„Das bin ich auch nicht. Anarchie bedeutet Ordnung ohne Herrschaft und ich habe nichts gegen Herrschaft. Sie ist das Natürlichste der Welt, aber sie sollte sich aus dem Augenblick ergeben. Aus Leidenschaft, Charisma, Kraft und Schläue und nicht durch starre Strukturen. Allein Fähigkeiten sollten darüber entscheiden, wer sich durchsetzt. Nicht Prozesse und Absprachen. Genau dafür stehen doch auch Fortgeschrittene wie sie. Für neue Horizonte, für schrankenlose Freiheit und die Überwindung von Grenzen. Sind wir da nicht einer Meinung?“

„Möglich“, sagte Sandra etwas skeptisch, „aber worauf wollen Sie hinaus?“

„Ich will darauf hinaus, dass ich Sie für eine starke, fähige Frau halte. Für eine würdige Verbündete, nicht für irgendeine austauschbare Angestellte“, erklärte Kollom, „ich will, dass Sie mir dabei helfen, die Ketten des Aufsichtsrates abzuwerfen, nicht meinetwegen, sondern um Ihrer Selbst willen. Ehe Sie sich versehen, werden sie nicht nur nach mir, sondern auch nach Ihnen greifen und sie können davon ausgehen, dass sie ihre Talente nicht erkennen werden. Sie denken konservativ, kurzfristig und in engen Bahnen und auch wenn sie sich modern und risikoaffin geben, sind sie nichts weiter als träge Feiglinge. Ja, mehr noch, sie sind Aristokraten. Verknöcherte Adelige, die ängstlich und verbissen auf ihren wackeligen Thronen sitzen, unfähig ihren Impulsen zu folgen. Ganz Deovan ist nichts weiter als ein Hightech-Feudalismus, der lästerlich das Banner der Freiheit vor sich herträgt. Wir müssen das beenden.“

„Okay“, meinte Sandra überrumpelt, „dann verstehe ich aber nicht, warum Sie mich in Ihren Koffer gesperrt, genötigt und eingeschüchtert haben. So baut man jedenfalls kein Vertrauen auf.“

„Ich konnte mich Ihnen nicht offenbaren, nicht bevor ich Sie besser einschätzen konnte. Auch jetzt ist es dafür eigentlich zu früh, aber die … Dynamiken haben sich verschärft. Deshalb gehe ich das Risiko ein, mit Ihnen zu reden“, versuchte Kollom ihr zu erklären, wobei es ihm zunehmend schwerfiel, die Worte aus seinem Kopf zu klauben. Es wurde höchste Zeit, dass Yonis ihn behandelte.

„Sie haben Angst“, stellte Sandra süffisant fest. Ein überlegenes Lächeln wuchs auf ihrem Gesicht.

„Ich reagiere auf veränderte Rahmenbedingungen“, entgegnete Kollom verlegen und nervös, jedoch offenbar um Nüchternheit bemüht.

„So kann man es sicher auch ausdrücken“, sagte Sandra lachend und selbstbewusst, „wie wollen Sie das überhaupt anstellen? Wollen Sie eine Revolution vom Zaun brechen? Allein? Oder zusammen mit mir? Sollen wir die Räume des Aufsichtsrats stürmen und sie alle über den Haufen schießen? Ehrlich gesagt habe ich gerade erst eine Revolution hinter mir, wie Sie ja selbst wissen, und meine Erfahrungen damit sind recht bescheiden. Sie können sich vorstellen, dass ich keine große Lust darauf habe, das zu wiederholen. Erst recht nicht mit einem Mann, der mich ständig hintergeht. Davon abgesehen kann ich noch immer nicht das Angebot in Ihren Worten erkennen. Was soll dabei für mich rausspringen? Um es in ihrer Sprache zu sagen: das ist kein sehr guter Pitch. Kollom, okay?“

Kollom wollte ihr reflexhaft widersprechen, aber das Problem war, dass sie die Wahrheit sagte. Es wollte ihm einfach nicht gelingen seine Gedanken zu ordnen und in ihrer Situation hätte er sicher keinen Deut anders reagiert, wenn ihm jemand mit diesem konfusen Wortschwall gekommen wäre. Also atmete er tief durch und versuchte sich zu fokussieren. Das Wesentliche, ermahnte er sich, beschränke dich auf das Wesentliche.

„Sie haben recht“, gestand Kollom ein, „ich bin ins Schwatzen geraten, also versuche ich mich nun klarer auszudrücken. Eigentlich geht es mir nur um drei Dinge. Erstens: ich will den Zugriff des Aufsichtsrats abwehren und seine Stellung schwächen. Dass das nicht mit plumper Gewalt funktioniert, ist mir klar. Deswegen müssen wir vorerst nach den Regeln spielen und das Forschungsprojekt zur Marktreife führen, so wie es geplant ist. Mit allen Mitteln und mit kompromissloser Leidenschaft. Erst danach werden wir weitere Schritte unternehmen.
Zweitens: Ich stehe in dieser Angelegenheit nicht allein, sondern kann auf ein Netzwerk von Unterstützern zurückgreifen. Ein mächtiges Netzwerk, von dem auch Sie profitieren können und dem ich Sie zu gegebener Zeit gerne vorstellen würde. Drittens: Ich kann Ihnen etwas anbieten, dass Ihnen schon jetzt zugutekommt. Und ich kann es Ihnen sofort demonstrieren.“

Sein Blick wanderte zu den Käfigen, in denen die unbekannten Säugetiere unruhig auf und abgingen. Einige pressten neugierig ihre Gesichter gegen die Scheiben oder gaben leise schnurrende und schnatternde Geräusche von sich.

„Nein Danke, ich brauche kein Haustier“, wiegelte Sandra ab.

Kollom verzog den Mund zu einem krummen Lächeln, ging zu einem der Käfige und nahm ein recht schmächtiges Exemplar heraus, welches ängstlich vor ihm zurückschreckte, bevor er es grob packte und auf den Boden setzte, wo es zitternd, geduckt und beinah bewegungslos liegen blieb.

„Es hat Ähnlichkeit mit Ihnen“, kommentiere Sandra sarkastisch.

Kollom ignorierte die Spitze. Vor allem, weil ihm keine würdevolle Erwiderung einfallen wollte.

„Zurane sind von Natur aus schwach und feige“, erklärte Kollom, „ein ziemlicher Unfall der Evolution, jedoch sind sie in der Lage sich gut und schnell zu vermehren. Außerdem zeigen sie rudimentäre Ansätze für höhere Intelligenz und haben auch die Voraussetzungen, um Werkzeuge zu benutzen. Allerdings kommen sie selten dazu. Deswegen.“

Mit diesen Worten trat er das kleine Tier so fest, dass es kreischend gegen einen der Käfige klatschte, dessen Bewohner sofort panisch in die hinterste Ecke flüchtete.

„Hey!“, protestierte Sandra. Sie war kein übergroßer Tierfreund, aber das hier war erbärmlich.

Kollom beachtete sie nicht und ging auf das Tier zu, dessen Fell mit etwas Blut bedeckt war. Dennoch schien es noch zu atmen und auch nicht lebensgefährlich verletzt zu sein, wie Sandra feststellte, als auch sie neugierig etwas näher trat.

Kollom aktivierte seinen Manifestor und holte dort eine kleine, silberne Röhre hervor, auf der dasselbe Symbol abgebildet war, wie auf dem Boden. Er führte das Objekt zum Kopf des benommenen Tieres und drückte mit dem Daumen auf das hintere Ende, woraufhin eine dünne Nadel daraus hervorschoss, die er ansatzlos im Körper der Kreatur versenkte.

Das Tier quietschte auf und krümmte sich etwas weiter zusammen. Ansonsten geschah nichts.

„Wollten Sie es einschläfern und sein Leiden beenden?“, fragte Sandra, „das zumindest scheinen Sie geschafft zu haben.“

Kollom sagte nichts und einige Sekunden verstrichen in denen Sandra nervös zu den beiden offenen Gängen blickte, in denen nicht nur die Dunkelheit zugenommen hatte, sondern nun auch kleine, bunte Lichter darauf zu flimmern begannen, die auf Sandra trotz ihrer vordergründigen Schönheit etwas eher besorgniserregendes ausstrahlten.

Dann jedoch hörte Sandra einen lauten Knall und als sie sich daraufhin ruckartig umdrehte, stellte sie fest, dass das Tier nicht nur aufgestanden war, sondern gleich unglaublich agil und ohne herunterzufallen auf einen der glatten Käfige aufgesprungen war, wo der Zurane kurzerhand mit seinen kleinen Fäusten ein Loch in die Scheibe schlug und die entstehende Öffnung danach einfach wie Papier auseinanderriss, indem er seine Hände hineinsteckte und seine Armmuskeln anspannte.

Noch bevor sich sein befreiter Artgenosse vorsichtig aus seinem Gefängnis herauswagte, hatte er dieselbe Behandlung drei weiteren Käfigen angedeihen lassen. Die Splitter flogen vor allem Kollom ins Gesicht, der jedoch nichts weiter tat, als stoisch stehenzubleiben und gelegentlich schützend seine Augen zu bedecken.

„Wollen Sie nichts unternehmen?“, fragte Sandra.

„Sehen Sie einfach nur zu“, erwiderte Kollom lediglich und das war womöglich eine gute Empfehlung, denn tatsächlich gab es hier einiges zu sehen. Inzwischen hatte der kleine Quälgeist, der vor kurzem noch ein Häufchen Elend gewesen war, zwölf weitere Käfige geöffnet und einige seiner schüchternen Geschwister tapsten bereits verwundert auf dem Boden herum. Doch das war nicht alles. Der von Kollom miss- und behandelte Zurane verzichtete plötzlich darauf weitere Käfige zu öffnen, ging zu seinen Artgenossen und begann wild in Sandras und Kolloms Richtung zu gestikulieren, und zwar so wütend und nachdrücklich, dass unübersehbar war, dass er Rache wollte.

Als das jedoch keinen Erfolg brachte und seine Kollegen weiterhin ratlos und ängstlich herumstanden, sprang er mit einem frustrierten Laut auf Kollom zu, änderte in letztem Moment etwas die Richtung und riss dem Deovani das Röhrchen auf der Hand. Diese Beute rammte das kleine Geschöpf daraufhin seinen Artgenossen nach und nach in den Leib, wobei er sich Kolloms Handhabung des Geräts entweder gemerkt hatte oder dessen Bedienung instinktiv zu verstehen schien.

Sandra stockte der Atem, als sich wenige Sekunden später die Zurane mit schnellen Sprüngen um sie herum formierten. Dabei waren sie bewaffnet mit größeren Splittern der zerstörten Käfige oder Elementen ihrer Tränken, die sie wie Schwerter oder Speere erhoben hielten. Näher und näher kamen sie, kreisten sie ein, die einstmals putzigen Gesichter verzerrt vor Zorn und die Augen erfüllt mit nicht gänzlich bösartiger, aber alles andere als friedfertiger Intelligenz. Einige von ihnen gaben brummende und kreischende Laute von sich und im Gesicht des ersten Zurane, den Kollom verändert hatte, meinte sie fast ein boshaftes Lächeln zu sehen.

„Was haben Sie nun schon wieder angerichtet, Kollom?“, seufzte Sandra genervt und sah sich nach einer Waffe oder irgendetwas Vergleichbarem um, entdeckte jedoch nichts. Natürlich.

Kollom antwortete nicht, dafür machte der Anführer der Zurane eine Geste und die Fellkreaturen stürzten sich wie ein einzelnes Wesen auf Sandra und Kollom, ihre Waffen hocherhoben.

„Scheiße!“, brüllte Sandra und nahm instinktiv eine zusammengekrümmte Körperhaltung ein, in der verzweifelten Hoffnung so wenigstens die schlimmsten Verletzungen zu verhindern.

Starr vor Schreck und gelähmt von ihrer Wut auf Kollom sah Sandra wie in Zeitlupe dabei zu, wie zwei der Wesen, deren Sprungfähigkeiten beeindruckend war, mit ihren improvisierten Waffen direkt auf ihre Augen zusteuerten. Ich werde blind werden, schoss es ihr durch den Kopf, selbst wenn ich das hier irgendwie überstehe, werde ich danach blind sein.

„Code Y“, sagte Kollom plötzlich und Sandra beobachtete erstaunt, wie erst die Augen der Zurane noch im Flug auf Tennisballgröße anschwollen, bevor sich ihre Körper wie Blechdosen mit Unterdruck zusammenzogen und sie samt ihrer Waffen in kurzen, heißen Implosionen vergingen. Alles, was Sandra und Kollom noch erreichte, war ein Schwall sehr warmer Luft.

„Sie sind niemals in Gefahr gewesen“, erklärte Kollom ruhig und hob das Röhrchen auf, welches die Implosion des toten Anführers als einziges überstanden hatte, „wir statten alle Versuchstiere selbstverständlich mit Selbstzerstörungsimplantaten aus, für den Fall, dass das ein oder andere schiefgeht. Zurane lassen sich zum Glück leicht und günstig ersetzen. Das macht sie so nützlich.“

„Sehr beruhigend“, sagte Sandra, die noch immer damit beschäftigt war zu verarbeiten, was da gerade geschehen war, „viel beruhigender wäre es aber gewesen, wenn Sie auf diesen Mist verzichtet hätten. Was bitte wollten Sie mir damit demonstrieren?“

„Liegt das nicht auf der Hand?“, fragte Kollom.

„Nein, tut es nicht“, widersprach Sandra energisch, „was war das für ein Zeug, dass Sie ihnen gespritzt haben?“

Kollom seufzte. „Das, Sandra, war ein Delimiter. Wie ich bereits angedeutet habe, haben Zurane trotz ihrer gewaltigen Schwächen auch eine Menge Potenziale. Der Delimiter kann diese Potenziale befreien, wie sie gerade beobachten konnten.“

„Sie haben also ein Gerät oder einen Stoff erfunden, der aus kleinen Fellknäueln aggressive Psychopathen erzeugen kann?“, meinte Sandra, „nicht sehr beeindruckend. Und auch nicht innovativ. In meiner Heimat gibt es einen Film, wo sie das allein mit ein bisschen Wasser und zu später Fütterung hinbekommen haben. DAS war beeindruckend!“

„Was Sie gesehen haben, war nur das Anfangsstadium“, erklärte Kollom, „nicht immer läuft es so aggressiv ab und es hängt auch von den individuellen Anlagen ab. Wir hatten Versuchsgruppen, die eine regelrechte Hochkultur hervorgebracht, Erfindungen gemacht und Kunstwerke erschaffen haben. Alles binnen weniger Wochen. Hätten wir das Experiment nicht rechtzeitig beendet, würde Deovan inzwischen vielleicht eine Zuranen-Kolonie sein. Manche hätten das gewiss für eine Verbesserung gehalten.“

„Ich auch“, stimmte Sandra zu, „schlimmer kann es wirklich nicht mehr werden“.

Kollom lächelte matt und fuhr dann fort, „was ich ihnen damit sagen will, ist in erster Linie, dass der Delimiter in der Lage ist, Intelligenz, Kreativität, Kraft und Bewusstsein eines jeden Wesens weiterzuentwickeln, und zwar organischer, natürlicher und zuverlässiger als es jedes Implantat und jede künstliche Erweiterung vollbringen könnte. Bei Tieren und erst recht bei solchen mit einer so rasanten Zellteilung, funktioniert das sehr rasch. Bei Menschen und den meisten anderen höher entwickelten Lebewesen würde es deutlich länger dauern. Aber es würde funktionieren. Und genau das ist mein Angebot an Sie. Ich gebe Ihnen die Gelegenheit Ihre Evolution zu beschleunigen, wovon nicht nur Sie selbst massiv profitieren würden, sondern auch ich und meine Verbündeten, da es so sicher kaum noch ein Problem wäre Gargona zur Marktreife zu bringen und womöglich auch einige noch größere Ziele zu erreichen. Was sagen Sie dazu?“

„Sie meinen wirklich, dass ich auch nur in Erwägung ziehe, Ihr Versuchskaninchen zu werden?“, fragt Sandra skeptisch.

„Nun, ich weiß, dass Sie es hassen, in einer schwächeren Position zu sein und wie Sie gesehen haben, würde das Gerät Sie daraus befreien“, gab Kollom zu bedenken.

„Ich bin nicht schwach!“, widersprach Sandra.

„Das sind Sie auch nicht“, erwiderte Kollom, „andernfalls würde der Delimiter auch nichts allzu Großartiges bei Ihnen bewirken und ich würde Ihnen gar nicht erst dieses Angebot unterbreiten. Aber Sie leben nun mal in einer Welt, in der sich die Schwächeren unfaire Vorteile verschafft haben, mit denen sie Sie dominieren können. Alles, was ich Ihnen anbiete, ist eine Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht zu beheben. Außerdem wäre es nicht das erste Mal, dass Sie Ihre Stärke potenzieren. Soweit ich weiß, haben sie in Konor Sahkschas Rüstung getragen, die deutlich mehr war, als ein bloßes Accessoire.“

„Das war nicht dasselbe“, entgegnete Sandra, die die Erinnerung an diese verlorene Macht tatsächlich noch immer schmerzte.

„Das stimmt“, pflichtete ihr Kollom bei, „das hier wäre besser. Und mächtiger. Und wie gesagt, es würde ihnen die bevorstehende Arbeit um ein Vielfaches erleichtern. Aber ich will Sie auch gar nicht unter Druck setzen. Diesmal nicht. Ich setze auf Ihre Freiwilligkeit. Sie können auch ablehnen, aber vernünftig wäre das nicht.“

Kollom streckte Sandra das Röhrchen entgegen. „Nehmen Sie es einfach mit und überlegen Sie es sich in Ruhe. Aber warten sie nicht zu lange.“

Sandra zögerte erst, schloss aber schließlich ihre Finger um das kalte, silberne Metall.

„Warum nehmen Sie es nicht, wenn es so mächtig ist?“, fragte Sandra und starrte Kollom herausfordernd in die großen, runden Augen.

Für einen Sekundenbruchteil meinte Sandra einen ertappten, verlegenen Ausdruck in Kolloms Gesicht zu sehen. Dann legte sich seine alte, selbstsichere Maske darüber. „Sie haben keine Ahnung, wie viele Behandlungen, Rituale und Optimierungen schon an meinem Körper und Geist durchgeführt wurden“, erläuterte er, „gut möglich, dass ich durch eine Behandlung mit dem Delimiter zu einem Gott werde oder zu einem Häufchen Asche, allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit für letzteres wohl deutlich höher. Also verzichte ich lieber.“

Sandra betrachtete die Sterne auf dem kleinen Röhrchen und sah dann wieder zu Kollom, „ich wundere mich ernsthaft über Sie. Sie erzählen mir, einer Frau, die sie erpresst, misshandelt und gekidnappt haben, von ihrem geplanten Verrat am Aufsichtsrats des Unternehmens, dem Sie vorstehen, erzählen mir von der Geheimorganisation, der Sie angehören und nun auch noch von einer potenziellen Methode Sie zu töten. Kurz gesagt: Ich hätte tausend Optionen gleich dort rauszugehen und Sie fertigzumachen. Ich hatte Sie immer für einen geschickteren Verhandler und Intriganten gehalten.“

Kollom lächelte, „ja, das stimmt. Sie könnten mich fertigmachen. Und dennoch erwähnen auch sie all diese Optionen ganz offen, statt sie einfach in die Tat umzusetzen. Sie hassen mich, das weiß ich und in gewisser Weise kann ich es sogar verstehen. Aber Sie hassen es noch viel mehr, die Getriebene und Unterdrückte zu sein und mein Gefühl sagt mir, dass das für sie ausschlaggebend sein wird. Das ist die Wette, die ich eingehe, denn anders als bei vielen anderen Deovani heutzutage ist der Mut zum Risiko für mich immer noch mehr als eine bloße Phrase.“

„Sie sind definitiv verrückt“, meinte Sandra kopfschüttelnd und sah dann wieder auf den Delimiter in ihrer Hand. „Nur mal angenommen, ich würde mich dafür entscheiden, es zu nehmen: Hat es überhaupt noch genug Ladungen in sich, um irgendetwas zu bewirken? Ich meine, der Anführer dieser kleinen Biester hat es sicher gut ein Dutzend mal in seinem Rudel verrückter Chipmunks verteilt.“

„Machen Sie sich darum keine Sorgen“, entgegnete Kollom, „es ist keine Substanz im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Technologie, eine Art Mechanismus. Ich will und kann jetzt nicht zu genau ins Detail gehen, aber ich kann Ihnen versichern, dass es seine Wirksamkeit nicht eingebüßt hat.“

„Ich kann also halb Deovan damit behandeln, wenn ich will?“, fragte Sandra skeptisch.

„Ja, das könnten Sie“, erwiderte Kollom, „aber ich denke nicht, dass Sie das wollen würden. Sie hätten ja nicht viel davon, diese Macht an andere weiterzugeben. Und wenn Sie es doch tun – nun, dann gäbe es ein paar mehr entfesselte Potenziale dort draußen und das wäre doch großartig. Entwicklung ist immer etwas, dass ich begrüße.“

Da Sandra noch zu keiner klaren Entscheidung gelangte und sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, kehrte Stille ein und sowohl sie, als auch Kollom sahen sich in dem kleinen Raum um. Dabei stellten sie fest, dass die Schatten, die jenseits der Durchgänge lauerten, näher an sie herangerückt waren und die kleinen bunten Lichter wie Gischt auf einer herannahenden Welle darauf tanzten. Dabei wirkten sie weniger wie klassische Lichter, denn wie verschmierte, ölige Farbe und Sandra nahm einen unangenehm süßlichen Duft wahr, wie von umgekippten Parfum.

Das waren jedoch nicht die einzigen Veränderungen. Die Käfige wirkten plötzlich schräg und verschoben, so als würde die eine Seite etwas tiefer in den Boden ragen als die andere und die überlebenden Tiere darin begannen sekündlich zu wachsen, zu schrumpfen oder zu flackern wie kaputte Projektionen. Als Sandras Blick auf die Wand dahinter fiel, schien sie zu wabern, zu verschwimmen, ja regelrecht zu schmelzen.

„Unsere Zeit ist bald um, oder?“, bemerkte Sandra nervös.

„Scheint so“, meinte Kollom plötzlich etwas abwesend.

„Dann bringen Sie uns schnellstens hier weg“, meinte Sandra, „hier gefällt es mir noch viel weniger als in Yonis’ Labor.“

„Sie haben recht … nur …“, begann Kollom verlegen, während er wie beiläufig an der kleinen Codescheibe herumspielte.

„Nur, was?“, hakte Sandra nach und wich einen Schritt vor der herannahenden Dunkelheit zurück.

„Mir will der Rückkehrbefehl nicht einfallen“, meinte Kollom, während er eine Hand gegen die Stirn presste, so als ob er sein Gehirn auf diese Weise dazu zwingen könnte, die gewünschte Information preiszugeben.

„Sie wollen mich verarschen!“, rief Sandra und blickte zu den Käfigen, die nun dermaßen verformt waren, dass es ihr Kopfschmerzen bereitete, sie zu lang zu betrachten. Winkel, Länge, Breite, Krümmung, Schattenwurf, nichts davon stimmte mehr oder gehorchte auch nur annähernd nachvollziehbaren Gesetzen. Und auch die Tiere im Inneren blieben davon nicht unbeeindruckt. Manche von ihnen streckten sich, bekamen längere Schnauzen und erinnerten sie plötzlich an grotesk verformte Schlangen. Eines von ihnen öffnete sein Maul und spie eine winzige Wolke aus Schatten und Lichtkugeln aus, die ein kleines Loch in die Käfigtür fraß, als sie diese passierte und nur knapp an Sandras Kopf vorbeiflog.

„Denken sie nach, verflucht!“, forderte sie Kollom auf.

„Das tue ich doch schon!“, antwortete Kollom genervt und durchaus panisch, „es war irgendwas mit Y … oder X. Drei Worte glaube ich … vielleicht auch vier.“

„Das ist doch ein Witz, oder? Das muss ein Witz sein“, empörte sich Sandra und sah dabei zu, wie sich ein Riss in einer der Käfigtüren bildete, die die Verzerrung ihrer Geometrie nicht länger ertragen konnte, während dahinter ein deformierter, irre glotzender Zurane mit geöffnetem Schatten-ausdünstenden Maul und absurd vergrößerten Augäpfeln seinen Leib mit wütendem Gebrüll und Gekreisch gegen seinen Käfig warf. Dabei war er nicht der einzige, der so ausrastete und nach dem, was sie in den anderen Käfigen sehen konnte, war es noch eins der hübscheren und sanfteren Exemplare.

Währenddessen war der Bereich, in dem sich die Schwärze noch nicht ausgebreitet hatte, auf einen Radius von kaum mehr als zwei Metern geschrumpft und über sich sah Sandra dutzende bunter, schmieriger Kugeln auf den schattigen Wellenkämmen schwimmen.

Hätte Sandra mehr über das Geflecht gewusst, hätte sie darin vielleicht eine Ähnlichkeit zum geometrischen Regen erkannt und ihre Angst wäre noch weit größer gewesen. Doch auch so fühlte sie sich ganz und gar nicht wohl.

„Verdammt nochmal, Kollom. Sprechen Sie die verfluchten Worte!“, versuchte es Sandra noch einmal.

Doch Kollom antwortete nicht. Stattdessen hörte sie ein lautes Knirschen, als alle bislang intakten Käfige mit einem Mal zerbrachen.

„Code Y! Code Y!“, schrie Sandra.

„Das funktioniert nicht mehr“, sagte Kollom, „wir haben nur eine Chance. Springen sie!“

Sandra wollte erst fragen, wohin, aber noch bevor sie diese Frage stellen konnte, wusste sie, was gemeint war. Sie dachte nicht lange nach, zögerte nicht. Gemeinsam mit Kollom verließ sie das letzte Stückchen sich in Auflösung befindlicher Realität und sprang mitten in die Schwärze hinein, wobei sie versuchte nicht mit den Lichtern in Kontakt zu kommen. Hinter sich hörte sie ein lauter werdendes Kreischen. Ihre Nackenmuskeln verkrampften sich und sich machte sich auf einen heftigen Schmerz gefasst, aber gerade als sie glaubte, dass ihre Trommelfelle unter dem Ansturm des Gekreischs nachgeben würden, verstummte der Lärm und auch der Schmerz blieb aus. Stattdessen wurde es still und unfassbar leer. In ihr und um sie herum.

Als sie an sich heruntersah, erkannte sie ihren Körper kaum wieder. Er war nur noch ein blasses, schemenhaftes Etwas. Kurz musste sie an ihre Erfahrung im beschädigten Manifestor denken, doch diesmal bestand sie nicht aus Gitterlinien, sondern erinnerte mehr an ein verblasstes Gespenst. Sie sah sich nach Kollom um und bemerkte, dass es ihr schwerfiel ihren Kopf zu drehen. Die Bewegungen waren unglaublich langsam und träge. Doch zumindest galt das auch für die bunten, verschwommenen Farbkugeln, die sich bedrohlich auf sie zubewegten und letztlich entdeckte sie auch Kolloms geisterhafte Gestalt.

„Was geschieht hier?“, fragte sie ihn. Auch ihre Worte waren langgezogen und nicht nur von einem starken, blechernen Echo verzerrt, sondern waberten fremdartig in der Luft, als hätte man sie durch einen Flanger-Effekt gejagt.

„Das Extrakt hat sich aufgelöst, wir sind nun im nackten Geflecht“, erklärte Kollom mit derselben, verzerrten Stimme.

„Ist das schlimm?“, fragte Sandra, die merkte, dass ihr etwas schwindelig wurde und dass sie den Drang verspürte, schneller zu atmen, so als wäre die Luft zu dünn, um ihr Gehirn zu versorgen.

„Normalerweise nicht“, meinte Kollom, „an den meisten Orten ist das Geflecht zwar nicht ungefährlich, aber das Risiko ist halbwegs kalkulierbar. Jedoch ist das Geflecht von Deovan anders. Es ist in weiten Teilen leer, instabil und im Grunde lebensfeindlich.“

„Das heißt, wir sind am Arsch, oder?“, fragte Sandra.

„Langfristig gesehen ja“, gestand Kollom ein, „länger als eine halbe Stunde können unsere Körper hier sicher nicht bestehen. Die wahre Bedrohung sind aber die Farbkugeln. Wir sollten sie nicht berühren. Ansonsten … kann es sehr unangenehm werden.“

„Na fantastisch“, meinte Sandra frustriert, „hätten sie mir ihre Pläne nicht einfach in ihrem Büro verraten können oder in irgendeinem anderen Raum, der nicht in einer fucking baufälligen Horrordimension liegt? Und vor allem: Hätten Sie sich nicht ihr verfluchtes Passwort merken können?“

„Dies ist der einzige Ort, auf den der Aufsichtsrat garantiert keinen Zugriff hat“, erklärte Kollom, „und was die Worte angeht … das war keine Absicht. Ich will mich ja erinnern, aber es klappt einfach nicht.“

„Das hat etwas mit dem zu tun, was Jarma mit Ihnen angestellt hat, oder?“, fragte Sandra, „die Gesundheit hat ihr Gehirn nicht wiederhergestellt. Ja, natürlich. Sie haben so etwas wie Alzheimer und reißen mich dadurch mit in den Tod.“

„Ganz so ist es nicht“, widersprach Kollom, „ich habe lediglich ein paar Fakten vergessen, die ich mir nach und nach wieder aneigne. Nichts Dramatisches im Grunde, wenn auch zeitraubend.“

„Natürlich“, sagte Sandra höhnisch, „was ist auch dramatisch daran, seine Rückfahrkarte aus dem Nichts zu vergessen? Macht total Sinn sich die Bilanzen des letzten Quartals in den Kopf zu prügeln, statt so etwas Lebenswichtiges zu checken, bevor man sich und andere in Gefahr bringt.“

Sie sah Kollom wütend an und dieser hielt ihrem Blick einige Augenblicke stand, bevor er dem Blickduell auswich. „Womöglich war das ein Fehler“, gab er etwas kleinlaut zu.

„Nicht womöglich, sondern garantiert. Und noch dazu Ihr letzter“, widersprach Sandra.

„Fuck, das war definitiv UNSER letzter Fehler!“, fügte sie hinzu, als sie den Kopf hob und bemerkte, dass sich inzwischen ein langsam fallender, aber unaufhaltsam scheinender Regen aus bunten Kugeln auf breiter Front über ihnen ergoss, wobei die ersten Ausläufer nur wenige Meter über ihren Köpfen schwebten.“

„Nein!“, flüsterte Kollom entsetzt, „das darf nicht sein. Daraus gibt es kein Entkommen. Wenn ich doch nur … wenn ich.“

Plötzlich kam Sandra eine Idee, „Sie haben doch ihren Koffer dabei. Rufen Sie Arnin an! Er wird diese Worte doch sicher wissen, oder etwa nicht?“

„Das kann sein“, sagte Kollom und wirkte etwas erleichter, „ja, das kann sogar sehr gut sein. Ich weiß, allerdings nicht, ob es hier …“

„Labern Sie nicht!“, forderte Sandra, während sie sicherheitshalber in die Knie ging, um den Kontakt mit den unheilvollen Objekten zu verzögern, „versuchen Sie es einfach!“

Kollom nickte und spielte an seinem schattenhaft gewordenen Manifestor herum. Sandra vernahm ein ungesundes Knistern, dann statische Störgeräusche und letztlich eine etwas verzerrte, aber verständliche Stimme. Arnins Stimme. Sandras Herz tat vor Erleichterung einen schmerzhaften Schlag.

„Was kann ich für Sie tun, Artondom?“, fragte Arnin.

„Ich benötige die Formel für die Rückkehr aus einem Extrakt, welches wir über die Portalminiatur erreicht haben. Und zwar dringend. Kennen Sie sie?“, fragte Kollom.

„Natürlich“, erwiderte Arnin.

„Gut, dann her damit“, verlangte Kollom, „so langsam wird es hier ungemütlich für uns!“

„Nein“, antwortete Arnin.

„Was?“, fragte Kollom verwirrt.

„Ich teile Ihnen die Worte nur mit, wenn Sie mir im Gegenzug auch etwas geben“, präzisierte Arnin.

„Auf keinen Fall!“, entgegnete Kollom empört, „Sie sind mein Angestellter. Wir beide haben bereits einen gültigen Vertrag und jetzt ist nicht die Zeit für Verhandlungen.“

„Jetzt ist genau die Zeit dafür“, widersprach Arnin, „denn gerade jetzt bin ich in der besseren Verhandlungsposition. Später ist die Heimat der Toten, wie es so schön in einem runarischen Kriegslied heißt.“

Sandra kicherte, obwohl ihre Atemnot sich bereits verstärkte und die unbekannte Bedrohung über ihr und auch von den Seiten immer näher kam. Immerhin fühlte sie sich an eine ganz ähnliche Situation in den Eingeweiden von Uranor erinnert.

Kollom wirkte weniger amüsiert, aber sein angegriffener Kopf erkannte dennoch seinen Mangel an Alternativen. „Was verlangen Sie?“, fragte Kollom und warf einen nervösen Blick nach oben.

„Eine Erhöhung meines Monatsgehalts um dreißigtausend Dominanten“, sagte Arnin, „uneingeschränkte Administrationsrechte inklusive der Befugnis, selbstständig über die Sicherheitslage zu entscheiden und – zu guter Letzt – die Aufhebung meiner Quarantänebestimmungen.“

„Das ist … das … ist“, Kollom kämpfte um die passenden Worte, um irgendeine strategisch geschickte Entgegnung, aber sein Kopf fühlte sich vollkommen unbrauchbar an. Todesangst, Empörung, und Wut hämmerten im Gleichtakt auf sein beschädigtes Gehirn ein und so wollte ihm einfach nichts Scharfsinniges einfallen, „… zu viel.“

„Das ist nun mal mein Preis“, sagte Arnin, „Angebot und Nachfrage. Sie wollen überleben, ich will Freiheit. Ich halte das für einen durchaus sehr fairen Tausch.“

Kollom blickte nervös nach oben, wo die bunten Kugeln so nah waren, dass sie fast sein gesamtes Sichtfeld ausfüllten und ging in die Knie. Wortwörtlich und metaphorisch. „In Ordnung. Der Handel gilt. Und jetzt raus mit der Sprache!“

„Natürlich“, erwiderte Arnin merklich zufrieden und teilte ihm die Worte mit.

„Xabit Drajit Gandrit!“, wiederholte Kollom sie. Kurz darauf ließen sie das Geflecht und seine Gefahren hinter sich.

~o~

Kaum da sich Sandra und Kollom in Kolloms Büro materialisiert hatten, atmeten sie beide tief ein und aus, sowohl aus Erleichterung, als auch um die Gelegenheit zu nutzen, endlich wieder frische, gewöhnliche Luft in ihre Lungen zu bekommen.

Ihre Gesichtsausdrücke hätten sich jedoch nicht mehr voneinander unterscheiden können. Kollom trug eine sehr düstere Miene zur Schau, während Sandra bis über beide Ohren grinste.

„Sie sollten sich nicht zu sehr über meine Demütigung freuen“, ermahnte Kollom sie, „jemand wie Arnin sollte nicht über zu viel Macht verfügen. Sonst wird es gefährlich für uns alle.“

„Komisch“, sagte Sandra schmunzelnd, „dasselbe habe ich auch schon über Sie gedacht.“

„Das ist kein Scherz“, erinnerte Kollom, „Arnin ist ein fähiger Mitarbeiter, aber es gab einen Grund, warum ich ihm Grenzen gesetzt habe. Und dieser Grund war nicht Herrschsucht. Es gibt also keinen Anlass sich darüber zu amüsieren.“

„Ach kommen Sie schon“, meinte Sandra, „man sollte jede Gelegenheit nutzen, um etwas Spaß zu haben.“

„Oh ja, Gelegenheiten sollte man nutzen“, entgegnete Kollom mit einem vielsagenden Blick auf Sandras Hand, in der sie noch immer das kleine Röhrchen verbarg, „diesen Grundsatz sollten auch Sie sich besser zu Herzen nehmen. Doch nun wird es wieder Zeit an die Arbeit zu gehen. Spaß hatten wir nun sicher genug.“

~o~

Auch wenn Sandra eigentlich ursprünglich vorgehabt hatte, einen Umweg über ihren Privatraum zu nehmen, um Nanita abzuholen, begaben sie sich auf Kolloms Drängen hin stattdessen direkt ins Labor, wo Nanita, Ara und Yonis bereits auf sie warteten. Gemeinsam mit den Bleigeweihten und den Mitarbeitern des Typs-1 und Typ-2, die noch immer paralysiert waren.

Sandra spürte sofort Nanitas fragende Blicke auf sich ruhen, als sie das Labor betraten. Doch es war Yonis, der sie begrüßte.

„Gut, dass sie endlich kommen“, sagte der Disruptor, „es wird Zeit, die Starre zu lösen. Ich dachte, damit warte ich so lange, bis Sie als Laborleiterin dazustoßen.“

„Das haben Sie richtig gemacht“, entgegnete Sandra dem uralten Geschöpf selbstbewusst, „befreien Sie sie jetzt aus der Starre. Ich bin gespannt, wie gut Sie sie hinbekommen haben.“

„Natürlich“, sagte Yonis nickend und milde lächelnd, auch wenn seine Seitengesichter mürrisch blickten, „allerdings sollten Sie folgendes bedenken; Ich habe jeden von diesen hier mit entsprechenden Substanzen und elektrischen Eingriffen temporär in einen geistig zurechnungsfähigen Zustand versetzt. Außer den Bleigeweihten natürlich, da hier Kosten und Nutzen in keinem Verhältnis stünden und ihre Geister ohnehin zu simpel sind, um ihren Wahnsinn aufrechtzuerhalten. Die anderen jedoch sind wieder mehr oder weniger die alten, auch wenn wir ihre Traumata und Störungen natürlich nur verdrängt und nicht geheilt haben. Zudem sind sie keine gehorsamen Automaten, da diese die für sie bestimmten Aufgaben nicht erfüllen könnten. Die Meisten werden also gleich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Deovan in der Lage sein, sich frei zu bewegen und über ihre Situation nachzudenken. Falls es ungemütlich wird, können wir die Starre natürlich reaktivieren und notfalls wird sich Ara um alles kümmern, aber weder mit Gelähmten, noch mit Toten können wir auf Dauer sonderlich viel anfangen. Ein paar motivierende Worte an unsere neue Belegschaft wären also sicher nicht verkehrt. Kriegen Sie das hin?“

Sandras Blick schweifte zu Garwenia, die in einem schwarzen Overall mit einer aufgedruckten Eins wie eingefroren in einer Gruppe mit vier weiteren Typ-1-Mitarbeitern stand. Dahinter folgten fünf Typ-2-Mitarbeiter in blauen Overalls und ganz am Ende zehn klobige Bleigeweihte in ihren Schutzanzügen. Sandra verdrängte ein unangenehmes, schmutziges Gefühl, dass sich ihrer bemächtigen wollte und blickte zurück zu Yonis. Dann erst nickte sie. „Lösen Sie die Starre!“, wiederholte sie ihre Aufforderung.

Daraufhin Yonis über eine Schaltfläche an seinem holografischen Terminal und aus den puppengleichen, scheinbar willenlosen Geschöpfen wurden mit einem Mal lebende Kreaturen. Die Bleigeweihten blieben praktisch regungslos, aber auf den Gesichtern der anderen zeigten sich Verwirrung, Ratlosigkeit und Panik. Manche begannen augenblicklich Gespräche mit Personen, die sie offenbar von früher kannten oder suchten solche, die sie nicht mehr finden würden, entweder, weil sie im Kampf um Uranor endgültig gestorben waren, oder weil man sie zu Bleigweihten gemacht hatte, was natürlich niemand der Rekrutierten ahnte. Andere blickten angewidert und ängstlich zu den Bleigeweihten oder zu Yonis. Einige sahen sich jedoch auch unmissverständlich nach einem Fluchtweg um, was Ara mit einem dämonischen Grinsen und einem demonstrativen Heben ihrer Waffe beantwortete. Nur Garwenia blickte Sandra einfach nur an, als ob sie spüren würde, dass zwischen ihnen eine Art Verbindung bestand.

„Hört mir zu“, sagte Sandra ruhig, aber mit milder, mütterlicher Strenge, „Ihr alle seid jetzt sicher verwirrt und verunsichert, was ich gut verstehen kann, denn an eurer Stelle würde es mir bestimmt genauso gehen. Ihr habt unaussprechliche Folter durch die Rilandi – eure Kerkermeister – erlebt und glaubt womöglich sogar, dass ihr selbst Schuld auf euch geladen habt. Doch nichts, was ihr in den letzten Monaten, ja Jahren eures scheinbaren Lebens erlebt habt, ist real gewesen. Nichts von den grauenhaften Dingen zumindest. Ihr seid gestorben, wurdet wiedergeboren und wurdet versklavt. Das ist die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze, denn auch der Krieg, der Untergang jener Welt, in der man euren Geist und euren wiedergeborenen Körper gefangenhielt, war Wirklichkeit gewesen. Und aus dieser Wirklichkeit, die euch andernfalls vernichtet hätte, haben wir euch gerettet. Deshalb seid ihr hier und ihr könnt froh darüber sein.“

Sandra sah aufmerksam in die Gesichter ihrer künftigen Schützlinge und erkannte, dass sich das Misstrauen bei den Meisten etwas gelegt hatte, wenn auch natürlich nicht ganz. Trotzdem war das ein guter Anfang. Gewissensbisse hatte Sandra inzwischen kaum mehr. Wenn sie Lügen und Schweigen musste, um zu überleben, war das nun mal so. Lediglich wenn ihr Blick auf die Bleigeweihten fiel, spürte sie ein unangenehmes Ziehen in der Brust. Zum Glück konnte sie auch einfach wegschauen.

„Wenn ihr uns gerettet habt, warum zielt diese da mit der Waffe auf uns?“, fragte ein schmalbrüstiger Exenmann mit intelligenten Augen, gekleidet in eine Typ-1-Uniform.

„Weil ihr lange geschlafen habt und wir nicht sicher waren, ob ihr uns glauben würdet“, erklärte Sandra ruhig.

„Ich glaube dir auch nicht“, erwiderte ein muskulöser Typ2-Mann, mutmaßlich vom Volk der Kannibalen von Dank Qua, „ich habe in meiner Heimat um mein Überleben gekämpft, Wunden erlitten, Feinde vernichtet, Freunde gerächt, gespeist, geweint und geschrien. Daran erinnere ich mich. An dich aber erinnere ich mich nicht.“

„Wie willst du dir dann erklären, dass du hier bist und nicht in deiner Heimat“, merkte Yonis lächelnd an.

„Hexerei“, erwiderte der Kannibale, „oder ein Traum.“

„Träume sind selten von solcher Art“, warf eine Vogelfrau in der Kleidung einer Typ-2-Mitarbeiterin ein.

„Ich sehe sie nicht zum ersten Mal“, sagte Garwenia, deren Stimme nun eine viel größere Leichtigkeit besaß, als es die getragenen, kryptischen Worte vermuteten ließen, die sie sonst in ihren Wahnanfällen ausgesprochen hatte, „sie ist tatsächlich dort gewesen. In Uranor. Zusammen mit jemandem, den ich von früher her kannte. Es ist alles verschwommen, aber dennoch glaube ich ihr. Das, was ich erlebt und gesehen habe in den letzten Monaten, war schlimm gewesen, aber nicht halb so schlimm, wie mein altes Leben. Ich denke, dafür fehlte diesen Wesen, diesen Rilandi, die nötige Fantasie. Außerdem erinnere ich mich. Ich erinnere mich daran, wie ich gestorben bin.“

Jetzt, wo Garwenia wieder bei Verstand war, strahlte sie eine ungeahnte Faszination und Kraft aus. Es erschien Sandra absurd, aber ihr Herz pochte etwas schneller und sie ertappte sich dabei jedes von Garwenias Worten förmlich von ihren Lippen zu saugen. Es war anders als bei Arnin. Es wirkte nicht künstlich und manipulativ, sondern schien ihrem ureigenen Wesen zu entspringen. Dennoch oder gerade deswegen, gab sie sich alle Mühe es zu unterdrücken. Diese Leute hier waren Werkzeuge, und nur weil sie das Werkzeug Garwenia praktisch vor dem Einschmelzen gerettet hatte, war das bei ihr nicht anders.

„Ich erinnere mich auch“, stimmte eine Typ-2-Bravianerin zu, „zumindest ungefähr. Ich weiß, dass ein Speer in meine Brust stach in jener Nacht in den schwimmenden Sanden und diese Wunde ist inzwischen verschwunden. Nicht ein Kratzer ist davon übrig.“

„Nehmen wir mal an, dass sie die Wahrheit spricht“, sprach der Echsenmann, „wer sind dann diese Leute dort?“ Er zeigte auf die Bleigeweihten mit ihren unbewegten, stumpfen Gesichtern. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie Flüchtlinge sind, wie wir es angeblich sein sollen.“

„Es sind Roboter“, improvisierte Sandra, „künstliche Kreaturen. Automaten, die allein zu dem Zweck geschaffen wurden euch zu dienen und euch bei eurer Aufgabe zu helfen.“

„Bei was für einer Aufgabe? Ich dachte, ihr hättet uns gerettet und nicht rekrutiert?“, fragte eine Frau aus den Reihen der Typ-2-Angestellten, die einem Volk angehörte, wie es Sandra selbst bei den Söldnertrupps in Konor nur selten begegnet war. Ihre Haut war von einem blassen Rosa und ihre Arme und ihr Kopf waren übersät mit kleinen, länglichen Polypen, die im Takt einer unhörbaren Melodie hin und her wogten und deren blütenartigen Köpfe pulsierend pumpten und ab und an verloren in die leere Luft griffen. Anstelle von Augen besaß sie mit federartigen Härchen besetzte Löcher und statt eines gewöhnlichen Mundes hatte sie eine wulstige, schillernd gefärbte Vertiefung in ihrem Gesicht, mit einer kleinen, beweglichen Öffnung darin. Soweit Sandra sich erinnern konnte, nannte man dieses Volk die „Lomäine“ und auch wenn sie unübersehbar aquatischen Ursprungs waren, konnten sie sich dennoch ganz passabel an Land behaupten. Besser jedenfalls als in Süßwasser, was für sie in etwa so gefährlich wie Säure war, was aber zum Glück nur wenigen bekannt war.

„Das war auch unsere Absicht gewesen“, log Sandra, „wir hätten euch liebend gern die Zeit gegeben, euch auszuruhen und euch gänzlich von dem Leid eurer Vergangenheit zu befreien, aber diesen Luxus haben wir leider nicht. Weder für uns selbst, noch für euch. Denn wie wir bei unserer Rückkehr feststellen mussten, befinden wir uns auch hier im Krieg. Noch ist er nicht so vernichtend, wie der, vor dem wir euch gerettet haben, aber dennoch haben wir viele gute Leute verloren, Personen, die mir sehr viel bedeutet haben und wir Überlebenden sind in großer Gefahr. Deshalb brauchen wir eure Hilfe. Wir können auch diesen Krieg beenden und uns allen Frieden und Sicherheit bringen, aber das können wir nicht allein.“

„Was für ein Krieg ist das?“, wollte Garwenia wissen.

„Alle Hintergründe zu erklären würde im Moment zu lange dauern“, antwortete Sandra, „wir werden es euch später erklären. Fürs Erste nur so viel: Es geht um einen Feind, von dem wir lange dachten, dass wir ihn besiegt hätten, der aber nun bedauerlicherweise zurückkam. Nicht mit Armeen, nicht mit Panzern und Fluggeräten, sondern mit einer schrecklichen, verderblichen, tödlichen Waffe, die bereits eine unserer Städte auf grauenhafte Weise ausgelöscht hat.“

„Ich will nicht mehr kämpfen“, sagte die Lomäine resigniert, „ich bin nicht feige. Aber ich habe genug Tod gesehen und gebracht. Genug für ein ganzes Leben.“

Einige der anderen stimmten ihr murmelnd zu.

„Ihr müsst nicht kämpfen“, beruhigte Garwenia sie, „niemand verlangt das von euch. Ihr müsst uns nur helfen, diese Waffe, mit der wir angegriffen wurden, zu verstehen, sie zu erforschen und zu analysieren, damit wir uns verteidigen können.“

„Bringt das überhaupt etwas?“, fragte der Bravianer, „wenn euer Gegner wirklich so bedrohlich ist und sein Erstschlag euch nicht vernichtet hat, dann würde ich an seiner Stelle sofort einen weiteren folgen lassen und euch sicher nicht die Gelegenheit geben euch vorzubereiten. Nein – und verzeiht, wenn das makaber klingt, aber als Angehöriger der Ragkan-Kaste kann ich da nicht aus meiner Haut – ich würde euch vernichten, restlos und kompromisslos.“

„Ich verzeihe“, sagte Sandra schmunzelnd, „auch ich würde das sicher so machen, aber wir glauben trotzdem, dass wir bis zum nächsten Schlag noch etwas Zeit haben. Diese Waffe ist sehr hoch entwickelt, wie ihr wahrscheinlich bald selbst feststellen werdet. So etwas einsatzbereit zu machen dauert seine Zeit. Und selbst wenn nicht, so haben wir keine andere Wahl, als es zu versuchen. Damit das funktioniert, müsst ihr jedoch euer Bestes geben. Euren vollen Einsatz. Nicht nur in unserem Interesse, sondern auch in eurem. Dies hier ist nun auch eure Heimat.“

„Was genau soll denn unsere Aufgabe sein?“, fragte Garwenia, „Die meisten von uns sind sicher weder Krieger noch Wissenschaftler. Wie sollen sie da von Nutzen sein?“

„Einige von euch sind es durchaus“, mischte sich Yonis ein, „auf dieser Basis, auf der Basis eurer Talente und Neigungen haben wir euch eingeteilt und euch diese Uniformen gegeben.“

„So ist es“, bestätigte Sandra, „aber auch unabhängig davon solltet ihr in der Lage sein, eure Missionen zu erfüllen. Wir werden euch dabei unterstützen so gut es geht. Alles, was ihr braucht, ist ein wenig Intelligenz, Kraft und gesunden Alltagsverstand und so wie ich das einschätze, verfügt ihr alle darüber. Gruppe zwei wird – unterstützt von unseren Robotern – die Auswirkungen der Waffe vor Ort erforschen. Natürlich ausgestattet mit entsprechender Schutzkleidung und unter den maximalen Sicherheitsvorkehrungen. Gruppe eins wird uns hier im Labor dabei helfen, diese Daten auszuwerten.“

„Warum sollen wir uns in Gefahr begeben und sie nicht?“, fragte die Lomäine und zeigte auf Garwenias Gruppe, „sind wir für euch entbehrlich?“

„Wir sind alle gleichermaßen in Gefahr“, erklärte Sandra, „ganz egal, wo wir uns aufhalten. Der nächste Angriff kann theoretisch überall erfolgen. Aber dort wo ihr hingeht seid ihr wahrscheinlich sogar am sichersten, oder würdet ihr dasselbe Ziel zweimal angreifen? Ihr seht, wir haben euch für den Außeneinsatz bestimmt, weil ihr die bessere Ausdauer habt, weil ihr über geschärfte Kriegersinne verfügt, denen nichts entgeht und nicht, weil ihr entbehrlich seid.“

Die Mitglieder der Typ-2-Gruppe sahen sich unentschlossen an. Einige nickten.

„Also, wie sieht es aus. Werdet ihr uns helfen?“, fragte Sandra.

„Haben wir denn eine Wahl?“, fragte Garwenia.

„Die habt ihr“, sagte Sandra ohne zu zögern und ignorierte die bohrenden Blicke von Kollom und Yonis, „wenn euch das lieber ist, könnt ihr einfach gehen, euch die Stadt ansehen, euch eine angenehme Zeit machen und euch mit jenen Frauen, Männer und Kindern unterhalten, mit denen ihr in wenigen Tagen oder Wochen gemeinsam sterben werdet. Das wäre die eine Wahl. Die andere wäre hart zu arbeiten, alles zu geben und euch eine Zukunft aufzubauen. Wofür entscheidet ihr euch?“

Sandra sah in zweifelnde, nachdenkliche Gesichter. Doch sie entdeckte darin auch Schuld, Scham, ja sogar so etwas wie Pflichtgefühl. Genau die Materialien, aus denen gute Ketten geschmiedet wurden.

„Kollom, öffnen Sie die Tür“, verlangte Sandra, „öffnen Sie sie für genau eine Minute. Jeder, der dann hindurchgegangen ist, darf gehen und wird von uns nicht mehr behelligt. Alle anderen betrachten wir als Verbündete in unserem Kampf für eine friedlichere Zukunft.“

Kollom sah sie skeptisch und ein wenig mürrisch an, betätigte dann jedoch einen Knopf an seinem Manifestor und die Tür sprang auf.

Genau sechzig Sekunden später schnappte sie wieder zu. Niemand war gegangen.

„Ich danke euch, meine Freunde!“, sagte Sandra, „und ich verspreche euch, dass ihr es nicht bereuen werdet.“

„Yonis, Nanita und ich werden euch in eure Aufgaben einweisen. Ach ja und Kollom, sorgen Sie dafür, dass sie etwas zu essen bekommen. Sie sind sicher hungrig. Und bringen Sie mir gern auch etwas mit.“

Sandra grinste und auch wenn sie Kolloms Wut geradezu riechen konnte, setzte er sich in Bewegung. Er brauchte sie, das wusste sie jetzt. Und Sandra genoss es.

~o~

Ich hatte mich lange danach gesehnt wieder eins mit Karmon zu werden und wie früher seine Gedanken und Emotionen bis in kleinste Detail zu teilen. Nun, aber, wo ich zumindest wieder eine begrenzte Verbindung zu ihm hatte und seine Gefühle und Eindrücke so übermächtig wurden, dass sie Flutwellen über die Dämme unserer Individualität hinweg schwappten, hätte ich gern darauf verzichten können.

Die Bilder, die wir sahen, waren grauenerregend. Wir erlebten Folterungen, Massenerschießungen, beiläufig-eiskalte und heißblütig-lustvolle Morde, Vergewaltigungen, Nekrophilie und Kriegsverbrechen, wie ich sie nicht einmal in Konor erlebt oder begangen hatte. In all dem fühlte ich mich vage an jene ikonische Gehirnwäsche-Szene in Clockwork Orange erinnert, nur dass diese Bilder einem gänzlich anderen Zweck dienten. Sie wollten nicht disziplinieren. Sie wollten enthemmen.

Ja, was wir sahen, war grausam – zumindest aus meiner Perspektive – aber es diente nicht dazu Karmon zu quälen. Stattdessen wurden irgendwie Impulse an sein Gehirn gesendet, die schön waren, berauschend und lustvoll, und die offensichtlich mit diesen Verbrechen in Verbindung gebracht werden sollten. Es war eine simple Konditionierung, die jedoch mit komplexen Reizen arbeitete, da sie nicht nur ein vages Lustempfinden erzeugte, sondern auch Gerüche, Geschmäcker, Tastempfindungen, Klänge und dergleichen mit den gezeigten Szenen verwob und diese Gräueltaten auf einzigartige Weise codierte:

Einem Neugeborenen wurde der Kopf aufgebohrt – duftende Blumen in der Sommersonne. Einem Mann wurde die Haut vom Arm gezogen – der Biss in eine saftige Frucht. Eine junge Frau wurde mit Fäkalien vollgepumpt, bis sie explodierte – eine liebevolle Umarmung. Ein Haufen wehrloser Personen wurde in Brand gesteckt – ein freier Flug durch die Wolken. Einem um Gnade Bettelnden wurde das Fleisch von den Knochen gepeitscht – ein sexueller Höhepunkt. Dabei waren die Empfindungen so fein justiert, so lebhaft, dass selbst ich mich aktiv dagegen wehren musste, mich schmerzhaft nach ihnen zu sehnen, sobald sie verklungen waren. So ging es weiter, weiter und weiter, mal mit stumpfen Wiederholungen, mal mit kleinen Variationen und obwohl ich immer wieder versuchte zu Karmon durchzudringen, den Bann zu brechen und diese Gehirnwäsche zu stoppen, gelang es mir nicht einmal im Ansatz ihn zu erreichen.

Endlich jedoch, nach gefühlten Äonen, hörten die Bilder auf.

„Hey, mein Großer. Alles gut?“, nutzte ich die Gelegenheit, mit Karmon zu kommunizieren, ein wenig ängstlich, was für ein Wesen mir da nun antworten würde, „ich hoffe, du weißt, dass das nichts als ein billiger Trick war. Ein Taschenspielertrick aus der wissenschaftlichen Mottenkiste, der einem Wesen wie dir nicht würdig ist. Du bist zu stark für so etwas, okay? Du solltest es einfach …“

Plötzlich vernahm ich ein lautes Röcheln und verspürte jähe Panik, als wir mit einem Mal gegen unseren Willen aus der Zelle hinausgezogen wurden. Erst ein paar Momente später erkannte ich, dass wir das Slura zu verdanken hatten, die ihre Peitsche wie ein Halsband um Karmons Hals geschlungen hatte.

Karmon wehrte sich nicht, sondern ließ sich widerstandslos in die Mitte des Raums führen, wo ihn der Bulle, der seine tägliche Konditionierungsbehandlung ebenfalls beendet hatte, schon erwartete. Offenbar in ziemlich schlechter Laune. Die anderen Creeps beobachteten das Geschehen mit beiläufigem Interesse aus ihren Zellen heraus. Sie sahen so etwas sicher nicht zum ersten Mal.

„Kämpfe, Kwang Grong!“, hallte Sluras Stimme durch den Raum, „zeig mir, was du kannst!“

Slura nickte dem Bullen herrisch zu und ehe wir uns versahen, stürmte der Rorak, dessen zuvor noch so trüber Blick nun mit einer seltsamen Mischung aus Verzückung und Hass glänzte, auf uns zu, beide Fäuste bedrohlich vorausgestreckt und die Zähne vor Wut gefletscht.

Karmon, dessen Geist anders als der seines Kontrahenten zum ersten Mal dieser Gehirnwäsche ausgesetzt worden war, reagierte viel zu spät und so konnte er nur durch eine hektische Seitwärtsdrehung verhindern, dass sich die monströse Faust des Roraks in seine Brust grub.

Stattdessen traf sie ihn mit voller Wucht in die rechte Seite und ließ ihn unkontrolliert gegen die Wand taumeln, wo er zum Stehen kam und regungslos verharrte, ohne irgendeine Initiative zu ergreifen. Der Bulle, weitergetragen von seinem eigenen Schwung, machte kehrt, stürmte erneut auf uns zu und klatschte diesmal seine Linke mit Wucht gegen Karmons Schädel, der mit einem ungesunden Knirschen ein Stück zurückschnappte und hart gegen die Wand schlug. Für einen Moment spürte ich Schwindel und Benommenheit, dann rutschte der Kwang Grong wie eine spannungslose Puppe an der Wand hinab. Dort blieb er zusammengekrümmt liegen, das schmerzende Gesicht zur Decke gerichtet, vor der unser gewaltiger Gegner – diese unschöne Mischung zwischen Zerberus und Minotaurus – wie ein stampfendes Todesurteil aufragte.

Jetzt bringt er es zu Ende, dachte ich entsetzt und fragte mich ängstlich, was Slura wohl mit einem beseelten Fehlstein anzustellen wüsste, falls ich das folgende Massaker überstehen würde.

Doch ein weiterer Angriff erfolgte vorerst nicht. Auf dem Gesicht des Bullen, der derartige Passivität nicht gewohnt war, breitete sich plötzlich Verwirrung aus. Vielleicht war es sein rorakisches Erbe, das zwar keine Kriegerehre im klassischen Sinne kannte, jedoch eine ernsthafte Herausforderung weit mehr schätzte, als das Verprügeln eines wehrlosen Sandsacks. Trotzdem war ich mir fast sicher, dass sein Zögern nicht lange anhalten würde.

„Karmon“, fragte ich in ihn hinein, „bist du noch da? Wenn ja, tu irgendwas – Der Typ macht uns sonst kalt!“

„Ich bin noch da“, erklang eine Stimme so unendlich fern wie das Echo eines Echos, „aber kaum. Die Bravianer nennen diese Technik die Nichtswerdung. Es ist die beinah vollständige Auflösung, die totale Dissoziation. Sie ist nicht ohne Risiken und wird nur von wenigen beherrscht, doch sie hat vielleicht meine Seele gerettet. Und wahrscheinlich auch deine. Ich wollte mich dem hingeben, Adrian. Der reinen Lust an der Zerstörung. Für einen Moment wollte ich tatsächlich ein Kwang Ana werden. Jeder Moral und allen Bedenken entsagen und ein Verschlinger werden. Aber so wählte ich einen anderen Pfad. Vorerst.“

„Das ist toll, wirklich“, sagte ich aufrichtig, „aber gerade schrottet dieser Hippie-Buddhistenscheiß unseren Arsch. Dieser Bulle will nicht mit uns meditieren. Der will töten. Du musst zurückkommen und handeln, und zwar sofort!“

„Kämpft!“, störte Sluras Stimme unserer inneres Zwiegespräch, „oder ich gebe euch eine Lektion in Eigentumsrecht!“

Karmon aber reagierte nicht auf Slura, sondern antwortete auf meine Frage. „Nein“, erwiderte er, „nicht an diesem Ort. Nicht, solange Slura in der Nähe und mein Geist so verletzlich ist. Wenn ich jetzt Gewalt anwende, weiß ich nicht, was passiert. Aber du weißt, wie man kämpft. Du kannst meinen Körper benutzen.“

„Wie denn?“, gab ich zurück, „ich bin ein nichtsnutziger Pisser in einem Stein!“

„Du bist nicht nutzlos, Adrian. Dein Geist hat Kräfte“, widersprach Karmon.

„Mit denen ich nichts bewirken kann“, antwortete ich verzweifelt.

„Doch, das kannst du“, entgegnete Karmon, „wenn ich dir Raum gebe.“

„Aber wie zum Teufel soll das gehen?“, fragte ich Karmon, doch der Kwang Grong schwieg einmal mehr. Und dass es diesmal aus Selbstschutz statt aus Zorn geschah, machte es nicht wesentlich besser.

„Töte ihn, du hässliches Tier!“, verlangte Slura wütend von dem verwirrten Bullen, der noch immer nicht zu einem erneuten Angriff übergangen war, „offenbar ist er nutzlos für uns!“

Als der Bulle noch immer nicht reagierte ließ Slura ihre Peitsche knallen und zog sie ihm quer über dem Rücken. Das wirkte. Der Bulle lies einen unzivilisierten Urschrei los, packte Karmons Körper, in dem ein ziemlich ratloser Adrian steckte, mit beiden Händen und zog uns grob auf die Beine.

Während er uns mit der Linken aufrecht hielt, holte er mit seiner anderen Faust zu einem erneuten Schlag gegen die Schwachstelle in Karmons Brust aus und diesmal hoffte ich nicht darauf, dass uns irgendein basaler Reflex vor dem Schlimmsten bewahren würde. Ich musste das hier selber auf die Reihe kriegen. Erneut versuchte ich meine Fadenkräfte zu mobilisieren, sie in Karmons Glieder fahren zu lassen, wie in eine Handpuppe. Doch nichts regte sich.

Scheiße, dachte ich, so eine gottverdammte Scheiße. Hilflos sah ich dabei zu, wie der Bulle seine hässliche Hand in unsere Brust donnerte. Ein spitzer Schmerz schoss durch unseren ganzen Körper. Dann spürte ich, wie er seine Hand zielsicher durch die Brustöffnung schob, um nach Karmons Herz zu greifen, so als wüsste er ganz instinktiv wo dieses lag. Bevor er es jedoch zerquetschen konnte, schnappten Karmons eigene Klauen wie von selbst und so schnell wie der Kiefer einer Giftschlange vor und durchbohrten das weiche Muskelfleisch des Bullen-Arms, woraufhin dunkles Blut daraus hervorquoll.

Nein, es war nicht von selbst geschehen, begriff ich. Ich hatte es bewirkt. Ich musste weder Fäden mobilisieren noch sonst irgendein elaboriertes Kunststück aufführen. Karmons Körper gehorchte mir bereits. Ich hatte es bislang nur falsch angestellt, hatte nicht die richtige Frequenz gefunden, so als hätte ich mit den Kiefermuskeln versucht meinen Unterschenkel zu bewegen.

Der Bulle brüllte nun endgültig wie das Tier, nachdem man ihn benannt hatte und noch ehe er sich von dem Schmerz erholen konnte, aktivierte ich Karmons Schattenstrahler und entlud einen dicken, knisternden Blitz direkt in seine Hand, die binnen Lidschlägen zu einem schwarzen, verschrumpelten Etwas verbrannte und aus der sofort jegliches Quäntchen Kraft wich.

Doch leider reagierte der Bulle nicht nur mit Schmerz, sondern vor allem mit Zorn, knallte seine drei Köpfe reflexhaft wie eine breite Ramme gegen Karmons Oberkörper und ergriff mit seiner Linken unseren rechten Arm, sodass dieser mit einem Mal einem solchen Druck ausgesetzt wurde, dass ich glaubte, ihn regelrecht Knarzen zu hören. Kurz darauf spürte ich sogar, wie Karmons stabile Außenhülle unter dem Angriff nachzugeben begann. Der Mann musste wirklich über gewaltige Kräfte verfügen.

Doch auch ich war noch nicht am Ende meiner Möglichkeiten. Es war mir nach wie vor ein Rätsel, wie genau es mir gelang Karmons Körper zu kontrollieren, aber ich wusste jetzt, dass ich es konnte und ich wusste, wozu der Kwang Grong fähig war. Geschmeidig zog ich Karmons linke Hand aus dem Arm unseres Gegners heraus und versenkte die blutigen Finger im linken seiner drei Köpfe, und zwar nicht irgendwo, sondern direkt in dessen Augäpfeln. Das Brüllen des Bullen nahm eine neue Intensität an und in seinen vier verbliebenen Augen erkannte ich, dass sein Kampfesmut erloschen war, ja sah sogar das irrlichternde Aufleuchten einer Persönlichkeit, die die Kreatur schon vor langer Zeit abgelegt hatte.

Einer Persönlichkeit, der Gnade zumindest nicht gänzlich unbekannt gewesen war und die jetzt eben danach verlangte. Mir jedoch war nicht nach Gnade zumute. Nun, wo ich vollständig mit Karmons Körper verbunden war, spürte ich den Hunger, fühlte das Verlangen und die Macht, die darin lagen – und ließ sie frei. Wie ein Vampir begann ich zu saugen und beobachtete, wie die Tränenflüssigkeit und der Schweiß des Bullen förmlich aus seinem Körper herausplatzten, Poren öffneten, Tränenkanäle dehnten, Zellwände zerrissen und sich in glitzernden Bahnen aus seinem Körper hinaus direkt auf meine Mundöffnung zubewegten.

Auf gewisse Weise war dieser Anblick wunderschön, zumal ich wusste, dass Fettgewebe und Blut diesem köstlichen Strom schon in wenigen Momenten folgen würden. Kribbelnd und berauschend schmeckte ich die Körperflüssigkeiten des Mannes in mir und auch wenn ich dies mit meinem menschlichen Gaumen wahrscheinlich als ekelhaft und abstoßend empfunden hätte, genoss ich es jetzt wie köstlichen, herben Nektar. Wie in einem tiefen Atemzug versuchte ich den Prozess zu beschleunigen und den Mann noch schneller in mich aufzunehmen, doch stattdessen riss der delikate und noch viel zu feine Strom urplötzlich ab.

„Das reicht!“, sagte Slura und wirkte dabei zwar streng, aber durchaus zufrieden, „du musst ihn nicht töten, Karmon. Wir können ihn immer noch gebrauchen, denn die wenigsten unserer Gäste sind so stark wie du. Aber du wärst bereit zu töten. Grausam und ohne zu zögern. Das ist es, was ich wissen wollte und das ist der Pfad, dem du folgen musst, um hier nicht unterzugehen.“

Ich jedoch nahm diese Worte nur am Rande wahr. Zu groß war das Verlangen weiterzutrinken, mich an fremder Stärke zu berauschen und mehr zu werden, als ich war. Doch der verfluchte Act-Blocker hinderte mich daran, engte mich ein, während mich der geschwächte Bulle teils wütend und teils entsetzt betrachtete, und uns die anderen Creeps von ihren offenen Zellen aus mit nun deutlich größerem Interesse beobachteten.

„Du gehst zurück in deine Zelle“, befahl Slura unserem bezwungenen Kontrahenten.

„Brauche Hilfe“, sagte der schwer verletzte Mann mit allen drei Mündern, jedoch so heiser, als hätte er seine Stimme schon lange nicht mehr eingesetzt. Wahrscheinlich war das auch der Fall.

Slura sah den Bullen an, als handle es sich um einen Haufen Exkremente, der ganz unerwartet zu sprechen gelernt hatte.

„Also gut, dann geh! Du hast bis morgen Abend um 18 Uhr Zeit“, sagte sie kalt, „nimm das, was du noch von deinem Lohn hast und such dir irgendeinen Pfuscher, der dich zusammenflickt. Wenn du bis zur nächsten Vorstellung nicht wieder fit bist, hast du Pech gehabt und falls du nicht wiederkommst, finden wir dich und holen uns unsere Investition zurück. Mit Zinsen.“

Der Mann, dessen Gesicht selbst durch das kurze Saugen schon etwas verbrauchter und faltiger aussah, blickte Slura entgeistert an, wagte jedoch nicht zu widersprechen und trottete missmutig und gebrochen zur Tür hinaus. Jede Wut und Gefährlichkeit schien nun aus ihm gewichen.

„Jämmerlich“, urteilte Slura, „dieser Mann ist dir eindeutig unterlegen. Ich verstehe nicht, warum du ihn so lange hast gewähren lassen. Du hättest ihn sofort in Grund und Boden stampfen können.“

„Vielleicht wolltest ich ja, dass er mich unterschätzt“, antwortete ich mit Karmons Stimme, was mir recht gut gelang, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es nicht doch etwas unnatürlich und abgehackt klang.

„Dann wärst du sehr dumm“, meinte Slura, „denn um ein Haar hätte er dich vernichtet. Aber du bist nicht so dumm, nicht wahr? Es muss andere Gründe haben, warum du so gehandelt hast.“

„Wir sind hier in der Hauptstadt des Risikos. Ich passe mich an“, bot ich eine andere Erklärung an.

„Verarsch mich nicht, du Pisser!“, antwortete Slura drohend, „ich bin ein großes Mädchen, glaub mir. Ich weiß einige Dinge. Zum Beispiel weiß ich, dass die meisten nach ihrer ersten Trainingslektion bereits ganz wild darauf sind Blut zu saufen und nicht wie ein verfluchter Zombie in den Seilen hängen. Und ich weiß, dass es in Braviania, wo ihr Symbionten-Ficker euren Ursprung habt, eine Menge Hexerei und Guru-Scheiß gibt, der den Geist schützen kann. Gibt zwar nicht viele, die sowas können, aber es gibt ja auch nicht viele, die solche Körper haben, also, wer weiß. Vielleicht hast du deshalb keinen Finger krumm gemacht, weil du dir in irgendeiner kosmischen Wohlfühlblase auf dein Seelenheil einen runtergeholt hast. Würde doch Sinn machen, oder nicht?“

Verflucht, dachte ich entsetzt, wie kann Sie das wissen?

„Würde es“, stimmte ich zu, nachdem ich den Schock einigermaßen überwunden hatte, „wenn ich scharf drauf wäre zu verrecken. Immerhin ist in einer Arena kein Platz für Meditation oder nicht? Und wenn ich Pazifist wäre, hätte ich sicher nicht versucht den verdammten Wichser auszusaufen. Ich wollte ihn zerfetzen und ich will es immer noch. Du warst es, die mir diesen Spaß verdorben hat! Die Wahrheit ist, dass ich nicht gehandelt habe, weil ich verwirrt war. All diese Bilder haben … mich beschäftigt. Ich hatte Schwierigkeiten ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Es ist mir etwas unangenehm, aber so ist es nun einmal.“

„Wohl kaum“, erwiderte Slura skeptisch, „ein wenig Orientierungslosigkeit ist normal, aber nicht so etwas. Die meisten Creeps sind nach wenigen Augenblicken wieder voll bei der Sache.“

„Es sind niedere Kreaturen. Ihr Geist ist viel simpler, als der meine“, behauptete ich selbstbewusst und spürte die verächtlichen Blicke der anderen auf mir.

„Das steht außer Frage“, sagte Slura lächelnd, „und ich denke, dass mir dein gar nicht simpler Geist etwas vorspielen will. Trotz deiner bemerkenswerten Performance glaube ich nicht, dass du bereits ein Kwang Ana geworden bist. Noch nicht ganz. Du stinkst nach Zweifeln und Unentschlossenheit. Ich merke so etwas, Karmon. Aber das ist Okay. Wie heißt es so schön: ‚Fake it, till you make it‘. Du wirst dich noch beugen. Schneller als du denkst. Doch auch wenn deine Ausbildung nicht abgeschlossen ist, denke ich, dass wir dich bei der nächsten Vorstellung einsetzen können. Dort werden wir sehen, wie gut du dich im Ernstfall schlägst und die Gelegenheit ein paar Leben auszulöschen wird deiner Entwicklung förderlich sein. Zunächst aber werde ich dir zeigen, wo genau wir dich einsetzen und wie du mit den anderen zusammenarbeiten wirst. Komm her!“

Widerwillig gehorchte ich und bewegte mich auf den Tisch zu, wo Slura gerade eine Art virtuelle, schematische Karte einblendete. Die weißen, leuchtende Linien darin standen wohl für Wände und Hindernisse, während die roten Symbole offenbar die Angestellten des Labyrinths symbolisierten.

„Dies ist ein Plan unseres Etablissements“, betonte sie das naheliegende, „hier im ersten Bereich befindet sich das Soldatengrab, das Reich des Bullen. Sie tippte auf das Symbol eines dreiköpfigen Stiers. Sollte er nicht in der Lage sein seine Schäden rechtzeitig zu reparieren, werden wir für diese Position kurzfristig einen Freelancer auf den Endmärkten besorgen. In jedem Fall wird hier ein starker Nahkämpfer das Begrüßungskommando übernehmen. Dahinter wartet unsere Sumpfhexe Spectra in ihrem „klagenden Moor“. Jeder, der schlau und schnell genug ist den Bullen zu überwinden, läuft Gefahr im Schlamm stecken zu bleiben und sich mit ihren beschworenen Plagen auseinandersetzen zu müssen. Wer das überleben sollte, verliert sich im dunklen Wahnsinn von „Oblivias Schatten“ und wer auch dem entkommt, darf sich über den Appetit von Schlinger und Schlund in ihrer „Brutfalte“ freuen, bevor er mir in meinem „Martergarten“ in die Arme läuft und sein Leben in meiner liebenden Umarmung aushauchen darf. Dein Platz hingegen ist dort.“

Sie zeigte auf ein System aus kleinen Tunneln und einer Art Zwischendecke, die das gesamte Areal durchzogen.

„Wir nennen es den Rattenpalast. Überall in diesen Gängen sind gut getarnte Ausgänge platziert, über die du den Gästen in den Rücken fallen und sie überraschen kannst, wenn sie sich in Sicherheit wähnen oder wenn die anderen Creeps Schwierigkeiten haben. Halte dich nicht zurück, außer du erhältst eine entsprechende Anweisung von mir oder von Enry.“

„Wie soll das überhaupt jemand überleben?“, fragte ich Slura mit Karmons Stimme, „selbst einer von uns sollte doch locker ausreichen, um die meisten Zivilisten plattzumachen.“

„Oh, du unterschätzt den Erfindungsreichtum und das Durchhaltevermögen von Personen, die um ihr Überleben kämpfen und randvoll mit Adrenalin sind. Außerdem haben viele unserer Gäste synthetische Verbesserungen, gute Waffen und nehmen reflexsteigernde Drogen. Insbesondere die, für die es keine Psychotherapie und kein Gottesurteil, sondern der erhoffte schnelle Weg zum großen Geld ist, investieren dafür alles, was sie haben“, erklärte Slura. „Begehe also besser nie den Fehler, unsere Gäste zu unterschätzen. Es kam sogar schon vor, dass ein Gast einen Creep getötet hat. Dennoch sollten wir eigentlich mit ihnen fertig werden, wenn nicht …“

„Moment“, sagte Slura, deren Blick mit einem Mal etwas Abwesendes bekam. Einen Moment lang schwieg sie konzentriert und starrte neben mir ins Leere. „Das ist Enry“, sagte sie schließlich, als ihr Blick sich uns wieder zuwandte, „er möchte dich sehen.“

„Warum?“, fragte ich.

„Das hat er nicht gesagt“, erwiderte Slura, „aber du solltest ihn besser nicht zu lange warten lassen. Wenn ihr miteinander gesprochen habt und du noch leben solltest, kannst du hierhin zurückkehren, dir etwas zu essen holen und dein Training fortsetzen. Immerhin musst du morgen eine optimale Figur machen.“

~o~

„Du hättest den Mann beinah leergesaugt, Adrian“, meldete sich Karmon plötzlich wieder zu Wort, als wir gehorsam, wenn auch mit eher gemischten Gefühlen auf den Ausgang zustrebten, „es gibt einen Grund, warum ich diese Fähigkeit ungern einsetze. Sie ist ein Pfad in den Abgrund. Ja, ich glaube, dass sie meinem Geist – und auch deinem – mehr schaden kann, als selbst diese Konditionierung, mit der sie mich brechen wollen.“

„Glaubst du nicht, dass es ein wenig billig ist über andere zu urteilen, wenn man selbst einen auf stiller Beobachter macht?“, entgegnete ich ihm verteidigend, auch wenn ich mich in Wahrheit selbst für meine Taten schämte. Es mochte als eine Art Notwehr begonnen haben, aber dieser genießerische Hunger, den ich selbst jetzt noch verspürte, verbot es mir, mich damit zu rechtfertigen, zumindest vor mir selbst.

„Oh, aus solch einer Position urteilt es sich doch ganz hervorragend, oder meinst du nicht?“, gab Karmon sarkastisch zurück, bevor er gleich darauf ernst wurde, „ich danke dir, dass du mit der Situation so gut umgegangen bist. Alles, was ich möchte, dass du in Zukunft vorsichtiger bist.“

„Ich bin immer vorsichtig“, antwortete ich, „aber wenn ich deinen Körper steuern soll, muss ich ihn auch ernähren. Und ehrlich gesagt wundert es mich, dass du plötzlich so hohe moralische Standards anlegst. Meiner Erfahrung nach bist du zwar nicht gerade ein On-Grarin, aber Begriffe wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ behandelst du doch eher pragmatisch.“

„Das hat nichts mit Gut und Böse zu tun, sondern mit Sucht und Selbstkontrolle“, erwiderte Karmon, „das eine ist in der Lage das andere zu zerstören und das darfst du nicht so einfach zulassen.“

„Essen ist auch eine Sucht“, entgegnete ich, „und die zu vermeiden ist ziemlich tödlich.“

„Es ist mehr als bloße Selbsterhaltung“, entgegnete Karmon, „und das weißt du. Du hattest Freude daran und du hast es als Waffe verwendet.“

„So wie auch du“, antwortete ich, „mehrmals.“

„Das war ein Fehler gewesen“, gab Karmon zu.

„Wie lange soll ich deinen Körper überhaupt steuern?“, fragte ich, schon allein um von diesem Thema abzulenken, das auch mir selbst sehr unangenehm war.

„Nur solange es nötig ist“, sagte Karmon, „bis wir einen Weg finden, hier rauszukommen.“

„Das hast du schön gesagt, aber wie zum Teufel …“, begann ich, bevor ich jäh unterbrochen wurde.

„Was stehst du hier so dumm herum?“, fragte Slura misstrauisch, “Enry wartet. Versuchst du dich wieder an irgendeinem bravianischen Hokuspokus oder hat dir der Bulle einen Hirnschaden verpasst?“

„Nein“, erwiderte ich, „ich versuche nichts dergleichen. Und mit meinem Kopf ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur gefragt, was Enry von mir wollen könnte.“

„Verschwende besser keine Zeit damit“, meinte Slura im Tonfall eines mütterlichen Ratschlags, „du wirst fürs Töten bezahlt, nicht fürs Grübeln. Außerdem wirst du es doch gleich erfahren, oder nicht? Also schaff’ deinen verfluchten Arsch hier raus!“

~o~

Was wir in Enrys Büro zu Gesicht bekamen, traf zwar gänzlich meine Erwartungen in Bezug auf Grausamkeit und Dramatik, erwischte mich jedoch ansonsten ziemlich kalt. Enry saß auf einem breiten, dunkelgrünen Ledersessel an einem pechschwarzen Schreibtisch, der mit weißen Totenköpfen und roten Dämonenfratzen verziert war. In seiner rechten Hand hielt er eine schwarze, henkellose Tasse, an deren Rändern weiße Würmer hinauf- und hinabkrochen, bei denen ziemlich offensichtlich war, dass es sich um animierte, künstliche Nachbildungen handelte, auch wenn sie an die sehr realistischen Wurmmäuler am Eingang erinnerten.

Weitaus eindrucksvoller war jedoch das, was sich neben Enrys Schreibtisch befand: Eine mit Rollen ausgestattete Konstruktion aus Kunststoff, auf der an einem Gitter aus gleichfalls weißen Metallstangen das aufgespießt worden war, was von Rusthead übriggeblieben war. Geschliffene, blutverschmierte Spitzen ragten zu beiden Seiten aus seinen Händen, seinem Kopf, seiner Brust und seinem Bauch, was ihm das Aussehen einer Vogelscheuche mit Messias-Komplex gab. Seine linke Hand war sauber abgetrennt worden und auch jenseits der Metallstangen war er übersät von breiten Schnitten und kleinen Stichen. Seine Zunge hing aus seinem Mund, seine Augen waren leer und wo immer das Metall seinen Körper durchbohrt hatte, quollen wulstiges, verletztes Fleisch oder die Drähte und Bruchstücke seiner zerstörten Implantate hervor.

Bei diesem Anblick meinte ich ein schmerzhaftes Ziehen direkt in meiner Seele zu spüren. So eine Demonstration von sinnloser Grausamkeit hatte ich seit meinen Tagen in Konor nicht mehr gesehen. Und nein, man gewöhnte sich nicht an so etwas. Nicht einmal ich.

Was mich jedoch noch mehr verwirrte war der traurige, gemarterte Ausdruck in Enrys eigenem Gesicht. Aus seinen runden Augen glotzte mich plötzlich eine Leere an, die sich auf geradezu obszöne Weise präsentierte: splitternackt, vulgär und unangenehm aufdringlich. Ja, man hätte fast meinen können, dass es Enry war, der gerade aufs brutalste zu Tode gefoltert worden war und nicht Rusthead.

„Anscheinend waren Sie nicht von der Sabotage-Theorie überzeugt“, kommentierte Karmon, der seinen Körper inzwischen wieder in Besitz genommen und mich in die Beobachterrolle zurückversetzt hatte, was mir gerade sehr gelegen kam. Es wäre mir in dieser Situation sicher schwergefallen, folgsam und diplomatisch zu bleiben.

„Es funktioniert nicht mehr“, sagte Enry weinerlich und mit matter, fast versagender Stimme.

„Was funktioniert nicht mehr?“, wollte Karmon wissen.

Enry seufzte tief und schnalzte danach leise mit der Zunge. „Macht unterliegt der Inflation, wissen Sie?“, erklärte er, „sie nutzt sich ab. Ich meine selbstredend nicht in ihrer Effektivität. Diesbezüglich nimmt sie sogar oft noch zu je länger man sie hat und je mehr man davon besitzt. Nein, ich rede von ihrem Gebrauchswert. Der Nutzen, der Kitzel, er … schwindet letztlich. Wenn Sie die erste Grenze durchstoßen, wenn Sie das erste Mal einen fremden Willen brechen und damit durchkommen, ist es wie eine Explosion, wie eine Offenbarung, ja eine regelrechte Transzendenzerfahrung. Doch mit der Zeit wird es … gewöhnlich. Wie die tägliche Hygiene, bestenfalls noch wie ein schneller Snack. Und irgendwann … schmeckt man gar nichts mehr.“

„Folter und Macht sind nicht dasselbe“, bemerkte Karmon, „es gibt weit subtilere, effiezientere Formen der Dominanz.“

„Oh, das ist mir bewusst“, sagte Enry, „aber sie ist die aufregendste Form. Die roheste und direkteste. Sie bietet den größten Lustgewinn. Die Andrin wissen schon, warum sie eine ganze Kultur darauf aufgebaut haben.“

„Aber sie sind kein Andrin, nicht wahr“, sagte Karmon, „die Folter ist ein zweischneidiges Schwert für Sie. Sie verkrüppelt auch den Folterer.“

„Mag schon sein“, erwiderte Enry nachdenklich, „aber unsere Narben, sind das, was uns ausmacht, oder nicht?“

„Nein, sie zerstören es“, bemerkte Karmon.

„Einerlei“, sagte Enry schulterzuckend, „so wie letztlich alles.“

„Wenn Sie all das so sehr ankotzt, warum geben sie ihr Geschäft nicht einfach auf?“, fragte Karmon, „Geld haben sie doch sicher genug.“

Enry lachte auf, „so etwas wie genügend Geld gibt es nicht. Schon gar nicht in Deovan. Dominanten sind hier immer im Fluss. Sie fließen zu und fließen ab und Sie müssen von ihnen zehren, so wie Ihre Lungen Luft benötigen. Andernfalls ersticken Sie. Ich kann nicht aufhören zu verdienen. Es sei denn, ich höre auch auf zu atmen.“

Vielleicht solltest du genau das tun, dachte ich böse.

„Hat er Ihnen wenigstens irgendetwas verraten?“, fragte Karmon und zeigte auf Rustheads traurige Überreste, „irgendetwas darüber, wer sie sabotiert hat? Irgendetwas, das all das hier wert wäre?“

„Nein“, sagte Enry nachdenklich, klappte seinen Schirm auf und drehte ihn in der Hand, „er hat nur behauptet, dass er nichts wüsste. Dass er keinen Fehler gemacht hätte. Die üblichen Ausreden eben. Lügen sind der Schild der Schwachen.“

„Ich habe sie meistens von den Starken gehört“, widersprach Karmon, „ich an ihrer Stelle würde jedenfalls darauf achten, dass …“

„Genug davon!“, schrie Enry plötzlich wutentbrannt und setzte gleich darauf ein künstliches Lächeln auf, das sich binnen weniger Herzschläge in ein natürliches oder zumindest glaubwürdiges verwandelte, „ich werde eben manchmal … sentimental. Eine Schwäche, die ich natürlich gegenüber niemand Wichtigem zeigen darf. Zum Glück gibt es ja Leute wie Sie. Aber zu etwas anderem. Was macht Ihr Training? Für meinen Geschmack sind Sie mir noch immer viel zu philosophisch drauf. Haben Sluras Methoden denn gar nichts bei Ihnen bewirkt? Ich brauche nämlich Killer, keine Poeten.“

„Keine Sorge, ich kann töten“, sagte Karmon so finster wie es ihm möglich war, was wirklich ziemlich finster war, „ich habe es oft getan und werde es wieder tun.“

„Sehr gut“, antwortete Enry, „diese Einstellung ist erfreulich. Ich fand Ihren Kampfstil bei unserer Begegnung im Invisible Land wirklich inspirierend. Diese Show muss ein Erfolg werden. Die Konkurrenz schläft nicht. Nicht nur, dass New Day Inc. kürzlich diese Virtual-Reality-Batterie-Farmen eröffnet hat, in die sich jetzt einige der Lebensmüden flüchten, jetzt haben sie auch noch meine Idee kopiert und ein eigenes Franchise gestartet. Minderwertiger Schrott ohne Liebe zum Detail natürlich, aber mit einem ordentlichen Werbebudget und einem Heer von Influencern. Da kann ein einfacher Mittelständler wie ich nicht mithalten, außer er setzt auf Qualität. Sie sind meine Qualität. Also enttäuschen Sie mich nicht, Okay?“

„Natürlich nicht“, stimmte Karmon zu.

„Gut“, sagte Enry seufzend, „ich habe nämlich keine Lust darauf, so einen großen Körper wie Ihren entsorgen zu müssen. Doch jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Gehen Sie wieder trainieren und liefern Sie mir eine grandiose Show. Und falls Sie irgendetwas verdächtiges entdecken, berichten Sie es mir.“

~o~

„Was zur Hölle war das?“, fragte ich Karmon, als wir Enry Büro wieder verlassen hatten.

„Ein gelangweilter Mann“, urteilte Karmon, „meiner Erfahrung nach sind das die Gefährlichsten.“

„Offensichtlich“, sagte ich, „zumal ich nicht mal verstehe, was er überhaupt von uns wollte.“

„Das hat er doch gesagt“, erwiderte Karmon, „Er musste mit jemandem reden. Sein Geisteszustand verlangte danach. Aber Leute wie er, die niemandem vertrauen, können sich nur denen offenbaren, die sie für schwächer halten. Gleichzeitig sollte diese Sache mit Rusthead wohl auch eine Drohung sein. So etwas gehört zum kleinen Einmaleins solcher Provinzdespoten.“

„Möglich. Ich glaube aber eher, dass deine erste Vermutung voll ins Schwarze trifft“, sagte ich, „auf mich wirkte das alles gar nicht so kalkuliert. Wahrscheinlich haben wir hier einen Typen vor uns der allmählich seinen Verstand verliert. Es scheint ihn ja nicht einmal zu kümmern, wer hinter der Sabotage an seinem Wagen steckt. Alles, was er noch will ist seine Impulse auszuleben. Wenn überhaupt.“

„Das macht es für uns nicht einfacher“, meinte Karmon, „mit einem Egoisten kann man sich arrangieren, mit einem Wahnsinnigen nicht. Hoffen wir einfach, dass es nur eine Laune von ihm ist.“

„Wir werden es erleben“, erwiderte ich düster, „doch wer soll ihm morgen seine kleine Show liefern? Du oder ich?“

„Das besprechen wir noch. Zunächst mal sollten wir zurück zu Slura gehen und uns etwas zu essen holen, schon allein um ihr Misstrauen nicht noch weiter zu schüren“, schlug Karmon vor, „es steht ja außer Frage, dass sie uns nicht vertraut. Dass sie über die Nichtswerdung Bescheid weiß oder zumindest eine entsprechende Vermutung hat, macht es nicht einfacher. Wir müssen alles tun, um ihre Zweifel zum Schweigen zu bringen.“

„Kannst du überhaupt normales Essen zu dir nehmen?“, fragte ich.

„Finden wir es heraus“, sagte Karmon mit grimmigem Humor, „falls es mir nicht schmeckt, lasse ich dich einfach übernehmen.“

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