Ich kenne dich

Hallo. Suchst du schon wieder nach dem Kick? Nach dem schnellen Grusel zwischendurch, der dein Leben ein klein wenig aufregender macht? Dem wohligen Schauer zwischen Abendessen und Schlaf?

Natürlich tust du das. Ich weiß es genau, denn ich beobachte dich schon sehr lange. Seit vielen amüsanten Jahren. Ich weiß, dass du dich langweilst. Ich weiß, dass du mehr vom Leben erwartest. Du willst, dass sich deine geheimen Fantasien erfüllen. Dass du berühmt, reich und glücklich wirst. Dass du dich endlich über all die anderen wertlosen Existenzen da draußen erheben kannst. Leugne es nicht. Ich kenne dich. Ich kenne deine Gedanken. Deine Begierden. Und deine Ängste.

Ich bin keine davon. Versteh mich nicht falsch. Wenn du mich sehen würdest, würdest du dich auf der Stelle in ein wimmerndes erbärmliches Kleinkind verwandeln. Aber du hast mich nie gesehen. Noch nicht. Und deshalb suchst du dir deinen Kitzel woanders. In immer extremeren Achterbahnfahrten, in Splatterfilmen, in Horrorgeschichte, Creepypastas und all dem anderen Mist, den sich die Menschen dort draußen aus ihrem Gehirn saugen. Und meistens ist es amüsant. Du gruselst dich kurz, leidest mit den armen Opfern mit oder hast morbide Freude an den grauenhaften Geschehnissen. Und dann umarmst du das Leben nur um so fester. Du erfreust dich an den Sonnenstrahlen, an deinem Partner, deinen Freunden und sogar an deiner täglichen Routine. Denn du weißt, dass der Grusel dich nicht erreichen kann. Du schließt ihn weg wie ein abgearbeitetes Dokument.

Hin und wieder aber. Geht die Rechnung nicht auf. Dann war der Kater den Rausch nicht wert und der wohlige Schauer kippt in etwas fieses und ekelhaftes, dass du vergeblich abzuschütteln versuchst. Dann plagen dich Albträume und du hast Angst vor dem Einschlafen. Dann willst du nicht allein im Zimmer sein und fragst dich immer wieder, ob in all diesen Fantasien nicht ein Körnchen Wahrheit steckt.

Ich bin dieses Körnchen. Und ich bin der Baum, nein der Wald der daraus gewachsen ist. Der Wald in dem du dich verirrst bis das Licht und der vertraute Alltag nur noch eine blasse Erinnerung sind.

Bis dahin warte ich. Wie ich schon so lange gewartet habe. Wie ich schon deine Kindertage, deinen ersten Kuss und all die vielen Erfolge und Fehlschläge aufmerksam begleitet habe. Ich warte. Denn ich habe Geduld.

Und irgendwann wird der Tag kommen. Wenn du am Boden bist. Wenn du isoliert und einsam bist. Wenn jede Hoffnung sich verflüchtigt und du seelisch mehr tot als lebendig bist. Dann bist du reif. Dann werde ich ernten.

Bis dahin versuche ich dich sorgfältig und behutsam in diese Richtung zu lenken. Durch deine Träume. Durch leise Einflüsterungen in dein Unterbewusstsein. Während ich wie immer geduldig in deiner Wand, am Rand deines Blickfelds, unter deinem Bett oder in deiner Fantasie lauere. Nimm es mir nicht übel. Das ist meine Natur. Genau wie die meiner Brüder. Denn wir sind die wahre Spitze der Nahrungskette auf diesem Planeten.

Doch nun habe ich genug gesagt. Schlafe nun mein Menschlein. Und reife…

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