Knochenwelt: Diskussionen

„Lassen sie mich das wiederholen, Frau Breitberg“, sagte Matthias Blassner mit übertrieben zur Schau gestelltem Unglauben. „Sie behaupten also, dass Thomas Eden, unser allseits geschätzter Kanzler Sozialschmarotzer und Penner von der Straße holt und sie zu MannaRed verarbeitet?“

Alle Gäste im Studio von „Wille des Volkes“ der inzwischen letzten und einzigen politischen Talkshow in Deutschland lachten schallend. Alle bis auf Anna Breitenberg, eine blasse, zittrige Frau Ende dreißig, der man die erst kürzlich durchstandene Folter noch immer im Gesicht ansah. Und das nicht allein metaphorisch. Ihr linkes Auge war geschwollen, ihr rechtes Auge war für immer geschlossen und beim Sprechen offenbarte sie eine Ruinenlandschaft aus abgebrochenen und entfernten Zähnen.

Andere diktatorische Regime hätten unliebsame Bürger wie sie einfach still und leise entsorgt oder hätten sie – wenn sie schon derartige Propagandasendungen veranstaltet hätten – wenigstens fein herausgeputzt, um zu zeigen, was für ausgesprochene Menschenfreunde sie doch sind und wie fair sie mit Oppositionellen umgehen.

Nicht so Eden und seine CfD. Eden wollte die maximale Demütigung. Und vor allem wollte er eine Botschaft an die Opposition senden, die in etwa lautete: Das könnte auch mit dir passieren.

Trotzdem war diese Demütigung nicht so vollständig, wie sie es eigentlich sein sollte. Denn tief im noch intakten Auge von Anna Breitenberg glitzerte noch immer ein wenig Trotz und als sie sprach, war ihre Stimme erstaunlich fest. „Sie wissen genau, dass ich nichts davon nur behaupte. Ich habe Beweise gesammelt.“

„Und wo sind diese Beweise?“, fragte Björn Hagenbach, einer der vier CfD-Funktionäre, die mit Breitenberg im Studio saßen. Hagenbach grinste und war damit nicht allein. Es war offensichtlich, dass er und seine Parteifreunde es auskosteten, nun endlich alleine den Ton in den Talkshows angeben zu können.

„Das wissen sie genau. Sie haben sie vernichtet!“, antwortete Breitenberg wütend. In ihrer verzweifelten Wut gelang es Breitenberg diesmal nicht, ihre Stimme trotz ihrer fehlenden Zähne und der zum Teil abgeschnittenen Zunge zu kontrollieren, so dass ihre Worte eher undeutlich herauskamen.

„Worauf haben Sie verzichtet?“, fragte Eduard Dramer, der rechts von ihr Platz genommen hatte, höhnisch.

„Sie haben sie vernichtet!“, wiederholte Breitenberg diesmal lauter und etwas deutlicher.

„Wie praktisch“, kommentierte Dennis Arnwold, der dritte Funktionär im Bunde, „das würde ich an Ihrer Stelle natürlich auch behaupten.“

„Sie wissen genau, dass ich die Wahrheit sage“, antwortete Breitenberg, „Sie wissen es! Sie wissen über MannaRed Bescheid, Sie wissen, dass Sie Menschen für den Militärdienst verpflichten und sie dann in seelenlose Monster verwandeln und Sie wissen – auch wenn sie jetzt noch so selbstzufrieden grinsen – dass Sie am Ende nicht gewinnen können. Wie jedes Unrechtsregime werden Sie letztlich untergehen, egal wie viele Monster Ihnen helfen.“

Ihr Plädoyer war feurig, aber er hatte die gequälte Frau auch sichtlich ausgelaugt und so sank sie erschöpft in ihren Sitz zurück.

Thomas Eden, der Kanzler, der in dieser Runde ebenfalls anwesend war und anders als seine Parteikollegen eher kühle Gelassenheit als hämische Freude ausstrahlte, betrachtete Breitenberg ohne jede erkennbare Regung.

„Alles, was wir wissen, ist, dass Sie eine Frau sind“, stellte er nüchtern fest, „und Frauen lügen.“

Angesichts dieser Äußerung trieb die Wut noch einmal das Leben in Breitenberg zurück. „Sie glauben doch nicht ernsthaft“ , sagte sie, „dass sie auf Dauer die Hälfte der Bevölkerung diffamieren und bekämpfen könne, ohne dass das für sie Konsequenzen hat. Sie werden noch …“

Ehe die Frau weitersprechen konnte, verpasste der Moderator ihr einen heftigen Schlag gegen den Kopf und frisches Blut tropfte aus ihrem ohnehin schon mitgenommenen Gesicht.

„Ich glaube, wir haben genug geredet. Es wird Zeit für ein wenig Medienkritik“, sagte Blassner und ging daraufhin zu einem kleinen weißen Tisch, auf dem eine Reihe Zeitungen lagen.

Er hielt sie Breitenberg wie eine Anklage vors Gesicht. „Das hier haben Sie geschrieben, oder?“

„Vielleicht“, sagte sie blutig lächelnd, „wenn es gut ist. Allerdings überschätzen Sie mich, wenn Sie meinen, dass ich alleine eine ganze Ausgabe bestreiten kann.“

Blassner machte den Eindruck, sie erneut schlagen zu wollen, verzichtete dann aber doch darauf. Stattdessen las er die Überschriften der verschiedenen Artikel laut vor.

„Warum die CfD die Gesellschaft spaltet“

„CfD-Vorsitzender Eden bezeichnet Nazi-Zeit als ‘Gar nicht so schlimm‘“

„Wirklich eine Chance für Deutschland?“

„CfD: Ein Fall für den Verfassungsschutz?“

Trotz ihres erbärmlichen Zustandes musste Breitberg weiterhin lächeln. „Ja, das klingt bekannt“, sagte sie, „und wenn sie die Wahrheit meiner Worte selbst jetzt noch bezweifeln, wo Sie mich in einer öffentlichen TV-Sendung misshandeln, sind sie sogar noch viel dümmer als ich gedacht habe.“

„Sie bereuen die Verbreitung dieser Fake News nicht?“, fragte Blassner im Duktus eines Staatsanwalts, der glaubte, den Angeklagten gerade so richtig festnageln zu können.

„Ich bereue die Verbreitung dieser gründlich recherchierten und gut belegten FAKTEN nicht“, antwortete Breitberg so leidenschaftlich, dass ihre Worte beinah klar herauskamen, „aber ich bereue, nicht noch deutlicher auf ihre Machenschaften hingewiesen zu haben.“

„Sie haben für die Lügenpresse der Öffentlich-Rechtlichen gearbeitet“, sagte Eden, der nun das Gespräch an sich riss, scharf. „Sie haben das deutsche Volk jahrelang in die Irre geführt und mit Lügen gefüttert, Tatsachen verdreht und Dinge verschwiegen, die es hätte wissen sollen. Alles nur, um die Umvolkung Deutschlands voranzutreiben und ihre linksgrünversiffte Agenda voranzubringen. Sie hätten unser Volk zugrunde gerichtet, wenn uns nicht ein Glücksfall der Geschichte …“.

„Sie meinen, wohl diese mordenden Monster, die Zehntausende auf dem Gewissen haben“, warf Breitberg ein, aber Eden sprach ungerührt weiter.

„Wenn uns nicht ein Glücksfall der Geschichte in die Lage versetzt hätte, unser Land zu verteidigen, hätten sie Deutschland bereits vernichtet. Und selbst jetzt noch, wo ihre Sache verloren ist und wir Ungeziefer wie sie aus seinen Löchern gezogen, aus seinen als Redaktionen getarnten Lügengebäuden gejagt und der Gerechtigkeit zugeführt haben, besitzen sie die Unverfrorenheit noch immer, auf ihren Lügen zu bestehen.“

„Nur weil sie ihre alternativen Fakten wiederholen, werden sie dadurch nicht wahrer …“, begann Breitberg. Aber sie wurde sofort übertönt von Leuten aus dem Publikum, die, lautstark „Lügenpresse“ riefen.

Die Kamera schwenkte ins Publikum und zeigte dabei hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) Menschen mittleren Alters, die zum Teil CfD-Fahnen und T-Shirts trugen, zum Teil aber auch ziemlich unscheinbar und bürgerlich aussahen. Dennoch gab es kaum jemandem im Publikum, der nicht mitschrie. Normalerweise hätte man vermuten können, dass hier – wie in vielen autoritären oder totalitären Regimen – einfach nur Menschen dazu gezwungen worden waren, die Rolle des begeisterten Publikums zu spielen. Aber das stimmte in diesem Fall nicht. Auch wenn sie vielleicht nicht die Bevölkerungsmehrheit stellten, hatte die CfD nämlich tatsächlich eine Menge Anhänger in der Bevölkerung und einige der Radikalsten waren hier versammelt.

„Sehen Sie?“, sagte Eden, „das Volk will ihre Lügen nicht mehr hören. Sie haben es die ganze Zeit damit gefüttert. Jetzt wird es Zeit, den Spieß umzudrehen.“

Eden nickte Blassner zu und dieser übergab ihm den Stapel Zeitungen.

„Sie werden das hier essen. Bis zum letzten Fetzen Papier, und zwar ohne etwas davon wieder hochzuwürgen. Haben sie mich verstanden?“

„Ich werde nichts dergleichen tun!“, widersprach Breitberg.

„Ach nein?“, sagte Eden, „ich habe gehört, dass sie eine Tochter haben. Mandy, nicht wahr? Sie haben Sie in einem kirchlichen Kindergarten untergebracht, weil sie dachten, sie wäre dort sicherer als in einem staatlichen. Aber – Hallelujah! – das war sie nicht. Sie ist jetzt an einem anderen Ort. In meinem Garten Eden könnte man sagen. Haben Sie wirklich keinen Hunger?“

Eden grinste breit und ziemlich schmierig.

Breitberg zuckte erschrocken zusammen und man konnte zusehen, wie ihre Gesichtszüge ihr zunehmend entglitten. Dann sah sie Eden noch einmal wütend an und begann zu essen.

„Es reicht!“, sagte Gabriela und schaltete den Fernseher aus. Sie war eine freundliche, aber resolute Frau Ende vierzig, mit blondem Kurzhaarschnitt und einem beigefarbenen Hosenanzug. Bevor sie den Geistermenschen beigetreten war, hatte sie durchweg bürgerlich gelebt. Kind, Hund, Karriere, Eigentumswohnung.

„Nur weil wir wegschalten, heißt das nicht, dass es nicht mehr passiert“, empörte sich Jessica. Sie war das genaue Gegenteil von Gabriela. Mitte zwanzig, hellbraune Haut, Rot-grün gefärbte Haare, Batik-Shirt, zerrissene Jeans, Piercings, Tattoos, aktiv als Umweltaktivistin, Flüchtlingshelferin und in verschiedenen linken Bewegungen.

„Denkst du, ich weiß das nicht?“, erwiderte Gabriela energisch, „aber indem wir bei ihrer Folter zuschauen, helfen wir der armen Frau auch nicht. Solange wir nicht vorhaben, mit einer ganzen Armee das Studio zu stürmen, können wir ihr überhaupt nicht helfen.“

„Wir müssen trotzdem verfolgen, was Eden und die CfD tun“, widersprach Jessica.

„Das wissen wir doch bereits“, antwortete Gabriela, „Sie führen Schauprozesse durch, foltern einige Journalisten, Migranten und Dissidenten und übergeben andere dem Mob oder ihren monströsen Verbündeten. Was soll es uns helfen, uns auch noch in ihrem perversen Theater zu suhlen?“

„Es würde unsere Entschlossenheit stärken“, antwortete Jessica, „außerdem sind wir es der armen Frau schuldig, wenigstens in Gedanken bei ihr zu sein.“

Gabriela schlug auf den abgewetzten Holztisch, auf dem ein Glas Cola stand, das dabei bedenklich wackelte. MannaRed war bei den Geistermenschen verboten. „Es soll unsere Entschlossenheit stärken? Die Mistkerle haben meinen Mann mitten in der Nacht abgeholt und ihn in einen verdammten Madensoldaten verwandelt. Und meinen Sohn haben sie in seinem Bett erschossen, weil sie meinten, er sei zu hässlich, um zu leben. Denkst du, ich könnte überhaupt noch entschlossener sein?“, schrie sie Lena an.

„So meinte ich das doch gar nicht“, begann Jessica.

„Wie meintest du es dann?“, fragte Gabriela.

Jessica wirkte peinlich berührt. „Ich wollte nur … ich … will ja nur sagen, dass wir …“

„Denkt ihr nicht, wir sollten uns alle mal etwas beruhigen?“ sagte Mik, gebürtiger Schwede und früher Chef einer Sicherheitsfirma, der sich geweigert hatte, die Dienste seiner Mitarbeiter der CfD anzubieten. Mik war immer sehr korrekt gekleidet, bevorzugte dunkle Anzüge und liebte es, sich im Spiegel zu betrachten, wenn er dachte, dass keiner es bemerkte.

„Genau das hat uns gefehlt“, kommentierte Jessica, „ein Mann, der uns Frauen sagt, wie wir zu diskutieren haben. Das Mansplaining endet nicht mal am Rande der Apokalypse, was?“

„Darum ging es mir doch gar nicht“, verteidigte Mik sich, „aber wenn ihr hier weiter so rumschreit, können wir Eden unseren Standort auch gleich hochoffiziell auf Instagram verraten.“ Instagram gab es nach wie vor in Deutschland, genau wie alle anderen großen Plattformen. Während alle regierungskritischen Medienseiten und Blogs verboten worden waren, hatte man den Zugang zu den sozialen Netzwerken offengelassen. Dies hatte drei Gründe.

Erstens war die Partei hier groß geworden und die Plattformen diente nach wie vor zur Mobilisierung ihrer Anhänger und zum Verbreiten ihrer Version der Wahrheit. Zweitens waren sie bestens dafür geeignet, Regierungskritiker zu identifizieren und auszuschalten, was dank einer kompletten Überwachung und entsprechenden Abkommen mit den Betreibern besonders einfach möglich war. Drittens wurde das Meinungsbild durch den massenhaften Einsatz von KI noch weiter in Bereiche verschoben, die der Regierung genehm waren.

„Das sagst ausgerechnet du? Als wenn du jemals in deinem Leben leise gewesen wärst. Außerdem wird gerade ein Mensch live im Fernsehen gefoltert, falls dir das noch nicht aufgefallen ist“, ätzte Jessica.

„Das ist mir aufgefallen“, antwortete Mike, „aber trotzdem, es …“

„Ruhe“, verlangte Lena Lüders, die so etwas wie die inoffizielle Anführerin der Gruppe war. Die schlanke, großgewachsene Frau mit den weißen Haaren war fast unbemerkt an sie herangetreten. Sie sprach leise, flüsterte fast und drang dennoch mühelos zu den anderen durch. Sie besaß einfach die Art von Charisma, die so etwas ermöglichte. „Ich habe unseren Kontakt aus Großbritannien in der Leitung. Vielleicht wollt ihr ja mithören, statt euch zu streiten.“

~o~

„Hello Boris. How are you?“, eröffnete Lena das Gespräch.

„Lassen Sie den Quatsch. Sie wissen genau, dass ich fließend Deutsch spreche und dass ich lieber nackt an einem Glasstrauch hängen würde, als mir ihr miserables Englisch anzuhören“, antwortete Boris Parker mit einem etwas beleidigten Unterton.

„Wenn keine Zeit mehr für ein bisschen Humor ist, ist die Welt wirklich am Arsch“, erwiderte Lena fröhlich.

„Die Welt IST wirklich am Arsch. Das weiß wahrscheinlich kaum jemand besser als Sie. Außerdem verwahre ich mich dagegen, mich von einer Deutschen über Humor belehren zu lassen. Kommen wir lieber direkt zum eigentlichen Grund unserer Unterhaltung. Sie sollten doch wissen, wie viel ich mit diesem Gespräch riskiere“, gab Parker zurück und klang dabei eigenartig nervös.

„Nein, das weiß ich eigentlich nicht“, sagte Lena, „ich dachte, die britische Regierung sei daran interessiert, die Demokratie in Deutschland wiederherzustellen und auf diese Weise diesen sinnlosen Krieg zu beenden.“

„Leider ist die Lage nicht ganz so einfach“, entgegnete Parker.

„Warum nicht?“, wollte Lena wissen.

„Nun, zum einen gibt es auch hier einige Kreise, die Edens verquere Ansichten teilen. Vor allem jedoch gibt es eine Reihe von Interessengruppen, für die dieser Krieg alles andere als sinnlos ist. Die Waffenindustrie ist nur eine davon. Auch das Militär gewinnt durch diese ganze Situation einen völlig neuen Stellenwert“, erklärte Parker.

„Aber ihnen muss doch klar sein, dass es nicht endlos so weitergehen kann. Die Ressourcen ihres Landes und auch die des Planeten sind nun einmal endlich und die Bevölkerung leidet doch auch unter den steigenden Militärausgaben.“

„Ja und nein“, sagte Parker, „wir können vielleicht nicht ewig Munition herstellen, aber unsere Bestände an Schneidmadenfleisch sind gewaltig und die damit veränderten Soldaten sterben nicht so schnell. Wahrscheinlich könnten wir dieses Spiel noch für Jahrzehnte weitertreiben. Und wenn die Munition ausgeht, würden sie ihre Soldaten notfalls mit Stöcken und Steinen in den Krieg schicken.

Was die Bevölkerung angeht … natürlich leidet sie. Aber angesichts eines Heeres von Madensoldaten ist ein Aufstand eher unwahrscheinlich. Bislang zeigt unsere Regierung noch ein halbwegs ziviles Gesicht. Aber ich fürchte, sie würden auch nicht zögern, von den Madensoldaten Gebrauch zu machen, wenn es ihnen zu brenzlig wird. Schon dass sie sie überhaupt einsetzen, beweist ja, dass sie zu allem bereit sind.

Wenn es hochkommt, haben sich vielleicht fünf Prozent dieser Monster aus patriotischen Gefühlen für ihr Schicksal entschieden. Der Rest sind Strafgefangene, Obdachlose oder Leute, die sich zu laut darüber beschwert haben, dass die Regierung Madensoldaten einsetzt. Im Grunde ist es kaum anders als bei ihnen. Nur der Ton ist etwas höflicher.“

„Bei unserem letzten Gespräch waren sie noch optimistischer“, merkte Lena an.

„Unser letztes Gespräch ist zwei Monate her“, sagte Parker, „das ist in diesen Zeiten vergleichbar mit zwei Jahrzehnten.“

„Wie sieht es mit dem Widerstand aus?“, fragte Lena, „hat sich in der Hinsicht inzwischen etwas getan? Die Menschen müssen doch langsam genug haben vom Krieg.“

„Oh, das haben sie“, antwortete Parker, „aber der Premierminister wird nicht müde zu wiederholen, dass wir nicht nachlassen dürfen, wenn Eden und seine Bande uns nicht unterjochen sollen. Und solange unser Land auch nur noch ein bisschen freier aussieht als die schlimmsten Madendikaturen, verfängt diese Argumentation bei den Meisten.

Ein wenig Widerstand gibt es natürlich auch. Ein paar Verzweifelte tun mehr als sich nur kritisch zu äußern, was ja für sich genommen schon gefährlich genug ist. Eine der Zellen, zu denen ich auch Kontakt habe, hat sogar einen Anschlag auf eine Madenkaserne verübt, wobei lediglich die Hälfte von ihnen ums Leben kam.

Bei den meisten Widerständlern ist es jedoch vor allem ein Lifestyle. Sie konsumieren weiter normale Nahrung, anstatt MannaRed, verweigern sich selbst dem normalen Militärdienst und praktizieren zivilen Ungehorsam, wann immer es ihnen nicht zu gefährlich erscheint. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich will das nicht verurteilen, ich befinde mich ja selbst nicht in offener Rebellion gegen diesen ganzen Wahnsinn. Aber dennoch: zu großen Veränderungen sind diese Leute sicher nicht in der Lage.“

„Wie sieht es mit dem Rest der Welt aus? Haben Sie dazu etwas von Ihren Kontakten gehört?“, wollte Lena wissen.

„Viele Kontakte bleiben da nicht mehr. Die meisten von ihnen sind entweder, tot, verschwunden oder in Gefangenschaft. Ich weiß nicht, wie viel Sie bei all der Zensur davon mitbekommen haben, aber das sind keine guten Zeiten für Freiheit und Demokratie. Ihr hübsches Tor zur Hölle mag zwar geschlossen worden sein, aber was dort rausgekommen ist, wirkt wie ein Brandbeschleuniger für alles, was mit Hass und Unterdrückung zu tun hat. Die EU hat sich praktisch aufgelöst. Österreich, Ungarn, Polen, Italien und die meisten osteuropäischen Staaten sind entweder bereits im Faschismus angekommen oder auf dem besten Weg dahin. Viele dieser Länder haben kräftig in Militärtechnologie investiert. Sowohl in konventionelle als auch in solche, die mit dem Knochenwald in Verbindung steht.

In Spanien, den Niederlanden und Nordeuropa sieht es etwas besser aus, aber die haben militärisch nicht viel zu melden. China und Russland kochen ohnehin ihr eigenes Süppchen und nutzen diese neuen Kreaturen, Pflanzen und Phänomene für ihre Zwecke, wo immer es nur geht.

Japan, die afrikanischen Länder, Südamerika und Australien sind froh, dass sie von dem ganzen Schlamassel halbwegs verschont geblieben sind, haben aber trotzdem genug mit den wirtschaftlichen Folgen zu kämpfen. Ich habe sogar Berichte von Hungersnöten gehört. Viel Unterstützung können wir hier nicht erwarten. Auch Indien besteht auf seiner Neutralität. Trump wird bisher von seinen Beratern und der Zivilgesellschaft noch mühsam davon abgehalten, das gesamte US-Militär auf Madensoldaten umzurüsten.

Jeder Versuch, ihm zu erklären, dass seine „Wonderful-american-maggot-soldiers. The best maggot soldiers ever, in the history of this beautiful great country“, die gleichen seelenlosen Kampfmaschinen sein werden, wie sie auf all den anderen Schlachtfeldern herumlaufen, sind bislang gescheitert. Ansonsten interessiert er sich gerade nicht viel für den Rest der Welt, außer, dass er jeden mit Kampfdrohnen oder Raketen abschießen lässt, der sich den amerikanischen Gewässern oder ihrem Luftraum auch nur nähert, egal ob Flüchtling, Tourist oder Aggressor. Lediglich für Handelsschiffe wurde ein streng bewachter Korridor eingerichtet.

Bliebe noch Frankreich. Dort haben sie – in alter historischer Tradition – kürzlich die Regierung gestürzt und eine Art Räterepublik errichtet.

Die wären dort wahrscheinlich gerade zu jeder Revolution bereit und sind auch entsprechend ausgerüstet, aber da sie konsequent den Einsatz von Madensoldaten ablehnen, werden sie kaum eine Chance gegen Eden und Konsorten haben, so löblich diese Einstellung auch aus moralischen Gesichtspunkten ist. Natürlich verfügen sie über Atombomben, aber da sind sie nun mal nicht die Einzigen und deren Einsatz ist in der aktuellen Lage wahrscheinlich gefährlicher denn je.

Was die verbliebenen nicht-staatlichen Organisationen und Rebellengruppen in den anderen Ländern betrifft, so sind sie zumeist abgetaucht, schlecht organisiert und ausgerüstet oder einfach zu klein. Sie sind auf keinen Fall zu irgendwelchen koordinierten Aktionen fähig.“

„Wie ist die Stimmung in der Mehrheitsbevölkerung?“, wollte Lena wissen.

„Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Manche von ihnen unterstützen die neuen Regime, genauso wie sie es getan haben, als sie noch nicht über Supersoldaten verfügten. Das Schüren von Ressentiments und das Beschwören von ’starker Führung‘ funktioniert in Zeiten von Chaos und monströsen Kreaturen nicht gerade schlechter. Die Meisten wären die Madenfaschisten zwar am liebsten los, haben jedoch viel zu viel Angst, um Widerstand zu leisten. Wer kann es ihnen auch verdenken, wenn seelenlose Supersoldaten an jeder Ecke bereitstehen?“

Es tut mir leid, Frau Lüders, aber wenn wir diesen autoritären Rollback wieder einfangen wollen, gibt es eigentlich nur eine Chance: Wir müssen all diesen kranken Scheiß irgendwie verschwinden lassen. Die Maden, die Knochenbäume, diese tückischen Sträucher und am besten auch das verfluchte MannaRed.“

„Sie sind ja lustig“, sagte Lena frustriert, „wie bitte sollen wir das anstellen? Meinen sie etwa, dass wir Zaubern können?“

„Sie sitzen auf der Quelle, Frau Lüders. Aus ihrem Land kam der ganze übernatürliche Zirkus. Wenn jemand herausfinden kann, wie und ob man ihn beenden kann, dann wahrscheinlich sie“, sagte Parker.

„Heißt das, Sie wollen uns nicht helfen?“, fragte Lena.

„Nein, das heißt, dass ich es in der aktuellen Lage nicht kann. Sobald ich etwas Neues erfahre, werde ich mich sofort bei Ihnen melden. Umgekehrt freue ich mich natürlich über gute Neuigkeiten von Ihrer Seite. Bis dahin würde ich vorschlagen, dieses Gespräch zu beenden. Jede Sekunde, in der wir es führen, ist eine Wette auf mein Leben.“

Statt Lenas Antwort abzuwarten, ließ Boris Parker seinen Worten Taten folgen und beendete das Telefonat.

„Feiger Wichser!“, rief Jessica wütend.

Lena schüttelte den Kopf, „Feige ist er vielleicht. Aber ein Wichser nicht. Er steht ja trotz allem auf unserer Seite.“

„Und was haben wir davon?“, fragte Jessica zurück.

„Zumindest schon mal ein paar mehr Infos über die Lage der Welt, als wir sie vorher hatten“, meldete sich Thomas Schumann zu Wort, „und das ist eine Menge wert. Die Zensur und vor allem die unzähligen Falschmeldungen, die die CfD durch alle Kanäle bläst, machen es ja fast unmöglich an zuverlässige Informationen zu kommen.“

„Wer sagte uns denn, dass diese Informationen zuverlässig sind?“, fragte Jessica, „wir haben den guten Herrn Parker nie zu Gesicht bekommen. Was wissen wir überhaupt über diesen Mann?

„Wir wissen, dass er uns bislang noch nie verraten hat“, bemerkte Lisa, „ansonsten hätten uns Edens Leute längst aufgesucht.“

„Du sagst es“, erwiderte Jessica, „bislang. Und selbst das ist nicht sicher. Vielleicht hat er all unsere vertraulichen Gespräche zuverlässig an Eden weitergeleitet und wir sitzen nur deshalb noch nicht im Knast oder in der nächstgelegenen MannaRed-Fabrik, weil er sich erhofft, den Widerstand so besser im Auge behalten zu können.“

„Du bist doch paranoid“, mischte sich nun auch Gabriela ein.

„Immer noch besser als naiv zu sein“, antwortete Jessica, „es mag dir vielleicht noch nicht aufgefallen sein, aber wir leben hier in einem dystopischen Faschostaat, nicht im Regenbogen-Kuschelland, wo alle dich nur lieb haben.“

„Was fällt dir ein, mich naiv zu nennen!“, giftete Gabriela, „ich habe meine Familie verloren, verdammt! Dein größtes Opfer bestand doch darin, bei irgendeiner Demo im Regen zu stehen.“

„Ruhe!“, krächzte Lena und alle Augen richteten sich überrascht auf ihre Anführerin, von der man – schon aufgrund ihres begrenzten Stimmvolumens – solche Ausbrüche nicht gewöhnt war.

„Hört mal“, sagte sie jetzt auch deutlich ruhiger, „ich halte ja nichts von diesem autoritären Führungsscheiß, aber wenn wir uns hier gegenseitig an die Gurgel gehen, werden wir Eden sicher nicht von seinem beschissenen Knochenthron stoßen.

Jessica hat natürlich recht: Wir sollten nicht zu naiv sein, was unsere Verbündeten betrifft, aber Tatsache ist nun mal, dass wir Verbündete brauchen und so lange wir keinen Anhaltspunkt dafür haben, dass Parker uns belügt, sollten wir dieses Thema besser ruhen lassen. Lasst uns lieber mal ganz rational überlegen, welche Möglichkeiten wir haben. Eine Option wäre natürlich die, die uns Parker vorgeschlagen hat: Wir finden die Ursache für all diese übernatürlichen Phänomene und beseitigen sie. Leider wüsste ich nicht, wo wir da anfangen sollten. Hat einer von euch vielleicht eine Idee?“

Ratloses Schweigen war die Antwort, als Lena in die Runde der Geistermenschen blickte, letztlich jedoch ergriff Thomas Schumann das Wort. „Tja, wir wissen ja inzwischen durch unsere Recherchen, dass es diese bizarre ‚Knochenfestung‘ von der Parker beim letzten mal gesprochen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich einmal gegeben hat. Und wir wissen auch, dass sich dort womöglich der Zugang zu jener Welt befunden hat, aus der die Maden, die Knochenzombies, die Knochenbäume und alle anderen Merkwürdigkeiten zu uns gekommen sind.

Das beides heute nicht mehr existiert, lässt sich ebenfalls leicht überprüfen, also muss irgendetwas den Zusammenbruch der Festung und des Zugangs ausgelöst haben. Dazu passt auch, dass sich die Ausbreitung der Phänomene in den letzten zwölf Monaten nicht mehr beschleunigt hat. Ja, es wurden neue Madensoldaten erschaffen, neue Maden gezüchtet und in den MannaRed-Fabriken pflanzen sie noch immer diese dämonischen Vampirsträucher an. Aber weder sind neue Knochenbäume gewachsen, noch haben sich diese verfluchten monochromen Häuser weiter ausgebreitet und auch die Knochenzombies sind so gut wie ausgestorben, wenn man von den bedauernswerten Hybriden einmal absieht. Es liegt also nahe, dass das Tor tatsächlich geschlossen wurde.“

„Worauf willst du hinaus?“, fragte Mik.

„Nun, es wäre natürlich theoretisch denkbar, dass dieses Portal von ganz allein zusammengebrochen ist. Allerdings halte ich das für extrem unwahrscheinlich. Viel naheliegender wäre doch die Vermutung, dass jemand es bewusst geschlossen hat. Und selbst wenn das den ganzen Horror nicht vollständig beendet hat, so lässt das doch darauf schließen, dass es dort draußen Menschen gibt, die mehr von diesen übernatürlichen Dingen verstehen als wir und die offenbar auf unserer Seite sind.“

„Das ist ja schön und gut“, sagte Jessica, „nur wissen wir leider nicht, wer das sein könnte.“

„Oh doch“, sagte Lena grinsend und wechselte einen verschwörerischen Blick mit Thomas, „wir beide haben da etwas tiefer recherchiert und wissen vielleicht, wer diese Heldentat vollbracht hat. Es gab Zeugen des Ereignisses, von denen einige ihr Trauma so weit in den Griff bekommen hatten, dass sie bereit waren darüber zu reden. Außerdem hat Thomas trotz der politischen Säuberungen noch immer ein paar alte Kontakte in den unteren Ebenen mancher Redaktionen und Verwaltungen, sodass wir sogar an die Luftbilder einiger Kameradrohnen gekommen sind, die in diesem Gebiet im Einsatz waren. Die Bilder wurden zwar aus großer Höhe aufgenommen, sind aber derart gut aufgelöst, dass wir tatsächlich einige Gesichter darauf erkennen konnten, mal ganz abgesehen davon, dass darauf sogar jene Knochenfestung zu sehen war, von der Thomas gesprochen hat.

Ein wirklich widerliches Ding. Wir können euch gleich mal die Bilder zeigen. Jedenfalls haben diese Aufnahmen zusammen mit den Zeugenaussagen ausgereicht, um einige jener bislang unbekannten Helden zu identifizieren. Unter anderem eine junge Frau namens Bianca Dennert , den britischen Biologen, „Dr. Jonathan How“, ein kleines deutsch-britisches Mädchen namens Lucy Hermann und haltet euch fest: Polizeihauptkommissar Christopher Gera. Es waren noch mehr Personen darunter, aber leider konnten wir deren Identität nicht feststellen.“

„Christopher Gera?“, fragte Lena verblüfft, „Der Christopher Gera?“

„Genau der“, bestätigte Lisa.

„Auf mich machte er nicht gerade den Eindruck in irgendwelche spirituellen Geheimnisse eingeweiht zu sein“, bemerkte Jessica, „mal abgesehen davon, dass er uns dann sicher davon erzählt hätte.“

„Ach komm schon, Jessica“, erwiderte Lena, „du hast ihn doch kennengelernt. Der Mann hat noch mehr Geheimnisse als schlechte Manieren. Es wundert mich schon genug, dass so ein Mensch so viel Rückgrat beweist, den Widerstand zu unterstützen. Wahrscheinlich wollte er sich nur nicht noch tiefer reinreiten.“

„Warum habt ihr uns nicht früher von all dem erzählt?“, fragte Gabriela, „ich dachte, wir spielen hier im selben Team?“

„Die meisten Informationen haben wir erst kürzlich erhalten“, erklärte Thomas Schumann entschuldigend, ohne jedoch den Stolz auf seine und Lenas Rechercheergebnisse zu verbergen, „Vorher wären das nichts weiter als wilde Spekulationen gewesen.“

Die Gesichter der Anwesenden drückten nicht sonderlich viel Verständnis aus, aber niemand kommentierte die Erklärung des Journalisten.

„Ich möchte Gera nur ungern mit unserer Entdeckung konfrontieren“, sagte Lena, „ehrlich gesagt traue ich ihm deutlich weniger als Parker. Habt ihr eine Ahnung, wo sich die anderen drei befinden?“

Das Lächeln von Thomas Schumann verschwand, „leider nein. Lucy Hermann wurde vor anderthalb Jahren als vermisst gemeldet. Seitdem gibt es – außer jenen erwähnten Drohnen-Aufnahmen – keine verlässlichen Hinweise auf ihren Verbleib. Dr. Jonathan How ist ebenfalls vom Erdboden verschluckt. Von Bianca Dennert wissen wir immerhin, dass sie ein halber Knochenzombie geworden ist und sich als … Prostituierte für besondere Vorlieben verdingt.“

„Wurmschlampe“, ergänzte Mik. Als er einen entrüsteten Blick von Jessica erntete, fügte er hinzu, „was denn, das ist nun einmal die offizielle Bezeichnung. Übertriebene Political Correctness bringt uns gerade auch nicht weiter.“

„Eine Aussage, für die dir Eden sicher gerne einen Orden verleihen würde“, giftete Jessica.

„Wenn ich dich ihm ausliefere, tut er das bestimmt“, sagte Mik grinsend.

Als Lena den beiden Streithähnen einen warnenden Blick zuwarf und wieder Stille einkehrte, fuhr Thomas Schumann fort. „Wie man es auch nennt, jedenfalls hat sie im Zuge ihrer Tätigkeit häufig ihren Aufenthaltsort gewechselt. Einige ihrer ehemaligen Kolleginnen habe sie zwar wiedererkannt, konnten uns aber auch nicht sagen, wo sie im Moment arbeitet. Bei den Zuhältern und Bordellbesitzern wollten wir lieber nicht nachfragen, da die fast alle zur CfD gehören. Schon so waren die Nachforschungen heikel genug.“

„Das bedeutet also, dass Gera unser einziger Ansprechpartner in dieser Sache ist?“, fasste Lena zusammen.

„Leider ja“, seufzte Lisa.

Die Gesichter der anderen verrieten, dass auch sie nicht sonderlich begeistert von dieser Tatsache waren.

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