Knochenwelt: Im Reich des Gebeins

„Wir müssen weiter!“, sagte Anscha, „selbst wenn wir uns einig sind, dass wir Inga unser Leben zu verdanken haben, wissen wir nicht wie lange die Wirkung ihres Zaubers anhalten wird. Außerdem können wir es uns nicht leisten noch mehr Dron Athor zu verlieren, wenn wir das Tor zur Weichwelt öffnen wollen.“

Inga hörte Anschas Worte, konnte aber den Blick nicht mehr von ihren Opfern lösen. Wie viel Seele hatte noch in ihnen gesteckt? Wie viel hatten sie noch von ihrem Ende mitbekommen? Wie fühlte es sich überhaupt an auf diese Weise zu sterben?

„Danke für mein Leben!“, hörte Inga Myna neben sich sagen, „Es tut mir so leid, dass dies hier nötig war.“

„War es denn nötig?“, fragte Inga scharf ohne den Blick von ihren Opfern abzuwenden.

„Du brauchst dir nicht die Schuld zu geben …“, begann Myna.

„Ich trage die Schuld!“, antwortete Inga bitter, „Ganz egal ob ich sie mir gebe oder nicht.“

„Wie du meinst“, sagte Myna, „doch dann trage auch die Ehre. Du hast mein Leben gerettet, aber auch dein Eigenes und du erweist uns beiden keinen Dienst wenn du einfach hier stehenbleibst.“

Erneut griff sie nach ihrer Hand.

„Fass mich nicht an!“, donnerte Inga und wandte sich nun doch zu Myna um, „ich kann das jetzt nicht ertragen. Nicht nach all dem. Ich werde mitkommen, aber wenn du meinst, dass ich mit dir munter Zärtlichkeiten austausche, während wir gedankenlos eine Spur von Leichen hinter uns lassen, irrst du dich gewaltig.“

Myna antwortete nicht darauf, aber Inga erkannte überdeutlich, dass ihre Worte sie verletzt hatten, nicht nur weil sie ihre Hand so ruckartig wegzog, als hätte eine Schlange nach ihr geschnappt. Was war nur mit dieser Frau los? Was war nur mit diesem verfluchten Zirkel los?

Sie beschloss den Gedanken daran so gut es ging zu verdrängen, warf einen letzten, schuldbewussten Blick auf die verstorbenen Männer und schloss so schnell wie möglich zu den anderen Drix Tschatha und ihren überlebenden Sklaven auf, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatten. Dabei warf sie immer wieder misstrauische Blicke auf die in der Luft stehenden Draniden und konnte kaum glauben, dass es ihr allein gelungen sein sollte diese Bedrohung zu beenden. Lag es womöglich an ihrer emotionalen Verwirrung? War das eine Art von Superkraft, die sie in die Lage versetzte so etwas zu bewirken? Sollte sie künftig darauf achten immer in diesem Zustand zu sein? Wenn dem so war, war sie sich ziemlich sicher, dass sie diese Macht nicht wollte.

Während sie schweigend durch den Tunnel schritten und die Draniden hinter sich ließen, ohne dass die wasser- und blutgierigen Wurzeln aus ihrer Starre erwachten, wünschte sie sich einmal mehr in ihr früheres Leben zurück, in dem sie oft mit Bianca und ihrem Bruder mit ihrem kleinen Hexemobil durch die Gegend gefahren war. In dem sie Clubs und Konzerte besucht oder sich auf die Suche nach möglichst abgeschiedenen und verzauberten Fleckchen begeben hatte, in denen die drei oft bis in den Morgen hinein philosophiert, getrunken und die Schönheit der Natur bewundert hatten. Aber so etwas wie eine Zeitmaschine gab es nicht. All das, wonach sie sich sehnte, gehörte in Wahrheit einer Inga, die nicht mehr existierte. Was jedoch die Inga betraf, die hier und jetzt lebte, hatte Anscha recht. Sie musste weitergehen.

Es dauerte nicht mehr allzu lange, bis sie und die anderen Drix Tschatha wieder die Oberfläche betraten und unter dem Licht der schwarzen Sonne das geisterhafte Leuchten der Knochenbäume erblickten. Myna schien sie sich immerhin mit ihrer harschen Reaktion vom Hals gehalten zu haben, da die Drix Tschatha keinen erneuten Versuch unternahm mit ihr ins Gespräch zu kommen. Auch weitere bösere Überraschungen nach Art der Draniden blieben glücklicherweise aus. Allerdings hatte Inga irgendwie das Gefühl, dass ihr etwas entgangen war, so als wäre die Reise gar nicht so kurz gewesen, wie es ihr erschien und als ob ihr einige Teile ihrer Erinnerung fehlen würden. Da sie sich jedoch davor hütete die anderen darauf anzusprechen, musste dies wohl vorerst ein Mysterium bleiben.

„Näher kommen wir über das Tunnelsystem nicht an die Weißlichtung heran“, ließ Trinja verlauten, als die letzte der Drix Tschatha aus dem Tunnel geklettert war. Sie flüsterte, woraus Hexe schloss, dass sie nun nah am Gebiet der Weisen des Gebeins sein mussten. Als sie sich den Wald um sie herum betrachtete, musste sie sich korrigieren: Sie waren IN ihrem Gebiet. Überall zwischen den Bäumen waren kleine Totems aus Knochen aufgeschichtet, von denen ein jeder verschiedene und allesamt grausam anzuschauende Fratzen enthielt. Sie besaßen nicht die Ausmaße des Totems, den Devon in ihrer Welt errichtet hatte, waren aber nichtsdestotrotz furchteinflößend. In den harten Boden waren mit weiteren Knochen Botschaften und Symbole gegraben worden, die man ihrerseits feinsäuberlich mit Knochen aufgefüllt hatte. Sie konnte dieses Botschaften nicht lesen, aber dass sie keinen freundlichen Inhalt hatten, sah sie als gesichert an. In der Hoffnung, dass die Luft hier wenigstens etwas besser sein würde als in den stickigen Tunneln, nahm Hexe einen tiefen Atemzug. Dabei stieg ein scharfer, chemischer Geruch in ihre Nase und ihren Mund, der so intensiv war, dass sie sofort Husten musste.

„Leise, verdammt!“, verlangte Anscha.

„Das war keine Absicht“, flüsterte Hexe heißer, während sie versuchte ein weiteres Husten zu unterdrücken, „Was ist das für ein Gestank?“

„Das ist der Milchige See“, erklärte Trinja, „er ist noch ein Stück entfernt, aber selbst aus dieser Distanz sind seine Dämpfe für unsere Lungen kein Vergnügen.“

„Müssen wir noch näher ran?“, fragte Hexe, die wenig Lust verspürte sich ihre Lungen zu ruinieren.

„Nicht viel näher“, beruhigte Trinja sie, „die Weißlichtung liegt weiter östlich. Dennoch sollten wir bei unseren nächsten Schritten verdammt vorsichtig und leise sein. Hier wimmelt es nur so von Weisen des Gebeins und unsere Schutzzauber sind nicht mehr so stark wie früher. Sie verbergen uns noch immer einigermaßen vor unfreundlichen Blicken, aber zumindest die mächtigeren Weisen können uns wahrscheinlich sehen, wenn wir uns bewegen und sie können uns auch hören. Schmecken und riechen können uns aber zumindest die hochrangigeren Mitglieder des Ordens nicht. Das sind Sinne, die dem Fleisch vorbehalten bleiben.“

„Wie sollen wir die Lichtung erreichen, ohne uns zu bewegen?“, wollte Inga wissen.

„Sei nicht albern. Natürlich müssen wir uns bewegen“, antwortete Anscha, „wir müssen nur eben darauf achten, dass uns niemand beobachtet. Und wir sollten möglichst leise sein. Am besten wir meiden Bereiche in denen zu viele Knochen herumliegen.“

„Nichts leichter als das, wenn man im Knochenwald unterwegs ist“, bemerkte Myna sarkastisch.

Anscha warf ihr einen bösen Blick zu. Schwieg aber, wie um ihrem eigenen Ratschlag demonstrativ Folge zu leisten.

„Folgt mir einfach“, sagte Trinja, „ich werde uns auf dem kürzesten Weg führen.“

„Solange der nicht in den Tod führt“, bemerkte Myna, jedoch diesmal so leise, dass Inga sich fast sicher war, dass außer ihr niemand ihre Worte gehört hatte.

Kurz darauf setzten wir uns wieder in Bewegung. Trinja ging an der Spitze, gefolgt von Anscha, Inga und schließlich Myna. Jede von ihnen, außer Inga, zog ihren Dron Athor hinter sich her, wobei viele von diesen Männer inzwischen kaum mehr waren als wandelnde Tote. Der Angriff der Draniden hatte seinen Tribut gefordert. Dahinter folgten die anderen Drix Tschatha mit ihren Sklaven, die man in grauer Vorzeit einmal als Geliebte und Vertraute betrachtet hätte. Insgesamt waren es neunundzwanzig Frauen und einunddreißig Männer, die in diesem gespenstischen Hexenzug durch den Knochenwald schritten und ihre Blicke wie Suchscheinwerfer durch das vom schwarzen Sonnenlicht beschienenen, schwarzweiße Dunkel schickten.

Der seltsamste Hexensabbat aller Zeiten, dachte Inga. Sie kam sich tatsächlich vor wie in einem verqueren Märchen, in dem die menschenfressenden Hexen die Welt vor dem Bösen beschützen sollten. Am liebsten hätte sie darüber gelacht, aber das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Es war zu dunkel, um zu lachen. Das galt zum einen für das Außen, wo die von scharf gezeichneten Schatten zum Leben erweckten Totems sie mit missgünstigen Blicken verfolgten. Wo die schwarze Sonne langsam allen Mut aus ihr herauszubrennen begann, die fremdartigen Äste der Knochenbäume finstere Muster auf die tote Erde zeichneten und das leise, ferne Rascheln und Knacken von Knochen darauf hinwies, dass sie hier nicht allein waren.

Doch in ihrem Innern sah es nicht viel besser aus. In ihr brannte eine Schuld, wie sie sie nie zuvor gekannt hatte und die es ihr zumindest für den Moment fast unmöglich machte sich als die Heldin ihrer eigenen Geschichte zu betrachten. Hinzu kam Trauer um diese armen Männer, aber auch über ihre eigenen Verluste. Über den Verlust von Bianca, von Timo und ihres gesamten früheren Lebens. Aber sie spürte auch Angst. Angst vor diesem grauenhaften Ort, Angst vor ihrer zweifelhaften Gesellschaft und Angst vor dem, was aus ihr werden mochte. Sie merkte, dass sie tatsächlich zitterte. Vor Angst zitterte.

Sie war nicht die einzige, die die zu bemerken schien, denn plötzlich spürte sie, wie Mynas rechte Hand die ihre ergriff. Erneut empfand sie dieses verwirrende Kribbeln, auch wenn sie den Eindruck hatte, dass die Drix Tschatha sie diesmal lediglich trösten wollte. Schon aus Prinzip wollte sie ihre Hand zurückziehen, merkte jedoch, dass sie das nicht fertigbrachte. Sie wollte Myna verabscheuen und dafür gab es sicher auch genügend Gründe, aber letztlich war es ja sie selbst gewesen, und nicht Myna, die sich dafür entschieden hatte, das Leben der Lichthexe und das von allen anderen auf Kosten der Dron Athor zu retten. Das ließ sich nun nicht mehr ändern. Was brachte es also, sich wegen Prinzipien selbst zu geißeln, die in dieser Welt ohnehin niemand teilte, wenn jemand bereit war ihr ein Stückchen des von ihr so gierig herbeigesehnten Trostes anzubieten? Also ließ Inga ihre Hand wo sie war.

Vorsichtig und schweigend führte Trinja sie durch den geisterhaften Wald und Inga hatte den Eindruck, dass sie schon seit Stunden marschierten, während die Last dieses Ortes immer schwerer auf ihre Seele drückte und sie zuletzt das Gefühl hatte, nicht mal mehr dann sprechen zu können, wenn sie es wollte. Ihre Nase jedoch funktionierte noch und so roch sie nicht nur den allgegenwärtigen Duft von verbrannten Knochen und antikem Verfall, sondern auch sauren, alten Schweiß der mit ihr marschierenden Lichthexen und den kranken, nach Tod und Misshandlung riechenden Körpergeruch der Dron Athor, sowie das langsam aber stetig stärker werdende, ätzende Aroma des Milchigen Sees, an dem allein sie das verstreichen der Zeit festmachen konnte.

Sie atmete bewusst durch die Nase, in der Hoffnung so ihren Hustenreiz unter Kontrolle zu bringen, was jedoch nur mäßig gut funktionierte. Plötzlich riss sie der Stoß von Anschas Ellenbogen aus ihren Gedanken, woraufhin sie überrascht aufkeuchte, jedoch sofort verstummte, als die Lichthexe sich zu ihr umdrehte, ihren Finger auf den Mund legte und mit der anderen Hand in den Wald deutete. Mit einem Mal hielt die gesamte Hexenprozession inne.

Und schnell begriff Inga auch warum. Zu dem gewohnten knacken und Rascheln des Waldes, welches vom Wind und den in der Ferne umherstreifenden Schneidmaden-Rudeln stammte, waren neue, lautere Geräusche gekommen. Nähere Geräusche. Wie zum Beispiel das Geräusch von knöchernen Füße und der Klang von Stimmen, die sich unterhielten.

Inga hörte zunächst nur unverständliche Bruchstücke von Sätzen, die allem Anschein nach von zwei Männern und einer Frau gesprochen wurden. Nach und nach jedoch wurden die Stimmen lauter und bald schon erblickte sie einen Mann, dessen gesamter Unterkörper unterhalb des Bauchnabels skelettiert worden war, der sich aber dennoch ungerührt bewegte. Der Rest von ihm war hingegen noch vollständig menschlich und zeigte das entschlossene Gesicht eines, großgewachsenen, dürren, dunkelhaarigen Mannes, der wahrscheinlich gerade erst das Teenageralter verlassen hatte. Die kleine, etwas füllige Frau hingegen, die neben ihm ging, war noch fast vollständig von Fleisch bedeckt. Zumindest bis zum Hals. Was ihren Kopf betraf, so waren ihre Augen und das damit verbundene Gehirn das letzte weiche Material, welches sich noch in ihrem blankpolierten Totenschädel befand. Wie der Mann trug auch sie einen schwarzen Umhang mit Knochenintarsien. Der letzte im Bunde war Davox. Rein äußerlich gab es bei der gespenstischen Skelettgestalt, die wie ein dämonischer Mentor hinter den beiden anderen herlief, für diese Annahme natürlich kaum Anhaltspunkte, aber Inga erkannte ihn unzweifelhaft an seiner Stimme.

„Havon, Tiraxa, ich kann euch beiden nur nochmals dafür gratulieren, wie tapfer ihr am Milchigen See wart“, sagte Davox auf beinahe väterliche Art, „es war natürlich die erste rituelle Entfleischung, der ich beiwohnen durfte, aber die anderen Weisen haben mir berichtet, wie wenige Akolythen es schaffen, nicht nur zu überleben, sondern auch noch so bedeutende Teile ihres Fleisches zu opfern. Außerdem weiß ich – wie ihr euch denken könnt – selbst sehr gut um die Schmerzen, die das mit sich bringt. Ich bin wirklich stolz auf euch.“

„Danke, Meister“, sagte die Frau, die wahrscheinlich den Namen „Tiraxa“ trug. In ihrer Stimme war stolz, auch wenn ihr Knochengesicht unfähig war, ihn zu zeigen, „ich kann es kaum erwarten weitere Teile meines Körpers zu opfern. Ich erkenne jetzt endgültig, wie sehr das Fleisch meinen Geist gefesselt hat. Ich will es so schnell wie möglich loswerden. So wie ihr. Außerdem ist diese Macht …“

„Ja, die Macht ist unbeschreiblich“, stimmte Davox zu, „es ist die reine Macht des Knochens, die du fühlst. Und dennoch solltest du nichts überstürzen. Die Bande des Fleisches sind hartnäckig. Sie lassen sich nicht auf einen Schlag abwerfen, sonst reißen sie selbst den Stärksten mit in den Abgrund des Todes. Gib dir etwas Zeit. Mach dich mit deiner neuen Macht und vor allem mit der Schönheit deiner Knochen vertraut. Bald schon wird der Tag kommen, an dem du für den nächsten Schritt bereit bist.“

„Wie ihr meint, Meister“, sagte die Frau mit einem Nicken ihres Schädels.

„Was ist mit dir, Havon?“, fragte Davox den Mann, „bist auch du schon begierig darauf, den nächsten Schritt zu tun?“

Am noch intakten Gesicht des jungen Mannes konnte man ablesen, dass dem nicht unbedingt so war. Er bemühte sich um Gelassenheit, aber hinter dieser Maske versteckte sich ein zerrissener, mit sich hadernder Mann. Davox schien das zu spüren, so wie er seit seiner Verwandlung jede Form von Schwäche zu erahnen schien.

„Ich bin mir nicht sicher“, gab Havon, der wie Tiraxa wahrscheinlich einst einen anderen Namen getragen hatte, zu nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte.

„Das überrascht mich“, sagte Davox, „an Entschlossenheit kann es dir eigentlich nicht mangeln und auch am Glauben an die Weisheit des Knochens nicht. Andernfalls hätte der See dein Leben an sich genommen. Was also dämpft deine Begeisterung für künftige Entfleischungen? Ist es etwa Angst vor dem Schmerz?“

„Es geht nicht um die Schmerzen der Zukunft“, sagte Havon kopfschüttelnd, „es geht vielmehr um das Glück der Vergangenheit. Um das, was ich verloren habe. Ich vermisse nicht das Fleisch, sondern die Freuden, die es brachte. Freuden, die mir jetzt nicht länger offenstehen, obwohl mein Geist noch immer danach verlangt.“

Er warf einen begehrlichen Blick auf Tiraxa, was Inga eine nicht unbeträchtliche Übelkeit bereitete. Allein der Gedanke, sich mit dieser Schädelfrau ins selbe Bett zu legen, war indiskutabel. Klar, sie selbst hatte auch mit Timo geschlafen, aber entfleischte Unterarme und selbst ein frei schlagendes Herz, waren immer noch etwas anderes als ein grinsender Totenschädel.

„Das ist normal“, sagte Davox, „und daran ist auch nichts Verwerfliches. Auch wenn man es oft behauptet, ist diese Verlangen im Kern kein Verlangen des Fleisches und deshalb wird es auch nicht vergehen. Also gibt es keinen Grund sich deswegen zu grämen. Was du spürst sind letztlich nur die Bedürfnisse nach Verbundenheit und Macht und beides ist für dich erreichbar. Verbundenheit findest du im Orden und Macht liegt in deinen Knochen. Lerne beides für dich anzunehmen, und du wirst deine Bedürfnisse transformieren können und bald darauf werden die Erinnerungen an die so genannten Freuden des Fleisches von dir Abfallen, so wie das Gewebe deines Unterleibs. Glaub es mir, Havon, auch ich habe früher diese … Freuden gekannt und sie im Geiste des Knochens neu entdeckt. Auch wenn … es nicht einfach war.“

„Danke, Meister Davox. Ich werde eure Worte in mein Mark einschließen“, versprach Havon, ohne jedoch seinen Blick von Tiraxa zu lösen. Inga war sich ziemlich sicher, dass der Mann Schwierigkeiten mit der von Davox vorgeschlagenen Transformation haben würde.

„So ist es gut“, sagte Davox, der diesmal über das Verhalten des Mannes hinwegsah. Inga vermutete, dass er schlicht keine Lust mehr auf diese Diskussion hatte. Inga wunderte sich ohnehin, wie einfühlsam diese Kreatur agieren konnte, die sie wie ein verhasstest Tier durch den Wald gejagt hatte.

„Warum habt ihr uns hierhin geführt, Meister?“, fragte Tiraxa, „falls es mir zusteht zu fragen, heißt das.“

„Es steht dir zu. Ein jeder Weiser darf einem anderen Fragen stellen, selbst wenn er nicht unbedingt eine Antwort erwarten kann. Diesmal aber habt ihr Glück, denn ich will sie euch geben“, plötzlich begannen Davox‘ Augen vor Wut aufzulodern, „hier im Wald gibt es eine Hexe, eine großgewachsene Drix Tschatha, mit grau-roter Lockenpracht, die etwa um die fünfzig Jahre alt zu sein scheint, auch wenn sie eigentlich viel jünger ist. Sie ist mit mir aus der Weichwelt hierhergekommen. Und ich habe sie gefangengenommen, da ich sie dem Milchigen See als Opfer darbringen und ihre Knochen zu einem der Totems hinzufügen oder sogar einer der Knochenschlangen anbieten wollte, falls sie dieses Opfer als würdig erachten sollten.

Jedoch ist sie mir leider entkommen, da mein Diener – ein stinkender Dorgat Nasra – sie hat entwischen lassen. Allerdings kann sie nicht weit gekommen sein. Deshalb möchte ich, dass ihr sie findet , falls sie sich hier irgendwo versteckt, oder dass ihr andernfalls das mit euch nehmt, was noch von ihr übrig ist. Das soll eure erste Aufgabe für unseren Orden sein. Enttäuscht uns nicht.“

„Das werden wir nicht“, sagte Tiraxa, „aber wie sollen wir diese Hexe erkennen? Falls die Maden sich ihrer angenommen haben, ist es durchaus denkbar, dass nicht mehr viel von ihr übrig ist.“

„Ich werde euch ihr Bild übermitteln. Samt ihrer Knochenstruktur. Ich kenne sie gut. Besser als mir lieb ist“, sagte Davox und für einen Augenblick glaubte Hexe tatsächlich so etwas wie Melancholie in seiner harten, monströsen Stimme zu entdecken. Dann legte er seinen beiden Akolythen, die inzwischen nur noch etwa fünf Meter von Inga und den anderen Drix Tschatha entfernt standen, die Knochenhände auf die Stirn.

„So“, sagte er, als er seine Hände wieder hob, „nun solltet ihr in der Lage sein, eure Mission zu erfüllen. Findet die Hexe und wenn ihr sie oder ihre Überreste gefunden habt, dann kehrt damit ins Heiligtum zurück. Ich werde mich dann um sie kümmern.“

„Ihr kommt nicht mit uns?“, fragte Havon.

„Nein“, sagte Davox, „das ist eure Aufgabe. Ich muss mich mit den anderen Oberen beraten und sie davon überzeugen, erneut ein Tor in die Weichwelt zu öffnen, um sie diesmal endgültig der Herrschaft des Kalten und der Knochen zu unterwerfen. Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr eure Aufgabe erfüllt?“

„Das könnt ihr“, antwortete Tiraxa.

„Wunderbar. Dann wünsche ich euch viel Glück bei der Jagd“, sagte Davox, „wir sehen uns wieder, wenn ihr Erfolg hattet.“

Mit schnellen, entschlossenen Schritten ging Davox davon und verschwand im knöchernen „Unterholz“.

Seine beiden Untergebenen blieben zurück und starrten angestrengt in die vom schwarzen Licht erfüllte Nacht.

„Ich sehe und höre sie nicht. Kannst du etwas riechen?“, fragte Tiraxa.

Havons Nase blähte sich schnüffelnd, „Nein“, gestand er schließlich ein, „Nur den Duft des Waldes.“

Plötzlich spürte Inga etwas. Wie ein ein Kribbeln hinter ihrer Stirn, welches beständig stärker wurde. Ihr Vater, der unter Epilepsie litt, hatte ihr ein ähnliches Gefühl beschrieben, auch wenn sie kaum glauben konnte, dass sie diese Krankheit nun urplötzlich entwickelte, wo sie dreißig Jahre keinerlei Anzeichen dafür gezeigt hatte. Sie versuchte gleichmäßiger zu Atmen, in der Hoffnung dieses unangenehme Gefühl auf diese Weise niederzukämpfen.

„Dieser Sinn ist so verdammt nutzlos“, sagte Tiraxa, „du solltest dich schnellstmöglich davon befreien.“

„Er hat auch seine Vorteile“, sagte Havon, „nur eben nicht in einer Umgebung, in der alles so stark nach Horn und Verwesung stinkt.“

„Diese ‚Umgebung‘ ist aber nun mal jetzt deine Heimat“, sagte Tiraxa verächtlich, „versteh das endlich. Die weiche Welt, in der wir geboren wurden, ist Vergangenheit und das es so ist, ist ein Geschenk. Je schneller du das begreifst, desto weniger müssen wir unter deiner Schwäche leiden.“

„Ich bin nicht schwach“, protestierte Havon wütend.

„Zumindest schwach genug, dich von einer simplen Feststellung aus der Ruhe bringen zu lassen“, sagte Tiraxa, wobei ihre Augen spöttisch aufblitzten.

„Was ist denn mit deinen Knochensinnen?“, fragte Havon provozierend, „erzählen die dir denn, wo die Hexen sich verstecken?“

„Das tun sie tatsächlich“, gab Tiraxa zurück, „ich spüre, dass sie in der Nähe sind.“

Plötzlich verfiel Havon in schallendes Gelächter, „mit diesem Talent könntest du auf einem Jahrmarkt auftreten.“

„Versuch nur dich lustig zu machen, du unwürdiger Fleischkopf. Auch wenn du wohl nie wieder so etwas Amüsantes von dir geben wirst, wie deine mädchenhaften Schreie, als sie dich in den Milchigen See getaucht haben. Natürlich geben sie mir keinen genauen Lageplan. Auch ich bin keine der Oberen, wie etwa Davox. Und selbst er konnte sie nicht einfach so entdecken. Bei gewöhnlichen Menschen wäre das kein Problem, aber das hier sind Lichthexen. Sie verfügen über Magie. Magie, mit der sie sich vor uns verbergen können. Trotzdem sind sie hier irgendwo im Umkreis. Und das ergibt auch Sinn.“

„Wieso?“, fragte Havon.

„Nicht allzu weit von hier liegt die Weißlichtung. Davon hat mir einer der Oberen erzählt. Es ist ein Ort, an dem die Macht des Knochenwaldes sehr schwach ist. Dorthin werden die Drix Tschatha wahrscheinlich unterwegs sein. Vielleicht um irgendeines ihrer Rituale durchzuführen.“

„Das ist schön und gut“, sagte Havon, „das sagt uns aber immer noch nicht, wie wir sie entdecken können.“

„Dafür habe ich schon einen Plan“, sagte Tiraxa und auch wenn ihr Knochenschädel unbewegt blieb, schwang in ihrer Stimme durchaus Stolz mit. Inga, deren Kopf sich nun seltsam wattig und etwas schwindlig anfühlte, fing einen Blick von Trinja auf, der ungefähr so viel sagte, wie: ‚Halte dich bereit‘

Tiraxas Augen verdrehten sich nach innen, während sie ihre noch immer menschlichen Hände in einem fünfundvierzig-Grad-Winkel vom Körper abspreizte und mit geöffneten Handflächen gegen den Boden hielt.

Kurz darauf frischte der Wind auf und vom Boden begannen sich weißer Staub und winzige Knochensplitter zu erheben und verbanden sich über Tiraxas Kopf zu einem Strudel, der sich immer und immer schneller zu drehen begann.

Inga verfolgte wie durch einen Schleier, wie Trinjas und auch Anschas Augen sich vor Schreck weiteten. Die beiden begriffen genau wie sie, was hier gleich passieren würde. Die Knochensplitter würden sie entweder sichtbar machen oder – schlimmer noch – ihre Körper perforieren und, selbst wenn sie es nicht schaffen sollten sie zu töten, ihre Anwesenheit durch ihre Schmerzensschreie oder ihr Blut verraten. Das gleiche würde passieren, wenn sie ihre Magie zur Anwendung brachten, zumal sie auf diese Weise noch mehr Kraft von ihren ohnehin geschwächten Männern würden nutzen müssten.

„Wie bringst du das fertig?“, fragte Havon verblüfft, „man hat uns doch noch nicht in die tieferen Mysterien eingeweiht.“

„Das ist wahre Macht, Havon“, sagte Tiraxa, „die Macht, die echten Gläubigen vorbehalten bleibt. Ich spüre sie, instinktiv.“

Inga wurde von einer erneuten, heftigen Schwindelattacke geschüttelt, spürte einen stechenden Schmerz im Kopf … und verschwand.

~o~

Georg hatte es gewusst. Sie hatten ihn aus dem Orden ausgestoßen weil er das ständige Foltern und Töten von unschuldigen Frauen, die erzwungenen Geständnisse und die verlogenen Urteile nicht mehr hatte mittragen können. Sie hatten ihm seinerseits für seine angebliche Ketzerei mit dem Tod gedroht, aber es war ihm gelungen in die Wälder zu fliehen und dort, auf einer seltsamen, verwunschenen Waldlichtung hatte er Gott um ein Zeichen angefleht, dass er es war, der auf dem rechtschaffenen Pfad wandelte und nicht diejenigen, die sich anmaßten als Kirchenvertreter in seinem Namen zu predigen. Nun, so schien es, hatte er dieses ersehnte Zeichen erhalten. Vor sich sah er die Diener der Inquisition in ihrer dämonischen Gestalt. Auch wenn sie anders aussahen als jene, die ihn verurteilt hatten, erkannte er sie zweifelsfrei an ihren mitleidlosen, unmenschlichen Blicken. Auch der Wald um ihn herum hatte sich verändert. Völlig verändert. Die Bäume schienen plötzlich aus Knochen zu bestehen und am Himmel prangte eine schwarze Sonne. Für Georg gab es nur eine Erklärung dafür: Gott hatte ihm die Hölle selbst gezeigt und ihm offenbart, dass die Inquisitoren in Wahrheit die Diener des Teufels waren, die die Menschheit auf einen falschen Weg führen wollten.

Dafür sprachen auch die Menschen, die neben ihm standen. Gequälte, teilweise verstümmelte Männer mit leerem Blick und müde, aber aufrechte Frauen. Dies waren die Unschuldigen, die es zu beschützen galt und nun musste er unter Beweis stellen, dass er in der Lage war, für seine Ideale einzustehen. Und zwar nur mit dem bloßem Glauben und der Kraft seiner Hände, denn sein Schwert und seine Rüstung trug er nicht bei sich, wie er zu seinem Bedauern feststellte. Dennoch würde er diese Herausforderung annehmen und diese Chance, die Richtigkeit seiner Überzeugungen in Gottes Augen zu beweisen nicht verstreichen lassen. Er würde sich nicht einschüchtern lassen, selbst wenn einer der Inquisitoren – wundersamer Weise in Gestalt einer Frau – gerade finstere Magie zu wirken schien. Georg stürmte los.

„Was tust du da?“, rief Myna, die angesichts der kopflos nach vorne stürmenden Inga vergaß, dass sie eigentlich still sein mussten, um ihre Tarnung aufrechtzuerhalten.

Doch Inga schien sie nicht zu hören, sondern stürmte auf die zaubernde, Weise des Gebeins zu, als wäre sie ein Eber, der einen Jäger zu Fall bringen wollte. Und in gewisser Weise hatte sie mit ihrer verrückten Aktion sogar Erfolg. Denn auch wenn sie dadurch jegliche Chance verloren, ungesehen an den beiden Weisen des Gebeins vorbei zu gelangen, war Tiraxa mindestens so verwundert über die auf sie zupreschende Hexe wie Myna und die anderen Drix Tschatha, so dass sie nicht nur ihren Zauber unterbrechen musste, sondern sich sogar von Inga umwerfen ließ. „Vergehe, du Diener Satans!“, hörte sie Inga mit einer für sie sehr untypischen Betonung und Stimmlage rufen, „du wirst keine Unschuldigen mehr im Namen Gottes quälen!“. Dabei prügelte sie auf die Brust der überrumpelten Tiraxa ein.

„Geh von mir runter du dumme Kuh!“, keifte Tiraxa und versuchte Inga (oder besser Georg) eine Kopfnuss mit ihrem blanken Schädel zu geben, was diese jedoch nicht sonderlich beeindruckte.

„Da sind sie!“, rief Havon nicht minder überrascht, „da sind die verdammten Drix Tschatha!“

„Ach, auch schon gemerkt?“, keuchte Tiraxa, der es nicht gelang, die von einem fast schon fanatischen Eifer gepackte Inga abzuschütteln.

„Wir müssen die beiden Weisen überwältigen!“, sagte Trinja zu den anderen Drix Tschatha, „Doch ohne Magie. Wir brauchen die Dorhm Ahjon noch.“

Anscha, Myna und die anderen Frauen ließen sich das nicht zweimal sagen und stürmten los, um sich dem Kampf anzuschließen. Immerhin waren sie in der Überzahl.

„Was stehst du hier rum, du Idiot?“, brüllte Tiraxa den männlichen Weisen an, „Renn und hol Hilfe! Davox ist sicher noch ganz in der Nähe.“

„Nein!“, sagte dieser und Strich über das Amulett an seinem Hals, „das schaffen wir allein. Ich werde dir beweisen, dass ich nicht schwach bin, Tiraxa. Ungatzschik!“

„Nein! Verdammt, nein“, sagte Tiraxa, „dafür bist du nicht bereit!“

Doch welche Bedenken Tiraxa auch gehabt haben mochte, nun war es zu spät. Aus Havons Amulett materialisierte sich binnen Augenblicken eine Knochenschlange, die längst nicht so gewaltig war wie Krixxamesh, aber dennoch gut fünf Meter lang und durchaus furchterregend. Havon führte ein paar beiläufige Bewegungen mit den Händen aus, so als steuere er einen Lenkdrachen und noch bevor die Lichthexen Havon erreicht hatten, fuhr das Ungetüm auf sie nieder und zerquetschte zwei Drix Tschatha und drei Männer mit der bloßen Wucht ihres Körpers. Eine weitere Hexe versuchte entgegen ihres Plans hastig einen Feuerzauber zu wirken, brachte jedoch nicht die nötige Konzentration auf, wodurch es kaum zu mehr reichte als zu einem traurigen Flämmchen, welches die Knochenschlange nicht im mindesten irritierte.

„Diese Macht!“, rief Havon lachend, „Davox hatte Recht. Das IST besser als Sex!“

~o~

Georg tat wirklich sein bestes, aber ohne sein Schwert schien es ihm einfach nicht zu gelingen der Inquisitorin beizukommen. Das fanatische Totenweib schien entweder über unglaubliche Kräfte zu verfügen oder in dieser seltsamen Höllenebene war er schwächer als gewohnt. Eine Prüfung meiner Ideale, dachte er erneut. Ich soll mich allein auf meine innere Stärker verlassen.

Während er noch versuchte die Hände der Frau davon abzuhalten seine Kehle zu packen, bemerkte er, wie sie den Skelettmund bewegte und leise Worte in einer ihm unbekannten Sprache flüsterte. Sie will einen weiteren Zauberspruch wirken, dachte Georg. Das muss ich verhindern. Er zögerte keine Sekunde, ließ ihren rechten Arm los, auch wenn er sich daraufhin ungestört um seine Kehle legte und hieb ihr so fest gegen den blanken Kieferknochen, dass ein Riss darin entstand und ein paar ihrer Zähne aus dem fleischlosen Kiefer brachen. Statt ihren Zauber zu vollenden, brüllte sie „Meine Knochen! Du hast meine Knochen beschädigt!“

Georg spürte, wie ihre Hand versuchte seinen Kehlkopf zu zerquetschen oder ihm wenigstens die Luft abzudrücken, aber mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr so unnatürlich stark an. Ohne Probleme gelang es ihm, ihre Hand wegzuschlagen bevor er einen weiteren Schlag platzierte. Sie verlor drei weitere Zähne und ein zusätzlicher Riss in ihrem Kiefer entstand. „Hilf mir, Havon!“, verlangte Tiraxa nuschelnd, wobei sich die Risse in ihrem Kiefern durch ihren Ruf noch vertieften. Doch es war nicht das jämmerliche Geschrei der nun offenbar geschwächten Inquisitorin, das Georgs Aufmerksamkeit erregte, sondern die Rufe der Frauen und Männer hinter ihm, die offenbar einer neuen Gefahr gegenüberstanden. Ein gewaltiges, aus Knochen bestehendes Ungetüm hieb nach den wehrlosen Frauen wie ein dämonischer Geier oder ein Drache aus den alten Sagen. So gefährlich diese Inquisitoren auch sein mochte: dieses Ding, dieses Monster war die wahre Bedrohung. Wenn es ihm nicht gelänge es zu stoppen zu erledigen und diese Unschuldigen ihr Leben verlieren, wäre sein Kampf völlig umsonst gewesen. Wenn er doch nur sein Schwert hätte oder … plötzlich spürte Georg ein Kribbeln in seinem Hinterkopf, begleitet von einer Erinnerung die nicht die seine war und einer Ahnung, die als kleiner, ferner Punkt am Rande seiner Wahrnehmung begann und letztlich seinen ganzen Kopf verschluckte.

~o~

Inga blieb nicht viel Zeit sich zu orientieren. Sie realisierte, dass wieder viele Minuten aus dem Gefüge ihrer Erinnerung gestohlen worden waren. Dass irgendetwas mit ihr passierte, was ganz und gar nicht gut oder normal war. Aber nun war nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken. Als sie die Knochenschlange sah, die unter ihren Ordensschwestern wütete, war ihr klar, dass sie handeln musste. Der Knochenwald, dieses Geschwür auf dem Gewebe der Realität musste vernichtet werden und die Drix Tschatha – so verdorben und verbittert sie auch waren – waren die einzigen, die das erreichen konnten. Sie musste ihnen helfen. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie dafür keinen weiteren Unschuldigen opfern durfte. Doch zum Glück war das nicht die einzige Möglichkeit. Erneut zapfte sie das Chaos in sich an. Zum Glück gab es davon reichlich.

~o~

Tiraxa hatte noch nie so eine Qual empfunden. Nicht einmal die Entfleischung in der Lauge des Milchigen Sees hatte sie auch nur annähernd so leiden lassen. Sie fühlte, wie die Macht, mit der sie ihr Knochen und das damit verbundene Opfer erfüllt hatte aus ihr heraus sickerte, wie Wasser aus einem undichten Gefäß. Trotzdem bemerkte sie, dass die verrückte Hexe von ihr abgelassen hatte. Sie musste sich erheben. Sie musste Davox‘ Auftrag erfüllen, bevor sie alle macht verloren hätte. Ein Zauber, ein einziger Zauber musste ihr noch gelingen.

~o~

„Keine Zauber! Hört ihr?“, brüllte Trinja den anderen Hexen zu. Und das mit gutem Grund. Denn von jenen, die nicht gerade damit beschäftigt waren den gefährlichen Attacken der Knochenschlange auszuweichen, hatten schon einige mit mäßigem Erfolg versucht, das Ungetüm mit Magie aufzuhalten. Vor allem, indem sie Windstöße, Feuer, kinetische Energie oder auch Abwehrschilde beschworen hatten.

„Wenn wir noch einen einzigen Dorhm Ahjon verlieren“, betonte Trinja, „können wir das Ritual vergessen. Beschützt sie um jeden Preis, statt den Weisen noch ihre Arbeit abzunehmen.“

„Was sollen wir denn tun?“, fragte Myna, während sie sich unter einer zupackenden Knochenhand hinweg duckte, „Dieses Ding mit bloßen Händen bekämpfen?“

„Wir müssen den Weisen überwältigen“, schlug Anscha vor, „den, der die Schlange kontrolliert.“

„Knochenschlangen werden von niemandem kontrolliert“, antwortete Anscha kopfschüttelnd während sie ihren Dorhm Ahjon vor den Kiefern der Schlange bewahrte, indem sie ihn an seiner Leine aus der Gefahrenzone zog, „sie werden nur herbeigerufen. Doch letztlich haben sie ihren eigenen Willen. Wenn der Beschwörer stirbt, wird das rein gar nichts ändern.“

„Irgendetwas müssen wir tun“, beharrte Myna. „wenn wir das Ritual nicht mehr durchführen können, dann ist das ebenso. Ich habe keine Lust nach all den Jahren draufzugehen, nur wegen einer hypothetischen Chance den Knochenwald zu zerstören. Wir sollten zaubern, was das Zeug hält uns dann zurückziehen, unsere Wunden lecken und nach neuen Dorhm Ahjon Ausschau halten. Wir haben so viele Jahrhunderte gewartet, da können wir auch noch länger warten.“

„Auf keinen Fall!“, begann Anscha zu widersprechen, „wir müssen diese Chance nutzen, und …“

Plötzlich erklang ein schrilles, sägendes Geräusch, so als würde eine Kreissäge über härtesten Stahl gezogen. Gleichzeitig fingen mehrere der Hexen an zu husten, da sich die Luft mit einem Mal fast zu zäh und viskos anfühlte, um sie zu atmen. Die Luft wurde unglaublich warm und schwül, nur um Sekundenbruchteile darauf wieder eiskalt und trocken zu werden. Myna und einige andere Hexen brachen in die Knie, da ihr Kreislauf das nicht mitmachte.

„Was verdammt nochmal ist das?!“, schrie Myna, „während sie sich die Ohren zuhielt.“

„Ich weiß es nicht“, sagte Anscha hustend, doch dann fiel ihr Blick auf Inga , „doch“, korrigierte sie sich, „Es ist Inga. Sie opfert sich für uns!“

Tatsächlich konnte man dabei zusehen, wie Inga weiter alterte. Ihr Körper schrumpfte zusammen, ihre grau melierten Haare wurden erst gänzlich grau, dann weiß und ihre Haut verschrumpelte, während sich die seltsame Magie, die sie heraufbeschwor endlich auch gegen die Knochenschlange richtete. Das gewaltige Skelett der Kreatur wurde gleich an mehreren Stellen zusammengedrückt und förmlich pulverisiert, während sich in ihrem Schädel immer mehr kleine Löcher zeigten. Die Knochenschlange schrie auf. Doch nicht nur sie.

„Nein!“, rief Myna, „Das kommt gar nicht in Frage!“

Sie rannte los.

„Warte Myna“, rief Anscha ihr hinterher, aber sie achtete nicht darauf.

~o~

Tiraxa sah die Hexe genau vor sich, sah wie sie alt wurde und verschrumpelte. Sie versucht Hiramesh zu vernichten, aber zehrt dabei von ihrer eigenen Kraft, begriff sie und ein unsichtbares Lächeln entstand in ihrem Geist, da es sich auf ihrem entfleischten Gesicht nicht zeigen konnte. Und obwohl sich die Schwäche weiter in ihr ausbreitete, nahm sie nochmal alle Kraft zusammen. Zitternd erhoben sich einmal mehr die Knochensplitter und Stäubchen und sie herum in die Luft und begannen sich zu vereinen. Für einen Sturm wird es diesmal nicht reichen, dachte sie. Aber vielleicht für einen Speer. Einen kleinen Speer für das alte, verschrumpelte Hexenherz. Die Verrückte würde zwar ohnehin sterben, wenn sie so weitermachte, aber Tiraxa wollte, nach dem, was diese Bitch ihrem Knochen angetan hatte, bei ihrem Tod ein Wörtchen mitreden. Wenn Rache alles war, was sie noch bekommen konnte, dann wollte sie nicht darauf verzichten. Und vielleicht, wenn sie schnell genug wäre, könnte sie Hiramesh vor dem Tod bewahren und diesen Vollidioten Havon gleich mit.

~o~

Inga spürte, wie das Leben ihr entglitt. Sie verstand selbst nicht, was sie da tat. Sie war kein schlechter Mensch, aber sie hätte sich früher absolut nicht vorstellen können, sich für andere oder auch für die ganze Welt zu opfern. Sie war nicht fucking Jesus, sondern einfach eine Frau, die für ihren Geschmack noch viel zu wenig vom Leben gekostet hatte, um sich schon daraus zu verabschieden. Aber vielleicht lag es auch an all der Verderbtheit, die sie um sich herum erlebt hatte. Der Verderbtheit der Drix Tschatha, der von Devon, Davox und den anderen Weisen des Gebeins, der der Menschen und nicht zuletzt auch die ganze Kacke, die sie – ob mit voller Absicht oder nicht – selbst zu verantworten hatte. Ihr war, als müsste sie zur Abwechslung mal etwas Selbstlosigkeit in diesen gärenden Haufen Scheiße rühren.

Immerhin schien ihr Zauber zu wirken. Die Knochenschlange ächzte und krümmte sich unter ihrer Attacke und sie sah schon, wie sich einzelne Teile aus dem widernatürlichen Verbund ihres Körper lösten, dort wo sie ihre Gelenke zerstört hatte. In seiner Panik dachte das Ungetüm nicht einmal daran, sich gegen sie zu Wenden oder zu fliehen, sondern wütete einfach blind in der Umgebung umher. Trotzdem wusste sie nicht, ob ihre Kraft ausreichen würde, um das Geschöpf zu vernichten. Aber sie musste es versuchen. Vielleicht konnten die Drix Tschatha ihren Plan auch selbst in die Tat umsetzen. Zumindest wussten sie jetzt von Lucy und ihren Maden. Gemeinsam würden sie diesen ganzen Wahnsinn beenden und diese Bedrohung für Bianca, Jonathan und all die anderen für immer aus der Welt schaffen. Ein trotziges Lächeln entstand auf ihrem Gesicht und erstarb als ein schmerzhafter Stich durch ihre Brust ging.

~o~

Myna erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Für Jahrhunderte hatte sie kaum etwas gefühlt, außer schalem Zynismus, reflexhaftem Überlebenswillen und Hunger. Inga jedoch, diese naive Frau aus der Weichwelt, hatte das irgendwie geändert. Sie hatte ihren Hass geweckt und dann … zumindest ihre Sympathie. Sie weigerte sich von „Liebe“ zu sprechen, weil sie sich dabei fühlen würde wie ein dummes Mädchen, aber so oder so wollte sie nicht, dass Inga starb. Selbst in dieser uralten, unansehnlichen Gestalt umgab diese Frau etwas Besonderes, Beschützenswertes, dass selbst ihr hartes Herz berührte.

Doch noch während sie über den knochenübersäten Boden rannte und ihr bestes tat, nicht auf dem unsicheren Untergrund auszurutschen, erkannte sie, dass die von Inga niedergeworfene Knochendienerin dabei war, einmal mehr ihre verderbte Magie zu wirken. Sie sammelte Knochenfragmente zu einem kleinen, in der Luft schwebenden Messer und es bestand kein Zweifel für wen dieses Messer bestimmt sein würde. Zugleich war Myna klar, dass sie es nicht riskieren konnte, so lange zu warten, bis sie die Weise des Gebeins erreicht haben würde. Schon diese wenigen Meter konnten zu viel sein. Inga war ihr näher. Geografisch wie emotional.

„Scheiß auf die Mission“, knurrte Myna und warf sich auf die inzwischen greise Inga. Deren trotziger, von selbstloser Bestimmtheit erfüllter, allein auf die Knochenschlange gerichtete Blick, beschämte Myna.

Ja, zum ersten mal, seit Jahrhunderten fühlte sie Scham und im Grunde war das kein so schlechtes Gefühl.

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