Knochenwelt: Lust und Gerechtigkeit

„Irgendwo hier müssen sie sich verstecken“, sagte Steve Miller während er mit der Taschenlampe am Lauf seines Sturmgewehrs durch das Erdgeschoss des Wohnhauses leuchtete. Seit der Machtübernahme der CfD hatte die Polizei ziemlich aufgerüstet.

„Wir kriegen sie schon. Diese Rebellen haben Angst und wer Angst hat, macht Fehler. Das ist ein Scheiß Naturgesetz.“ erwiderte Christopher Gera, während er krachend auf seinem Zitronenbonbon herumkaute. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er mangels Vorrat auf diese Marotte hatte verzichten müssen. Aber seit ihn das „Volksdeutsche Polizeikommando“ (VPK) seine alte Stelle als Polizeihauptkommissar zurückgegeben hatte, mangelte es ihm an nichts. Keine vollgepisten Anzüge mehr, immer das neueste Equipment und immer was zu Kauen. Gera leuchtete seinerseits mit einem Gewehr in die Küche, sah dort hinter die Tür, unter die Tische und in die Schränke und lauschte auf jedes Geräusch. Auf jedes Wimmern, Husten oder Atmen. Aber er entdeckte nichts. „Hier ist alles sauber“, verkündete er.

„Im Wohnzimmer das Gleiche“, sagte sein Partner. „Wusstest du, dass sie sich ‚Geistermenschen‘ nennen? Kann es überhaupt einen bescheuerteren Namen für eine Rebellengruppe geben? Ich meine – „Rote Armee Fraktion“, „Irish Republican Army“, sowas wirkt wenigstens bedrohlich. Das klingt nach würdigen Gegnern. Aber ‚Geistermenschen‘? Was sollen die schon tun? Mit ihren Ketten rasseln?“

Gera zuckte mit den Schultern. „Mir ist verfickt egal wie die heißen“, antwortete er und schob ein weiteres Bonbon nach. „Hauptsache ist, dass mein Baby hier die Chance bekommt, ihnen das Stammhirn zu zerfetzen.“ Er lächelte zynisch.

„Hier unten sind sie jedenfalls nicht“, sagte Miller, der in einer dieser neuen, cremeweißen Polizeiuniformen mit Kevlarweste steckte und mit seinem leicht kantigen Schönlingsgesicht und seinen kurzgeschnittenen blonden Haaren auch aus einem Werbevideo für den Polizeidienst hätte stammen können. Gera dagegen sah mit seinem Erdmännchengesicht und dem hellbraunen Trenchcoat, der seine durchaus vorhandenen Muskeln perfekt verbarg, eher nach hartem Dienstalltag als nach Hollywood-Cop aus. Dennoch hatte er hier das Kommando.

„Offensichtlich“, sagte Gera, „aber es gibt hier ja noch den Keller und das Obergeschoss. Ich würde vorschlagen, dass wir uns trennen. Ich schaue oben nach und sie checken den Keller. Das passt doch auch gut zu unseren Diensträngen.“

Miller ignorierte Geras Hohn, was in Gegenwart des Kommissars wahrscheinlich die gesündeste Strategie war.

„Meinen Sie wirklich, dass wir uns trennen sollten?“, fragte er stattdessen.

„Warum nicht? Haben Sie etwa Angst so ganz allein im Dunkeln?“, fragte Gera zurück, „auf diese Weise schneiden wir ihnen den Fluchtweg ab. Außerdem sind es höchstwahrscheinlich einfach nur Zivilisten mit ein paar Autoritätsproblemen. Die sollten gegen einen voll ausgerüsteten und ausgebildeten Polizisten nicht die geringste Chance haben.“

Miller nickte, wirkte aber noch nicht so richtig überzeugt. Sein Kopf lief leicht rot an und Gera sah ihm an, dass ihm das, was er als Nächstes sagen würde, peinlich war. Dennoch sagte er es. „Was ist … wenn … wenn das hier ein monochromes Haus ist?“

An monochrome Häuser erinnerte Gera sich noch allzu gut, auch wenn seine erste Erfahrung in dieser Hinsicht ein ganzes Leben her zu sein schien. Aber er hatte keine Lust, seine Erinnerungen mit Miller zu teilen. „Dann sterben wir. Und vielleicht sogar Schlimmeres“, sagte er ohne eine Spur von Furcht und setzte einen Fuß auf die Treppe zum ersten Stock. „Aber wenn Sie jetzt nicht ihren Arsch da runterbewegen und nach den Rebellenratten suchen, sterben sie auch. Sie kennen doch die Order 46, oder etwa nicht?“

Die Order 46 war ein erst kürzlich von der CfD verabschiedetes Gesetz. Sie erlaubte jedem Vorgesetzten, seinen Untergebenen bei Widerspruch oder Befehlsverweigerung ohne strafrechtliche Konsequenzen zu töten. Sie galt in allen Gesellschaftsbereichen, von der Schule über die freie Wirtschaft bis hin zum Staatsdienst. Und natürlich ganz besonders bei Polizei und Militär.

Miller wurde kreidebleich, nickte folgsam und öffnete die Kellertür. Gera hatte nichts anderes erwartet und ging nun seinerseits die Treppe hoch. Auch wenn er es besser wusste, konnte er die Vorstellung nicht abschütteln, dass ihn in der oberen Etage eine, scherenschnitthafte, schwarz-weiße Alptraumwelt erwarten würde und sein Herz klopfte laut im Takt seiner knarzenden Schritte. Seine irrationale Furcht lag wohl auch darin begründet, dass das Haus hier ähnlich aufgebaut war, wie bei seinem letzten Erlebnis. Fast direkt hinter der obersten Stufe gab es eine Tür, vor der gerade genug Platz blieb, um zu stehen oder um links oder rechts um die Treppe herumzugehen. Als Gera oben angekommen war, schluckte er die Reste seines Zitronenbonbons herunter, warf sich ein Weiteres ein und fasste dann endlich den Mut, die Klinke herunterzudrücken.

Was ihn dahinter erwartete, war ein stinknormales Zimmer. Hellbraunes Laminat, weiße Wände mit einer Uhr und ein paar Postern von irgendwelchen Rockstars, ein schwarzer Kleiderschrank, ein weißer Schreibtisch, ein großes, weißes Bett, das den Großteil des Zimmers ausfüllte und ein paar Getränkeflaschen und Dosen, die herumstanden, jedoch keine davon MannaRed. Gera atmete erleichtert auf. Alles war vollkommen dreidimensional, farbenfroh und ungefährlich. Um das zu erkennen, brauchte es noch nicht einmal seine hoch entwickelten Polizisteninstinkte. Die teilten ihm aber etwas anderes mit. Nämlich, dass er nicht allein war. Ganz, wie er es vermutet hatte.

„Kurze Nachricht an die beiden Personen unter dem Bett und die eine Person im Schrank. Wenn euch irgendetwas an euren erbärmlichen Leben liegt, solltet ihr darauf verzichten zu schreien oder um Hilfe zu rufen. Denn ich könnte diese Hilfe sein, jedoch nur, wenn ihr brave Zivilisten seid und tut, was man euch sagt. Wenn ihr einverstanden seid, sagt einfach ‚Piep‘.“

Es blieb still.

„Entweder einer von euch Mäuschen macht jetzt ‚piep‘ oder ich schieße einfach nur zum Spaß ein paar Kugeln durch den hässlichen Schrank und das verlauste Bett und wenn ich dabei irgendwelche Organe treffe, dann habt ihr Pech gehabt.“

„Piep“, erklang es zitternd und ängstlich aus drei Kehlen.

„Geht doch“, sagte Gera fröhlich, „und jetzt kommt ihr alle schön aus euren Verstecken heraus. Und bevor ihr euch vor Angst in die Hosen scheißt oder was Dämliches tut, solltet ihr wissen, dass mein Kollege, der gerade noch den Keller absucht, euch ohne zu Zögern in ein CfD-Lager bringen wird. Ich aber nicht. Also bewegt eure Ärsche in mein Sichtfeld, und zwar hurtig.“

Kurz darauf öffnete sich die Schranktür und ein Mann Anfang vierzig mit schwarzem Haar, beginnender Glatze und in einem dunkelgrauen Pyjama kam heraus. Nur einen Moment später robbten eine blonde, etwas füllige Frau und ein braunhaariger kleiner, bebrillter Junge unter dem Bett hervor. Na wunderbar, dachte Gera. Bei solchen Rebellen wird Eden sich sicher vor Angst in die Hose scheißen.

„Gehören Sie etwa auch zum Widerst…“ begann der Mann und Gera schüttelte wild den Kopf.

„Ich gehöre zu gar nichts, außer zur Menschheit und das allein kotzt mich schon genug an. Ich will auch nichts von eurer Lebensgeschichte hören. Alles was ich will ist, dass du das Flusspferd und Harry Potter einpackst und mir die Treppe hinunter folgst, ohne auch nur zu furzen. Verstanden?“

Der Mann wirkte irritiert, nickte aber. „Gut“, meinte Gera, öffnete die Tür und begann langsam die Treppe hinabzusteigen, ohne auf die anderen zu achten. An ihren (viel zu lauten) Schritten hörte er aber, dass die drei ihm folgten.

Das Leben ist schon seltsam, dachte Gera, während er die drei kleinen Schweinchen die Treppe hinunterführte. In einer ähnlichen Situation hatte er unschuldigen Gefangenen sogar schon mit dem Tod gedroht. Wie sich Dinge ändern. Gera bereute zwar nicht, was er früher getan hatte – das brachte seiner Meinung nach nichts als Magengeschwüre – aber er hatte sich dennoch fest vorgenommen, künftig anders zu handeln.

„Hier unten ist nichts“, hörte er die Stimme von Miller als er schon fast am Fuß der Treppe angelangt war. Seine Stimme klang nah. Viel zu nah. Und seine Schritte kamen ebenfalls immer näher. Verdammt!

„Bist du dir sicher?“, fragte Gera während er bereits den Boden des Erdgeschosses betrat. „Hier oben ist auch niemand. Schau lieber noch mal genauer nach!“

„Ich habe alles abgesucht“, erwiderte Miller leicht genervt, „da unten könnte sich ohnehin kaum eine Ratte verstecken, von einem Volksverräter ganz zu schweigen. Ich hab selten einen so leeren Keller gesehen.“ Inzwischen hatten die Hausbewohner ebenfalls die Treppe verlassen. Gott sei Dank verhielten sie sich nun leiser als zuvor. Gera drehte ich zu ihnen um und wies auf die offene Küchentür. Er konnte nur hoffen, dass sie verstanden hatten. Inzwischen musste Miller schon auf den obersten Treppenstufen sein. Gera entschied sich, ihm entgegenzugehen und versuchte dabei mit jedem seiner Schritte maximalen Lärm zu veranstalten.

Nicht einmal zwei Sekunden später öffnete Miller knarzend die Kellertür und sein Gesicht erschien in dem erleuchteten Viereck. Dummerweise huschten gerade in diesem Moment drei Schatten hinter Gera vorbei und auch wenn Miller ein verblendeter, faschistischer Dummbeutel war, war er auch ein Polizist.

„Da! Direkt hinter Ihnen! Sie fliehen in die Küche!“, rief er.

„Wo denn?“, fragte Gera mit gespielter Überraschung und drehte seinen Erdmännchenkopf in Richtung Küche, während er blind vier Schüsse auf Miller abgab, wobei er mit seiner Waffe jedes Mal ein Stückchen höher wanderte. Als er sich wieder seinem Partner zuwandte, hatte dieser ein Lochim Bauch, eins im Hals und eins im Kopf. Dennoch war in seinen Augen noch einen kurzen Moment lang Leben.

„Order 46“, sagte Gera nur trocken, während sein Partner auf den Boden fiel und Schreie und Gewimmer aus der Küche drangen. Gera war blitzschnell bei den Bewohnern und drückte dem Jungen die Mündung seiner Pistole zwischen die Brillengläser. „Was habe ich euch übers ‚Leise sein‘ erzählt?“, sagte er zu dem Jungen und seinen Eltern, die allesamt hinter der Küchentür kauerten. „Ich habe nicht meinen Partner kalt gemacht, damit euch die nächstbeste Streife einsammelt.“ Endlich hörten die drei auf zu schreien, auch wenn der Junge nun umso heftiger zitterte und weinte. Immerhin tat er es leise.

„Ihr habt jetzt fünfzehn Minuten, um euch anzuziehen, euren Wagen zu holen und euch ein sicheres Versteck bei euren Geisterfreunden oder sonst wo zu suchen. Wenn ihr das nicht habt, habt ihr Pech gehabt. Ich bin nicht euer Babysitter.“ Er nahm die Waffe vom Kopf des Jungen, der sich vor Angst in seinen Pyjama gepinkelt hatte und trat einen Schritt zurück. „D… D … Danke“, stotterte die blonde Frau.

„F … F … Fick Dich!,“ erwiderte Gera schroff, „von deinem Dank kann ich mir nichts kaufen. Ich würde ja einen Blowjob in Zahlung nehmen, da ich noch nie einen von ’nem Flusspferd bekommen habe. Aber da ich nicht glaube, dass dein Sohn und dein Mann dabei zusehen wollen, würde ich vorschlagen, dass du jetzt endlich deine Zelte zusammensuchst und dich hier verkrümelst.“ Nun sah die Frau ihn wütend an, bevor sie samt ihrer Familie die Treppe hochging. Gera war erleichtert. Sowohl über ihr Verschwinden als auch über ihren Zorn. Mit Hass konnte Gera umgehen, Dank aber brachte ihn immer in Verlegenheit.

Als die drei endlich ihre Sachen gepackt hatten und zur Tür rausgegangen waren, holte er die Handschuhe aus dem Trenchcoat, zog sie über, griff sich Millers schallgedämpfte Waffe, schoss damit auf die Reifen seines Polizeiwagens und legte die Waffe wieder in die Hand von Millers Leiche.

Dann nahm Gera sein Telefon und rief im Revier an. Die unterkühlte, sonore Stimme von Polizeidirektor Jörg Eppenheimer erklang aus dem Hörer.

„Was kann ich für Sie tun, Gera?“

„Es gibt eine Leiche.“

„Volksverräter?“

„Nein, Miller.“

„Wie ist es passiert?“

„Order 46.“

„Aus welchem Grund?“

„Er hat die Volksverräter entkommen lassen. Hat sich geweigert, zu schießen.“

„Miller? Das kann ich kaum glauben.“

Bei diesen Worten schrillten alle Alarmglocken in Geras Kopf, aber er blieb dennoch vollkommen ruhig.

„Und doch ist es so.“

„Wie sie meinen“, erwiderte Eppenheimer, „haben Sie versucht, die Verfolgung aufzunehmen?“

„Ging leider nicht. Miller hat die Reifen am Wagen zerschossen. Ich glaube, er war in Wahrheit ein Verräter.“

Nun kehrte am anderen Ende der Leitung Stille ein und Gera war sich einen Moment lang fast sicher, dass Eppenheimer ihm nicht glauben würde. Aber zumindest auf den ersten Blick schienen seine Sorgen unbegründet.

„Das ist schade. Er schien mir immer ein loyaler Anhänger unserer Sache zu sein. Immerhin hat er keine Gelegenheit ausgelassen zu erwähnen, dass diese Volksverräter den Tod verdienen“, sagte Eppenheimer.

„Ist doch die beste Tarnung, oder etwa nicht?“, bemerkte Gera trocken.

„Schon möglich“, stimmte Eppenheimer zu.

„Schicken Sie mir einen Wagen?“, fragte Gera.

„Er ist in fünfzehn Minuten da. Aber fassen Sie nichts an!“, sagte Eppenheimer.

„Ehrensache“, antwortete Gera, aber da hatte Eppenheimer bereits aufgelegt.

Natürlich würde er nichts anfassen. Er brauchte nichts zu vertuschen. Die Order 46 gab ihm jedes Recht für das, was er getan hatte, erst recht bei Verrätern. Und es gab keinen Zeugen, der nachweisen konnte, dass Miller überhaupt kein Verräter war. Trotzdem blieb ein unangenehmes Gefühl zurück. Eppenheimer war nicht dumm. Gera spielte die Rolle des unsympathischen Arschlochs so perfekt, wie sie nur ein unsympathisches Arschloch spielen konnte und er stellte stets ein wohldosiertes Maß an ideologischer Verblendung zur Schau, ohne damit zu übertreiben. Dennoch ahnte Eppenheimer sicher, dass Gera kein linientreuer Parteisoldat war. Bisher jedoch – das vermutete Gera zumindest – ging Eppenheimer davon aus, dass Gera lediglich ein gewissenloser, nützlicher Opportunist war. Er ahnte sicher nicht, dass Gera ein Opportunist MIT Gewissen war. Und Gera würde dafür sorgen müssen, dass das so blieb. Denn dummerweise hatte Eppenheimer ihm gegenüber ebenfalls das Recht, die Order auszuführen. Als er die Sirenen des Streifenwagens hörte, konnte Gera ein ertapptes Zusammenzucken nicht verhindern.

Die nächsten Minuten liefen ganz so ab wie erwartet. Der weiße Streifenwagen mit dem CfD-Logo (so viel zur Trennung von Staat und Partei) fuhr vor und zwei Beamte von der Spurensicherung (Heiko Mayer und Stefan Remmsing) sowie der Gerichtsmediziner Harald Barnett stiegen aus dem Wagen, um den Tatort zu untersuchen und Millers Leiche abzuholen. Die Spurensicherung machte dabei keinen allzu gründlichen Job. Zum einen war die Order 46 ein Bereich, in dem man lieber nicht so genau nachforschte, schon aus Angst bald selber Ziel einer solchen Anweisung zu sein. Zum anderen hatte Gera seine alte Gewohnheit, belastendes Material über seine Kollegen zu sammeln, wiederaufleben lassen. Sowohl über Mayer als auch über Remmsing hatte er Dinge ausgegraben, deren Bekanntwerden für sie ziemlich heikel werden könnte. Bei Barnett dagegen war dies nicht nötig. Mit ihm verband ihn fast so etwas wie eine Freundschaft, so seltsam das auch klang. Vielleicht lag das auch an ihren gemeinsamen sexuellen Vorlieben.

Harald Barnett war es auch, der nach seiner Rückkehr ins Revier und seiner offiziellen Entlastung von allen Vorwürfen durch den Untersuchungsbericht von Mayer und Remmsing, dafür sorgte, dass Gera nach Büroschluss zwei Stunden Privatsphäre in der Leichenhalle bekam. Und da Eppenheimer, mit dem er anderenfalls sicher noch das ein oder andere Wort hätte wechseln müssen, zu einem Treffen in der CfD-Parteizentrale geladen war, konnte er diese Chance auch wahrnehmen. Zielsicher gingen Gera zu einer der silbernen Schubladen, in der potenzielle Mordopfer für die weitere Untersuchung aufgebahrt waren. Viele von ihnen gehörten zum Widerstand oder waren einfache Bürger, die das Pech gehabt hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Die Schublade, für die er sich interessierte, beherbergte aber keines dieser armen Schweine. Nein, das war feinstes CfD-Frischfleisch. Antonia Riemann, eine der wenigen hohen Parteifunktionärinnen der CfD, die mutmaßlich bei einem Giftanschlag eines linken Terroristen zu Tode gekommen war. Zumindest hatte die CfD-Zentrale das offiziell behauptet. Die Ergebnisse der Untersuchung durch Barnett waren bereits abgeschlossen und haben ergeben, dass die gute Frau Riemann einfach an einem Stück Brot erstickt war. Sie hatte buchstäblich den Hals nicht voll kriegen können. Zwar würde dieses Ergebnis nichts an der offiziellen Propaganda ändern, aber die CfD war zumindest vernünftig genug, dennoch die Wahrheit erfahren zu wollen.

Gleich morgen würde sie von einem Abgesandten der Partei abgeholt werden. Bis dahin aber hatte die gute Frau Riemann ein Rendezvous mit Christopher Gera.

Er öffnete die Schublade und sah dort eine nackte, blonde und ziemlich tote Frau Ende dreißig mit kurz geschnittenen Haaren. Ihr Körper war gut in Form und ihre Brüste hatten für ihn genau die richtige Größe. Sie hätte schön sein können, aber ein grausamer Zug um ihren Mund, der selbst ihren Tod überdauerte, verhinderte das. Wie Gera wusste, hatte sie maßgeblich die „Gewinnung“ von Obdachlosen und Dissidenten für die MannaRed-Fabriken organisiert. Ein solcher Mensch konnte wohl auch nach seinem Ableben keinen Frieden finden.

Gera streichelte über die Haut der Frau, die sich zwar eiskalt, aber noch immer frisch anfühlte. Er fragte sich, ob das, was er nun vorhatte, etwas Gerechtes an sich hatte. Ob er damit Wiedergutmachung für all die Menschen leistete, die diese Frau einem grausamen Schicksal zugeführt hatte. Aber er glaubte das nicht wirklich. Die gute Antonia würde davon wahrscheinlich nichts mehr mitbekommen und auch den Opfern würde es nicht helfen. Nein, es war nichts als Triebbefriedigung. Reiner Spaß. Und der Spaß konnte jetzt beginnen.

~o~

Gera hatte sich gerade erst das Kondom abgezogen und die Hose zugemacht, als bereits sein Handy vibrierte. Zum Glück hatte er es auf Vibrationsalarm umgestellt. Andernfalls wäre wohl in Kürze das ganze Revier hier unten gewesen.

„Kann ein Mann nicht mal in Ruhe pimpern?“, fragte er leise, aber weder Antonia Riemann noch eine der anderen Leichen antwortete. Also nahm er ab, während er mit der anderen Hand das Kühlfach öffnete und die Leiche vorsichtig zurückschob.

„Gera hier. Wer sind sie und wie kann ich Ihnen das Leben schwer machen?“, wählte er eine seiner Lieblingsgrußformeln. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er wahrscheinlich einen Blick aufs Display geworfen, um zu sehen, wer anrief, aber die Umstände waren gerade nicht gewöhnlich.

„Mir das Leben noch schwerer zu machen, käme einer wahren Glanzleistung gleich“, krächzte eine Stimme aus der anderen Leitung.

„Bianca?“ fragte Gera überrascht. Sie hatten zwar in letzter Zeit mehr und weitaus weniger unerfreulichen Kontakt gehabt als früher, aber zu so später Zeit rief sie ihn eher selten an.

„Wer, den du kennst, hätte wohl sonst eine so schöne Stimme?“, fragte sie trocken.

„Keine Ahnung“, konterte Gera, „jedenfalls niemand, der so fett ist.“ Er hätte einfach nicht darauf verzichten können, sie zu beleidigen. Und tatsächlich war es Bianca durch ihre halbe Verwandlung fast unmöglich geworden, abzunehmen. Immerhin konnte sie aber auch nicht zunehmen.

„Mein Äußeres lasse ich noch immer am liebsten von mittelalten Polizisten mit Erdmännchenfresse beurteilen, die keine lebendige Frau flachlegen könnten, ohne dass sie beim Anblick ihres Schrumpelschwanzes gleich vor Schreck stirbt“, antwortete Bianca.

„Und wenn schon. Ist doch praktisch“, gab Gera zurück, wechselte dann aber in eine ernsthaftere Tonlage. „Was ist denn los, Bianca? Haben die Mistkerle im Puff es zu weit getrieben? Du weißt, dass ich kein Problem damit habe, Leute umzulegen.“

Bianca zögert kurz, so als würde sie ernsthaft über Geras Vorschlag nachdenken, was sie wahrscheinlich auch tat. „Nein. Verdient hätten sie es allemal, aber zum einen würde mich das nur in noch mehr Schwierigkeiten bringen und zum anderen will ich es ihnen selbst heimzahlen, wenn die Zeit reif dafür ist. Nein, es geht um was anderes. Sie haben doch noch Kontakt zum Widerstand? Zu den Geistermenschen?“

„Ja …“, sagte Gera vorsichtig. Ihm gefiel nicht, worauf das hinauslief. „Ich weiß zumindest, wo sie zu finden sind und verpfeife sie nicht. Aber du weißt, dass ich mich ansonsten von ihnen fernhalte. Ich bin alles andere als ein loyaler Anhänger von Eden und seinem Verein, aber ich bin auch nicht lebensmüde. Nicht mehr. Und einmal die Welt zu retten, genügt mir.“

Ein heiseres Lachen drang aus dem Hörer. „Also, wenn Sie die Welt retten wollten, dann haben Sie jämmerlich versagt. Wir alle haben versagt. Schauen Sie sich den Misthaufen doch mal an. Der stinkt ja noch viel schlimmer als zuvor.“

„Mag sein“, gestand Gera zu, „allerdings ist das nicht meine Schuld, wenn der ganze Hokuspokus nicht wieder verschwindet, nachdem wir den Obermacker getötet und das Portal geschlossen haben. Die Welt mag am Arsch sein, aber ich habe ein gutes Gehalt, massig Süßkram und hin und wieder eine tote Frau für mich allein. Das reicht mir vollkommen. Und um das bisschen Gewissen, dass ich habe, zu beruhigen tue ich auch genug. Man mag es kaum glauben, aber ich hebe den moralischen Schnitt in diesem Revier hier um locker hundert Punkte. Also behalten Sie schön Ihren Weltschmerz für sich.“

„Wie Sie meinen“, sagte Bianca, „ich jedenfalls habe keine Lust mehr, mich zu arrangieren und für CfD-Widerlinge die Beine breit oder die Knochenzunge langzumachen. Ich will endlich wieder was tun, irgendetwas gegen diesen Haufen Scheiße unternehmen, in dem wir alle langsam versinken. Wenn sie nicht dabei sein wollen, gut. Aber Sie könnten wenigstens zwei Dinge für mich tun.“

„Welche wären das?“, fragte Gera.

„Ich will, dass Sie mich zu den Geistermenschen bringen.“

„Okay, das sollte machbar sein“, sagte Gera, „wenn Ihnen der Sinn nach Suizid steht, kann ich nichts daran ändern. Ich fände es besser, wenn Sie weiterleben, aber letztlich entscheidet jeder für sich selbst. Ich schicke Ihnen die Nummer von meinem Kontakt dort. Und was ist das Zweite?“

„Ich will, dass sie mir helfen, die anderen zu finden.“

„Die anderen?“, fragte Gera verwirrt.

„Unsere alte Gemeinschaft, die Leute, mit denen wir versucht haben die Welt zu retten, vielleicht erinnern Sie sich ja noch.“

„Ich hoffe, Sie erwarten nicht von mir, dass ich Ihre rothaarige Rentnerfreundin, deren Knochenlover und Professor Gammel aus dem Knochenwald hole“, meinte Gera.

„Nein“, antwortete Bianca, „Auch wenn ich zumindest Hexe sehr gerne wieder bei mir hätte. Ich rede von Jonathan, Lucy und Mara.“

„Das dürfte schwierig werden“, sagte Gera, „Lucy und Mara sind vollkommen von der Bildfläche verschwunden. Für Lucy liegt sogar ein Haftbefehl vor, aber bislang gibt es noch keine Anzeichen, wo sie sein könnte. Selbst Carina und ihre ‚Kaninchen‘ sind wie vom Erdboden verschluckt. Und was Jonathan betrifft, so hat er jeden Kontakt zu mir abgebrochen und ich bin nicht der Typ, der Leuten hinterherläuft. Möglich, dass er inzwischen tot oder ans andere Ende der Welt gezogen ist. Ich kann jedenfalls nicht garantieren, dass wir einen von ihnen finde.“

„Aber Sie werden es versuchen!“, sagte Bianca. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Ja“, seufzte Gera, „ich sage Ihnen sofort Bescheid, wenn ich etwas herausfinden sollte. Wäre wohl unhöflich, einem zukünftigen Geist etwas abzuschlagen. Nachher suchen sie mich noch in meinen Träumen heim.“

„Danke. Aber sie können ohnehin beruhigt sein. Das wäre – mal abgesehen von Knochenwald – der letzte Ort, an dem ich mich aufhalten wollen würde“, sagte Bianca.

„Das kann ich gut verstehen“, antwortete Gera grinsend.

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