Knochenwelt: Schweiss und Knochen

Hamburg, 2. Oktober, 02:34

„Streck’ deine Zunge raus, Wurmschlampe!“, verlangte er. Er war also definitiv einer von den Perversen. Zum Glück war er zwar nicht hübsch, aber auch nicht übermäßig alt, dreckig oder hässlich. Dann hätte sie ihm wahrscheinlich ins Gesicht gekotzt, statt ihm das ersehnte Ende ihrer halb ausgebildeten Knochenzunge entgegenzustrecken. Aber das machte es auch nicht wirklich besser. „Du weißt um die Risiken?“, röchelte sie heiser, während er hektisch und mechanisch in sie eindrang und wieder hinausglitt. Dieses erbärmliche Abziehbild eines Geschlechtsakts funktionierte nur dank einer Menge Gleitcreme.

Sie konnte noch Lust verspüren. Nicht bei ihm oder den meisten anderen Freiern, aber gelegentlich bei besseren Liebhabern. Aber wie bei allen halb verwandelten Knochenzombies oder „Dorgat Nasra“, wie die offizielle Bezeichnung lautete, war sie unfruchtbar und ihre Scheide im wahrsten Sinne des Wortes knochentrocken. Außerdem würde das Glied dieses Widerlings nach dem Akt voller Knochenstaub sein. Doch dieser Staub war beinah ungefährlich. Nur in einem von zehntausend Fällen führte er zu einer Infektion und das auch nur, wenn man – wie dieser Kerl – kein Kondom benutzte. Anders als die Knochenzunge, die laut neuesten wissenschaftlicher Studien bei Berührung in einem von zehn Fällen zu einer Verwandlung führen konnte. Da bekam „Mit Zunge“ eine ganz neue Bedeutung.

Aber manche Freier – insbesondere Männer, jedoch ganz ganz selten auch Frauen – gingen dieses enorme Risiko dennoch ein, wenn die Erregung ihr Gehirn ausschaltete und sie in triebgesteuerte Hormonbestien verwandelte. „Scheiß auf das Risiko. Tu es!“ stöhnte er, während er erneut zustieß ohne ihr dabei irgendeine Form von Erregung zu verschaffen. Nicht einmal rein körperlich. „Wie du meinst“, sagte sie rau und klang dabei wie ein Rabenvogel, der ein Reibeisen verschluckt hatte.

Gehorsam bewegte sie jene fremdartigen Muskeln, die den halb entwickelten Knochenwurm durch ihren Hals hinauf bis in den Rachenraum schoben und berührte damit die fleischige, feuchte Zunge des Mannes. Der Wurm selbst sandte keine Nervensignale an ihr Gehirn, aber sie spürte den Rückstoß in ihren Muskeln und außerdem hatte sie Erfahrungswerte. Immerhin war sie schon seit fast einem halben Jahr eine „Knochennutte“ oder „Wurmschlampe“ wie man Frauen wie sie so charmant nannte.

Die gefährliche Berührung des Parasiten schien den Typen noch mehr anzutörnen. „Oh ja, du geiles Monster, du Wurmschlampe. Ich besorg’s deiner knochigen Möse!“

Wie so oft in diesen Momenten wünschte sie sich von ganzem Herzen, dass der Kerl, der sich auf ihr abmühte, sich ansteckte. Sie hasste Männer nicht generell – dafür hatte sie auch schon zu viele aufrechte Exemplare dieser Gattung getroffen – aber sie hasste es, was viele von ihnen aus sich machten. Wie sie sich auch ganz ohne Einfluss des Knochenwalds zu Monstern machten. Zum Glück konnte der Kerl seinen angedrohten „Besorgungen“ nicht mehr besonders lange nachgehen. Kurz nach seiner vollmundigen Ankündigung vermischte sich sein weißer Saft bereits mit ihrem weißen Staub und er zog seinen Schwanz aus ihr heraus. Wie froh sie war, dass sie weder schwanger werden noch sich mit einer weiteren Krankheit anstecken konnte. Trotzdem wäre sie erst wirklich halbwegs zufrieden, wenn der Typ endlich gezahlt und sich am besten für immer verpisst haben würde. Hoffentlich wollte er nicht kuscheln, wie es manche taten, die sich nach dem Akt für einen ach so zärtlichen Kerl halten und ihr Restgewissen in Oxytocin ertränken wollten. Aber danach sah er eigentlich auch nicht aus.

Und mit dieser Vermutung lag sie anscheinend richtig. Kaum war der Typ aus ihr raus, stopfte er seinen halb-steifen Schwanz in seine Unterhose (ohne ihn zu säubern) und zog sich wieder seinen hässlichen, grauen Anzug mit der hellbraunen Hose über.

Sie selbst zog sich fürs Erste noch nicht an (nicht, solange sein Sperma noch in ihr war) und bedeckte stattdessen ihre Blöße mit der Bettdecke. „Das macht dann hundert Euro“, sagte sie und musste wie so oft ihre Tränen unterdrücken. Hundert Euro. Für beschissene hundert Euro schnitt sie ihre Seele in kleine Stücke und warf sie notgeilen Arschlöchern in den Rachen.

Er machte ein Gesicht, als würde er auf etwas Faulem herumkauen, zückte dann aber widerwillig seinen Geldbeutel, holte einen Schein heraus und reichte er ihn mit spitzen Fingern, so als würde ihn ihre Berührung, jetzt wo seine Lust gewichen war, anekeln.

Sie nahm die Bezahlung entgegen, wobei sie absichtlich seine Finger berührte, und betrachtete den Geldschein genauer. „Das sind nur fünfzig!“, stellte sie fest.

Da grinste der Mann ein schmieriges Grinsen und holte einen blau-weißen Ausweis mit seinem Gesicht darauf hervor. „Ich bin Parteimitglied. Wir kriegen auf alles Rabatt.“

Bianca funkelte den Mann böse an. Instinktiv wollte sie nach Hexe rufen oder ihren Bruder zur Hilfe rufen, aber die beiden befanden sich außerhalb ihrer Reichweite. Und in diesem gärenden Scheißhaufen von einem Land konnte sich niemand zu viel offenen Widerstand gegen Parteimitglieder erlauben. Erst recht keine Frau. Also biss sie die Zähne zusammen, nahm das Geld und beließ es bei einem finsteren Blick.

„Na, Na. Glotz’ mal nicht so unfreundlich. Als Wurmschlampe kannst du froh sein, dass du überhaupt Geld kriegst. Ich würde dir ja am liebsten gar nichts geben, aber der Laden hier zahlt viel Geld an die Partei und da will ich doch nicht die Profite schmälern.“

Er lachte dreckig, nahm seinen Koffer vom Bettende und verschwand endlich durch die Tür. Bianca betete zu ihrem Bruder – dem einzigen Jenseitswesen, das sie je mit eigenen Augen gesehen hatte und von dessen Güte sie überzeugt war – dass dieser Mann sich schon bald selbst sabbernd einpissen und das volle Knochenzombie-Programm durchleben würde, bevor ihn irgendein Soldat oder Polizist abknallen würde.

Dann ging sie in die Dusche und wusch alles an Sperma, Ekel und Schande von sich, was sie mit gewöhnlichem Wasser wegwaschen konnte.

~o~

Als sie fertig geduscht hatte, legte sie sich auf das schmutzige Bett (das noch immer leicht nach Ejakulat roch) und hüllte sich als kümmerlichen Ersatz für echte Geborgenheit in die kalte, rutschige Satin-Bettwäsche ein. Die Decke sah genauso aus wie alles hier: Schwarz, mit aufgedruckten Schädeln und Knochen. Das gleiche Muster fand sich an der Decke, auf den Tapeten, auf ihrem Kleid (welches sie tragen musste, um sich vor jedem als Knochennutte zu kennzeichnen) und auf dem Fußboden. Sogar die beiden Nachttischlampen waren zwei Brustkörben nachempfunden, in denen eine Knochenhand eine schädelförmige Glühbirne festhielt, die ein kaltes, weißes Licht auf diesen trostlosen Ort warf.

Bianca hasste diesen Raum. Er erinnerte sie an diese grauenhaften, monochromen Häuser, die sich wie eine Pestilenz über das Land ausgebreitet hatten und es immer noch taten. Seit sie gemeinsam das Tor zum Knochenwald geschlossen hatten, hatte sich die Ausbreitung dieser begehbaren Pestbeulen zwar radikal verlangsamt, hatte aber dennoch nicht gänzlich aufgehört. Überhaupt hatten sie mit ihrem aufopferungsvollen Kampf gegen das Böse nicht nur keine Anerkennung erlangt, sondern auch einen Scheiß bewirkt.

Zwar drangen keine neuen Schrecken mehr aus diesem verfluchten Wald hervor, aber die Welt war auch so schon abgefuckt genug. Knochenzombies. Schneidmaden. Monochrome Häuser. Eine unmenschliche, halb wahnsinnige Regierung, die vor allem Frauen, Ausländer und Oppositionelle unterdrückte. Von Schneidmadenfleisch entmenschlichten Truppen, mit denen sie endlose Kriege gegen die Nachbarländer führten, die inzwischen die gleichen inhumanen Rekrutierungspraktiken an ihrer eigenen Bevölkerung durchführten, nur um den Ansturm der CfD-Brigarden zu überleben. Und als Krönung eine entsolidarisierte Bevölkerung, die größtenteils von MannaRed abhängig war, mehr denn je dem Profit nachjagte und sich dabei – ob unwissend oder nicht – von der wachsenden Zahl an Verlieren, Abgehängten und Obdachlosen ernährte, die für sie in den MannaRed-Fabriken blutete.

Im Grunde genommen konnte sie – so krank dieser Gedanke auch war – fast froh sein, dass ihr besonderer Zustand ihr ein Leben als Knochennutte ermöglichte. Eine andere Einnahmequelle hätte sie ohnehin nicht finden können. Die Firma, bei der sie früher beschäftigt gewesen war, gab es inzwischen nicht mehr. Ihr Chef saß als Oppositioneller im Gefängnis (etwas, was sie von dem alten Griesgram niemals erwartet hätte, was sie aber auf eine seltsame Art stolz machte) und man die kleine Baufirma, bei der sie in der Verwaltung gearbeitet hatte, zur Strafe gleich aufgelöst. Der Arbeitsmarkt war inzwischen eine Katastrophe. Alle halbwegs legalen Jobs erforderten ein Parteibuch und eine Gesinnungsprüfung und waren noch dazu für Frauen nicht zugänglich, wenn diese nicht gerade Parteikader der ersten Stunde waren. Wobei diese „braven Bürger“ um ihre achtzig- bis neunzig-Stunden Wochen, die seit der kompletten Deregulierung der Arbeitszeit keine Seltenheit waren, vielleicht auch nicht zu beneiden waren.

Von „normalen“ Frauen erwartete die Regierung jedenfalls, dass sie wieder ihren Platz am Herd einnahmen, wie in der „guten“ alten Zeit. Da die Flucht ins Ausland durch den allgegenwärtigen Geheimdienst und die andauernden Grenzschlachten einem Himmelfahrtskommando gleichkam, gab es für Frauen also nur drei realistische Optionen irgendwie das eigene Überleben zu sichern, die alle gleichermaßen unappetitlich waren. Entweder, sie wurden das unterdrückte Frauchen von einem unsympathischen Parteibonzen und lieferten sich seinen Launen aus oder aber sie gingen dem ältesten Gewerbe der Welt nach, was angesichts des Überangebots auch nicht in jedem Fall ein Auskommen sicherte. Die dritte Möglichkeit bestand darin, sich das Lebensnotwendige durch Diebstähle und Einbrüche zu sichern. Dann allerdings war man im Haifischbecken zwischen willkürlich und brutal agierenden Polizeikräften und organisierten kriminellen Banden unterwegs und landete ganz schnell im Leichenschauhaus, in den Fabriken, als Madensoldat an der Front oder am Ende doch bei Option eins oder zwei.

Ohnehin war Bianca nicht fürs Leben als Kleinkriminelle geschaffen. Sie wusste, dass diese Banden keine Ansammlung von Robin Hoods waren, sondern nur den Alltag aller anderen noch beschissener machten und auf dieses erbärmliche, moralisch verrottete Niveau wollte sie sich nicht auch noch herablassen.

Kurzum: Hätte sie nicht die Trumpfkarte des Exotischen ausspielen können, würde auch sie sicher längst in einer der vielen Fabriken an einem Glasstrauch hängen.

Bianca war früher nie eine besonders engagierte Feministin gewesen, aber wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen würde, das schwor sie sich, würde sie sich eine hübsche, lange Kette aus abgeschnittenen CfD-Arschlochschwänzen basteln.

Sie dachte an eine andere Nacht als sie einsam in einem Bett gelegen hatte. In dieser Nacht hatte sie unbedingt sterben oder auch zu einem Knochenzombie werden wollen. Vor ersterem hatten Hexe – ihre beste Freundin – und Davox – ein Weiser des Gebeins und Hexes damaliger Freund – sie bewahrt, auch wenn sie das zweite nicht gänzlich hatten verhindern können.

Diese Ereignisse waren gerade einmal etwas mehr als ein Jahr her und doch schienen sie ihr nun so unendlich weit entfernt zu sein. Diesmal würden weder Hexe noch Davox ihr zur Hilfe kommen. Beide waren sie – womöglich unerreichbar – im Knochenwald verschwunden. Davox hatte sich zudem inzwischen endgültig in ein bizarres, fleischloses Monster verwandelt und alles Menschliche hinter sich gelassen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was er oder dieser bleiche, stinkende Professor Wingert alles mit ihrer besten Freundin anstellen konnten. Von all den Gefahren des Waldes selbst einmal ganz zu schweigen.

Um Hexe machte sie sich sogar noch mehr Sorgen als um sich selbst. Jedoch änderte das natürlich nichts daran, dass auch Bianca ziemlich am Arsch war.

Doch Tränen würden ihr nicht weiterhelfen. Sie hatte schon genügend davon geweint und alles, was sie ihr eingebracht hatten, waren hässliche weiße Knochenstaubflecken auf ihrem schwarzen Kleid, die trotz der aufgeprägten Knochenmuster nicht zu übersehen waren.

Vielleicht war es an der Zeit, zu verzweifelten Maßnahmen zu greifen.

Sie seufzte tief, holte ihr Smartphone heraus und warf einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte 3:11 Uhr. Um diese Uhrzeit kam normalerweise kein Freier mehr.

Bianca öffnete ihren Messenger und wählte einen ganz bestimmten Kontakt aus. Immerhin war sie nicht ganz alleine auf dieser Welt. Einen Menschen gab es noch, an den sie sich wenden konnte.

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