Last Christmas

Es war der vierundzwanzigste Dezember. Für gewöhnlich reicht diese Zeitangabe aus, um in vielen Köpfen eine wilde Assoziationskette auszulösen, in der sich mit Sicherheit Dinge wie Tannennadeln, Spekulatius, Glühwein und Schneeflocken wiederfanden.

Ja, genau: Schneeflocken. Diese verspielten Kristallstrukturen waren wahrscheinlich die schönste Form, die Wasser annehmen konnte und auch ich konnte verschneiten Landschaften durchaus etwas abgewinnen. Aber es war im Grunde fast rationaler an den Weihnachtsmann zu glauben, als daran, dass sich dieses Wetterphänomen bereits ein paar Tage nach dem kalendarischen Ende des Herbstes an drei willkürlich gesetzten Feiertagen zeigt, nur weil wir das schön romantisch fänden. Nicht in fucking Mitteleuropa und schon gar nicht in Zeiten der Klimakrise.

Wenn man scharf auf weiße Weihnachten ist, hätte man die Feiertage gleich auf Anfang Februar legen können. Mit Jesu Geburt hatte dieses von den heidnischen Religionen geklaute Datum eh nicht das geringste zu tun.

Jedenfalls war die Devise des Wettergottes heute bestimmt nicht „Schneeflöckchen, Weißröckchen“, sondern viel mehr „Dreckspfützchen, Matschbröckchen“, wie man auch gut an der – Achtung Kalauer – schneeweißen Hose sehen konnte, die ich Superhirn mir extra für meinen Kurz-vor-knapp-Shoppingtrip herausgesucht hatte. Die war nun nämlich ganz und gar nicht mehr weiß und klebte noch dazu vom eisigen Dauerregen inzwischen genauso an meinen Beinen, wie meine Haare an meinem Kopf.

Meine Stimmung war ganz sicher nicht die Beste. Und so schob ich es zumindest zum Teil auf eine Mischung aus diesem „Kein-Schnee-Blues“, dem vorherrschenden Mistwetter und der üblichen Geschenke-Torschlusspanik, dass die Gesichter um mich herum noch weit düsterer waren, als ich mich fühlte. Aber, wie gesagt, nur zum Teil. Denn wer, wie ich, an Heiligabend um halb elf Uhr vormittags in der Fußgängerzone unterwegs war, hatte mit ziemlicher Sicherheit frei und konnte sich trotz all dem Stress auf ein paar hübsche Feiertage freuen. Lachen, fressen, Gesellschaft, genau die Dinge, die einem das Leben eigentlich versüßten. Grund zur Freude bestand also ausreichend. Trotzdem sah hier jeder aus, als käme er frisch von einer Beerdigung. Vielleicht sogar von der eigenen. Und das waren noch die angenehmeren Zeitgenossen. Einige andere wirkten sogar, als würden sie nur auf einen Anlass warten, den nächstbesten, der sie schräg ansah, zu SEINER Beerdigung zu schicken.

Es waren aber nicht allein die missmutigen Gesichter meiner Mitmenschen, die mir an diesem Nachmittag jegliche Festtagsatmosphäre verleideten. Es lag ganz allgemein eine verdrehte, äußerst unangenehme Stimmung in der Luft, die nur wenig mit dem herbstlichen Matschwetter zu tun hatte.
Klebrig, fast drückend und zugleich eigentümlich dünn, als wäre zu wenig Lebensenergie auf zu viel Raum verteilt.

Der Klang der seltenen und fast immer lieblosen oder zornigen Gespräche und der deplatziert wirkenden, irgendwie leiernd erscheinenden Weihnachtsmusik klingelte unangenehm laut in meinen Ohren. Gelegentlich wurde er auch von einem Surren und Brummen begleitet, wobei es sich genauso gut um ein Flüstern hätte handeln können, welches Worte benutzte, die mir schlicht nicht geläufig waren. Zudem fiel es mir heute schwer, die Orientierung nicht zu verlieren, selbst wenn ich in dieser Stadt geboren worden war. Gleichzeitig schien das Tragen meines Kopfes für meine Schultern eine schier übermenschliche Aufgabe zu sein und die Welt bebte bei jedem Schritt, obwohl mir nicht einmal wirklich schwindelig war.

Mehr noch als die Atmosphäre und diese körperlichen Sonderhaftigkeiten, bereitete mir das Verhalten meiner Mitmenschen Sorgen. Waren viele von ihnen schon an normalen Tagen keine Musterbeispiele für Höflichkeit, so benahmen sie sich heute praktisch ausnahmslos so, als wollten sie um jeden Preis von Santas „Gute-Kinder-Liste“ gestrichen werden.

Ein nicht unwesentlicher Teil meiner neuen Hosendekoration rührte daher, dass Autofahrer absichtlich und teilweise freudig lachend durch die großen Pfützen am Straßenrand gebrettert waren, nur um anschließend schadenfroh auf den Schlamassel zu blicken, den sie angerichtet hatten. Und ich rede hier keineswegs nur von größenwahnsinnigen SUV-Fahrern und Testosteron-Bomben in roten Sportwagen. Auch Fahrer von Kleinwagen und sogar Fahrradfahrer schienen das Demütigen ihrer Mitbürger zu einer neuen Weihnachtstradition erheben zu wollen. Einige begnügten sich dabei auch nicht allein mit vergleichsweise harmlosen Schlamm-Bombardements, sondern versuchten sogar Fußgänger zu Tode zu erschrecken, indem sie zielstrebig auf sie zufuhren und erst im letzten Moment abrupt bremsten oder auswichen. Bisher hatte es – soweit ich wusste – noch keine Toten oder Verletzte gegeben, aber da die Polizei sich offenbar nicht sonderlich für dieses gemeingefährliche Verhalten interessierte, war das eigentlich nur eine Frage der Zeit. Der Vollständigkeit halber sollte jedoch auch erwähnt werden, dass sich die Fußgänger auch nicht viel rücksichtsvoller verhielten. Sie stachen in Reifen, zerkratzten parkende Fahrzeuge mit ihren Schlüsseln oder rempelten andere Menschen an, als gäbe es nichts Schöneres, um sich für die Festtage in Stimmung zu bringen.

Kurz gesagt: Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, auch wenn es mir ein Rätsel blieb, was der Grund für all diese Aggression sein könnte. Hatten Terroristen irgendwelche aggressionssteigernden Substanzen ins Trinkwasser gekippt, oder war lediglich bei allen, außer mir, das Internet ausgefallen? Ich kicherte über die Vorstellung von wütenden Leuten, die verzweifelt nach einer Verbindung suchten, aber eigentlich war mir nicht nach Lachen zumute. Auch ich spürte ganz genau, welche Bedrohung hier in der Luft lag. Es war gerade verdammt einfach auszuticken und sich danebenzubenehmen und wenn mein Charakter sich nicht durch eine so liebenswerte Mischung aus Gleichmut, Selbstbeherrschung, einer sanften Prise Zynismus und nun ja, irgendwie auch Altruismus auszeichnen würde, würde ich mich wahrscheinlich nicht anders verhalten als die gereizte Meute um mich herum.

Trotzdem wollte ich nicht hier draußen sein und ich hätte mich mit Sicherheit schon längst wieder in meine Wohnung verkrochen, wo meine bedauernswerte Lebensgefährtin Karin sich gerade noch im Home-Office bis zur letzten Sekunde mit Kunden herumschlug, wenn ich nicht noch ein Geschenk für meinen kleinen Neffen Ben gebraucht hätte. Normalerweise kaufte ich meine Geschenke online ein, aber so kurz vor Weihnachten fiel diese Option aus. Klar, ich hätte das alles schon lange vorher erledigen können, aber was Organisation anging, war ich eine ausgewachsene Vollkatastrophe und an Stress hatte es mir in den letzten Wochen auch nicht gemangelt.

Also stand ich nun im strömenden Regem vor dem Eingang einer Buchhandlung und fühlte mich wie ein Ritter, der zitternd vor einer finsteren Drachenhöhle auf das Erscheinen seines feuerspuckenden Gegners wartete, auch wenn ich ja lediglich vorhatte ein Kinderbuch zu besorgen. Ich kannte die Buchhandlung gut und hatte ihr schon eine Menge schöner Stunden zu verdanken, aber das dichte Gedränge schlechtgelaunter Menschen, die sich im Inneren tummelten, um ihre erbeuteten Bücher nicht minder schlechtgelaunten Kassiererinnen und Kassierern auf den Tisch zu knallen, schreckte mich ab. Allerdings wäre es auch nicht so erschreckend, wie es das enttäuschte Gesicht des kleinen Ben sein würde. Deshalb fasste ich mir ein Herz und schob mich behutsam an ein paar älteren Frauen vorbei, die wie Geier in der Auslage mit reduzierten Büchern stöberten und sich gegenseitig misstrauisch beäugten. Als ich eine von ihnen leicht berührte, fuhr sie wie vom Blitz getroffen herum, atmete mir ihren Mundgeruch ins Gesicht und schrie mit hochrotem Kopf: „Haben sie keine Augen im Kopf?“

Leider doch, dachte ich, als ich in ihre faltige Geiervisage mit dem verkniffenen Mund sah. Kurz stellte ich mir vor, wie schön es sein würde, mit einem scharfen Messer ein rotes Lächeln in dieses verbitterte Gesicht zu schnitzen und erschreckte zugleich darüber, wie sehr mir diese Vorstellung gefiel. „Tschuldigung“, sagte ich laut und schluckte meinen Zorn herunter. „Pah! Für ihre Entschuldigung kann ich mir auch nichts kaufen“, keifte der menschliche Geier zurück, „Ich hoffe, sie haben ein richtig beschissenes Weihnachten. Vielleicht werden sie ja auch auf dem Heimweg vergewaltigt. Wünschen würd‘ ich’s Ihnen!“

Wie bitte, dachte ich, die Alte hatte wohl zu viel Lack gesoffen. Tausend Erwiderungen lagen mir auf der Zunge, jede einzelne davon spitz und mehr als gerechtfertigt, aber ich beherrschte mich. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie ahnte ich, dass das, was auch immer hier vorging, wie eine Krankheit war. Wenn ich mich einmal daran beteiligte und auf der Welle des Zorns ritt, wäre ich höchstwahrscheinlich ebenfalls infiziert. „Sie sollten definitiv an Ihren Manieren arbeiten“, sagte ich stattdessen nur, bemerkte aber, dass die Frau sich bereits wieder den Büchern zugewandt hatte und gerade einer der anderen gierig in der Auslage stochernden Frauen die Hand von irgendeinem Buch über die Geschichte des Zahnrads wegschlug, als hätte diese es gewagt, ihr einen glänzenden Goldklumpen zu entreißen.

Kopfschüttelnd arbeitete ich mich ins Innere der Buchhandlung vor, als ich plötzlich die Stimme eines vielleicht fünfzehnjährigen Jungen hörte, der kurz hinter dem Eingang auf dem Boden lag und von hinein- und hinausströmenden Kunden förmlich niedergetrampelt wurde. „Hilfe!“, rief er flehend, „Bitte, irgendjemand muss mir helfen“, als ein schwerer Stiefel sich beiläufig auf seine Hand senkte und er einen gequälten Schrei von sich gab.

„Was für Monster seid ihr?“, flüsterte ich fassungslos. Entsetzt von dieser Szene und ergriffen von Mitleid kämpfte und schubste ich mich unter einer Flut von Beleidigungen („Dumme Schlampe“, „Hässliches Stück Scheiße!“, „Dich sollte man vom Schritt bis zur Kehle aufschlitzen“) durch die Masse, bis ich letztlich vor dem Jungen zum Stehen kam und ihn näher in Augenschein nehmen konnte. Er war groß und schlaksig, hatte hellbraunes, kurzes Haar und seine rechte Hand sah so geschunden aus, als würde sie sich bald in ihre Bestandteile auflösen. Also ergriff ich seine noch halbwegs unversehrte Linke, schirmte ihn so gut es ging mit meinem Körper ab – was mir einige blaue Flecke einbrachte – und zog ihn mit aller Kraft auf die Beine. „Geht es dir gut?“, fragte ich den jungen Mann, der anscheinend noch aus eigener Kraft stehen konnte. „Nicht wirklich“, sagte er benommen, bis mit einem Mal ein geradezu widerliches Grinsen auf seinem Gesicht erschien, „aber vielleicht ändert sich das, wenn ich mal an ihren Titten lutschen darf. Die sehen zumindest besser aus, als ihr Gesicht.“

Nun war es mit meiner Beherrschung vorbei. „Verpiss dich, du perverser Wichser!“, rief ich und schlug dem undankbaren Halbstarken die Hand weg, mit der er tatsächlich auf meinen Oberkörper zusteuerte. „Dann halt nich‘“, sagte er schulterzuckend, „bist eh alt und grottenhäßlich.“ Mit diesen Worten verschwand er in der Menge.

Was fiel diesem Drecksack eigentlich ein, dachte ich, ich sollte ihm hinterherrennen und ihm die andere Hand auch noch zerquetschen. Allerdings erst, nachdem ich ihm, solange in die Eier getreten hätte, bis er für immer jegliches Interesse an Brüsten verloren haben würde und …

Halt, dachte ich, kurz bevor die rote Wut drohte, mein Denken hinwegzufegen. Ich durfte dem Zorn nicht nachgeben. Ich durfte einfach nicht. Um die kochende Wut in mir in den Griff zu kriegen, rief ich mir statt der grinsenden Fresse dieses Teenie-Schwachmaten das liebenswerte und unschuldige Gesicht von Ben vor Augen. Das half.

Scheiß auf diesen Typen, dachte ich, ein kleiner Junge, der sicher einmal ein viel besserer junger Mann werden würde, wartete auf sein Geschenk und er würde es bekommen. Als ich mich etwas beruhigt hatte, drang ich tiefer in das Chaos des Buchladens vor. Überall herrschte ein rücksichtsloses Gedränge und Geschubse. Bücher wurden aus den Regalen gerissen und manchmal auch ZERrissen, Menschen jeden Alters schrien sich an und beleidigten sich aufs Übelste, während über allem die besinnlichen Klänge von „Leise rieselt der Schnee“ waberten.

Das alles war an Surrealität kaum zu überbieten, aber dennoch spürte ich, dass es erst der Anfang war. Ich musste hier so bald wie möglich raus, bevor es noch richtig hässlich wurde. Glücklicherweise erblickte ich schnell das Regal mit den Kinderbüchern, an dem noch dazu vergleichsweise wenig los war. Kurz bevor ich es erreichte, stolperte ich noch über ein Bein, das mir eine junge Frau im Designeranzug gestellt hatte, schaffte es aber glücklicherweise mich in einen unbeholfenen Ausfallschritt zu retten und erreichte mein Ziel dadurch relativ unbeschadet. Kurz ließ ich meinen Blick über das Angebot schweifen. Ich erblickte eine ganze Reihe von Büchern, die der Kleine schon besaß oder die mir nicht besonders interessant erschienen. Zwei Bücher weckten jedoch meine Aufmerksamkeit. Sie trugen die Titel „Helgas Reise zu den Sternen“ und „Die kleine Kobra Kassandra“ und waren beide sehr schön und liebevoll illustriert.

Nach kurzem Nachdenken – und fünf Ellenbogenschlägen in den Rücken – entschied ich mich für das erste Buch, da Ben gerade in seiner Weltraumphase war. Also nahm ich das letzte Exemplar vom Stapel, in dem noch keine der Seiten herausgerissen oder zerknüllt worden war, als es mir plötzlich mit einem Ruck aus der Hand gerissen wurde.

Ich drehte mich um und sah einen eigentlich gepflegt aussehenden Managertypen vor mir, der vor meinen Augen das erbeutete Buch aufschlug, seine Hose öffnete und mitten hineinurinierte. „Hier, als besonderes Geschenk für unartige Kinder“, sagte er lächelnd, während er mir das tropfende Exemplar entgegenstreckte. Angewidert griff ich mir stattdessen „Die kleine Kobra Kassandra“, ließ den Mann links liegen und machte mich auf den Weg zur Kasse, als ich plötzlich eine junge Frau in einem dunkelbraunen Mantel erblickte, die sich auf einen Bücherstapel gestellt hatte und aus einem Buch vorlas. Ihr Mantel war blutbefleckt, doch schien es nicht ihr eigenes Blut zu sein und auch an ihrer Jeanshose klebten verkrustete, rostrote Flecken. Ihr Blick war wild und ihr wirres, schwarzes Haar umgab ihren Kopf wie ein Vogelnest.

„Hört mich an, ihr Verlorenen, ihr Wühler im Abschaum, ihr Würmer im Untergrund“, donnerte die Frau mit einer entrückten, singsanghaften Stimme. „Hört, was das Buch uns zu sagen hat, was es mir flüstert, was sich an Weisheit in ihm verbirgt.“

Mit einem Mal hörte das Lärmen und Fluchen und Treten und Schubsen auf. Alle – mich eingeschlossen – hielten inne und blickten zu der Frau hinauf. Während die Musik zu „Ihr Kinderlein kommet“ wechselte, begann sie vorzulesen. „Wir Menschen suchen das Glück und meiden den Schmerz, so heißt es und viel Wahres ist daran. Doch niemand wird je wahres Glück erkennen, ohne den Schmerz zu erleben. Ohne den Schmerz werden wir träge, werden wir dumm, werden wir zu kriechendem Gewürm in einem Sumpf aus falscher Geborgenheit. Der Schmerz ist ein Geschenk …“

Noch während sie das sagte, riss sie eine Seite aus dem Buch heraus – das, wie ich nun erkannte ,ein Ratgeber für die Orchideenzucht war, den sie noch dazu falsch herum hielt – und fügte sich mit Papier einen langen Schnitt am Unterarm zu, aus dem sofort rotes Blut quoll. „Er ist ein Geschenk an uns selbst, denn nur durch ihn fühlen wir uns lebendig. Aber er ist auch ein Geschenk an alle anderen. Erst recht heute, am heiligen Abend.“

Mit einem kräftigen Ruck zerrte sie einen kleinen etwa vierzigjährigen Mann mit leichtem Bauchansatz zu sich herauf, der beinah wieder vom Tisch herunterfiel, sich jedoch mit ihrer Hilfe dort halten konnte. „Willst auch du ein Geschenk, mein Freund?“

„Ja“, antwortete der Mann mit zittrig-erregter Stimme.

„So sei es!“, antwortete sie und schlug ihm mit der Faust derart heftig auf den Mund, dass er heruntergefallen wäre, wenn die Frau ihn nicht festgehalten hätte. Er spuckte ein paar Zähne aus und brüllt nuschelnd „Mehr! Noch mehr Geschenke!“, die Frau hielt seinen Arm mit der einen Hand fest und drosch immer und immer wieder mit ihrer Faust auf seinen Unterarm ein, bis es laut knackte. „Noch mehr!“, verlangte er und die Frau nahm jene Seite, mit der sie sich am Arm geschnitten hatte, hielt mit einer Hand die Lider seines linken Auges auseinander und schnitt damit durch den Augapfel. Bislang hatte ich all das gelähmt vor Grauen beobachtet, aber inzwischen war mir klar, dass ich die Polizei rufen musste. So konnte das nicht weitergehen. Doch während ich zum Handy griff und der Mann sich lachend sein zerschnittenes Auge hielt, ergriff die Frau erneut das Wort. „Seht, wie glücklich er ist. Verbreitet alle das Geschenk. Gönnt euch selbst und eurem Nächsten etwas, dass das Leben wirklich bereichert. Schenkt süßen, erfüllenden und aufregenden Schmerz!“

Ich begriff, was das bedeute, entschloss, dass Ladendiebstahl immer noch besser war als der Verlust eines Körperteils und rannte mit dem Buch in der Hand auf den Ausgang zu. Und das keinen Moment zu früh. Kaum, dass sie geendet hatte, endete auch die andächtige Stille und die Menschen begannen wieder damit, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Während dies zuvor jedoch eher beiläufig und halbherzig geschehen war, wurde jetzt mit größter Leidenschaft geschnitten, geschlagen, getreten und gefoltert. Ich sah, wie die Kunden sich selbst und anderen büschelweise die Haare ausrupften, sich Knochen brachen, sich Finger und Zehen abschnitten, sich Ohren abrissen und Augen auskratzten und dabei allesamt freudig aufjauchzten wie ein Haufen achtjähriger bei der Bescherung. Bereits nach wenigen Sekunden erfüllte ein metallischer Blutgeruch den ganzen Laden. Die Frau auf dem Büchertisch hatte ihr Opfer inzwischen grob vom Tisch heruntergeschubst und lachte einfach nur wahnsinnig, während sie sich zwischendurch immer wieder in den Mund griff und versuchte sich selbst die Zähne aus dem Kiefer zu reißen. Dabei bemühte sie sich zugleich, das aktuelle Weihnachtslied aus dem Lautsprecher mitzusingen, was dadurch, dass sie ihre Finger im Mund hatte, gleichermaßen albern wie verstörend klang „‚ast Christmas, I ‚ave you my heart. But the ‚ery nex‘ day, you ‚ave it away …“

Im Chaos dieser grauenhaften Geschehnisse wäre es mir beinah gelungen unbemerkt aus dem Buchladen zu fliehen, selbst wenn das viel Geschiebe und Gequetsche bedeutete und ich teilweise zwischen Beinen hindurchkriechen und über Tische hinwegspringen musste. Gerade als ich den Eingang erreichte, hörte ich jedoch eine Stimme, die mir bekannt vorkam.

„Meine Retterin“, sagte der pickelige Teenie-Junge, der mir vorhin erst ein unfreundliches, aber eindeutiges Angebot gemacht hatte, als er mich breitbeinig und mit ausgestreckten Armen wie ein Torwart beim Elfmeter vor dem Laden empfing, „Es tut mir leid, wie ich sie behandelt habe.“

„Schon OK“, sagte ich und suchte nach einer Lücke im Gedränge, die es mir erlauben würde, an der verrückten Pickelfresse vorbei hinaus ins Freie zu gelangen.

„Es ist ganz und gar nicht OK“, sagte der Junge scheinbar reumütig, während er langsam näherkam, „ich war unhöflich zu Ihnen und das verlangt nach Wiedergutmachung“, sagte er, griff sich mit Daumen und Zeigefinger in die linke Augenhöhle, holte mit einem schmatzenden Geräusch seinen Augapfel heraus, riss ihn am Sehnerv ab und streckte ihn mir entgegen. „Für Sie“, sagte er grinsend, „ein kleines Weihnachtsgeschenk.“

„Nein Danke“, stammelte ich erschrocken, woraufhin der Junge mich traurig ansah, seine Faust um den Augapfel schloss und ihn zu Brei zerquetschte.

Auch wenn es schrecklich war, mitanzusehen, wie dieser Junge sich selbst verstümmelte, nutzte ich die Gelegenheit und stürmte an dem Jungen vorbei hinaus auf die Straße.

„Warten Sie!“, schallte es mir von hinten entgegen, „Ich will ihnen noch ein Geschenk machen!“

Aber nachdem ich einige Zeit gerannt war und mich durch wahre Massen von flanierenden Menschen hindurchgezwängt hatte, stellte ich glücklicherweise fest, dass mir niemand folgte. Weder der verrückte Teenie-Junge, noch die wahnsinnige Pseudo-Priesterin aus dem Buchladen oder ihre verstümmelungsgeile Meute.

Während ich mich kurz umsah, um zu vermeiden, dass einer der zwar wenigstens nicht gemeingefährlichen, aber dennoch ruppigen und mies gelaunten Passanten mich umrempelte, betrachte ich das kleine Kinderbuch in meiner Hand, schon allein um mich zu vergewissern, dass das gerade wirklich passiert war. Erst jetzt bemerkte ich, dass auf dem Umschlag ein kleiner Blutstropfen glitzerte, direkt an der Schnauze der Kobra, was der zuvor noch freundlich aussehenden Schlange ein ganz und gar nicht mehr freundliches Aussehen verlieh. In diesem Zustand konnte ich das Buch unmöglich verschenken, dachte ich, vielleicht würde ich es reinigen können, wenn … plötzlich überkam mich der Drang das Buch fallen zu lassen und auch wenn sich auf dem Boden vor mir genügend matschiges Wasser gesammelt hatte, um das Büchlein zu ruinieren, ließ ich es dennoch fallen, was sich als ein Glücksfall erwies, als aus dem fallenden Buch ein geschuppter und sehr realer Schlangenkopf herausschoss und knapp neben mir in die leere Luft biss. Ich beschäftigte mich nicht lange mit der Frage, wie das überhaupt möglich sein konnte, sondern rannte sofort wieder los, während das Reptil mir zischend und kriechend folgte.

Ich war nicht mit dem Auto, sondern mit dem Bus in die Stadt gefahren und konnte mir nicht sicher sein, auf diese Weise der hartnäckigen Schlange entkommen zu können, aber ich rannte dennoch auf die nächstbeste Haltestelle zu, während die Menschen, die ich dabei traf, nicht im Traum daran dachten mir zu helfen, sondern lediglich über mich lachten oder sogar versuchten, mich zu Fall zu bringen.

Endlich erreichte ich die Haltestelle und sah sogar im selben Moment einen Bus dort einfahren. Gott sei Dank, dachte ich erleichtert, anscheinend hatte ich ausnahmsweise mal Glück. Ich beschleunigte mein Tempo, schoss auf die offene Bustür zu und knallte mit dem Gesicht dagegen, als der böse grinsende Fahrer die Tür schloss, mir den Mittelfinger entgegenstreckte und losfuhr, obwohl eine ältere Dame gerade noch versuchte hatte hinten einzusteigen, die nun mitsamt ihren Einkäufen auf den Boden fiel, während sie laut und unflätig fluchte.

Mein erster Impuls war es gewesen, der Frau aufzuhelfen, aber ich hatte gerade ganz andere Sorgen. Hinter mir hörte ich ein lautes, aggressives Zischen und drehte mich reflexartig um. Ich erblickte die Schlange, die inzwischen sicher auf das zwanzigfache ihrer ursprünglichen Größe angewachsen war und ihren fußballgroßen Kopf, der inzwischen mit acht Augenpaaren ausgestattet war drohend über mich erhob.

Ich hatte kaum Zeit, mich zu fürchten, denn bereits im nächsten Sekundenbruchteil schlug sie ihre dolchartigen Zähne in meinen Oberschenkel und verursachte mir dadurch grauenhafte Schmerzen. „Feines Tier. Richtig so, töte die Schlampe!“, hörte ich die alte Dame rufen, während ich spürte, wie das Gift in meinen Kreislauf strömte. Die Schlange wusste anscheinend, wann ihre Arbeit getan war, betrachtete mich noch einen Moment prüfend und ließ mich dann zurück. Auch wenn mir das kaum möglich schien, merkte ich schon jetzt, wie mein Bein anschwoll und ich mich schwächer zu fühlen begann. Ich würde hier sterben, wenn ich keine Hilfe bekam. Sterben am Biss einer gemalten Kinderbuchschlange. Hektisch kramte ich mein Smartphone aus meiner Hosentasche, um den Notarzt zu rufen, in der Hoffnung, dass wenigstens der noch keinen unerklärlichen Menschenhass entwickelt hatte, als plötzlich ein grauer Damenstiefel mit breitem Absatz auf meine Hand und das von ihr festgehaltene Handy trat, dessen Display sofort Risse bekam. „Du sollst sterben, verdammt!“, rief die Alte, „Keine Hilfe für hässliche Schlampen, die sich zu fein sind einer alten Dame aufzuhelfen. Erst recht nicht an Weihnachten, Hallelujah!“

Wut kochte in mir hoch und verdrängte für einen Moment die einsetzende Wirkung des Gifts. „Halt dein dummes Maul, du alte Schachtel!“, brüllte ich, schubste meinerseits die gebrechliche Frau auf den Boden und verpasste ihr einen Kinnhaken. Sie blieb reglos liegen, wobei sich ihr Brustkorb nach wie vor leicht hob und senkte. Nur bewusstlos, dachte ich erleichtert und unendlich beschämt über mein Verhalten. Die Frau hatte sich unmöglich verhalten, aber das rechtfertigte auch nicht unbedingt, was ich getan hatte. Man schlägt keine alten Frauen bewusstlos. Nichtmal wenn sie solche gemeingefährlichen Giftschleudern waren. Ich hoffte, damit nicht den ersten Schritt auf einem Weg getan zu haben, an dessen Ende auch ich wildfremden Menschen irgendwelche Körperteile abschneiden würde. Doch das würde ich früh genug erfahren. Erstmal hatte ich einen Anruf zu machen. Auch wegen der alten Frau würde ich dem Notruf natürlich Bescheid geben. Immerhin glaubte ich nicht, dass sie sich aus freien Stücken so verhalten hatte.

Ich setzte mich wieder hin und blickte auf mein Bein, welches inzwischen bereits auf die doppelte Größe angeschwollen war. Schwindel vernebelte meinen Blick. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Zum Glück war mein Handy noch funktionsfähig, auch wenn ich wegen all der Risse nicht mehr allzu viel darauf erkennen konnte. „Spiderman-App“, nannten das manche und gerade schien mir die Bezeichnung passend. Immerhin gab es auch giftige Spinnen. Trotz meiner Schwäche und des unleserlichen Displays gelang es mir, die Nummer des Notrufs zu wählen. Es klingelte. Eine helle Frauenstimme meldet sich.

„Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?“

Als diese freundlichen Worte erklangen, hätte ich vor Freude heulen können, wenn ich das nicht schon wegen der kaum aushaltbaren Schmerzen getan hätte.

„… Ich bin an der Bushaltestelle Manfredstraße und wurde von … von einer Schlange gebissen. Bitte kommen sie schnell.“

„Was hat sie denn gebissen, werte Frau? Eine Luftschlange? Eine Kaufhausschlange? Was war es denn genau?“

„Halten Sie das etwa für lustig. Das ist kein Scherz, verdammt!“, rief ich verzweifelt, während mein pochendes Bein sich anfühlte als würde es zerreißen.

„Lustig, lustig, Tralalala. Bald ist Nikolaus Abend da. Bald ist …“

„Verfluchte Scheiße, schicken Sie endlich jemanden vorbei, der mir hilft. Ich krepiere hier!“

„Krepieren. Krippieren. In der Krippe schläft ein Kind. Dort, wo Ochs und Esel sind. Ein Stern, ein Stern, den hab ich gern. Das Ende ist nun nicht mehr fern. Spüren sie das auch? Spüren sie es, Schlangenfrau?“

„Retten sie mich!“, flehte ich.

„Niemand kann Sie retten“, sagte sie plötzlich wieder bierernst und ein wenig traurig, „niemand kann mich retten. Und verflucht nochmal: Niemand kann uns retten. Diesmal nicht. Die Schlange ist da. Sie greift nach uns allen. Mit Händen aus Eis und dann lässt sie uns fallen.“

„Bitte! Kommen Sie! Helfen Sie mir! Sie können mich hier doch nicht einfach verrecken lassen“, rief ich verzweifelt, erntete jedoch nur noch Schweigen. Ich war allein und niemand würde mir helfen. Mein Bein sah inzwischen aus wie eine gigantische, aufgeblähte, verhärtete, entzündete Wurst und roch so übel, dass ich würden musste. Auf meiner Stirn stand Schweiß. Inzwischen fühlte ich mich zu schwach um zu sprechen, um zu kriechen, fast sogar um zu denken. Dieser Heiligabend würde mein letzter sein, dachte ich benebelt und während ich die Augen schloss und mich langsam in einem Strudel aus Schmerzen und Bewusstlosigkeit verlor, spürte ich plötzlich eine kühle Hand an meinem Bein, dann an meiner Stirn und ein sanftes, wohliges Kribbeln begann sich über meinen gesamten Körper auszubreiten. Mein Atem ging wieder leichter und mit jedem Atemzug fühlte ich, wie neue Kraft in mich hineinströmte. Als ich wieder die Augen öffnete, sah ich eine muskulöse, männliche Gestalt mit Flügeln vor mir, die unendlich gütig lächelte und durch deren Arme und Hände, deren Berührung ich mir anscheinend nicht eingebildet hatte, grünlich leuchtende, dünne Linien verliefen, die mit meinem Herzschlag pulsierten, so als würde etwas von meinem Körper in den ihren fließen. Das Gift, begriff ich, das Wesen pumpt das Gift ab. Tatsächlich hatte sich mein Bein schon wieder beinah seine normale Form angenommen.

„Geht es dir wieder besser“, sprach das Wesen mit einer angenehmen Stimme, die wie ein Querschnitt aus meinen Lieblingsschauspielern und Sängern klang. „Ja“, sagte ich und schob eine Frage nach, die zu stellen mir fast lächerlich vorkam, da ich die Antwort eigentlich schon wusste, „Bist du ein Engel?“

Das Wesen, welches – wie ich jetzt erkannte – vor Schmerz das Gesicht verzog, während die letzten grünen Bahnen in seinen Leib hineinströmten, lächelte. „Ja. Mein Name ist Karmuel“, erwiderte es, „und du bist jetzt in Sicherheit. Zumindest fürs Erste.“

Ein Engel. Ein fucking Engel. Und dabei war ich nicht mal sonderlich gläubig. Allerdings hatte ich nach dem seltsamen Verhalten der Menschen und dem absurden Schlangenbiss, eigentlich kaum einen Grund an seinen Worten zu zweifeln. „Danke für deine Hilfe“, sagte ich und fühlte mich dabei schon fast wieder gesund, „aber wenn du tatsächlich ein Engel bist, kannst du mir sicherlich sagen, was all das zu bedeuten hat. Warum verhalten sich die Menschen noch aggressiver, egoistischer und verrückter als sonst? Sie verstümmeln sich selbst, aber auch andere und erfreuen sich an ihrem Leid. Das ist doch nicht normal. Und wo wir schon bei ‚normal‘ sind: Die Schlange, die mich gebissen hat, war aus einem Buch hervorgekrochen!“

„Du würdest dich wundern, wie oft sich Menschen am Leid anderer erfreuen“, sagte Karmuel ernst und zugleich etwas traurig.

„Schon möglich“, erwiderte ich, „aber doch eher in Kriegsgebieten, dunklen Gassen und irgendwelchen dunklen Hinterzimmern und nicht mitten in einer belebten Fußgängerzone.“

Karmuel nickte, „Da hast du wahrscheinlich recht. Das, was wir hier gerade erleben, besitzt eine ganz neue Qualität. Das liegt daran, dass unser alter Feind nun zum letzten Angriff bläst.“

„Sprechen wir hier von Satan?“, fragte ich ihn und war dabei der festen Überzeugung gerade ein ganz neues Level von Unwirklichkeit erreicht zu haben.

„Ja“, sagte Karmuel, „dank eurer Gier, eures Egoismus und all eurer anderen, lästerlichen Sünden ist es ihm gelungen die heilige Ordnung der Welt so weit zu schwächen, dass das Böse die meisten Menschen und Objekte nun direkt übernehmen kann. Selbst die Naturgesetze gelten nur noch bedingt. Wenn wir all das nicht aufhalten, wird sich das Gefüge der Schöpfung schon bald vollständig auflösen und die Menschheit dem Chaos und der ewigen Folter überantworten.“

„Was?!“, fragte ich vollkommen überfordert, „ich dachte immer, Gott sei mächtiger. Das erzählt die Kirche jedenfalls ständig.“

„Gott IST mächtig“, antwortete Karmuel, „aber er ist kein Puppenspieler. Er kann nicht direkt eingreifen, ohne euch euren freien Willen zu nehmen. Es war eure Entscheidung, euer Herz dem Bösen zu öffnen und wenn er es einfach so von euch nehmen würde, wäre er nicht besser als der Teufel.“

„Also lässt er uns lieber hier unten verrecken?“, fragte ich fassungslos und konnte dabei noch immer nicht glauben, dass ich gerade theologische Diskussionen mit einem Engel führte.

„Nein“, widersprach Karmuel, „ansonsten wäre ich wohl kaum hier. Er gab mir den Auftrag, die Auflösung zu stoppen. Jedoch kann ich dies nur gemeinsam mit einem Menschen tun. Alles andere würde gegen die Regeln verstoßen.“

„Und dieser Mensch soll ausgerechnet ich sein?“, fragte ich, „warum? Ich bin weder etwas Besonderes, noch bin ich überhaupt gläubig. Bis eben habe ich Wesen wie dich und deinen Chef für Märchenfiguren gehalten. Für ziemlich schlecht geschriebene noch dazu.“

„Ob du bislang geglaubt hast, ist nicht von Bedeutung. Er glaubt an dich. Du magst keine Heilige sein, aber dennoch ist deine Seele viel reiner, als die der Meisten. Du bist nicht schnell zornig auf andere und du machst dir Gedanken um deine Mitmenschen“, gab Karmuel zurück.

„Meine Seele soll die reinste Seele sein? Auf der ganzen, verfluchten Welt?“, rutschte es mir heraus, „hast du zu viel Weihrauch geschnüffelt?“

Kurz sah ich finstersten Zorn in Karmuels Gesicht aufblitzen, der jedoch innerhalb eines Wimpernschlags wieder einem gütigen Lächeln wich, „sicher nicht die reinste Seele auf der Welt, Nein. Aber du bist die unschuldigste Seele in dieser Stadt und das muss für unsere Zwecke reichen. Denn die Zeit ist knapp und der Ort, an dem wir die Katastrophe verhindern können, liegt ganz in der Nähe.“

„Klar, ausgerechnet in einer deutschen Großstadt inmitten des reichen Westens, der sich eh schon für den Nabel der Welt hält“, kommentierte ich skeptisch.

„Man muss die Sünde dort stoppen, wo sie passiert“, antwortete Karmuel trocken.

„Und was genau müssen wir tun?“, fragte ich.

„Es gibt eine Kirche in der Stadt. Eine sehr alte Kirche“, begann der Engel zu erklären.

„Soweit ich weiß, gibt es sogar mehr als eine. Das weiß ich, obwohl ich seit dem Tod meiner Oma keine davon mehr von Innen gesehen habe“, merkte ich an.

„Diese würdest du auch dann nicht kennen, wenn du eine brave Kirchgängerin wärst“, antwortete Karmuel, „sie ist – unter normalen Umständen – von Sterblichen nicht auffindbar.“

„Warum nicht?“, hakte ich nach.

„Nun, es gab dort einst einen sehr frommen Priester, dessen Namen inzwischen aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen wurde. Wenige haben je mehr für die Sache des Guten und der Kirche getan, als er. Er hat den Armen und Verlorenen die Hand gereicht und viele, die vom Weg abgekommen waren zurück auf den rechten Pfad geführt. Er hat die Menschen inspiriert und ermutigt, wie kaum ein Hirte es je unter seiner Herde vermochte, aber als er begriff, dass selbst seine größten Erfolge im Dienste des Lichts nicht ausreichten, um all das Leid und all die Verderbtheit in dieser Welt auszumerzen, begann er – aus Verzweiflung über seine scheinbare Machtlosigkeit – einer Stimme zu lauschen, die er bislang tapfer ignoriert hatte und die er weiter hätte ignorieren sollen“, erklärte Karmuel.

„Lass mich raten: Die Stimme des Teufels?“, unterbrach ich ihn.

„Ja“, bestätigte das Wesen, „auch wenn er sie natürlich nicht als solche erkannt hatte. Nicht mehr zumindest. Sie tarnte sich als Intuition, als innere Weisheit, ja sogar als Stimme des Gewissens. Und sie zeigte ihm Wege auf, wie er seinen Einfluss ausbauen und mehr Menschen zum Licht führen könnte. Harmlose Wege zunächst. Kleine Schritte hinab auf jener Treppe, die am Ende doch unweigerlich in einem finstereren Abgrund enden würde. Und so geschah es auch. Es war an einem Heiligabend vor vielen vielen Jahren, als er diesen Abgrund erreichte.

Die ganze Kirche war festlich geschmückt und von Kerzen erhellt. Ein leuchtendes, wärmendes Juwel in der schmutzigen Finsternis der nächtlichen Welt. Ein Krippenspiel mit von Meisterhand geschnitzten Figuren. Tannenzweige. Räucherwerk. Lachende Kinder mit strahlenden Augen deren Mütter und Väter selig die Ankunft des Heilands feierten und gemeinsam sangen mit beseelten, fröhlichen Stimmen. Stimmen, die schon bald darauf gemeinsam schrien, während sie sich zuckend und in üblen Krämpfen auf dem Kirchenboden wanden, sich Hilfe suchend und mit geweiteten, blutenden Augen und würgenden Kehlen an den Bänken und am Altar festkrallten und ihren Mageninhalt auf dem geweihten Boden verteilten. Zu spät, wie sich zeigte. Das Gift war im Messwein gewesen, aber nun war es bereits in ihrem Blut. In ihrem Kopf. In ihrem ganzen Körper. Als man ihn abführte und der irdischen Gerichtsbarkeit übergab, hatte der Mann, dessen Namen auch ich nicht nennen werde, nur stets wiederholt, dass er seine Taten im Dienste Gottes vollbracht habe. Die Stimme, die er am Ende für Gottes Stimme gehalten hatte, hätte ihm gesagt, dass die Seelen der geopferten Menschen, alle Welt zur Sache des Herren bekehren und ein neues Zeitalter des Friedens einläuten würde. Die Menschen übergaben den gefallenen Priester den Flammen, während der Teufel leise lachte. Gott jedoch löschte nicht nur seinen Namen und diese traurigen Ereignisse aus den Geschichtsbüchern und Köpfen, sondern trennte auch jenen Ort, an dem Glaube zur Sünde wurde, von der Welt, auf das der Feind allen Lebens nicht auf diesen Triumph würde aufbauen können.“

„Krasse Geschichte“, sagte ich, „aber ehrlich gesagt war das ja nicht der einzige Mist, den Kirchenvertreter im Laufe der Jahrhunderte angestellt haben. Warum wurden die nicht auf die gleiche Weise bestraft?“

„Auch ich werde nicht in alle Ratschlüsse einbezogen“, sagte Karmuel, „aber soweit ich weiß, war dies eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen der große Feind direkt aktiv wurde. Normalerweise beeinflusst er die Geschicke der Welt nur indirekt.“

„Wie denn? Indem er Menschen verhungern lässt, oder indem er zulässt, dass seine Priester Kinder missbrauchen?“, fragte ich sarkastisch. Ehrlich gesagt war es auch zu verlockend, wenn schon nicht den Chef dieser ganzen chaotischen Veranstaltung, dann doch wenigstens ein Mitglied des höheren Managements vor sich zu haben.

Karmuel antwortete jedoch nicht darauf, sondern sah mich nur mit einer Art überheblicher Traurigkeit an, wie ein Vater, dessen Kind ihn enttäuscht hatte.

Als ich begriff, dass ich von ihm keine Antwort erhalten würde und ich mich absurderweise für meine eigentlich berechtigte Frage zu schämen begann, stellte ich stattdessen eine andere, „Kannst du mir denn zeigen, wo sich diese Kirche befindet? Und mir vor allem sagen, was genau wir dort tun müssen?“

„Natürlich“, sagte er nickend, „ich werde dich zu besagter Kirche führen. Dort drin, versteckt unter dem Altar, gibt es ein heiliges Symbol, welches die Macht besitzt, die Schöpfung zu retten, wenn du und ich – Mensch und Engel – es noch vor ein Uhr Nachmittags gleichzeitig berühren“, antwortete der Engel.

„Klingt nicht allzu kompliziert“, sagte ich und blickte auf die Uhr meines zerschmetternden Handys. Es war nun etwa viertel nach Zwölf.

„Es ist aber nicht so einfach, wie du vielleicht meinst. Die Zeit ist knapp und das Böse wird alles daran setzen uns aufzuhalten. Denk nur daran, was dir im Buchladen und auf dem Weg bis zu dieser Bushaltestelle hier alles passiert ist“, wandte Karmuel ein.

„Du hast mich beobachtet?“, fragte ich empört.

„Natürlich. Schon die ganze Zeit. Andernfalls wäre ich nicht so schnell zur Stelle gewesen, als du gebissen wurdest“, antwortete Karmuel.

„Warum hast du nicht früher reagiert?“, wollte ich wissen, „zum Beispiel, als ich im Buchladen beinah dieser irren Meute zum Opfer gefallen wäre?“

„Du bist doch ganz gut allein klargekommen“, erwiderte Karmuel, „wärst du wirklich in Gefahr gewesen, hätte ich eingegriffen. Aber nun genug der Erklärungen. Wir können es uns nicht leisten noch länger abzuwarten. Wir müssen aufbrechen.“

„In Ordnung“, sagte ich zähneknirschend, auch wenn ich es nicht sehr engelhaft von Karmuel fand, nur dann einzugreifen, wenn es ihm gerade passte. Andererseits war das wahrscheinlich auch typisch für seine Zunft. „Aber eine Frage hätte ich noch“, sagte ich.

„Ja?“, antwortete Karmuel mit hörbarer Ungeduld in der Stimme.

„Was würde passieren, wenn wir scheitern? Wie viel Zeit bliebe uns dann noch?“

„Wenn wir scheitern, würde innerhalb weniger Tage alles aus den Fugen geraten“, antwortete Karmuel, „Die Naturgesetze würden sich vollständig auflösen. Die Regeln der Kausalität würden kollabieren und bei Menschen und Tieren würden die letzten moralischen Grenzen fallen. Es ist schwer vorauszusagen, ob alles in einem riesigen Blutbad enden oder sich schon vorher die Strukturen von Raum und Zeit auflösen würden. So oder so wäre dieses Weihnachten des letzte für euch.“

Last Christmas, dachte ich verängstigt und konnte noch immer nicht begreifen was inzwischen aus meinem harmlosen Einkaufsbummel geworden war. „Dann lass uns losgehen!“, sagte ich.

~o~

Da Karmuel mir nicht verraten wollte (oder konnte), wo genau sich die Kirche befand, blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, während er mich erneut in die belebte, weihnachtlich geschmückte Fußgängerzone führte, die inzwischen aber noch weniger einladend aussah als zuvor. Viele der Menschen, die dort ihres Weges gingen, trugen grässliche Wunden an ihren Körpern. Manchen waren sogar Finger, Arme, Nasen oder Ohren abgeschnitten worden (falls sie das nicht selbst getan hatten) und fast alle trugen einen Gesichtsausdruck zur Schau, der stetig zwischen schwachsinniger, perverser Fröhlichkeit und schier dämonischem Zorn changierte. Ab und zu erblickte ich auch die Leichen von Menschen, die der heraufziehenden Apokalypse schon jetzt zum Opfer gefallen waren, manche von ihnen hielten ihre sinnlos gewordenen Weihnachtseinkäufe noch immer fest umklammert in den todesstarren Händen. Am furchteinflößendsten waren jedoch die wenigen Personen, die verhältnismäßig normal wirkten, wenn man davon absah, dass sie zumeist mit Messern, Eisenstangen oder anderen Waffen ausgestattet waren. Ihre Gesichter wirkten weder bösartig noch stumpfsinnig, sondern vielmehr äußerst ausdruckslos, was von einer nicht materiellen und doch fühlbaren Kälte begleitet wurde. Wie lauernden Haie, die sich geschmeidig durch einen wild gewordenen Fischschwarm bewegten, auf der Suche nach der wirklich interessanten Beute.

Und genau die schienen sie in mir gefunden zu haben, denn während die meisten Mitglieder der halb- und vollkommen wahnsinnigen Menge mich nur wie zufällig streiften, anrempelten und mir charmante Dinge wie „Hackfresse“, „Stinkendes Ungeziefer“ und „widerlicher Gesichtsunfall“ entgegen keiften, versuchten sie zielstrebig zu mir zu gelangen. Allen voran eine hellblonde, junge Frau in einem beigefarbenen Wintermantel, in deren schwarz behandschuhten Händen sich ein schlankes Messer verbarg. „Tu doch was!“, brüllte ich in Panik.

„Ich darf nicht ohne Not eingreifen“, gab Karmuel bedauernd zurück, „das wäre gegen die Regeln.“

„Dann scheiß auf deine Regeln!“, rief ich hysterisch.

Karmuel antwortete nicht. Dafür sprang die Frau auf mich zu, zielte mit ihrem Messer auf mein Gesicht und nur durch pures Glück gelang es mir, mich im letzten Moment wegzudrehen, wodurch ich lediglich einen kleinen Kratzer an der Wange abbekam, der dennoch schmerzhaft brannte. Durch den Schwung ihrer ins leere laufenden Bewegung geriet die Frau ins Stolpern, fiel hin und schlitterte in den Matsch.

Ich zögerte nicht lange und rannte los, in der Hoffnung irgendwo eine Stelle zu finden an der die Menge nicht so dicht war. Tatsächlich sah ich – nahe einer Parfümerie – einen kleinen Korridor, auf den ich zielstrebig zusteuerte. Hände versuchten nach mir zugreifen, die ich jedoch beharrlich wegschlug und abwehrte, während ich mich langsam durch den verrückt gewordenen Mob kämpfte.

Ich hätte es fast geschafft. Kurz bevor ich am Ziel war, gelang es jedoch gleich zwei der „Kalten“ den Stoff meiner Jacke zu greifen. Ich versuchte mich loszureißen, erreichte jedoch nur, dass ich meinerseits zu Boden fiel und hart mit dem Gesicht voran auf dem nassen Asphalt aufschlug. Ein scharfer Schmerz zuckte durch meine Nase und ich wusste sofort, dass sie gebrochen war. Gleichzeitig spürte ich wie mehrere Finger nach mir griffen. Irgendwie gelang es mir noch mich umzudrehen, nur um zu sehen, wie irre Gesichter auf mich herabblickten und die „Kalten“ damit begannen mir die Jacke auszuziehen. „Hilf mir, Karmuel!“, bettelte ich verzweifelt, aber der Engel reagierte nicht. Ich sah ihn nicht einmal mehr. Vielleicht hatte ich ihn mir von Anfang an nur eingebildet. Vielleicht, so dachte ich hoffnungsvoll, bildete ich mir auch das hier nur ein.

Die Kälte, die nach meinen nur noch mit einem Shirt bekleideten Oberkörper griff, sprach jedoch eine andere Sprache und als ein Messer sich in meinen linken Oberschenkel bohrte, verschwand diese lächerlichen Hoffnung sofort. Ich schlug und trat um mich, hatte damit aber keinen Erfolg. Eine ältere Dame ohne Zähne, der ein Sabberfaden aus dem Mund heraushing, legte ihre faltigen Hände auf meinen Bauch und riss mein Shirt einfach auseinander und gab meinen Oberkörper endgültig der Kälte preis, während sie glucksend vor sich hin brabbelte. „Weiche Haut, straffe Haut, über zarten Knochen. Junger Körper scheint so stark, ist doch so leicht gebrochen“. Mit diesen Worten grub sie ihre Fingernägel in mein Fleisch und noch während ich aufschrie und den Kopf in hilfloser Agonie hin- und herwarf, sah ich einen jungen Mann mit hübschem, aber ausdruckslosen Gesicht, der mir seine Zähne durch meine Hose hindurch in den Unterschenkel schlug. „Karmuel, verdammt! Ich schaffe das nicht allein. Wo ist deine verfluchte Nächstenliebe?“

Keine Antwort. Stattdessen eine leiernde Weihnachtsmelodie, die von überall herzukommen schien und die mal nach „Jingle Bells“, mal nach „Stille Nacht“ und dann wieder nach „Last Christmas“ oder einem noch ungeschriebenen Weihnachtslied klang. Sie war mal hoch und mal tief, mal mit Gesang und dann wieder instrumental und wenn ich sie gerade nicht hörte, dann spürte, schmeckte, sah oder roch ich sie. Zu diesem unwirklichen Soundtrack trat mir ein bulliger Kerl mit wild umher zuckenden Pupillen so fest auf den Fuß, dass dieser umknickte und sich unnatürlich verdrehte. Ich brüllte, weinte und dann sang ich – ohne es zu wollen – selber jene unbestimmbare Melodie, während Hände, Messer, Schlüssel und Zähne durch meine Bauchdecke stießen und damit begannen, sie aufzureißen. Ich sterbe hier, dachte ich und merkte, wie eine Ohnmacht sich ankündigte, die dann jedoch doch nicht kam. Stattdessen gab es nur kurze Aussetzer.

Ist das mein Dünndarm, dachte ich, als die blonde Frau eine schrumpelige, schleimige Schnur aus meinem Bauch zog und sie triumphal ein Stück in die Höhe hielt. „Wir haben so lange hierauf gewartet“, sagte sie dabei triumphal, „auf etwas, dass unsere Leere füllt. Dass uns Sinn gibt. Dass uns fühlen lässt. Und – HALLELUJAH – nun ist es endlich da!“. Ein bitterer Geschmack nach Eisen und Erbrochenen schoss in meine Kehle ein und ich würge und spuckte ein Gemisch aus Blut und Galle auf meinen noch intakten Oberkörper als mir ein kleiner dunkelhaariger Junge mit einem sadistischen Grinsen seine Bastelschere in den linken Lungenflügel stieß. Welten, Galaxien, Kosmen aus Schmerz rauschten durch meinen gesamten Körper, durch meinen Verstand, durch meine verfluchte Seele. Ich sterbe nicht, dachte ich bei jedem schmerzhaften Atemzug, warum sterbe ich noch nicht? Weil sie mich leiden lassen wollen, begriff ich. Weil sie noch nicht fertig mit mir sind. Weil das hier ihr ganz großer Auftritt ist.

Plötzlich, als ich schon dachte, dass sich mein Geist vollkommen im Schmerzdelirium auflösen würde, glaubte ich Schnee zu riechen und eine wohltuende, betäubende Kühle überschwemmte meinen Körper. Sekundenbruchteile später fegte eine Welle aus blendendem Licht über mich hinweg, die sich ausbreitete und auch all die bösartigen Gestalten um mich herum erfasste. Fast augenblicklich unterbrachen sie ihr sadistisches Treiben und zogen sich von mir zurück, während ich spürte, wie meine vielen Verletzungen zu heilen begannen und sich sogar meine Organe wieder wie von selbst in mich integrierten. Auch diese Heilung wurde diesmal von Schmerzen begleitet, jedoch war er weitaus erträglicher als mein vorheriges Martyrium. Als ich wieder die Kraft hatte, meine Umgebung zu betrachten und aufzustehen, war ich wieder vollkommen allein. Abgesehen von Karmuel, der gütig lächelnd über mir schwebte, hatte jeder einzelne die Fußgängerzone verlassen.

„Du herzloses, geflügeltes Arschloch!“, fuhr ich ihn an, „warum verdammt nochmal hast du erst eingegriffen, nachdem sie mich ausgenommen hatten, wie eine Weihnachtsgans?“

„Es tut mir wirklich leid“, sagte Karmuel bedauernd, „aber wie ich dir bereits erklärt habe, sind das nun mal die Regeln. Ich muss erst sehen, ob du aus eigener Kraft bestehen kannst. Außerdem muss ich meine Kräfte sparen. Ich mag ein Engel sein, aber das bedeutet nicht, dass ich bei jeder Kleinigkeit direkt aktiv werden kann.“

„Kleinigkeit? Also das ist doch echt …“, mir fehlten in diesem Moment schlicht die Worte, um darauf zu reagieren also ließ ich es einfach dabei bewenden. Wahrscheinlich wäre das auch ungefähr so sinnvoll gewesen, wie gegen eine Wand zu reden. „Werden sie wiederkommen?“, fragte ich stattdessen.

„Ich weiß es nicht“, gestand Karmuel, „aber ich denke, dass uns zumindest diese Leute vorerst nicht behelligen werden.“

„Immerhin etwas“, seufzte ich.

„Wir müssen weiter. Wir haben nicht mal mehr eine halbe Stunde“, sagte Karmuel ernst und so setzten wir unseren Weg fort, nachdem ich mein zerrissenes T-Shirt notdürftig zusammengeknotet und meine verdreckte Jacke wieder übergezogen hatte.

Anfangs war ich noch erleichtert darüber, dass keine sichtbare Bedrohung mehr auf den Straßen existierte. Fast so erleichtert wie über die Tatsache, dass mir die Organe nicht mehr aus dem Bauch hingen, aber es dauerte nicht lange, bis mir die Stille Angst zu machen begann.

Nach einigen Minuten, in denen nichts Besonderes passierte und wir nur leergefegte Straßen und Geschäfte ohne jede Spur von Besuchern vorfanden, tauchten vor uns einige Weihnachtsmarktstände auf.

Eigentlich war der Weihnachtsmarkt in der Stadt bereits seit gestern geschlossen, aber manchmal dauerte es eben ein wenig, bis die Buden auch wieder abgebaut wurden. Allein die bloße Existenz der Stände war es also nicht, was mich beunruhigte. Es war vielmehr die Tatsache, dass sie noch immer geöffnet waren.

Nicht nur, dass sie noch immer warmes Licht, leise Weihnachtsmusik sowie den Duft von Reibekuchen, gebrannten Mandeln, Glühwein und kandierten Äpfeln verströmten und ihre Krippenfigürchen, selbstgemachten Seifen, Schnitzereien und dergleichen anpriesen, in jeder der vierzehn Buden, die auf beiden Straßenseiten aufgebaut waren, befand sich auch ein Verkäufer. Sie alle waren sehr unterschiedlich. Mal junge, alternativ angehauchte Frauen mit Piercings, mal freundliche ältere Männer mit schütterem Haar und diesem bestimmten Gesichtsausdruck, der auf langjährige Verkäufererfahrung hindeutete und mal gelangweilte, missmutige Frauen und Männer mittleren Alters, die auch ohne Worte überdeutlich machten, dass sie gerade überall lieber wären, als hier. Doch obwohl diese Menschen auf den ersten Blick sehr verschieden aussahen, hatten sie alle doch etwas gemeinsam. Und damit meine ich nicht mal nur, dass sie alle mit ihren Händen einladende Gesten machten, um mich auf ihre Waren aufmerksam zu machen, was auf gewöhnlichen Weihnachtsmärkten schon eher selten vorkam.

Es waren vielmehr Ihre Bewegungen. Sie wirkten … falsch. Sie wirkten stockend, seltsam ruckartig und als würde etwas mit der Anordnung ihrer Muskeln und Gelenke nicht stimmen. Während ich wortlos zwischen ihnen hindurchlief, gewann ich den Eindruck, dass sie sich alle synchron bewegten, gleichzeitig die Köpfe drehten und mich mit ihren Blicken verfolgten. Als ich das bemerkte, ging ich etwas schneller. Doch erst als ich sah, wie sich auf ihren Zügen ein geteiltes, überbreites Grinsen zeigte, begann ich zu rennen. Fast hätte es nicht gereicht, denn als ihre Köpfe wie abgefeuerte Projektile aus ihren Körpern hervorschossen und sich als die getarnten Fingerkuppen von zwei zupackenden, schwarzgrauen, aus der Erde hervorbrechenden, siebenfingrigen Klauen entpuppten hatte ich gerade erst den letzten Stand passiert. Trotz meiner Panik bemerkte ich aus dem Augenwinkel noch, wie auch die Stände sich anhoben und einen Haufen abgenagter Skelette offenbarten, die unter den Konstrukten aus Holz und Stoff verborgen gewesen waren. Ich schrie, rannte und rechnete jeden Moment mit dem eisenharten Griff riesiger Finger, aber zum Glück schienen die Klauen keine Lust darauf haben, mich zu verfolgten und als ich endlich den Mut fand, mich im Rennen kurz umzudrehen, hatte der Weihnachtsmarkt seine vorherige Form wieder angenommen, so als wäre nichts geschehen.

„Was war das?“, fragte ich Karmuel erschüttert und schwer atmend, während ich langsam wieder in ein normales Tempo wechselte.

„Das Werk Satans“, sagte der Engel, „er liebt es, die heiligen Feste und ihre Symbole zu verhöhnen und gerade jetzt hat er alle Möglichkeiten dazu.“

„Und warum haben diese … Dinger … mich dann nicht verfolgt?“, wunderte ich mich, auch wenn ich verdammt froh darüber war.

„Satan ist ein Spieler“, erklärte Karmuel, „das Glücksspiel gehört zu seinen Lieblingssünden. Er kann sich ihm manchmal nicht entziehen, auch wenn das bedeutet, dass er vielleicht verliert.“

„Kann man nicht irgendwie verhindern, dass dieser Weihnachtsmarkt weitere Menschen tötet?“, fragte ich, während ich die Zahl der Skelette überschlug, die ich unter den Marktständen gesehen hatte. Ein paar dutzend? Oder doch eher an die hundert?

„Ja“, sagte Karmuel streng, „indem wir unsere Mission abschließen. Vorher können wir leider nichts tun. Also sollten wir uns lieber beeilen.“

Auch wenn ich den mitleidlosen Ton des Engels nicht ausstehen konnte, tat ich, was er sagte und behielt trotz meiner Erschöpfung und meiner gerade erst geglückten Flucht zumindest ein rasches Schritttempo bei.

Plötzlich entdeckte ich im Licht eines erleuchteten Schaufensters einen schlanken, grau melierten, jedoch schätzungsweise erst etwa Mitte vierzigjährigen Mann mit einem weiten, schwarzen Ledermantel mit eigenartige okkulten Symbolen. Der Mann war offenbar aus irgendeiner der Seitengassen in diese Straße eingebogen und schien es eilig zu haben, denn er rannte so schnell, dass sein Mantel wie eine Fahne im Wind flatterte und das schneeweiße Hemd darunter offenbarte.

„Komischer Typ“, sagte ich mehr zu mir selbst.

„TÖTE IHN!“, brüllte Karmuel so finster, dass ich zusammenzuckte. Das Gesicht des Engels verzerrte sich zu einer furchteinflößenden Fratze, die mich eher an einen Psychopathen aus einem Thriller, als an einen Diener Gottes denken ließ.

„Warum sollte ich das tun?“, fragte ich, da ich nun wirklich wenig Lust darauf hatte, Wildfremde zu attackieren, die mir nicht mal etwas getan hatten, „Schon mal von eurem fünften Gebot gehört? Das zum Thema ‚töten‘. Das Gebot gehörte für mich noch immer zu den sinnvollsten, wenn man Notwehr einmal ausklammert. ‘Du sollst keine Götter neben mir haben‘ klang für mich immer etwas arrogant, ich meine als ob ein allmächtiges Wesen es wirklich nötig hat den Vergleich zu scheuen, vor allem da es dadurch ja zugibt, dass es andere Götter gibt. Auch das mit Vater und Mutter finde ich schwierig. Etwa wenn die beiden ausgemachte Drecksäcke sind, die ihr Kind missbrauchen. Aber an das Gebot mit dem „nicht töten“ würde ich mich schon ganz gerne halten und …“

„TÖTE IHN!“, beharrte Karmuel während seine Augen vor Wut zu glühen begannen, „ER IST EIN AGENT DES BÖSEN!“

„Selbst wenn ich dir das glauben würde“, sagte ich skeptisch und begann zumindest dem Mann hinterherzurennen, „wie zum Teufel soll ich das dann machen, du Genie? Ich habe nicht mal eine Waffe.“

Plötzlich spürte ich ein Kribbeln in meiner rechten Hand und bemerkte, wie sich kurz darauf eine glänzende, schneeweiße Pistole mit goldenem Griff darin manifestierte. Vor Schreck wäre sie mir im Laufen beinah aus der Hand geglitten.

„Jetzt hast du eine“, sagte Karmuel knapp, „benutze sie!“

„Ich habe noch nie in meinem Leben geschossen“, sagte ich keuchend, während ich verdutzt auf die mysteriöse Waffe blickte, die schwer und überraschend warm in meiner Hand ruhte.

Der Mann schien noch nicht zu bemerken, dass er verfolgt wurde oder es schien ihn nicht zu kümmern.

„Ziele und krümme den Finger um den Abzug. Das genügt“, erklärte Karmuel.

„Warum tötest DU ihn nicht?“, fragte ich da ich mir noch immer nicht vorstellen konnte auf diesen Mann zu schießen. Selbst wenn er Satans Kammerzofe wäre, so war das allein noch immer kein Grund ihn zu töten. Immerhin war er ein Mensch, gottverdammt.

„Das kann ich nicht!“, erwiderte Karmuel genervt, „wie oft soll ich dir noch erklären, dass ich nur im absoluten Notfall eingreifen darf.“

„Ich kann es auch nicht“, widersprach ich, „ich bin keine Mörderin!“

„SCHIESS, DU DUMMER MENSCH!“, brüllte der Engel und strahlte plötzlich ein so intensives, weißgoldenes Licht aus, dass es in meinen Augen schmerzte und meine Haut in Flammen zu stehen schien. Seine Stimme drang in meinen Kopf, grub darin herum, wie ein Polizist, der einen verdächtigen Koffer durchsucht und überflutete meine Seele mit einer so einschüchternden Präsenz, dass ich mich plötzlich hilflos klein und unbedeutend fühlte. Fast wie ein kleines Mädchen, vor dem der gewalttätige, rotgesichtige Vater mit seinem Gürtel steht. Also schoss ich. Ich wurde nicht ganz dazu gezwungen. Ein Rest von Entscheidungsfreiheit, eine kleine Nebenstraße neben dem gewaltigen, offensichtlichen Hauptpfad, den mir die Stimme in meinem Kopf zu nehmen befahl, blieb mir. Doch dieser Pfad war winzig, dunkel, ungesichert und zugewuchert und so fand ich nicht die Kraft, nicht den Mut, ihn zu nehmen.

Der Schuss peitschte über die leere Straße und auch wenn ich es niemals für möglich gehalten hatte, klatschte die Kugel in das Fleisch des fliehenden Mannes, welcher aufschrie und ins Stolpern geriet. Da ich anscheinend nur seinen Oberarm getroffen hatte, tötete sie ihn jedoch nicht. Kurz fürchtete ich, dass der Mann sich nun für diesen Angriff rächen würde, aber er drehte sich nicht um, schoss nicht auf mich und sprach auch keine satanischen Verse um irgendwelche Dämonen zu beschwören, die mich in Stücke rissen. Der Mann hielt sich lediglich den verletzten Arm, rannte aber so gut es ging weiter, auch wenn er deutlich langsamer geworden war.

„So viel zu deinem freien Willen, du Arschloch!“, empörte ich mich, „du hast mich fast zur Mörderin gemacht!“

„Du hast geschossen. Nicht ich“, sagte Karmuel, der nun wieder aussah, wie die Güte selbst.

„Weil du in meinen Kopf eingebrochen bist, wie ein tollwütiger Wolf in einen Hühnerstall!“, schrie ich, „genau das ist es, was Götter und religiöse Heilsbringer fast immer tun. Sie erzählen uns vom freien Willen, erklären es aber zur unverzeihlichen Sünde und versprechen uns tausend Qualen für alle Ewigkeit, wenn wir die Frechheit besitzen, eine Entscheidung zu treffen, die ihnen nicht gefällt. Was zum Geier stimmt mit euch nicht?“

„Es geht um das Schicksal der Menschheit, du störrische Frau!“, donnerte Karmuel, „um das Schicksal der ganzen Welt. Das wollte ich dir nur mit Nachdruck bewusst machen und versuche es gerade noch immer. Bring es zu Ende. Diesmal wirst du besser zielen.“

„Fick dich!“, sagte ich zu dem Engel, „was ist mit deinen Regeln? Ich dachte, du dürftest nur in höchster Not eingreifen.“

„Ich habe nicht eingegriffen“, widersprach Karmuel, „ich habe nur mit dir geredet. Und nun, beim Allmächtigen, schieß! Wenn Satans Diener vor uns zur Kirche gelangt, ist alles verloren.“

„Mit mir geredet?“, fragte ich entgeistert und seine erneute Aufforderung ignorierend, „DAS nennst du reden?“

Plötzlich leuchtete über uns ein gewaltiger Blitz auf und ein Donner erklang, der so laut war, dass meine Ohren zu pfeifen begannen. Ich blieb stehen und blickte zum Himmel. Eigentlich hatte der Regen zwischenzeitlich aufgehört, aber nun ballten sich binnen Lidschlägen schwarze Wolken über uns zusammen, sodass es fast so dunkel wurde, als wäre es mitten in der Nacht und nicht etwa früher Nachmittag. Kurz darauf gingen erste feine Regentropfen auf mich nieder. Anders als zuvor schien es sich jedoch nicht um gewöhnlichen Regen zu handeln. Denn als ich mir einen der klebrigen Tropfen aus dem Gesicht wischte, klebte plötzlich Blut an meinen Händen. Eine Sekunde später fiel das Zeug in dichten Strömen vom Himmel. „Blutregen! Ernsthaft?“, sagte ich zugleich erschrocken und erfüllt von einem Gefühl tiefster Derealisation.

„Lauf weiter“, verlangte Karmuel, „er entkommt dir. Der Regen ist nur eine Ablenkung des Teufels, um seinen Diener zu schützen.“

„War es nicht dein Chef gewesen, der Wasser in Blut verwandelt hat?“, fragte ich provokant, während ich mir die metallisch riechende Substanz, immer wieder aus den Augen und dem Gesicht wischte, „das war doch eine von diesen zehn Plagen, wenn ich mich recht erinnerte. Neben Kindermord und Seuchen.“

„Lauf!“, wiederholte Karmuel und etwas war plötzlich anders an seiner Stimme. Sie klang nicht mehr autoritär, sondern warnend, ja sogar fast ängstlich.

Als ich auf den Boden blickte, wusste ich auch warum. Überall um uns herum hatten sich blubbernde Pfützen aus Blut gebildet, aus denen kleine, vierbeinige Kreaturen emporstiegen. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, worum es sich dabei handelte: Föten. Winzige, bizarr verkrümmte Föten mit nachtschwarzen Augen und kleinen, scharfen Zähnen, die mit unglaublicher Geschwindigkeit auf uns zuzukrabbeln begannen.

Nun lief ich tatsächlich. Vorher jedoch schoss ich. Allerdings nicht erneut auf den schwarz gekleideten Mann, sondern auf die monströsen Ungeborenen. Die Projektile der himmlischen Waffe rissen klaffende Löcher in ihre kleinen Körper. Zischender, dunkler Rauch stieg auf, während sie gequält aufschrien und vom Druck der Projektile zurückgeworfen wurden. Doch selbst wenn die mysteriöse Waffe über unendliche Munition zu verfügen schien, würde ich nicht alle von ihnen auf diese Weise aufhalten können. Also konzentrierte mich auf diejenigen, die drohten, mir zu nahe zu kommen und bemühte mich ansonsten vor allem, so schnell zu laufen wie es mir möglich war und den überall wachsenden Pfützen auszuweichen.

Manchmal schaffte ich es auch nur, den Monstrositäten zu entgehen, indem ich mich auf eine Parkbank oder auf ein parkendes Auto rettete, von dort aus großzügig Kugeln aus Licht auf die hinaufkletternden Abscheulichkeiten verteilte und dampfende Leichen hinterließ, bevor ich hinuntersprang und weiterrannte.

„Erledige lieber den Agenten des Feindes“, tadelte mich Karmuel, „um seine geringeren Diener kannst du dich dann immer noch kümmern.“

„Dieser ‚Agent‘ versucht aber nicht meine Beine zu fressen. Sorry, wenn ich ihn da nicht als mein Hauptproblem betrachtet“, antwortete ich dem ungefährdet über mir schwebenden und vom Blut völlig unbeschmutzten Engel trotzig.

Trotz meiner panischen Flucht fiel mir etwas Seltsames auf. Die Föten schienen es nicht allein auf mich abgesehen zu haben, sondern versuchten auch immer wieder zu dem rennenden Mann zu gelangen und ihre Zähne in sein Fleisch zu graben. Ein Fötus mit einem seltsam verlängerten Kopf schaffte es sogar, sich in seinem Mantel zu verbeißen, jedoch konnte der Mann das dämonisch verzerrte Menschenkind mit einem kurzem, vollkommen schwarzen Schwert in zwei Hälften zerteilen, woraufhin es von ihm abließ.

„Warum greifen diese Monster den Mann an, wenn er doch Satans Diener ist? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn“, sagte ich keuchend zu Karmuel. Lange würde ich dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Schon jetzt war ich vollkommen außer Atem.

„Das Böse schont seine Diener nicht“, erklärter er nach kurzem Zögern, „es kennt keine Gnade. Gegenüber niemandem.“

„Aber es sabotiert damit doch seine eigene Mission. So dumm kann doch keiner sein“, widersprach ich.

„Dumm vielleicht nicht“, erklärte Karmuel, „aber chaotisch. Der große Feind erfreut sich an Chaos, Leid und Zerstörung, ganz egal wen sie treffen.“

Ich war nach wie vor nicht von den Worten des Engels überzeugt, erkannte aber, dass Diskutieren gerade nicht viel brachte. Ich sollte mir meinen Atem lieber sparen.

Ohnehin passierte kurz darauf etwas, was mir die Sprache verschlug. Denn während der Mann in dem schwarzen Mantel im Slalom zwischen zwei Blutpfützen hindurchlief, erbebte die Erde unter ihm und der Asphalt brach auf. Auch wenn sich, was ich es zunächst befürchtet hatte, vorerst keine weitere Abscheulichkeit aus dem entstehenden Spalt erhob, reichte dieses Erdbeben aus, um den Mann zum Stolpern zu bringen, sodass er sich der Länge nach auf den blutbeschmierten Boden legte.

„Das ist deine Chance!“, jauchzte Karmuel triumphierend, „vernichte ihn! Halte den Diener des Bösen auf! Rette die gesamte Schöpfung!“

„Das kann ich nicht!“, beharrte ich, während ich den Mann, der inzwischen von Dämonenföten förmlich eingekreist wurde, fast erreicht hatte.

Erneut bemerkte ich, wie der Engel versuchte, in meinen Geist einzudringen und mich einzuschüchtern. Doch diesmal war ich vorbereitet und so gelang es mir tatsächlich, seinen Willen zurückzudrängen. Ich hatte das Haus heute verlassen, um ein Geschenk für meinen Neffen zu kaufen, nicht um wildfremde Menschen umzubringen.

„Ich sehe, dass du zu schwach bist, um deine heilige Mission zu erfüllen und dich in Gottes Augen hervorzutun“, knurrte Karmuel wütend, „dann lass eben Satans Horden deine Arbeit machen und lauf einfach weiter. Lauf zur Kirche und werde wenigstens dieser Aufgabe gerecht.“

Ein Blick zu dem Agenten zeigte mir, dass Karmuel recht hatte. Auch wenn der Mann nach Kräften versuchte sich aufzurappeln, hatten sich bereits die ersten Föten in seine Beine und Arme verbissen und da immer mehr von ihnen auf ihn zu krochen, wäre sein Tod nur eine Frage von Minuten. Vielleicht auch nur von Sekunden.

Doch als ich mit etwa auf gleicher Höhe mit dem Mann befand, sah ich zum ersten Mal so richtig in sein Gesicht und auch wenn ich nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit hatte, um mir ein Urteil zu bilden, so reichte diese Zeit doch aus, um meinen Zweifel an seiner Bösartigkeit zu nähren. Es war ein ernstes Gesicht, ja. Es war ein Gesicht, welches das Leid gesehen und durch die Hölle gegangen war, doch ohne mit ihr zu paktieren. Es war nicht das Gesicht eines finsteren Fanatikers, oder eines schleimigen, schmeichelnden Teufelsdieners, sondern das Gesicht eines ganz gewöhnlichen Menschen. Eines Menschen, der Hilfe brauchte und einen anderen Menschen stumm um diese Hilfe bat.

Ich konnte sie ihm nicht verwehren. Statt vorbeizulaufen, blieb ich stehen, schoss auf die Föten, die sich in seinen Körper verbissen hatten und trat in meiner Not, in meinem unbedingten Wunsch zu helfen, sogar einige davon mit meinen Füßen weg. „Danke“, sagte der blutende, geschwächte, aber noch lebende Mann, als ich ihn so weit von den Plagegeistern befreit hatte, dass er nicht mehr akut gefährdet war, aufgefressen zu werden. Seine Stimme war rau, aber freundlich. In seinen Augen standen Tränen, „Ich bin Daniel, vom Orden Nihil Deorum. Du hast mein Leben gerettet.“

„Angenehm. Ich heiße Christina und jetzt müssen wir hier weg!“, schrie ich, als ich sah, wie eine weitere Welle bösartiger Föten sich für einen Angriff bereitmachte.

Plötzlich spürte ich einen brennenden Schmerz in der Hand, als die weiße Pistole darin zischend in Flammen aufging. Zwar währte dieses Feuer nur kurz, ließ jedoch dennoch verbrannte, krebsrote, blasige Haut zurück.

„SAKRILEG!“, schrie Karmuel über mir und auch seine Augen standen nun in Flammen. Ja, von seinem ganzen Körper ging eine intensive, schmerzhafte Hitze aus, die fast so heiß glühte, wie sein himmlischer Zorn, „DU HAST DICH MIT SATANS DIENER VERBRÜDERT. DANN SOLLST DU AN SEINEN SCHERGEN ZUGRUNDE GEHEN. DIE HILFE DES HIMMELS SEI DIR FORTAN VERWEHRT! GOTTES GNADE SEI DIR VERWEHRT! SEINE LIEBE SEI DIR VERWEHRT!“

„Du kannst mich mal!“, sagte ich zornig, während ich Daniels Hand in meine verbrannte Hand nahm, ihm auf die Beine half und ihn so gut es ging mit mir zog, „Wenn so Gottes Liebe aussieht, kann ich gerne darauf verzichten!“

Karmuel antwortete mit einem wortlosen lauten Schrei und damit, dass er sein Licht noch heller strahlen ließ, sodass wir die Augen zusammenkneifen mussten, um nicht geblendet zu werden. Hinter uns konnten wir hören, dass die unheiligen Föten schneller liefen, fast so als würde der Himmelsbote sie antreiben.

„Dort hinten, die Kirche!“, sagte Daniel knapp, der sich alle Mühe gab, trotz seiner zahlreichen Verletzungen nicht zurückzufallen, „wir müssen da hinein. Dorthin können sie uns nicht folgen!“

Tatsächlich materialisierte sich mit einem Mal nur wenige Meter von uns entfernt wie aus dem Nichts eine riesige barocke Kirche, mit mehreren protzigen Türmen, Säulen, detailliert dargestellten Heiligenfiguren und einem breiten, hölzernen Eingangstor, auf dem in Gold die griechischen Buchstaben „Alpha“ und „Omega“ angebracht worden waren.

Der Anfang und das Ende dachte ich, während ich hinter uns das schrille Kreischen und die trappelnden, unsicheren, aber dennoch schnellen Schritte der Föten hörte und wieder geisterte ungefragt dieses grauenhafte „Last Christmas“ als Ohrwurm durch meinen Kopf.

Keuchend erreichten wir die Tür, doch als ich versuchte sie zu öffnen, bewegte sie sich kein Stück, „Scheiße!“, fluchte ich verzweifelt, „Ohne Karmuels Hilfe kommen wir hier nicht rein!“

„Niemand braucht die Hilfe eines verdammten Engels“, sagte Daniel düster und schlug mit seinem schwarzen Schwert gegen die Tür, worauf die Türflügel problemlos aufschwangen, als hätte er irgendeinen verborgenen Mechanismus betätigt.

„Ich hätte nie gedacht, einmal mit dem Agenten des Teufels in eine Kirche einzubrechen. Noch dazu an Weihnachten“, kommentierte ich trocken, bevor wir uns in die Sicherheit des Kirchenschiffes flüchteten.

„Ich bin kein Diener des Teufels“, erwiderte Daniel bestimmt, auch wenn sein kleines, schwarzes Kinnbärtchen und seine dunkle, raue Stimme gerade voll in mein Klischeezentrum trafen.

Kaum, da wir die Schwelle überschritten hatten, verstummten die Stimmen der teuflischen Föten genauso wie das Plätschern des Blutregens und eine zugleich entspannende und doch etwas bedrückende Stille hüllte uns ein.

Das Innere der Kirche war nichts Besonderes. Leere Gebetsbänke, Wandbilder und Heiligendarstellungen, Weihwasserbecken und ein schlichter Altar, auf dem ein rotes Samttuch lag. Nichts deutete auf die grauenhaften Opferungen hin, die hier laut Karmuel durchgeführt worden waren.

Daniel wollte direkt zum Altar stürmen, aber ich hielt ihn zurück. „Nicht so schnell“, sagte ich zu ihm, „Wenn du nicht der Diener des Teufels bist, wer bist du dann? Warum wollte dieser Engel – Karmuel – unbedingt, dass ich dich aus dem Weg räume? Das muss doch einen Grund haben. Erklär es mir!“

„Dafür ist keine Zeit“, sagte Daniel entschieden und versuchte sich loszureißen, aber ich hielt ihn unbarmherzig fest, während ich einen kurzen, besorgten Blick zur Tür warf, dort aber nichts und niemand entdecken konnte, „doch, dafür ist Zeit. Wenn von dem, was jetzt passiert das Schicksal der Welt abhängt, habe ich eine Erklärung verdient. Und nicht nur das. Ich hab die gottverdammte Wahrheit verdient!“, rief ich so laut und erregt, dass meine Stimme wie Donner durch das leere Kirchengebäude hallte. „Schon gut, du hast ja recht“, sagte Daniel blickte jedoch nun auch seinerseits erst nervös zur Tür und dann zurück zum Altar, bevor er mir wieder seinen Blick zuwandte, „Ich erzähle dir die Wahrheit, aber die Kurzfassung davon, in Ordnung?“

Ich nickte und er begann mit seiner Erklärung „Gott und der Teufel haben die Welt seit vielen Jahrhunderten unter sich aufgeteilt, wie vor ihnen die römischen, die griechischen, die ägyptischen, die sumerischen und viele andere Götter. Sie haben uns über Generationen hinweg versklavt, belogen und indoktriniert, uns wie ihre Marionetten behandelt und sich von unserer spirituellen Energie ernährt. Sie sind Parasiten, die Verehrung und Gehorsam verlangen, die uns aussaugen, unsere Leben verkürzen und uns anfällig für Krankheiten des Geistes und des Körpers machen. Sie stehlen unserer Gesellschaft, unserer Welt den Lebensmut und geben uns im Tausch gegen absoluten Gehorsam winzige Stücke davon zurück. Ich und meine Brüder und Schwester vom Orden „Nihil Deorum“ wollen ihre Herrschaft über uns brechen. Endgültig. Wir bereiten uns schon sehr lange darauf vor. Doch die Chance dazu ergibt sich nur alle tausend Jahre am heiligsten Fest des gerade auf der Welt vorherrschenden Glaubens. Wenn wir heute noch dieses Siegel zerstören, können wir Menschen endlich selbst über unser Schicksal bestimmen. Andernfalls bedeutet das tausend weitere Jahre Leid, Kriege und Zwietracht und hättest du das Siegel zusammen mit dem Engel berührt wären es mindestens Zehntausend Jahre geworden. Lass mich los, Christina. Dann kann ich das alles hier und jetzt beenden. Wir haben nur noch vier Minuten.“

„Er lügt!“, erklang die überirdische Stimme Karmuels und auch wenn die Kirchentür noch immer verschlossen war, hatte es der Engel irgendwie geschafft, ins Gebäude zu gelangen. Noch immer ehrfurchtgebietend, aber nun wieder mit sanfteren Gesichtszügen, schwebte er mit ausgestreckten Flügeln unterhalb der Kirchendecke und sah wie ein Richter auf uns herab.

„Warum sollte ich dir auch nur ein einziges Wort glauben?“, fragte ich, „falls du es schon vergessen hast: Du wolltest mich Luzifers Krabbelgruppe zum Fraß vorwerfen!“

„Jeder, außer dem Allmächtigen macht Fehler“, sagte Karmuel nun beinah demütig, „selbst wir Engel. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

„Fehler?“, sagte ich hysterisch lachend, „Ein Fehler ist es, Salz statt Zucker in den Kaffee zu schütten oder einen Benziner mit Diesel zu betanken. Was du getan hast, war kein Fehler. Das war reine Bosheit.“

„Wenn du wissen willst, was wahre Bosheit ist, brauchst du deinen neuen Freund nur das Siegel zerstören zu lassen“, sagte Karmuel streng, „nur leider werden wir dann alle darunter leiden. Denk daran, dass Satans Diener in der Lage sind, sich zu verstellen. Sie sind Meister der Täuschung. Doch hinter ihren blumigen Worten verbirgt sich ein Meer von Schlangen. Und die sind nicht aus Papier.“

Kurz dachte ich über seine Worte nach und blickte erneut in Daniels ernstes, etwas trauriges Gesicht. Konnte ich diesem Mann vertrauen? Oder war er wirklich nur ein guter Schauspieler. Schließlich kam ich zu einem Entschluss. „Sorry, Karmuel“, sagte ich, „Taten zählen mehr als Worte und deine Taten sprechen eindeutig gegen dich!“

„Ich habe dir das Leben gerettet“, brachte der Engel fast schon verzweifelt vor.

„Ja“, sagte ich abgeklärt, „damit ich deine Drecksarbeit mache und erst nachdem du genüsslich dabei zugesehen hast, wie man mich quält oder sogar in Stücke reißt.“ Dann ließ ich Daniels Hand los.

„NEIN!“, brüllte Karmuel verzweifelt während mir Daniel dankbar zunickte und auf den Altar zu rannte, „DU NÄRRISCHER, DUMMER MENSCH!“

„Lieber dumm als ein Sklave“, sagte ich selbstbewusst.

Plötzlich jedoch, noch bevor er den Altar erreicht hatte, brach Daniel mit einem Schmerzenslaut zusammen. Sofort rannte ich zu ihm und sah, wie sich ein großer roter Fleck auf seinem weißen Hemd ausbreitete.

„Aber wie …“, fragte ich verwirrt.

„Kausalität“, erklärte Daniel schwach, „die Naturgesetze sind instabil geworden. Sie versuchen alles, um …“,

Er hustete ein Gemisch aus Blut und Spucke hervor, bevor er weitersprach „Bring es zu Ende, … Unter dem Altar …“

Ich zögerte nicht lang, sondern ließ den sterbenden Daniel schweren Herzens zurück und spurtete auf den Altar zu, während sich Karmuel mit einem plötzlich in seiner Hand erscheinenden, leuchtenden Schwert nach unten stürzte. Erst dachte ich, dass er es auf mich abgesehen hätte, doch dann begriff ich den Sinn von Daniels Worten. Karmuel hatte nicht nur gegen seine angeblichen Regeln der Zurückhaltung verstoßen, sondern auch die Naturgesetze missachtet und die Wirkung vor die Ursache gesetzt, um damit Daniel zu stoppen. Doch anders als die himmlischen Verhaltensregeln ließen sich die Gesetze der Natur zwar biegen, aber nicht brechen. Nun, wo er die Wirkung mit dem tödlichen Stich in Daniels Brust in die Welt gesetzt hatte, hatte er keine andere Wahl, als so schnell wie möglich die Ursache dafür zu schaffen.

Dies war meine Chance, dachte ich, meine einzige Chance, bevor er auch mich töten oder wenigstens schwer verletzen würde, ohne mich dafür auch nur berühren zu müssen. Ohne darauf zu achten, was der Engel mit Daniel anstellte, spurtete ich hinter den Altar, kniete mich davor nieder und suchte für einige gedehnte Augenblicke nach dem verdammten Symbol, bevor ich endlich eine kleine an einem Nagel unter dem Altar aufgehängt Holzscheibe fand, die das gleiche Alpha & Omega-Symbol zeigte, welches es am Eingang zu sehen gewesen war. Ich überlegte nicht lange und brach es einfach entzwei.

Ein bestialischer Schrei dröhnte durch die gesamte Kirche, so als würde eine planetengroße Posaune zum Beginn der Apokalypse blasen. Und doch bedeutete es das genau Gegenteil, denn als ich den Mut fand mich zu erheben, sah ich noch, wie Karmuel sich erst so weit ausdehnte, dass sein gewaltiger, doch nun zugleich seltsam durchscheinender Engelskörper fast den gesamten Raum ausfüllte, bevor er zu einer winzigen, kaum golfballgroßen Kugel zusammenschrumpfte, von der jedoch noch immer eine beachtliche Kraft und Anziehung ausging. Der Kern eines Engels, dachte ich, wie ein Stern, der zum weißen Zwerg geworden war. Kurz bevor sich auch diese Kugel in vollkommenes Nichts auflösen sollte, hörte ich noch eine Stimme. Eine herrische, befehlsgewohnte, rachsüchtige Stimme, die von Güte so viel verstand wie ein ausgehungerter Wolf vom Schafe hüten. „Ohne uns seid ihr gar nichts!“, sagte sie und auch wenn ich glaubte, dass die schwindende Seele des Engels dies nicht mehr hören konnte, sagte ich laut: „Doch. Wir sind, was wir sind. Und endlich dürfen wir das auch sein.“

Das galt leider nicht für Daniel, dessen Lebensfunken gänzlich erloschen war, wie ich feststellte als ich seinen vom inzwischen aufgelösten Schwert des Engels durchbohrten Körper begutachtete. Er hatte sich dafür geopfert, dass wir nicht mehr an einen Erlöser glauben mussten, dachte ich bewegt. Gab es ein schöneres Geschenk an die Menschheit?

Traurig und zugleich unglaublich erleichtert stieß ich die Kirchentür auf und genoss die frische Luft, die mir entgegenwehte und die düsteren und nun überflüssig gewordenen, sakralen Geheimnisse dieses Ortes hinwegwehte. Ein flüchtiger Strahl der blassen Wintersonne schien freundlich in mein Gesicht. Die schwarzen Wolken hatten sich verzogen und gewöhnlichen, hellgrauen Wolken Platz gemacht. Der Blutregen hatte aufgehört vom Himmel zu fallen, auch wenn der Boden noch immer von Pfützen voller rotem Lebenssaft übersät war. Doch von den unheiligen Föten gab es keine Spur mehr. Nun, da der Himmel wieder vollkommen normal war, hatte es ironischerweise sogar begonnen etwas zu schneien, auch wenn es eher matschige, schwere Flocken an der Grenze zum Schneeregen waren. Trotzdem brachte es mich zum Lächeln. Vor allem, da die allgegenwärtige Angst verflogen war, wie ein böser Traum und an ihre Stelle eine nie gekannte Klarheit und Bewusstheit getreten war. Keiner der Menschen, die mir auf meinem Weg begegneten, wirkte mehr über die Maßen aggressiv oder wahnsinnig. Natürlich lächelten die wenigsten von ihnen. Das war angesichts der vielen Verstümmelungen und Todesopfer auch nicht zu erwarten gewesen. Ich sah auch in viele verwirrte, beschämte, traurige, traumatisierte und schuldbewusste Gesichter. Nicht an jedem waren die Ereignisse dieses Heiligabends spurlos vorübergegangen. Aber die meisten dieser Wunden würden heilen, denn nun gab es immerhin niemanden mehr, der Gift in sie hinein träufelte und sich von unserem Leid ernährte. Trotzdem, auch wenn all die Toten, Traumatisierten und Verstümmelten vielleicht die letzten Opfer gewesen waren, die die höheren Mächte forderten, tat es mir um jeden Einzelnen von ihnen leid.

Trotzdem versuchte ich vor allem nach vorne zu sehen. Die Menschen würden sich neue, eigene Ziele suchen und auch ich hatte mir bereits ein neues Ziel gewählt, auch wenn es eigentlich dasselbe Ziel war, welches ich bereits gehabt hatte, als ich heute das Haus verlassen hatte: Nämlich einen kleinen Jungen glücklich zu machen. Das war umso wichtiger, da ich nicht wusste, ob es nach diesen verrückten Ereignissen und nach dem endgültigen Tod der Götter und Engel, der Teufel und Dämonen noch mal ein weiteres Weihnachten geben würde. Eigentlich brauchte es dieses Fest nun endgültig nicht mehr. Womöglich war „Last Christmas“ doch ein passender Ohrwurm für diese Zeit, so unglaublich scheiße dieses Lied auch war.

Während ich durch die verschmutzen, aber friedlichen Straßen zu einem ganz bestimmten Buchladen ging, dachte ich über die Zukunft unserer Welt nach. Ihre Probleme würden sicher nicht sofort verschwinden, denn trotz allem, waren sie zum großen Teil auch von uns selbst gemacht. Aber vielleicht würde es uns jetzt, ohne die unsichtbare Last auf unserer Schultern, leichter fallen sie in den Griff zu bekommen. Dennoch waren nicht alle Bedrohungen aus der Welt. Die Kalten, jene als Menschen getarnte Wesen, die sich im Chaos des nahenden Weltuntergang aus dem Schatten gewagt hatten, waren nicht verschwunden, da sie weder Dämonen noch Engel waren, sondern eher so etwas wie eine andere Rasse, ein Nebenstrang des Homo Sapiens. Woher ich all das wusste?

Gute Frage. Wahrscheinlich war die richtige Frage aber eher, warum es mir bislang nicht bewusst gewesen war. Denn plötzlich wurden mir eine ganze Menge Dinge klar, die bislang ungenutzt im tiefsten Kerker meines Unterbewusstseins geschlummert hatten und nur die wenigsten davon waren derart beängstigend. Ich fühlte mich wie ein Drogensüchtiger nach überstandenem Entzug, der erstmals die Welt nicht durch einen Schleier von dämpfenden Chemikalien wahrnahm. Jedenfalls, nun wo ich von der Existenz der „Kalten“ wusste, erkannte ich sie an ihren leeren Blicken, an der geschmeidigen, raubtierhaften Art, mit der sie sich bewegten und an der kalten Klarheit, die sie zwischen all den verwirrten Menschen ausstrahlten, selbst wenn sie sich nun wieder still und unauffällig verhielten und vorerst keine allzu große Bedrohung für uns darstellen sollten. Fürs Erste waren sie wieder schlafende Bestien, die auf eine neue Gelegenheit, einen neuen Sinn warteten. Apropos Sinn – gerade wurde mir bewusst, dass sowohl die Theisten, als auch die Atheisten Unrecht gehabt hatten. Ja, Götter, Dämonen und Engel gab es tatsächlich, oder besser gesagt: Es hatte sie gegeben, auch wenn sie alles andere als anbetungswürdig gewesen waren.

Doch auch, wenn sie jetzt tot waren, glaubte ich nicht mehr, dass unser Tod auch das Ende war. Immerhin wusste ich ja nun, dass das Übernatürliche, eine höhere Existenzebene, durchaus existierte. Doch es würden weder Himmel noch Hölle sein, die uns nach dem Tod begrüßten. Keine Orte mit festgelegten Regeln, Belohnungen und Strafen. Was auch immer nach diesem Leben folgte: Es würde allein uns gehören und in unserer Hand liegen.

Ich hatte eigentlich nicht wirklich damit gerechnet, dass der Buchladen nach all dem entstandenen Chaos noch geöffnet haben würde, aber auch wenn dort drinnen noch immer ein ziemliches Durcheinander herrschte, war der Verkaufsbetrieb nicht eingestellt worden. Wahrscheinlich waren die Mitarbeiter schlicht zu perplex, um zu schließen oder die Betreiber sahen die beinah-Apokalypse nicht als hinreichenden Grund an, auf Profite zu verzichten. Ich hoffte, dass auch diese Form der Selbstausbeutung der Menschen künftig ein menschlicheres Antlitz bekommen würde, aber das würde die Zeit zeigen. Mir des Umstands durchaus bewusst, dabei eine Situation auszunutzen, die ich gerade noch beklagt hatte (was auch eine zutiefst menschliche Eigenschaft war), ging ich auf das Regal mit den Kinderbüchern zu und griff mir ein weiteres Exemplar der Geschichte der kleinen Kobra Kassandra. Ich fasste das Buch durchaus mit spitzen Fingern an, aber diesmal machten die Zeichnungen zum Glück keine Anstalten, lebendig zu werden. Vielleicht fehlte das Blut, um sie zu aktivieren, wahrscheinlicher war aber, dass es einfach wieder ein ganz normales Buch war.

„Es tut mir aufrichtig leid, wie ich mich benommen habe“, sagte eine mir sehr bekannte Stimme, als ich bei einer ziemlich zerstreuten Kassiererin bezahlt hatte und ich die Buchhandlung wieder verließ.

Ich drehte mich um und erkannte den jungen Mann, dem ich vorhin das Leben gerettet und der mich dafür beleidigt und belästigt hatte. Schon damals hatte er sich entschuldigt, doch diesmal schien es mir deutlich aufrichtiger, zumal er nicht versuchte mit einem herausgerissenen Auge Wiedergutmachung zu leisten. Das Gesicht des jungen Mannes war eine zerknirschte Maske der Scham und seine leere Augenhöhle war – wie auch seine verletzte Hand – mit einem notdürftigen Verband aus T-Shirt-Stoff verbunden, wie ich überhaupt auf dem Weg häufiger festgestellt hatte, dass viele gesunde Bürger die überlasteten Ärzte und Sanitäter durch Erste-Hilfe-Maßnahmen an ihren Mitmenschen unterstützten.

„Schon in Ordnung“, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln, auch wenn sein Zustand mein Mitleid weckte, „Du warst nicht du selbst. Außerdem ist doch Weihnachten.“

Ja, es ist Weihnachten, dachte ich, während ich den verdutzten jungen Mann zurückließ, vielleicht das letzte Weihnachten überhaupt. Also sollte ich mich lieber beeilen. Ein kleiner Junge wartete auf seine Bescherung. Und wie es aussah, war ich das einzige Christkind, das noch Dienst hatte.

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