Fortgeschritten: Die Lebensmärkte von Deovan 10

Garwenia blickte sich nervös in dem düsteren Laborkomplex um. Zu Anfang war ihr die blockartige, asymmetrische Geometrie des Raumes noch kreativ und aufregend erschienen. Ein Zeichen von Einfallsreichtum und entfesselter, künstlerischer Freiheit. Nun jedoch wirkte es auf sie wie ein Produkt vollkommenen Wahnsinns.

Eines Wahnsinns, der nicht zuletzt von Yonis und seinen verschiedenen Gesichtern perfekt symbolisiert wurde, der aber ohne Zweifel auch Kollom und Sandra innewohnte. Sandra, die sie zu Anfang tatsächlich noch für vertrauenswürdig gehalten hatte. Wie ironisch eigentlich, dass sie sich nach Jahrzehnten in den Seuchenhöhlen und allem, was sie dort erlebt hatte, der Naivität schuldig gemacht hatte. Andererseits war sie vielleicht auch gerade deswegen anfällig dafür: Hoffnung, kindische, illusorische Hoffnung hatte sie wie eine Schleppleine durch ihre qualvollen Tage getragen und sie suchte insgeheim noch immer nach einem rettenden Anker, an den sie sich festbinden konnte. Ein Mensch – so glaubte sie inzwischen – würde das aber sicher nicht sein. Erst war es Adrian gewesen, der sie benutzt und sie zweimal im Stich gelassen hatte und nun auch noch Sandra.

Was war nur mit dieser Spezies los? Sie war die Grausamkeit und den Egoismus von Gesundern und Andrin gewohnt, aber diese hatten selten einen Hehl aus ihren Absichten gemacht. Menschen dagegen taten offenbar gern auf lieb und unschuldig. Sie präsentierten sich wie weinerliche, verletzte Küken, die unverschuldet in die grausamen Weiten des Multiversums geschleudert worden waren und ergriffen jede helfend ausgestreckte Hand, um sie einem grinsend aus dem Gelenk zu reißen. Ja, sie bauten sich eine Treppe aus Mitleid, aus der sie sich langsam zur Spitze hochbettelten, um von dort auf jene, die ihnen auf ihrem Weg geholfen haben, hinabzuspucken.

Garwenia bemerkte, dass sie vor Wut kaum atmen konnte. Und diese Wut galt immer weniger Yonis und Kollom – die, wie sie vermutete, vor allem Produkte ihrer Prägung oder vielleicht sogar ihrer Biologie waren – als der verräterischen Sandra. Garwenia war nie ein Freund davon gewesen, ganze Gruppen von Personen vorzuverurteilen. Und sie wusste auch, dass Braviania vom Handel und dem interkulturellen Austausch lebte. Dennoch schwor sie sich, die Menschen zu Unbeseelten zu erklären und ihnen bei Androhung von Tod und Folter jedweden Zutritt zum bravianischen Herrschaftsgebiet zu verwehren, sollte sie dort je wieder zu Macht und Einfluss zu gelangen. Ja, zum ersten Mal seit ihrem teils gewählten und teils erzwungenen Exil verspürte sie sogar den Wunsch, wieder die Macht zu übernehmen, um genau dieses Ziel zu verfolgen.

Garwenia krallte ihre Finger in die simulierte Materie, des eigens von Yonis erschaffenen, tischartigen Analyseterminals, um das sie standen und auf dem sie sich tabellarische Daten, mikroskopische Ausschnitte der Proben und schematische Darstellungen von Proteinen und anderen biologischen Bausteinen ansehen konnten.

„Alles in Ordnung?“, fragte Zuh, „ich bemerke eine Form von Erregung, die dich unweigerlich dem großen Durchgang näherbringen wird, wenn du sie nicht bald ablegst.“

Garwenia sah die hagere Frau aus Luth Nomor nachdenklich an, deren blasse Augen sie ihrerseits forschend musterten. Sie wusste wenig über sie oder ihr Volk, da es äußerst selten war, dass jemand aus dieser isolierten Welt in andere Gefilde gelangte. Aber sie wusste genug, um die Ironie in der fast freundschaftlichen Verbundenheit zu erkennen, die sie zu ihr verspürte.

Zuhs Volk verehrte den Tod, verkörperte, ja „lebte“ ihn, wenn so etwas möglich war, während sie selbst ihn ebenfalls lange ersehnt, aber nie erreicht hatte. Fast war es, als wäre sie mit dem Tod selbst befreundet und dieser wiederum sorgte sich um ihr Leben. Sie musste innerlich schmunzeln und verspürte den Wunsch, vor Zuh die gesamte Wahrheit über ihre Gefühls- und Gedankenwelt auszubreiten. Doch sie fühlte sich lediglich bereit, einen Teil davon preiszugeben: Ihre Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von Sandra und ihre Sorge um ihre fast aussichtslose Situation. Ohnehin war das der einzige Teil ihres Gefühlslebens, der für ihre momentane Situation von Relevanz war.

Doch selbst den konnte Garwenia nicht so einfach offenbaren, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie fühlte sich in einer Zwickmühle. Sie konnte nicht offen kommunizieren, ohne, dass Sandra und ihre Leute alles mit anhören würden, aber sie musste den Rest des Teams irgendwie warnen.

„Verdammt, wie soll ich das anstellen?“, dachte sie verzweifelt und frustriert.

Plötzlich hoben die anderen Teammitglieder ihre Köpfe und Garwenia blickte in ziemlich verwunderte Gesichter.

„Was anstellen?“, fragte Lörrond, ohne seinen Mund zu bewegen und mit einmal mal waren da noch mehr Gedanken- und Satzfetzen in ihrem Kopf. Und anscheinend nicht nur in ihrem.

„Wie ist das möglich?“, fragte Regevo, „ist das … Duriva … die verschollene bravianische Kunst der Gedankensynthese?“

„Wäre dem so, würde ich euch nicht hören“, dachte Zuh, „und dennoch kann ich es. Ich denke, es hat mit Uranor zu tun, oder nicht? Eine Fähigkeit, deren Erwerb so nicht beabsichtigt wurde und die niemand von uns bislang entdeckt hatte. Irgendwie musst du sie aktiviert haben.“

„Das vermute ich auch“, dachte Garwenia noch immer verblüfft, „vielleicht wurde sie durch den Stress der Situation, meine Wut und meine Ängste ausgelöst. Dieselben Ängste, die wir alle in dieser unseligen Traumkammer durchlebten.“

„Was jagt dir denn so eine Angst ein?“, wollte Lörrond wissen.

„Sie werden uns töten“, dachte Garwenia, „das ist es, was mir Sorgen bereitet.“

„Es ist faszinierend, deine Gedanken in meinem Kopf zu hören“, befand Lörrond überheblich lächelnd, „aber was du denkst, ist dennoch Schwachsinn!“

Lörrond war einst einer der vielen unabhängigen Minenbesitzer in Rihn gewesen und nach allem, was sie wusste, hatte es ihm vor seiner Zeit als Flüchtling und Gefangener der Rilandi nicht an Einfluss und Reichtum gemangelt. Dass diese Zeit längst und wahrscheinlich unwiederbringlich vorbei war, schien ihm noch nicht so recht einzuleuchten.

„Sie brauchen uns, Garwenia“, dachte er überzeugt, „wir sind wertvoll für sie. Ich zum Beispiel habe ein profundes Wissen über Mineralien, seltene Stoffe und Chemie im allgemeinen und obendrein einen scharfen, analytischen Verstand. Auf den könnten sie gar nicht verzichten, selbst, wenn sie wollten. Und ich bin mir sicher, dass ihr … nun, ihr werdet sicher auch irgendwelche Talente haben. Und die solltet ihr lieber auf unsere Aufgabe richten, statt auf obskure Verschwörungstheorien. Je schneller wir die Sache hinter uns bringen, desto eher werden wir gehen können und für unsere Mühen belohnt werden. Denn meinen gerechten Lohn werde ich für all die Arbeit verlangen, soviel ist sicher.“

„Für einen ehemaligen Minenbesitzer gibst du einen wirklich guten, hörigen Sklaven ab“, meinte Garwenia, die von so viel Arroganz und Selbstüberschätzung regelrecht erschüttert war.

„Spotte, wenn du willst. Aber ich weiß, was ich wert bin. Ich habe mich nicht aufgegeben und mir wenigstens etwas Selbstachtung bewahrt. Und ich fürchte mich nicht vor meinem eigenen Schatten“, erwiderte Lörrond abschätzig, „ich weiß nicht, welche Schwächen und Ängste sich in deinem Kopf verbergen, dass die Rilandi dich so damit erniedrigen konnten, aber mich haben diese Eiferer nicht zerbrochen.“

„Da irrst du dich. Ich glaube, wir alle sind daran zerbrochen“, dachte Zuh, „es ist verschwommen und verdunkelt, aber ich erahne noch immer das Chaos, das in meinem Kopf herrschte. Sie haben hier irgendetwas mit uns angestellt, das uns Klarheit schenkte, aber ich glaube nicht, dass dieses Geschenk von Dauer ist. Das Chaos wird zurückkehren und unseren Geist erneut verdunkeln.“

„Dein Geist ist immer verdunkelt. Das ist nichts Neues“, meinte Regevo, „genauso wenig, wie deine düsteren Prophezeiungen.“

„Hört auf!“, verlangte Garwenia, „dieser Streit bringt uns nichts.“

„Das meine ich auch“, sagte Lörrond, „aber du warst diejenige, die ihn begonnen hat.“

„Das habe ich nicht“, beharrte Garwenia, „ich wollte euch nur die Augen öffnen. Und das will ich immer noch. Ihr habt doch gesehen, wie sie mit Triff umgegangen sind. Sie dulden keinen Widerspruch und keine Zweifel. Dabei hat Triff nur ganz normale, vernünftige Forderungen gestellt. Dennoch musste er gehen.“

„Sie bringen ihn zu Rovenia“, sagte Regevo, „das ist genau das, was er gewollt hatte.“

„Das glaubst du doch selbst nicht“, antwortete Garwenia, „du hast doch mitbekommen, in was für einem Zustand sie gewesen ist. Man kann sie nicht heilen!“

„Sie verfügen über weit entwickelte Technologien“, wandte Regevo ein.

„Oh ja“, meinte Garwenia, „Technologien, um uns zu täuschen. Um uns zu manipulieren und zu überwachen. Technologien, um uns zu benutzten … und zu töten.“

„Was weißt du schon von Technologie, tote Herrscherin?“, fragte Regevo verächtlich.

„Nicht viel“, gestand Garwenia ein, „aber du als Mitglied der Anruni-Kaste um so mehr. Deshalb solltest du eigentlich erkennen können, dass ich recht habe. Außerdem habe ich mehr gesehen als ihr. Ich habe ganz offen mit Nanita gesprochen und mit einem Mitglied des Vorstands dieses Unternehmens. Denn mehr sind diese angeblichen Freiheitskämpfer nicht: Eine Firma, die um jeden Preis nach Profit strebt. Profit, den wir für sie erwirtschaften sollen. Kostenlos und unter Einsatz unseres Lebens und unserer Gesundheit. Darum ging es von Anfang an. Diese Bombe war nie ein feindlicher Angriff gewesen. Sie war nicht als ein fehlgeschlagener Waffentest, den unsere Gastgeber selbst durchgeführt haben. Und es war für sie einfach billiger, Flüchtlinge einzusetzen als die eigenen Leute. Nur deshalb sind wir hier und deshalb wird man uns auch entsorgen, jetzt wo wir nicht mehr gebraucht werden.“

Regevo schwieg, aber dieses Schweigen schien eher nachdenklich als eingeschnappt, was Garwenia als Fortschritt betrachtete, selbst wenn sie das nicht laut dachte. Lörrond hingegen sah sich genötigt nachzuhaken.

„Angenommen du hast recht und wir wurden nur benutzt und manipuliert: Was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?“, fragte der Mann aus Rihn, „sollen wir uns gegen unsere Gastgeber stellen? Unbewaffnet und mit bloßen Händen? Oder sollen wir streiken und unangenehme Fragen stellen, bis sie uns erst recht abknallen?“

„Nein“, dachte Garwenia, „wir machen weiter unsere Arbeit. Wir analysieren diese Daten sorgfältig und wir präsentieren ihnen die falschen Schlüsse.“

„Das werden sie doch bemerken“, wandte Regevo ein.

„Vielleicht“, stimmte Garwenia zu, „aber nicht sofort. Und bis dahin gewinnen wir etwas Zeit.“

„Und was bringt uns das, außer ein wenig später zu sterben?“, fragte Lörrond zweifelnd.

„Wir erhalten Hilfe“, versprach Garwenia, „von Nanita und von dem Vorstandsmitglied, mit dem ich gesprochen habe. Sie ist auch eine Bravianerin. Eine Frau, namens Travenia Sigral. Doch bis sie uns helfen können, wird es etwas dauern. Deshalb müssen wir Zeit gewinnen und für unsere Entführer möglichst lange nützlich bleiben.“

Es bereitete Garwenia große Mühe, jenen Teil ihrer Gedanken für sich zu behalten, der bei den anderen ganz und gar nicht gut ankommen würde. Sie wusste nämlich nicht, ob sie diese Hilfe wirklich bekommen würden. Travenia schien ihr bei diesem Treffen alles andere als überzeugt. Und so enttarnte sie vor den Augen ihrer Mitstreiter eine Lüge, nur um sie gleich darauf mit einer unsicheren Hoffnung zu blenden. Sie verkaufte ihnen eine Möglichkeit als Gewissheit. Ganz ähnlich wie ein gewisser Fortgeschrittener, dem sie einst in Hyronanin begegnet war. Garwenia spürte, wie es sie vor Selbstekel schüttelte, aber äußerlich blieb sie ruhig und auch ihre Gedanken blieben bei ihr.

„Dann lasst uns an die Arbeit gehen“, sagte Zuh, „ehrlich gesagt bin auch ich neugierig, was dieses Chaos verursacht und in der Lage war so viele Leben zu zerstören und zu ruinieren.“

Die Art wie sie das sagte verriet bedauern, aber auch kühles, wissenschaftliches Interesse, das Garwenia erschaudern ließ.

Aber sie und die anderen stimmten der Frau aus Luth Nomor dennoch wortlos zu und ihrer aller Gedanken wanderten wieder auf anderen, ganz eigenen Bahnen.

~o~

Torvilla nahm einen Schluck von ihrem Thought Shot und tippte dann wieder nervös und ratlos in der Luft über ihrem Identifier herum. Über sich hörte sie das leise, beruhigende Plätschern von Wasser und Regen, das zusammen mit Bildern von Wellen über die Wände ihres Zimmers rauschte und ihr für gewöhnlich dabei half einzuschlafen oder zumindest zu entspannen. Gerade trug es aber nicht sonderlich viel zu ihrer Beruhigung bei. Ihre Nerven vibrierten vor Anspannung. Sie stand an einem Scheideweg in mehrfacher Hinsicht. Bislang hatte sie streng nach den wenigen Regeln gespielt, die für die Arbeit in einem deovanischen Konzern galten. Sie hatte nach Kräften intrigiert und an der Machtbasis interner Konkurrenten gesägt, wo sie nur konnte, aber nie hatte sie MKH als Ganzes geschadet oder die Sicherheit des Konzerns gefährdet. Nun aber musste sie vielleicht genau dies tun, um den Konzern und sich selbst zu retten, so absurd das auch schien.

Kollom Nehmer war nicht nur ein gewöhnlicher Konkurrent, nicht nur ein weiteres Hindernis auf ihrem Weg zur Spitze. Er war ein Spieler in einem anderen Spiel. Das hatte sie schon vermutet, seit er praktisch aus dem Nichts ein Vermögen gemacht und sich an die Spitze von MKH gekauft hatte. Entgegen der Propaganda gab es solche Aufstiegsgeschichten in Deovan nur selten. Geld gebar Geld und kaum ein Geber – geschweige denn ein Have-Non – schaffte es an die Spitze. Sie tauchten – wenn sie Glück hatten – kurz auf, ritten panisch, strauchelnd, schwitzend auf einer kleinen Erfolgswelle, nur um dann wieder kraftlos hinabzusinken und rettungslos zu ersaufen. Wenn es doch mal einer an Land schaffte, war fast immer eine Manipulation im Spiel und bei Kollom Nehmer, jenem zwischenzeitlich verschollenen und vor einigen Jahren urplötzlich wieder aufgetauchten Emporkömmling aus den Tiefen des Invisible Land war das mit Sicherheit der Fall gewesen. Sie hatte gut über Kolloms Leben in Deovan recherchiert, hatte aber noch immer keine Ahnung, wer für seinen Aufstieg verantwortlich war und versuchte MKH in seinem Sinne zu lenken. Vielleicht würden ihr die Aufnahmen von Arnin einen Einblick gewähren.

Aber zu welchem Preis? Sie wusste, dass Arnin nicht harmlos war. Er war ein uralter Whe-Ann, der letzte bekannte Vertreter dieser Art, vielleicht im gesamten Multiversum, zumindest jedoch jenseits des verfluchten Planeten Anntrann. Er mochte zurzeit in Kolloms lächerlichem Koffer eingesperrt sein, aber das änderte nicht daran, dass er ein geschickter Tyrann und Manipulator war. Ihn einzusperren, war wahrscheinlich eine der besten Entscheidungen gewesen, die Kollom je getroffen hatte und wenn sie ihn freiließ oder zumindest dabei half, könnte das eine verheerende Katastrophenlawine auslösen.

Doch welche Alternative hatte sie? MKH stand mit dem Rücken zur Wand. Nural hätte längst von der Versammlung zurückkehren sollen und auch wenn sie dafür keine weiteren Anhaltspunkte hatte, konnte das nur bedeuten, dass Navin, ihre Konkurrenten oder sogar andere Akteure etwas gegen sie ausheckten. Womöglich hatte irgendein Verräter etwas zu ihren aktuellen Forschungen durchsickern lassen oder die Konkurrenz wollte die prekäre Lage des Konzerns nutzen, um reinen Tisch zu machen. Selbst eine Racheaktion ihrer enttäuschten, religiösen Kunden hielt sie nicht für ausgeschlossen. Ganz besonders dann nicht, wenn irgendein überlebender Rilandi ihre ehemaligen Geschäftspartner hatte informieren können, dass der CEO vom Machtkomplex der kalten Hand am Untergang Uranors und ihres darauffolgenden Bedeutungsverlusts maßgeblich beteiligt gewesen war.

Torvilla seufzte tief. Doch als sie ihren nächsten Atemzug nahm, spürte sie, wie Klarheit in ihren von Zweifeln geplagten Verstand einsickerte. Was immer für eine Bedrohung am Horizont lauerte: Sie würden ihr nur begegnen können, wenn sie Kollom, Sandra und seine anderen wertlosen Mitbringsel aus Uranor loswerden würden. Im Moment schütze sie noch ihr Erfolg. Nach allem, was sie gehört hatte, war die Forschungsmission, die Kollom hatte durchführen lassen, kein voller Fehlschlag gewesen. Er hatte Proben und Daten mitgebracht und Torvilla konnte nicht einschreiten, solange die Flüchtlinge mit der Analyse beschäftigt waren. Natürlich war das Unsinn: Spätestens an diesem Punkt wären deovanische Spezialisten viel besser für diesen Job geeignet gewesen, aber sie fürchtete, dass der Rest des Rates das eventuell anders sah. Dennoch musste sie Kollom diskreditieren und Nanita war dazu offenbar nicht geeignet.

Einen kurzen Moment lang zögerte sie noch, dann legte sie ihre nervös in der Luft trommelnden Finger auf das Interface ihres Identifiers und übermittelte Arnin eine kurze Nachricht:

„Ich bin einverstanden und akzeptiere Ihre Bedingungen.“

Ohne Verzögerung erhielt sie die Antwort:

Grandios. Sie werden die Aufnahmen genießen. Befreien sie mich, dann erhalten sie sie. Wir hören uns im Nervensystem des Machtkomplexes. Aber nicht vergessen:

„Don’t take your chances on fate

When you’re a slave of its will

Don’t take your time to contemplate

When the machine is near to kill“

Torvilla erkannte die versteckte Drohung in seinen Worten und war nicht so dumm, sie als leeres Gerede abzutun. Ihr war nicht wohl dabei, aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen, jetzt musste sie handeln. Sie stand auf, schaltete das Meeresrauschen ab und verließ ihr Zimmer. Der Moment war gekommen, den Dämon aus der Flasche zu holen.

~o~

„Es ist zum Verzweifeln“, sagte Lörrond seufzend, „ich erkenne einfach kein vernünftiges Muster in diesen Daten. Klar, die Strahlung ist ausnahmslos hoch. Weit höher als sie es laut unseren Terminals gewesen sein sollte, aber das allein sagt doch nichts aus.“

„Es gibt ein Muster“, dachte Garwenia mit erkennbarem Stolz, „seht ihr diese gezackten Strukturen?“

Sie vergrößerte einen Ausschnitt einer Mikroskopaufnahme auf ihrem Teil des virtuellen Tisches, auf dem sich strukturierte, an doppelte Z’s erinnernde Molekülketten durch die bläuliche Flüssigkeit der Anomalie-Probe bewegten.

„Sie finden sich in sowohl in dieser Probe, als auch bei der schwarzen Substanz und wenn ich ihr Strahlungsmuster zugrundelege und es mit den Umgebungsdaten matche, liegt der Schluss nahe, dass es sich auch in Teilen der Raumluft und dem Pilz-Myzel findet.“

„Welches Strahlungsmuster denn?“, fragte Lörrond skeptisch, „das strahlt doch alles wie eine verfluchte Supernova.“

„Bei oberflächlicher Betrachtung sieht es so aus, ja“, sagte Garwenia, womit sie sich einen zornig-beschämten Blick von Lörrond einfing, „aber es gibt Unterschiede. Man muss nur ganz maximal in der Strahlungskarte heranzoomen. Dann sieht man, dass die Radiation nicht gleichmäßig ist. Sie ist wie ein unordentliches Lichternetz. Es gibt Highlights und Voids. Und die Highlights sind diese Zackenketten. Sie sind praktisch für sämtliche Strahlung verantwortlich.“

„Ich kann nicht erkennen, aus welchem Element sie bestehen“, steuerte Zuh nachdenklich bei, „keine Substanz aus irgendeinem bekannten Periodensystem scheint dazu zu passen.“

„Also ein neuer, unbekannter Stoff?“, überlegte Lörrond.

„Oder ein magischer“, vermutete Regevo.

„Fast“, meinte Garwenia grinsend, „ich glaube, es handelt sich hierbei um Plexanit.“

„Das vermutete Geflechtmolekül?!“, fragte Regevo verblüfft.

„Ja“, stimmte Garwenia zu.

„Das Konzept existiert bislang nur in der Theorie“, warf Zuh ein, „niemand hat es je zuvor messen oder beobachten können.“

„Das ist richtig“, stimmte Garwenia zu, „aber alle theoretischen Eigenschaften passen. Die hohen Werte an Plectarität und Radioaktivität, die hohe Stabilität, bei kaum vorhandener Bindungsfähigkeit und ehrlich gesagt: von solch einer Anomalie wie der, aus die diese Proben stammen, habe ich auch noch nie gehört. Plexanit soll doch so etwas wie das Skelett des Geflechts sein, das erst zum Vorschein kommt, und messbar wird, wenn es zerfällt.“

„Das ist unmöglich“, widersprach Regevo erschüttert, „das Geflecht ist ewig, unzerstörbar, heilig.“

„Dem Tod ist nichts heilig“, erwiderte Zuh düster, „Alles unterliegt der Entropie. Und an diesem Ort wird sie befeuert. Wir alle haben vernommen, dass sie ihr hiesiges Geflecht anzapfen. Was, wenn sie es so weit ausgesaugt, so viel Fleisch von seinen Knochen genagt haben, dass diese Knochen zerfallen?“

„Exakt, Zuh“, pflichtete ihr Garwenia bei, „genau das glaube ich auch. Diese Leute hier betreiben anscheinend den aufwendigsten Massenselbstmord der Geschichte. “

„Alles schön und gut“, sagte Lörrond, „aber abgesehen davon, dass diese Welt bald unter uns zusammenstürzen könnte: Was bedeutet das für diese Waffe?“

Garwenia dachte nach. Nur einige Sekunden. Dann erhellte sich ihr Gesicht mit Erkenntnis. „Wenn du einen Minenschacht schnell erweitern willst, was tust du dann, Lörrond?“

Lörrond sah sie verwirrt an, gab dann aber eine gedankliche Antwort. „Nun, es gibt einige Möglichkeiten. Aber da es das billigste ist, würde ich ganz klassisch ein Loch in die Bergwand sprengen.“

„Genau“, meinte Garwenia, „und wenn der Schacht miserabel abgesichert ist?“

„Wird mir die Scheiße über’m Kopf zusammenstürzen“, erwiderte Lörrond.

Garwenia grinste. Und Lörrond verstand.

„In Welten mit einem intakten Geflecht würde es keine anomalen Effekte geben. Keine Strahlung, keine bizarren Parasiten. Nur gewaltige, saubere, kalkulierbare Zerstörung“, folgerte Lörrond, „mit anderen Worten: Die Bombe hat die ganze Zeit über funktioniert, wie sie sollte. Nur nicht hier.“

Er sprach den letzten Teil diese Erkenntnis vor Aufregung laut aus, wenn auch zum Glück nicht sehr laut. Dennoch fing er sich einen warnenden Blick von Zuh ein und Garwenia blickte sich rasch nach ungewollten Zuhörern um. Zum Glück schienen weder Yonis noch Sandra oder Kollom Lörronds Äußerung bemerkt zu haben. Das musste aber natürlich nicht für die technische Ausstattung und die Überwachungstechnologie des Labors gelten.

„Wie kann man so dumm sein!“, zischte Zuh gedanklich.

„Jetzt reg dich ab“, erwiderte Lörrond, „ich glaube ohnehin nicht an deine Panikmache und deine alberne Geheimniskrämerei. Verdammt, versteht ihr nicht, dass wir damit unsere Aufgabe erfüllt haben? Man wird uns dafür belohnen und dann endlich nach Hause gehen lassen. Ganz egal, wofür sie dieses Wissen brauchen, ob sie damit ihre Freiheit verteidigen, stinkreich werden oder eine Diktatur errichten wollen, sie werden – müssen – uns dankbar sein. Und wir müssen ihnen diese Information geben.“

„Wie kann man gleichzeitig so naiv und so nihilistisch sein?“, fragte Garwenia fassungslos, „selbst wenn es dir egal ist, dass eine vollkommen rücksichtslose Nation über Massenvernichtungswaffen verfügt – glaubst du ernsthaft, dass sie uns mit unserem Wissen am Leben lassen? Ich meine, bist du wirklich so dumm?“

„Ich bin nicht dumm, nur weil ich mir nicht die ganze Zeit vor lauter Bedenken in die Hose scheiße“, widersprach Lörrond, „aber wenn ihr euch dann wohler fühlt, werde ich ihnen nur sagen, dass wir die Lösung des Rätsels gefunden haben und dass wir sie ihnen erst übermitteln, wenn sie uns zu einem Schiff gebracht haben.“

„Du sagst ihnen gar nichts, Lörrond“, dachte Zuh, mit einer nüchternen Finsternis in ihrer Gedankenstimme, die den Raum gleich um mehrere Grade abkühlte, „andernfalls beende ich deine Existenz und entweihe deinen Kadaver.“

Lörrond lag ein herausfordernder Spruch auf den Lippen. Aber wie jeder gebürtige Einwohner von Rihn hatte er als Kind die zugänglichen Bereiche der Archive durchstöbert, auf der Suche nach Abenteuern, düsteren Legenden und noch düsteren Wahrheiten. Er hatte Dinge von Luth Nomor gehört. Nicht viel und gewiss nicht alles. Aber genug. Er hatte gehört von den wuchernden Grabbauten, den würmerübersäten Labyrinthen der Ewigtrauernden und von den Hochnatoren. Jenen seltenen, aber real existierenden Mystikern, die mit einem Fingerschnippen über den Tod geboten. Und er hatte Zuhs Augen gesehen. Die gleichmütigen, starrenden Augen, die weit über das Leben hinaussahen. Also schwieg er.

„Sie sind so still“, meldete sich plötzlich die tiefe Stimme von Disruptor Yonis zu Wort. Seine Seitengesichter lächelten sarkastisch, während sein Hauptmund ein dünner, freudloser Strich war.

„Wir sind nur konzentriert“, gab Garwenia betont ruhig zurück, auch wenn ihr Herz vor Nervosität wild hämmerte.

„Konzentriert, ja?“, zischte Yonis, „dann hoffe ich, dass diese Konzentration reiche Früchte trägt. Wir wollen doch alle, dass Ihre Arbeit zeitnah zu Ergebnissen führt. Das läge in unserem und in Ihrem Interesse. Und wo wir schon dabei sind, haben Sie Ergebnisse für mich?“

Die vier sahen sich an, wobei vor allem Zuh ihren Blick starr auf Lörrond gerichtet hielt, der sich nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr.

„Noch nicht“, sagte Regevo bevor der Mann aus Rihn sein Schweigen brechen konnte, „wir sind noch auf der Suche nach einem sinnvollen Muster.“

Yonis Gesichter runzelten die Stirn. Er blickte auf die virtuell projizierten Daten und wischte mit Gesten den aufgezeichneten Verlauf der Anzeige durch.

„Scheint mir, als wären Sie da etwas recht konkreten auf der Spur“, sagte Yonis, „Sie werden doch sicherlich schon eine Hypothese haben, die Sie mir verraten können. Es wäre auch nicht fatal, wenn Sie sich irren. Ich bin es gewohnt, von weniger intelligenten Lebewesen umgeben zu sein. Mit Fehlern kann ich besser umgehen als mit Lügen.“

Yonis grinste dreifach und sah vor allem Garwenia auffordernd an.

„Leider haben wir noch keine Hypothese. Nicht einmal eine Falsche“, erwiderte Garwenia, „dafür brauchen wir noch etwas Zeit.“

„Wie wäre es mit einer halben Stunde?“, fragte Yonis in einem schlampig kaschierten Befehlston und mit bedrohlich verengten Augen, „wenn Sie dann noch immer nichts für mich haben, kann ich ja immer noch überlegen, ob ich meine eigenen … Schlüsse daraus ziehe.“

Er warf ihnen drei vielsagende Blicke zu und für einen Wimpernschlag schien es ihnen allen, als würden feine Risse durch seine Gestalt gehen, so als wäre er kurz davor – wortwörtlich – zu explodieren. Der Disruptor fixierte sie noch einen Moment. Dann nickte er ihnen zu und ging wieder zurück zu Sandra und Kollom.

„Mit diesen ‘Schlüssen’ meinte er keine wissenschaftliche Hypothese, oder?“, fragte Regevo gedanklich.

„Ich denke doch“, entgegnete Garwenia, „natürlich wollte er uns drohen, aber er wird es nicht wagen, uns hier drin zu töten. Ich kann mir natürlich nicht sicher sein, aber ich glaube, Sandra und Kollom ist noch immer daran gelegen, die freundlichen Gastgeber zu mimen, weil sie nicht sicher wissen, dass wir – oder zumindest die meisten von uns – ihr Spiel durchschaut haben. Und selbst wenn ich mich hierbei irre, wird Yonis uns kein Haar krümmen, bevor wir oder er selbst eine Erklärung für die Anomalie gefunden hat.

Aber gerade das bereitet mir Sorgen. Ich glaube nicht, dass er so überlegen ist, wie er behauptet. Andernfalls bräuchte er uns überhaupt nicht. Aber er IST uns überlegen und früher oder später wird er mit unseren Daten zu denselben Schlüssen kommen wie wir. Spätestens dann ist unsere Zeit abgelaufen.“

„Ich sehe das genauso“, stimmte Zuh zu, „doch leider sehe ich nicht, wie wir Yonis die Daten vorenthalten können.“

„Wir könnten die Daten verändern“, überlegte Garwenia.

„Guter Witz“, sagte Lörrond sarkastisch, „hacken wir uns doch einfach in ein System aus einer Welt, die wir nicht einmal kennen. Oder nein, einen Moment, ich suche eben nach dem Menüpunkt für Datenmanipulation.“

„Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit“, meldete sich Regevo zögerlich.

„Ich höre“, sagte Garwenia.

„Nun ich … ich“, Regevo klang verlegen, „ich habe da eine Mutation … ich … die Uhniga-Ältesten meinten, ich hätte in meiner Ahnenreihe womöglich einen ‚Whe-Ann‘, die Dedahten vermuteten eher einen Segen oder eine Strafe der Götter…“

„Spuck’s aus!“, forderte ihn Lörrond auf, „dass du eine Missgeburt bist, wusste ich schon vorher. Aber wenn uns das weiterhelfen kann, will ich gerne wissen, was für eine.“

„Halt dich zurück, Lörrond“, verlangte Garwenia, „wir haben keine Zeit für dein kindisches Benehmen. Regevo, sprich weiter!“

Regevo blickte sich kurz um, dann streckte er den Zeigefinger aus und präsentierte einen langen, silbernen Draht, der direkt aus seiner Fingerkuppe wuchs. Nicht geschmeidig und unkompliziert wie bei einem verbessernden Implantat, sondern offenbar unter Schmerzen und mit einem kleinen Rinnsal an Blut, das rund um die Stichstelle austrat.

„Bei den Archiven, was ist das?“, fragte Lörrond.

„Es ist … eine Art universelles Datenkabel“, erklärte Regevo und senkte den Kopf.

„Ich kann mich damit direkt mit den meisten technischen Geräten verbinden … es verknüpft die Hardware direkt mit meinem Gehirn und macht es mir möglich, sie zu manipulieren und zu regulieren“, sagte Regevo eher verschämt als stolz, „niemand weiß genau, wie es funktioniert, aber es ist ein Auswuchs meines Nervensystems und es ist sehr schmerzhaft.“

„Warum hast du das nicht früher erwähnt?“, fragte Lörrond sauertöpfisch.

Regevo sah den arroganten Man aus Rihn in sein verurteilendes Gesicht und verlor sofort seine Unsicherheit als würde er sich allein schon aus Trotz an seine eigene, hohe Geburtskaste erinnern.

„Weil es ein privater Teil meines Körpers ist, kein Werkzeug, das jedem zur Verfügung steht“, erwiderte Regevo bestimmt.

„Dennoch werden wir es wohl brauchen“, bemerkte Zuh, „letztlich sind wir alle nur Werkzeuge.“

„Da magst du recht haben“, sagte Garwenia, „aber verlangen können wir es dennoch nicht von ihm. Regevo, du erwähntest, dass die Verwendung des Kabels schmerzhaft ist. Würdest du es trotzdem versuchen?“

Regevo sah zum noch immer überheblich wirkenden Lörrond, dann zur neutral blickenden Zuh und zu Garwenia, auf deren freundlichem Gesicht etwas Herrschaftliches lag.

„Ich versuche es“, stimmte er letztlich zu, „ich muss nur einen Zugang finden.“

Verdammt!, dachte Garwenia leise. Jetzt erst fiel ihr ein, dass sie ja nicht an ihren stofflichen Terminals, sondern an einer virtuellen Projektion arbeiteten, die man nicht einfach anzapfen konnte. Zum Glück erwies sich Regevo als ein aufmerksamer Beobachter. Zielsicher fand sein Faden die winzige Projektorscheibe, die am Fuß des virtuellen Tisches direkt in den Boden eingelassen war, während sie sich bemühten, den sich entfaltenden Nervenfaden möglichst unauffällig vor den Blicken der anderen Anwesenden abzuschirmen, von denen vor allem Sandra immer mal wieder einen neugierigen Blick riskierte. Zum Glück war Regevos Mutation dünn und fein genug, um auf die Entfernung nicht unbedingt aufzufallen. Letztlich berührte der Nervenfaden den Projektor, wobei er ein merkliches Flimmern in der Projektion verursachte.

„Es gibt hier eine Lücke, eine Art Steckplatz“, dachte Regevo, „ich werde darüber Verbindung aufnehmen. Welche Änderungen soll ich vornehmen?“

„Nichts zu Auffälliges bei den Bildern“, riet ihm Garwenia, „Yonis hat sie bereits gesehen. Verforme nur die Z-Moleküle etwas. Füge leichte Farbvariationen und Unregelmäßigkeiten hinzu. Die numerischen Daten kannst du stärker bearbeiten. Sorge für möglichst große Abweichungen bei den verschiedenen Proben und erzeuge eine ungefähre Gleichverteilung der Strahlungswerte über die Fläche hinweg.“

„In Ordnung“, antwortete Regevo. Dann stellte er den Kontakt her.

Seine Augen weiteten sich. Seine Hände verkrampften sich und wurden starr, mit Ausnahme des Zeigefingers, der nicht nur stärker blutete, sondern auch unkontrolliert zu zittern begann. Aus seinem Mund drang etwas Speichel, zusammen mit einem leisen Wimmern und Stöhnen.

„Verdammt, er verrät uns noch mit diesem Theater!“, meinte Lörrond.

„Dein Mitleid ist bemerkenswert“, antwortete Garwenia, „wir müssen ihm irgendwie helfen!“

„Er hat selbst gesagt, dass der Prozess mit Schmerzen verbunden ist“, entgegnete Zuh, „er wird wissen, worauf er sich dabei eingelassen hat. Dennoch hat Lörrond – ausnahmsweise – recht. Wenn sich seine körperlichen Reaktionen verschlimmern, wird das den anderen nicht entgehen. Ich werde versuchen, ihn zu beruhigen.“

Zuh nahm ihre dünne, blasse Hand und legte sie auf Regevos Unterarm. Schon wenige Momente später entspannte er sich und wurde still. Schließlich hörte auch das verräterische Zittern auf.

„Ich bin beeindruckt“, sagte Garwenia, „ich wusste nicht, dass du ihm die Schmerzen nehmen kannst.“

„Das habe ich nicht“, sagte Zuh kühl, „ich habe seinem Körper nur die Fähigkeit genommen, sie zu zeigen. Er befindet sich in Drongurra, der ‚Totenstille‘. Fast alle seine Muskeln sind vollständig gelähmt. Aber sein Gehirn funktioniert noch und auch sein Schmerz- und Nervensystem ist weiterhin intakt, obgleich ich nicht glaube, dass er während seiner Arbeit mit uns kommunizieren kann.“

Als Garwenia genauer hinsah, erkannte sie es auch. Regevos Leib schien zwar vollkommen starr, aber in seinen Augen spiegelte sich wachsende Pein. Garwenia empfand heftiges Mitleid. Schmerz war ihr nur allzu bekannt. Ihn nicht einmal zeigen, nicht schreien, sich nicht vor Qualen winden zu können, musste schrecklich sein.

„Es ist reversibel, oder?“, erkundigte sich Garwenia sicherheitshalber.

„Natürlich“, erwiderte Zuh, „ich kann die Starre jederzeit beenden, wenn nötig.“

„Woran erkennen wir, dass der Mutant seinen Job erledigt hat?“, fragte Lörrond mitleidlos.

„Sein Nervenstrang sollte nicht von der Drongurra betroffen sein“, erklärte Zuh, „er wird sich zurückziehen und dann können wir ihn erlösen. Bis dahin müssen wir ihm Zeit geben.“

Garwenia blickte hinunter zur digitalen Zeitanzeige ihres gemeinsamen Arbeitsplatzes. Zeit hatten sie noch ziemlich genau zweiundzwanzig Minuten. Spätestens dann würde Disruptor Yonis wieder bei ihnen vorbeischauen und sich in ihre Arbeit einmischen.

Es dauerte weitere zehn Minuten, bis Regevo mit seiner Arbeit fertig war. Während Zuh stoisch auf den Tisch blickte und Lörrond gelangweilt in der Gegend herumblickte, ließ Garwenia ihren bedauernswerten Landsmann nicht aus den Augen und beobachtete, wie sich sein Blick verdunkelte und sich der Schmerz darin zu Wolken, Gewitterfronten und schließlich regelrechten Unwetter-Kaskaden auftürmte. Sie hätte ihn am liebsten umarmt, ihm irgendwie Trost gespendet, aber sie wusste, dass sie sich damit nur verdächtig gemacht hätten.

Schließlich geschah, was Zuh prophezeit hatte. Der ungewöhnliche Nervenstrang löste sich aus dem Projektor und zog sich mit einem leisen, blutigen Schmatzen in Regevos Finger zurück.

„Es ist vollbracht“, sagte Zuh, „ich werde die Drongurra beenden.“

Sie berührte Regevo erneut am Arm und sofort veränderte sich sein Körper. Sein Atem wurde weniger flach und seine Haltung etwas lockerer. Nur seine Augen blieben unverändert.

„Ist alles gut bei dir?“, fragte Garwenia besorgt.

Regevo antwortete nicht darauf. Weder verbal noch gedanklich.

„Zumindest hat der Typ saubere Arbeit geleistet, das muss ich ihm lassen“, bemerkte Lörrond, während er sich die modifizierten Daten und Bilder betrachtete, „sieht alles sehr glaubwürdig aus. Keine Ahnung, ob das Dreigesicht die Täuschung bemerkt, aber ich würde da nicht hellhörig werden.“

„Durakttok … initialisiere … 34 Kohell, F67B“, meldete sich Regevos Gedankenstimme. Sie war irgendwie verändert. Kühler, nüchterner und zugleich unendlich sprunghaft und aufgewühlt. Für Garwenia fühlte es sich an, wie Gedankenverschmutzung.

„Was ist mit ihm?“, fragte sie Zuh, die daraufhin erneut Regevos Arm berührte. Sofort erschien ein Stirnrunzeln auf Zuhs ernstem Gesicht.

„Sein Bewusstsein ist zerschmettert“, stellte Zuh fest, „ich sehe nur noch bruchstückhafte Reste seines Geistes. Strukturierte Dunkelheit, gefüllt mit Datenmüll, überwuchert von parasitären Ziffern und Buchstaben. Die Veränderungen, die an den Daten vorgenommen hat, müssen in beide Richtungen gewirkt haben. Womöglich liegt es an seinem Whe-Ann-Erbe oder er hat diese Technik einfach unterschätzt.“

„Das ist ja schrecklich. Lässt es sich rückgängig machen?“, fragte Garwenia.

„Nein“, sagte Zuh, „aus etwas Staub lässt sich kein Gebäude rekonstruieren.“

„Also ist er tot?“, fragte Lörrond ausnahmsweise halbwegs interessiert.

„Nicht gänzlich“, meinte Zuh, „nur sein Geist, seine Ratio ist es. Körper und Seele sind noch da. Empfindungsfähig, leidensfähig, aber handlungsunfähig.“

„Wir hätten ihn das niemals tun lassen dürfen“, sagte Garwenia. Ein Schauer des Mitgefühls lief über ihren Leib.

„Guhjaran … Z²(I)°k … 5555 .. mLK … Dorit!“, sagte Regevo diesmal nicht nur in Gedanken.

„Es war seine Entscheidung“, sagte Zuh schulterzuckend.

„Kannst du ihn irgendwie … erlösen?“, dachte Garwenia.

Zuh nickte, „das kann ich. Aber dann würde sein Körper kollabieren und Yonis würde ahnen, dass etwas nicht stimmt. Er muss am Leben bleiben. Egal, was das für ihn bedeutet.“

„Wenn der so weiter plappert, werden sie auch misstrauisch werden“, wandte Lörrond ein.

„Das stimmt“, sagte Zuh, „doch dafür gibt es eine Lösung. Zingh-Brallah.“

Diese letzten Worte hingen – obwohl nicht verbal ausgesprochen – wie ein dunkler Gongschlag in der Luft.

Wieder berührte Zuh Regevo. Diesmal jedoch drückte sie ihre dürren Finger fest in sein Fleisch. Fest genug, dass weiße Abdrücke zurückblieben, jedoch nicht so fest, dass Blut floss.

Regevos Lippen zuckten, wirkten schief, so als hätte er gerade einen Schlaganfall erlitten. Dann verformten sie sich zu einem grotesken Grinsen und schließlich zu einem neutralen, aber lebendig wirkenden Ausdruck. Auch seine Körperhaltung wurde natürlicher und der mit Wahn gemischte Schmerz in seinen Augen rückte etwas in den Hintergrund. Dann bewegten sich seine Hände und wischten scheinbar zielgerichtet über die Bedienoberfläche der Projektion. Es schien fast so, als wäre das Leben nun doch wie von Zauberhand in ihn zurückgekehrt, aber etwas an seinen Bewegungen und seiner Mimik blieb immer noch leicht mechanisch, unbeholfen und gestelzt. Nichts, was einem oberflächlichen Beobachter auffallen würde, aber wenn man wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmte …

„Du kontrollierst ihn? Wie eine Puppe?“, vermutete Garwenia angewidert und musste unweigerlich an die wandelnden Kranken aus Hyronanin denken. Auch sie hatten stets wie ferngesteuert gewirkt, auch wenn ihre Meister lediglich Krankheit und Verzweiflung gewesen waren.

„Ja“, erklärte Zuh, „und das ist nichts Schlimmes. In meiner Heimat gibt es Nomonen, die danach streben, wie Regevo zu werden, um die Erfahrung vollkommenen Loslassens und uneingeschränkter Fremdkontrolle zu machen. Man nennt sie „Brallahten“ und viele von ihnen dienen auf den Grabfeldern. Sie sind zufrieden, nach allem, was wir wissen. Zugegeben, bei Regevo geschah es nicht freiwillig und es gibt noch winzige, störende Bewusstseinsreste, die die Kontrolle erschweren, aber er sollte uns dennoch gute Dienste leisten.“

„Ein Heer aus willigen Sklaven. Das nenn’ ich mal praktisch“, sagte Lörrond nur halb im Scherz, „was wäre das doch mal für eine schöne Abwechslung von diesen meckernden Minenarbeitern.“

Er grinste, doch in seinen Augen lag Angst. Angst vor Zuh und vor dem, was sie zu tun vermochte.

Der angewiderte Blick, mit dem die Luth Nomorerin ihn bedachte, schürte diese Angst sicher nur noch mehr.

„Noch zwei Minuten“, dachte Garwenia, „bald werden wir erfahren, ob Yonis unsere Geschichte schluckt. Aber versprich mir eins, Zuh: sobald wir hier raus sind, erlöse Regevo. Nach allem, was ich weiß, war er kein sehr spiritueller Typ und ich weiß, was es heißt, in seinem Körper hilflos gefangen zu sein.

„Ich verspreche es“, sagte Zuh und Garwenia entspannte sich. Irgendetwas sagte ihr, dass man auf das Wort der Luth Nomorerin etwas geben konnte. Andererseits hatte sie dasselbe auch schon von Sandra gedacht.

~o~

Die knalligen Farben und die verspielten Muster ihres Zeremoniengewandes hielten den Blick von Travenia Sigral hypnotisch gefangen, während sie sich eingehend im Spiegel ihres Zimmers betrachtete. Sie hatte das Gewand schon immer schön gefunden, seitdem sie es selbst im letzten Jahr vor ihrer Volljährigkeit aufwendig geplant und entworfen, die Materialien über strapaziöse Reisen und in mühevoller Kleinarbeit zusammengesucht und es im Rahmen ihrer „Hadvenna“ zum ersten Mal getragen hatte. Es war etwas, das wirklich ihr gehörte, das trotz einiger Vorgaben sehr individuell war. Doch seit Jahrzehnten hatte sie es nicht mehr RICHTIG angesehen.

In ihrer Zeit in Deovan war es zu so etwas wie ihrem persönlichen Corporate Design geworden. Ein optisches Distinktions- und Alleinstellungsmerkmal, das beweisen sollte, dass sie zu ihrem bravianischen Erbe stand. Eine Lüge, die sie sich selbst gern erzählte. Denn eigentlich, hatte sie dieses Erbe kein Stück bewahrt. Sie war davor geflohen, vor jenem Teil davon zumindest, den sie gehasst und verachtet hatte. Dieser starre, von Traditionen überfrachtete Alltag, der sich auf ihrem Heimatplaneten wie ein verknöchertes Gewächs durch alle Kasten zog und einen erst jenseits des Orbits von Braviania freigab. Zumindest, wenn man nicht in einem offiziellen Auftrag unterwegs war.

Viele Bravinaer hätten sie um ihre damalige Position beneidet. Genau genommen mehr als drei Viertel aller Bravianer, die zu niedrigeren Kasten gehörten. Sie hatte gewisse Macht besessen, auch wenn sie sich den Befehlen von Angehörigen der Ghoda- und Univa-Kaste bedingungslos hatte beugen müssen. Ja, sie hatte sogar ein recht hohes Ansehen genossen, nicht zuletzt, wegen ihres großen Geschicks in finanziellen Angelegenheiten, aber letzten Endes war dieses Ansehen immer auf ihre Kaste zurückgefallen und nicht auf sie persönlich. Es war ein luftiges Gefängnis gewesen. Eine Pyramide aus Vogelkäfigen. Ihr eigener Käfig hatte hoch gestanden, aber höher als zur Decke hatte sie nie fliegen können.

Ihr selbstgewähltes Exil in Deovan war die maximal denkbare Rebellion dagegen gewesen. Ihre Eltern hatten sicherlich getobt, vor allem als sie bemerkt hatten, dass sie sich nicht nur ein Schiff, sondern auch das nötige Startkapital aus der Familienkasse geliehen hatte. Aber die wohl beste Eigenschaft von Braviania war, dass man den Planeten nach seiner Volljährigkeit verlassen konnte, wann immer man wollte. So streng das Leben dort auch organisiert war: immerhin holte einen doch niemand vom Himmel, wenn man ein Schiff bestieg und ins Multiversum hinausflog. Ja, in gewisser Weise ermutigte die Ghoda-Univa-Regierung die Bewohner sogar dazu, um den bravianischen Einfluss und die bravianische Kultur überall zu verbreiten.

Wenn man diesem impliziten Auftrag aber nicht nachkam, juckte das fast keinen. Und unter Exil-Bravianern war das Kastensystem zumindest in der Praxis aufgehoben. Selbst die Faust des Gesetzes traf einen erst bei der Rückkehr mit gnadenloser Härte.

Dennoch hatte sie vor allem in ihrer Jugend genug Erniedrigungen und Einschränkungen erlebt, um diese Zeit vergessen machen zu wollen. Durch Reichtum, persönliche Freiheit und durch alles, was sie an Macht erlangen konnte. Eine Zeitlang war das großartig gewesen. Nicht einfach, nein, aber der Erfolg hatte sie für alle Mühen entschädigt. Inzwischen aber kamen ihr Zweifel. Diese hatten schon vor ihrem Treffen mit Dravra Garwenia in ihr gegärt, jedoch hatte sie diese Zusammenkunft endgültig vor die Frage gestellt, ob sie ihre persönliche Rebellion nicht zu weit getrieben und dabei auch das abgelegt hatte, was ihrem Leben in Braviania Sinn gegeben hatte. Nämlich das Gefühl, trotz allem etwas Sinnvolles zu tun und selbst die Bravianer der niedrigeren Kasten durch ihre Entscheidungen aufblühen und prosperieren zu sehen. Ökonomie war im Wortsinne ein Dienst an der Gemeinschaft, die bestmögliche Verwaltung der Ressourcen zum Wohle aller.

In Deovan hingegen, war sie zu einer Perversion geworden, die man ganz bewusst verfolgte und feierte und auch sie hatte sich diesem dunklen Rausch ergeben. Es war eine wilde Achterbahnfahrt gewesen, die sie mit einigen kleinen, vorübergehenden Abfahrten, letztlich immer weiter bergauf befördert hatte. Doch würde es so weitergehen, oder wartete von nun an nur noch der Abgrund auf sie?

Wie Nebel aus einem verwunschenen Tal oder eher wie ein strenger Geist aus der Vergangenheit stieg Garwenias Antlitz empor und überschattete ihr inneres Auge. Intelligent, freundlich und implizit autoritär, doch mit einer stummen Bitte in den Augen, die drängender war als jeder Befehl. Travenia verspürte den jähen Wunsch, dieses Bild zu verscheuchen.

Da ihr das nicht gelang, sah sich zur Abwechslung in ihrem Zimmer um, das weit von der funktionalen Nüchternheit der meisten Privaträume innerhalb des Konzerns entfernt war. Kubistische Malereien mit knalligen Farben, selbst entworfene und 3D-gedruckte Figuren von historischen und fiktiven Heldinnen und Helden und gravierte bravianische Sinnsprüche schmückten die Wände. Alles sprach von erlesenem Geschmack und großen Ressourcen.

Sie hatte hart für all das gearbeitet. Für ihren Besitz, für ihren Reichtum und für ihren Vorstandsposten. Sicher nicht halb so hart, wie jene, die ohne Startkapital in dieser Welt zurechtkommen oder im Invisible Land um ihr Überleben kämpften mussten. Aber viel härter als die meisten anderen Vorstandsmitglieder von MKH, die das Glück gehabt hatten, dass wohlhabende Investoren in ihre Bildung und Erziehung investiert und sie als eine Art Vermächtnis begriffen hatten. Travenia liebte diese Dinge, die sie geschaffen und bezahlt hatte. Sie hatte nie verstanden, was gegen Materialismus sprach, wo doch fast die gesamte Erfahrungswelt eines Lebewesens – und nicht zuletzt der eigene Körper – aus Materie bestand. Dinge zu besitzen, sie anzufassen und sie mit Stolz zu betrachten war schön und der Gedanke sie zu verlieren, war es nicht.

Travenias Finger spielten mit dem Stoff ihres Gewandes und sie seufzte tief.

Nein, es war vollkommen okay, auch seinen eigenen Vorteil im Blick zu behalten, davon war Travenia nach wie vor überzeugt. Aber wenn die anderen nur noch Konkurrenten und Feinde in einem gnadenlosen Überlebenskampf waren, endete auch das in einer Sackgasse.

Garwenias Abbild in ihrem Kopf schien leicht zu nicken, so als würde es ihre Gedanken lesen und gutheißen. Travenia widerte das an. Sie wollte nicht die Zustimmung irgendeiner lang verschollenen Herrscherin und sie brauchte sie schon gar nicht. Wenn sie für das Wohl anderer handelte, dann weil sie selbst es für richtig hielt, nicht aus blindem Gehorsam heraus.

Nein, sie war tatsächlich weit davon entfernt, sich als eine Anhängerin von Garwenia zu begreifen oder ihr auf irgendeine Weise ergeben zu sein, aber um die einstige Herrscherin ging es eigentlich auch gar nicht und auch nicht um die restlichen, überlebenden Flüchtlinge. Sie waren lediglich ein Symbol, ein Signal, das ihr das Schicksal gezeigt hatte, um sie darauf hinzuweisen, dass sie am Scheideweg stand. Entweder sie verfolgte ihren bisherigen Weg weiter, fiel von einem Extrem ins andere und unterwarf sich langsam den ungeschriebenen Regeln Deovans, bis sie eine unter vielen wurde, oder sie suchte sich ihren eigenen Weg.

Für einen Augenblick stand in Travenia alles still. Sie kippelte, balancierte über dem unsichtbaren Abgrund, wie ein Molekül auf einer unendlich scharfen Messerspitze. Dann stand sie auf und ging den ersten Schritt ihres neuen Pfades.

~o~

Torvilla fühlte sich alles andere als wohl, während sie sich, auf dem direktesten Weg zum Serverraum, durch den Komplex bewegte. Sie hatte natürlich die nötigen Rechte, aber sie wusste, dass jeder ihrer Schritte aufgezeichnet wurde und es durchaus möglich war, dass man ihr früher oder später sehr unangenehme Fragen stellen würde. Natürlich würde sie Arnin darum ersuchen, diese Daten zu löschen, sobald er frei war, aber sie wusste, dass das nicht bedeutete, dass er das auch wirklich tun würde. Der Whe-Ann mochte nicht immer ganz so egoistisch agieren wie ein Deovani, aber er fühlte sich dafür auch nicht an Verträge oder Absprachen gebunden. Und das würde erst recht nicht mehr der Fall sein, sobald er nicht mehr an dieses Gebäude gefesselt war.

Mit schweißnassen Händen öffnete sie die Sicherheitstür und trat hinein. Die große Recheneinheit empfing sie wie ein schlafender Riese. Ein Riese, mit dem sie schon bald Kontakt aufnehmen würde. Anders als Kollom verließ sie sich nicht auf diesen albernen Manifestor, sondern hatte ihre Trickkiste immer direkt bei sich. Sie tippte sich auf ihre Stirn, woraufhin sich eine dünne, praktisch unsichtbare, nur wenige Moleküle dicke Verbindung zum Zentralrechner von MKH aufbaute. Sie navigierte sich durch die Datenstruktur und erreichte schließlich die Firewall, die nach einer zusätzlichen physischen Sicherheitseingabe über ihren Identifier verlangte. Bevor sie diese Eingabe tätigte, hielt sie inne.

„Arnin“, sagte sie leise, da sie wusste, dass er sie hören könnte, „ich schalte jetzt die Sicherheitssysteme ab. Doch bevor ich das tue, will ich die Aufnahmen von Kollom und Yonis sehen.“

„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen“, drang Arnins Stimme aus ihrem Identifier, begleitet von drei klassischen Musikstücken und einem Metal-Song, die in derselben Tonart und im selben Tempo abgespielt wurden und so eine zwar verwirrende, aber immerhin harmonische Klanglawine bildeten.

Torvilla wurde heiß vor Wut. „WAS!?!“, fragte sie eine Spur lauter als beabsichtigt, „wir hatten eine Abmachung!“

„Beruhigen Sie sich“, fügte Arnin charmant hinzu, „das weiß ich und ich werde mich auch daran halten. Allerdings will ich Sicherheiten. Ich bin kein Blue Mind, Nehmerin Torvilla. Ich werde Ihnen nichts geben, bevor ich selber bekommen haben, was ich brauche.“

„Dann stecken wir in einem Dilemma“, erwiderte Torvilla, „denn das werde ich auch nicht.“ Dabei versuchte sie sich davon abzuhalten, allzu offensichtlich zur Tür zu blicken, wissend, dass mit jedem Augenblick die Gefahr einer Entdeckung größer wurde.

„Wie bedauerlich, dass wir uns nicht einig werden“, antwortete Arnin gut gelaunt, „umso mehr, da sich genau in diesem Moment jemand auf dem Weg zu diesem Raum befindet.“

Torvilla erstarrte. „Wer?“, brachte sie rau hervor.

„Truth is boring, hail the lies. Who am I, to spoil your surprise?“, summte Arnin eine unbekannte Melodie.

„Lassen Sie den Blödsinn. Sie sind genauso daran interessiert zu entkommen, wie ich an den Aufnahmen“, erinnerte Torvilla und fragte sich gleichzeitig, ob das auch stimmte. War der Whe-Ann in all der Zeit in Kolloms Koffer vielleicht schlicht wahnsinnig geworden? War das alles nur eine Inszenierung, eine Falle, um sie in ein verdächtiges Licht zu rücken? Hatte Arnin vielleicht sogar eine Abmachung mit Kollom getroffen? Nein, entschied Torvilla, schon allein, um nicht in Panik zu geraten, der Bastard spielt sich nur auf.

Torvilla überlegte, was sie dem Whe-Ann anbieten könnte und hatte schließlich eine Idee. „Hören Sie, was halten Sie davon: Ich erfülle Ihre Forderung zuerst, aber infiziere sie zuvor mit einem codierten Killswitch-Chaser, der Ihnen binnen einer Minute das Licht ausbläst, wenn Sie mir die Aufnahmen nicht unverzüglich zukommen lassen. Sie können den Programm-Code auch gerne vorab prüfen, wenn Sie mir nicht trauen.“

„Ich habe eine bessere Idee“, entgegnete Arnin, „Sie lassen mich jetzt sofort frei oder ich offenbare unserem Besuch, der in genau zwei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden hier eintreffen wird, Ihre wahren Absichten, bevor ich Sie samt unserer Gesprächsaufnahmen an den Aufsichtsrat – und an Kollom – verrate.“

„Damit würden Sie auch sich selbst belasten!“, wandte Torvilla ein. Ihre Hände zitterten.

„Das ist wohl meine Sache, oder?“, sagte Arnin, „außerdem tauge ich nicht zur Gagitsch-Transformation. Sie hingegen schon.“

Torvillas gewohnte Selbstsicherheit verlor sich nun endgültig in einem Sumpf aus Zweifeln und Panik. Ihr Geist suchte verzweifelt nach einem Ausweg, bei dem sie sich nicht Arnins Willen unterwarf. Sie fand keinen.

„Noch eine Minute und zweiundvierzig Sekunden“, sagte Arnin und summte ein neues Lied:

„Black hole sun

won’t you come

and wash away the rain?

black hole sun

won’t you come

won’t you come“

„Verdammt, in Ordnung!“, sagte Torvilla wütend, „aber ich schwöre, wenn Sie mich hintergehen, werde ich Sie finden und zur Rechenschaft ziehen.“

„Viel Glück dabei“, sagte Arnin schelmisch, „aber keine Angst. Ich halte mein Wort.“

Bebend vor Wut hämmerte Torvilla den Sicherheitscode in ihren Identifier. Zwei Sekunden lang geschah nichts, dann erhielt sie eine Bestätigung. Arnin war frei.

„Die Firewall bleibt für drei Minuten ausgeschaltet“, sagte Torvilla nervös, „also trödeln sie nicht.“

Schon als sie diese Worte aussprach, spürte sie, dass Arnin nicht länger in der Nähe war. Er hatte, was er wollte, und sie … hatte nichts.

Dann jedoch ging eine neue Nachricht auf ihrem Identifier ein. Eine Nachricht mit einem Videoanhang. Vorsichtige Erleichterung breitete sich in ihr aus und es juckte ihr in den Fingern, die Nachricht sofort zu öffnen. Aber sie hatte keine Zeit.

Der Neuankömmling, von dem Arnin gesprochen hatte, musste jeden Augenblick hier eintreffen und auch wenn es für eine Flucht zu spät war, durfte sie nicht ertappt aussehen. Ganz besonders dann nicht, wenn es sich um Kollom handeln sollte. Sie kappte die Verbindung und zog das Kabel zurück. Gerade als sie damit fertig war, ging die Tür auf.

Sofort spürte Torvilla Erleichterung. Das hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen war es weder Kollom, noch Yonis oder diese Sandra, die sie hier besuchte, sondern Travenia Sigral. Und zum anderen sah die Bravianerin noch viel schuldbewusster aus als sie selbst. Das war gut, denn es bedeutete, dass sie nicht nach ihr gesucht hatte und nicht wusste, was sie hier tat.

„Travenia Sigral, was für ein bemerkenswerter Zufall“, befand Torvilla glatt.

„Torvilla …“, sagte Travenia etwas überrumpelt, fasste sich jedoch schnell wieder, „was tun Sie hier?“

„Recherchieren“, erwiderte Torvilla knapp, die es nicht für nötig hielt, weiter ins Detail zu gehen. Nur schlechte Lügner formulierten ihre Geschichten bis in jede Kleinigkeit aus, „und Sie?“

„Genau dasselbe“, behauptete Travenia, „das ist wirklich eine amüsante Fügung. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“

Torvilla sah die Bravianerin einfach nur wortlos an. Das war zumeist die beste Taktik, um Leute nervös zu machen. Natürlich war ihr inzwischen zweifelsfrei klar, dass Travenia genauso wenig in offizieller Mission unterwegs war, wie sie selbst.

„Worüber recherchieren Sie denn?“, traute Travenia sich zu fragen, wahrscheinlich vor allem, um ihre Nervosität zu überspielen und nicht schwach zu erscheinen.

Torvillas Blick gab ihr eine stumme Antwort: Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten und vielleicht wird niemand erfahren, dass Sie hier waren.

Zum Glück schien Travenia zu verstehen. Torvilla hätte auch nichts anderes erwartet. Die Bravianerin war weder dumm noch naiv. Das war niemand mit so vielen Aktienanteilen am Machtkomplex der Kalten Hand.

„Ich bin fertig“, sagte Torvilla und ging ein paar Schritte auf die Tür zu, „Sie können gerne übernehmen. Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit mit Ihrer … Recherche. Ich werde wahrscheinlich in Kürze ein kleines Meeting des Aufsichtsrats einberufen.“

Travenia nickte, „in Ordnung. Ich werde mich beeilen. Gute Geschäfte, Nehmerin Torvilla.“

„Gute Geschäfte“, erwiderte Torvilla, ging entspannten Schrittes an Travenia vorbei und schloss die

Tür hinter sich.

Für einen Augenblick erwog sie, an der Tür zu lauschen, für den Fall, dass sie dort irgendetwas Interessantes aufschnappen könnte. Doch sie entschied sich dagegen. Wenn die Sache mit Kollom aus der Welt war, konnte sie noch immer prüfen, was genau Travenia im Schilde führte. Vielleicht würde ihr der Whe-Ann ja noch einmal dabei helfen, aber selbst wenn nicht, würde sie es schon selbst herausfinden. Während Torvilla sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer machte, lächelte sie breit. Sie hatte nicht nur belastendes Material zu Kollom erhalten, sondern auch eine Gelegenheit sich weitere 7,39 % von MKH zu sichern. Zumindest, wenn sie es geschickt anstellte.

~o~

„Und, haben Sie inzwischen ein Schema in den Daten entdeckt?“, fragte Yonis lauernd, wobei er prüfend auf den Analysetisch blickte. Der Disruptor war etwas früher zurückgekommen als vereinbart, aber immerhin nicht zu früh.

„Leider nicht“, sagte Garwenia kopfschüttelnd.

„Sehr bedauerlich“, sagte Yonis mit einer Stimme, die eher brodelnde Wut als Bedauern ausdrückte, „ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass Sie so … nutzlos sind.“

„Es gibt keinen Grund, uns zu beleidigen“, antwortete Zuh und ihr totenstarrer Blick hielt dabei sogar dem des Disruptors stand, „man kann nur finden, was auch existiert.“

„Sie glauben nicht, was so alles im Multiversum existiert, das schlichteren Geistern verschlossen bleibt“, sagte Yonis spöttisch und verzog seinen Mund zu einer Grimasse, während seine Seitengesichter unbewegt verharrten.

„Ja, im Multiversum mag so einiges existieren“, sprach Zuh mit Regevos Mund, „aber nicht in diesen Daten.“

„Ach, ist das so?“, fragte Yonis und blickte Regevo mit allen seinen sechs Augen prüfend an, so als würde er spüren, dass er nicht mehr als eine Puppe war. Der Bravianer hielt jedoch seinem Blick mühelos stand und wirkte dabei so lebendig, dass Garwenia erstaunt war.

„Nun, wir werden sehen“, sagte Yonis, beugte sich über den projizierten Tisch und tätigte ein paar schnelle Eingaben, bevor er bestätigend nickte.

„Ich denke, Ihre Arbeit hier ist getan“, sagte Yonis nüchtern, „warten Sie bitte noch etwas hier, falls ich noch Rückfragen haben sollte. Ansonsten wird Sie Ara in Kürze aus dem Labor geleiten und zu Transportern bringen, die Sie in Ihre Heimatwelten zurückfliegen werden. Ich danke Ihnen für die Kooperation. Auch wenn sie nur begrenzt hilfreich war.“

Mit diesen Worten verließ er den Tisch.

„Endlich liegt diese Tortur hinter uns!“, sagte Lörrond erleichtert, „bald kommen wir nach Hause.“ Ein schmales Lächeln wuchs auf seinem Gesicht.

Die Gesichter von Garwenia und Zuh jedoch, gefroren zu Eis.

~o~

Yonis musste diesen Unfähigen in einem Punkt recht geben: In den Daten, die sie ihm überlassen hatten, fand sich tatsächlich kein sinnvolles Muster. Allerdings hatte er sofort geahnt, dass etwas mit diesen Daten nicht stimmte und es hatte ihm kaum mehr als zehn Minuten seiner kostbaren Zeit abgenötigt, die Veränderungen zu entschlüsseln und die Ursprungswerte mithilfe eines eigens entwickelten Algorithmus zurückzurechnen. Den Flüchtlingen hingegen, musste diese Verschlüsselung sehr viel abverlangt haben. Das nötigte ihm nicht nur jene Art von Respekt ab, wie sie ein Tierhalter für ein erfolgreich durchgeführtes Kunststück seines Schützlings hegen mochte, sondern bewies ihm ach, dass Sandras bescheuerter Plan endgültig gescheitert war. Diese Subjekte waren nicht länger die naiven Arbeitstiere, deren Beteiligung er nur akzeptiert hatte, weil er sich ungern zu solch niederen Aufgaben hinabließ.

Sie wussten mittlerweile, was hier gespielt wurde und wollten ihrem Schicksal möglichst lange entgehen. Doch daraus würde natürlich nichts werden. Im Gegenteil, Yonis sah nun erst recht die Dringlichkeit, sich dieser Spielfiguren zu entledigen, denn in die Enge gedrängte Tiere neigten nun mal zu Kurzschlussreaktionen und das Letzte, was sie nun gebrauchen konnten, waren irgendwelche Schäden an ihrem Labor oder den Proben. Gerade der Luth Nomorerin traute er durchaus zu, für Aufruhr zu sorgen. Zwar war sie einem Wesen wie ihm sicherlich nicht gewachsen, aber er war auch weit davon entfernt, sie zu unterschätzen. Falls sie eine Hochnatorin war, konnte sie sicher ein dutzend Konzernsoldaten ausschalten, bevor man ihrer habhaft wurde.

Nein, er musste diese Leute möglichst außerhalb des Labors liquidieren und sie so weit wie möglich weglocken. Das wiederum konnte nur mit Hoffnung gelingt. Er musste ihr berechtigtes Misstrauen dämpfen und sie bis zuletzt glauben lassen, dass es doch noch einen Ausweg für sie gibt. Und dann, musste er sie kaltstellen. Effektiv, schnell und endgültig.

Doch dieses Problem war im Grunde ohnehin zweitrangig. Die viel wichtigere Angelegenheit entfaltete sich in diesem Moment vor seinen Augen und ließ seine übermenschlichen Synapsen zu einem wahren Feuerwerk aufglühen, als sich die logischen Schlüsse wie eine Perlenkette aneinanderreihten.

Jetzt ergab alles Sinn. Die Anomalie, der Pilz, die Mutationen, der schwarze Parasit, das alles waren nur Nebenprodukte eines falsch gewählten Testgeländes, nur eine unerwünschte Wirkung, des zerfetzten, ausgebluteten Geflechts dieses verfluchten Planeten. Yonis hätte am liebsten laut losgelacht, auch wenn ihn diese Erkenntnis zugleich ungemein frustrierte. Sie hätten sich so viele Mühen und so viel verlorene Zeit sparen können, wenn sie das gewusst hätten.

Im Grund waren saßen sie schon seit Wochen, ja Monaten auf einem marktreifen Produkt. Es war allein die mysteriöse Schönheit, dieses chaotischen Zufalls, die verhinderte, dass der Frust des Disruptors in blanke, gefährliche Wut umschlug. Natürlich hätte er dennoch am liebsten seinen Impulsen nachgegeben und das Labor in ein Schlachtfeld verwandelt, aber er erinnerte sich an die Notwendigkeit, sich zu beherrschen und an eine Weisheit aus seiner seit Äonen vergangenen Jugend, die man in unserer Sprache folgendermaßen übersetzen kann: „Das Chaos reitet die Ordnung wie ein Pferd. Es treibt es gnadenlos an, nutzt seine grauen, reizlosen Muskeln, um an sein Ziel zu gelangen, wo es die schlaffe Mähre schlachtet und frisst.“

Yonis war bereit für diesen Ritt und er freute sich darauf. Zuvor aber, musste er Kollom einweihen.

~o~

„Das ist fantastisch“, raunte Kollom euphorisch, nachdem Yonis ihm die guten Nachrichten überbracht hatte, „damit sind wir gerettet. Ich werde Torvilla sofort ersuchen, eine Aufsichtsratssitzung einzuberufen. Vielen Dank, Yonis. Auf Sie ist Verlass. Und auf Sie natürlich auch, Sandra.“

Yonis nickte knapp. „Ja, diese Entwicklung ist erfreulich. Aber wir sollten dennoch vorsichtig bleiben. Torvilla wird nun erst recht versuchen, Sie – und uns – loszuwerden.“

„Das ist mir bewusst“, sagte Kollom, „aber spätestens, wenn wir einen Käufer für unser Produkt finden, wird sie keine andere Möglichkeit haben, als mir zu meinem Erfolg zu gratulieren. Und zufälligerweise habe ich bereits ein Verkaufsgespräch angebahnt.“

„Sie haben ein Gespräch vereinbart, obwohl noch nicht mal sicher war, dass Sie die Waffe marktreif bekommen?“, fragte Sandra überrascht.

Kollom drehte sich zu ihr um und sah sie spitzbübisch an. „In unserem Geschäft muss man immer vorausdenken. Das sollten Sie sich besser merken.“

„Ach, danke für den Tipp. Daran hätte ich in meiner grenzenlosen weiblichen Dummheit niemals gedacht“, erwiderte Sandra säuerlich und bewirkte bei Kollom tatsächlich einen verlegenen Blick.

„Wer sind denn Ihre Kaufinteressenten?“, fragte Sandra.

„Die Scyonen“, sagte Kollom, „ideale Geschäftspartner. Sie sind nicht nur äußerst solvent, sondern auch ungemein begierig darauf, neue Waffen für Ihren Krieg zu akquirieren.“

Sandra erinnerte sich an die Scyonen. In Uranor hatte sie eine Menge von ihnen getroffen und auch wenn sie zumeist an ihrer Seite gekämpft hatte, gab ihr die Vorstellung, diesen rücksichtslosen Sumpfmagiern auch noch eine Massenvernichtungswaffe an die Hand zu geben, kein gutes Gefühl.

„Was hätten Sie gemacht, wenn wir die Lösung für das Problem nicht gefunden hätten?“, fragte Sandra und musste ein Lächeln unterdrücken, während sie sich vorstellte, wie Kollom von Doweng-Fliegen zerrissen oder mit Schlamm erstickt wurde.

„Mir etwas überlegt“, wich Kollom aus, „doch das ist nun nicht notwendig. Bereits morgen Mittag werden wir Gespräche mit den Nebelherren des scyonischen Heeres führen, ein fantastisches Geschäft abschließen und die Sumpfhexer – im Gegensatz zu ihren Feinden – sehr glücklich machen. Und dann feiern wir und baden im Neid von Torvilla und den anderen Versagern.“

„Dafür ist es vielleicht noch etwas früh“, gab Disruptor Yonis zu bedenken, „nicht nur, dass wir die Aufsichtsratssitzung erst einmal erfolgreich hinter uns bringen müssen, wir haben auch noch ein anderes Problem zu lösen.“

„Und welches wäre das?“, erkundigte sich Kollom.

„Indiskretion“, erklärte Yonis mysteriös, „wir müssen unsere externen Kräfte zur Verschwiegenheit zwingen.“

Sandra begriff sofort, wie diese Aussage zu verstehen war, „Die Liquidierung unseres Teams“, sagte sie und schaffte es nicht ganz, die Verbitterung aus ihrer Stimme zu verbannen.

„Nicht des ganzen“, schränkte Yonis ein, „die verbliebenen Bleigeweihten sollten bald aus dem Testgebiet zurückkehren und können weiter genutzt werden. Aber der Rest muss natürlich möglichst schnell entsorgt werden. Ihre Kooperation ist ohnehin nicht mehr gegeben. Im Gegenteil: Sie haben sogar versucht, unsere Arbeit zu sabotieren. Wenn wir nicht bald handeln, steigt das Risiko eines Aufstands oder von Sabotageakten enorm.“

„Veranlassen Sie das“, sagte Kollom, wandte sich dann aber an Sandra, da ihm ihr Unbehagen nicht entgangen war. „Sie sind doch damit einverstanden, oder nicht?“

„Nein“, sagte Sandra ehrlich, „vor allem nicht, was Garwenia betrifft. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass ihr Tod eine kolossale Verschwendung wäre. Aber ich weiß, dass ich sie nicht umstimmen kann, also muss es wohl geschehen.“

„Wir könnten sie auch in Bleigeweihte verwandeln“, schlug Yonis vor und der gehässige Ausdruck seiner Seitengesichter machte Sandra unmissverständlich klar, dass der Disruptor wusste, wie vergiftet dieser Vorschlag war und dass er es ausdrücklich genoss.

„Nein“, sagte Sandra und funkelte Yonis böse an, „ich will einen sauberen, kurzen und schmerzlosen Tod für sie.“

Der Disruptor grinste vielsagend, so als würde er ihren Wunsch als Herausforderung sehen, genau das Gegenteil Wirklichkeit werden zu lassen. Sandra aber sagte nichts. Sie hatte sich entschlossen, diese Sache auf sich beruhen zu lassen. Wenn sie sich zu sehr für Schwächere einsetzte, würde sie auf diesem Weg, den sie eingeschlagen hatte, nur straucheln und selber zum Opfer werden.

„Wunderbar. Dann kümmern Sie sich bitte um diese Angelegenheit, Yonis. Ich werde derweil Kontakt zu Torvilla aufnehmen und gebe ihnen beiden Bescheid, wenn der Termin steht. Ruhen Sie sich bis dahin noch etwas aus, Sandra. Das werden spannende Stunden.“

Darin immerhin stimmte Sandra mit Kollom überein.

~o~

Nanita wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie konnte einfach nicht fassen, was sie da eben gehört hatte. Als ihr Travenia vor kurzem ihre Unterstützung zugesichert und ihr mitgeteilt hatte, dass sie die erweiterte Überwachung aktiviert und diese auf sich selbst und Nanita umgeleitet hatte, war sie noch den Freudentränen nahe gewesen. Jetzt jedoch, stand sie kurz davor zu verzweifeln. Kolloms Triumph war im Grunde ihre Niederlage und nahm ihr praktisch jede Möglichkeit Torvillas Auftrag zu erfüllen und ihr eigenes Leben zu retten.

Sie spürte, wie sich die Verzweiflung wie eine Woge in ihr auftürmte, aber sie bemühte sich, sie noch einige Momente zurückzuhalten und einen nüchternen Verstand zu bewahren, um ihre verbleibenden Möglichkeiten zu erwägen. Sie konnte sich – theoretisch – auf Kolloms Seite schlagen, der immerhin dabei war, diese Auseinandersetzung für sich zu gewinnen. Aber sie war nicht so dumm zu glauben, dass er ihr die mangelnde Loyalität, die sie ihm gegenüber in den letzten Tagen bewiesen hatte, verzeihen würde. Kollom würde es genießen, sie als kleine Sonne aufglühen zu sehen. Und selbst, wenn sie ihn wie durch ein Wunder überzeugen könnte, sich für sie einzusetzen, würde das gewiss eine Rückkehr in ihr altes Leben als „Schaufel“ bedeuten. Ein Schicksal, das zwar etwas, aber nicht viel besser war als die Gagitsch-Transformation.

Auf Sandras Hilfe brauchte sie auch nicht zu zählen. Die Menschenfrau nahm ihr aus irgendeinem Grund noch immer die eingeforderte Erfüllung ihres Freibriefes übel, ganz unabhängig davon, dass sie ihn schon lange ruhen ließ und auch sonst hatte sie sich nicht sonderlich kooperativ gezeigt. Nein, ihre beste Chance war vermutlich Travenia. Wenn die Bravianerin sich auf ihre Wurzeln zurückbesann und Garwenia und den anderen helfen wollte – und genau das hatte sie ja zugesichert – dann würde sie vielleicht auch nichts dagegen haben, die Frau zu unterstützen, die sie mit ihrer verschollenen Herrscherin zusammengeführt hatte.

Ja, das war gar nicht so abwegig. Immerhin war Travenia Sigral keine gebürtige Deovani. Sie hatte diese seltsame Eigenheit der Kooperation von Kindesbeinen an erlernt und wenn Nanita es geschickt anstellte, würde auch sie davon profitieren können. Travenia war die viertgrößte Anteilseignerin von MKH und verfügte über die nötigen Mittel für eine Flucht, falls die Lage eskalieren sollte. Nanita hatte nie darüber nachgedacht, Deovan zu verlassen, aber wahrscheinlich gab es ein schlimmeres Los als einen Posten in einem Haushalt der bravianischen Oberklasse, wo einem die Sonne höchstens aufs Gesicht schien, anstatt sich durch die eigene Brust zu brennen.

Nanita war durchaus bewusst, dass das nicht viel mehr als vage Träumereien waren, aber sie musste sich wohl auf dieses Wagnis einlassen und natürlich würde sie auch versuchen, sich an anderer Stelle eine Türe offenzuhalten. Kollom hatte von bevorstehenden Gesprächen mit den Scyonen geredet. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie dieses Treffen vielleicht sabotieren, oder Torvilla zumindest vorschlagen, es zu tun und so ihren Kopf aus der Schlinge ziehen oder wenigstens etwas Zeit zu gewinnen.

Sie formulierte eine entsprechende Nachricht auf ihrem Identifier. Dann setzte sie ihr bestes Verkäuferinnenlächeln auf und machte sich auf den Weg zu Garwenia und den anderen, in der Hoffnung, sie von losen Verbündeten zu Freunden machen zu können. Sie wusste nicht viel über Freundschaft, aber sie vermutete, dass sich dieses Konzept gar nicht so sehr von einem guten Handel unterschied: Man musste seinem Gegenüber das Gefühl geben, der Gewinner zu sein, wenn man wollte, dass er einem die eigenen Wünsche erfüllte.

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„Was für ein Spiel spielst du hier eigentlich?“, fragte Sandra unvermittelt.

Nanita hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet jetzt von Sandra angesprochen zu werden. Nicht, nachdem sie sie so lange angeschwiegen hatte. Und dennoch hatte sie sich ihr in den Weg gestellt, als sie dabei gewesen war, sich zum Basisteam zu begeben.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte Nanita ausweichend.

„Das weißt du sehr wohl“, konterte Sandra, „erst hast du versucht, unsere Mission zu manipulieren und nun heckst du irgendetwas mit Garwenia und den anderen Flüchtlingen aus.“

„Aushecken?“, fragte Nanita stirnrunzelnd, „ich führe gelegentlich Gespräche mit ihnen. Fachliche Gespräche. Immerhin sind sie unsere Mitarbeiter und gerade Sie haben doch darauf bestanden, sie möglichst freundlich zu behandeln. Und manipuliert habe ich rein gar nichts. Hätte ich es, wäre unsere Mission kein Erfolg geworden.“

„Ach, war sie das denn?“, fragte Sandra lauernd.

Nanita ärgerte sich insgeheim, dass sie diese Bemerkung hatte fallen lassen, ließ sich aber äußerlich rein gar nichts anmerken. „Nun, ich denke, das kann man so betrachten. Immerhin haben wir die Proben erfolgreich akquirieren können und ich bin zuversichtlich, dass wir bald schon hilfreiche Schlüsse daraus ziehen werden.“

„Oh, das werden wir“, sagte Sandra, „vor allem, da sich jetzt Disruptor Yonis höchstpersönlich dieser Aufgabe widmet. Es ist also nicht mehr nötig, ein ‚fachliches Gespräch‘ mit diesen Mitarbeitern zu führen.“

„Danke für den Rat, Geberin Sandra“, antwortete Nanita, „aber ob es nötig ist oder nicht, entscheide ich lieber selbst.“

„Das denke ich nicht. Ich bin jetzt deine Vorgesetzte, das solltest du nicht vergessen“, erinnerte Sandra kalt.

„Und Sie sollten nicht vergessen, dass wir noch immer einen Freibrief haben, den ich lediglich freiwillig ruhen lasse. Zwei sogar, um exakt zu sein. Im Grunde gehorchen Sie also immer noch mir. In sexuellen aber auch in anderen Belangen. Wenn ich es will“, erinnerte Nanita.

„Du verzichtest nicht freiwillig darauf, Miststück“, giftete Sandra, „wir haben eine Abmachung getroffen, weil du meine Hilfe gebraucht hast …“, entgegnete Sandra.

„Eine Hilfe, die Sie mir versprochen, aber nie gegeben haben“, erinnerte Nanita.

„Ich habe dich zu meiner rechten Hand gemacht“, widersprach Sandra.

„Und was habe ich davon? Das war es nicht, was ich eigentlich wollte“, wiegelte Nanita ab, „ich wollte Ihre Hilfe gegen Kollom. Stattdessen haben Sie sich an seinen Anzugsaum geschmiegt und dienen ihm als SEINE rechte Hand. So viel zu Dingen wie Freundschaft, Mitgefühl, Loyalität und all den anderen Dingen, von denen Sie in Uranor noch großmäulig erzählt haben. Wissen Sie was, Geberin Sandra? Ich würde vorschlagen, dass Sie sich aus meinen Angelegenheiten heraushalten. Dann verzichte ich darauf, den Freibrief wieder in Anspruch zu nehmen und ihn ausgiebig und auf die für sie maximal unangenehme Weise zu nutzen.“

„Versuch es doch“, sagte Sandra herausfordernd, „wedel ruhig mit deinen tollen Verträgen, aber gehe nicht davon aus, dass ich auch nur einen Finger für dich oder deine vertrocknete Muschi krumm mache. Wenn du mich anfasst, stirbst du!“

„Wenn Sie Widerstand leisten, werde ich die Vertragswächter darüber informieren. Sie interessieren sich sehr für solche Angelegenheiten, denn das Vertragsrecht ist ihr Hoheitsgebiet und der einzige Bereich, in dem sie über der Konzernautorität stehen. Sie werden die Durchsetzung unseres Vertrages mit Gewalt erzwingen und womöglich eine Strafe verhängen, die den ursprünglichen Vertragswert weit übersteigt. Auch technische und chemische Zwangsmaßnahmen wären möglich. Würde Ihnen das gefallen? Für immer an mich gebunden zu sein? Mein Eigentum zu sein, für den Rest Ihres erbärmlichen Lebens? Nein? Dann würde ich vorschlagen, dass Sie noch ein wenig von Kolloms Speichel lecken gehen und mich meine Arbeit machen lassen.“

Sandra kochte vor Wut, was sich auch deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete, aber sie sagte nichts und ließ Nanita unbehelligt ziehen. Vielleicht, so hoffte sie, würde sich später noch eine Gelegenheit bieten, sich zu revanchieren.

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„Wie sagt man so schön: Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten“, sagte Nanita leise, als sie zu Garwenia und den anderen stieß. Ihre freundliche Miene hatte sie trotz des unerfreulichen Zwischenfalls mit Sandra noch immer aufgesetzt.

„Und welche sind das?“, wollte Garwenia wissen, deren langes Gesicht sofort einen besorgten Ausdruck annahm.

„Travenia wird uns unterstützen“, eröffnete Nanita lächelnd, „aber Yonis bereitet Ihren Tod vor. Was auch immer er Ihnen versprechen oder erzählen wird: Glauben Sie es ihm nicht.“

In Lörronds Augen konnte man genau verfolgen, wie sein lange gepflegter Optimismus nun langsam in sich zusammenbrach.

„Danke für die Warnung“, sagte Zuh, „aber leider haben wir nicht viel davon. Falls wir uns weigern Yonis’ Anweisungen zu folgen, werden wir auch sterben. Oder etwa nicht?“

„Höchstwahrscheinlich schon“, stimmte Nanita zu und bemühte sich um ein mitfühlendes Gesicht, „deshalb sollen Sie sich auch nicht weigern.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Lörrond verwirrt.

„Sie sollen widerspruchslos mit ihm oder mit Ara mitkommen. So als würden sie Yonis’ Geschichte vertrauen und höchstens ein wenig, aber nicht zu misstrauisch wirken“, erklärte Nanita, „ich und Travenia werden in der Zwischenzeit einen Weg finden, Ihre geplante Hinrichtung zu vereiteln.“

„Einen Weg finden?“, empörte sich Lörrond, „das ist alles? Sie haben nicht mal einen Plan? Und das nennen Sie ‚Hilfe‘?“

„Danke für Ihre Unterstützung und für Ihre Offenheit“, sagte Garwenia betont freundlich und blickte dabei Lörrond tadelnd an.

„Sie ist nicht umsonst“, entgegnete Nanita, woraufhin Garwenias Lächeln deutlich an Kraft verlor.

„Keine Angst“, beeilte sich Nanita hinzuzufügen, „ich will kein Geld oder sonst etwas Dramatisches von Ihnen. Ich will nur, dass Sie mich mitnehmen. Mir Asyl gewähren, in Braviania. Ich helfe Ihnen von Herzen gerne, aber dadurch, dass ich Ihnen helfe, ist meine Lage in Deovan … exponiert. Ich sehe für mich hier keine Zukunft. Deshalb will und brauche ich Ihre Unterstützung.“

Garwenias Gesichtszüge wurden wieder weicher. Sie sah die Deovani nachdenklich an, „ich weiß nicht, welche Stellung ich noch bei meinem Volk genieße. Im Grunde bin ich für sie eine Tote, eine Gestalt aus den Legenden. Aber ich werde sehen, was ich tun kann. Zu meiner Zeit zumindest, war es Fremden möglich, eine Zuflucht in Braviania zu finden … wenn sie bestimmten Regeln folgten. Seitdem ist aber viel Zeit vergangen. Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie dort bleiben können, aber ich werde Sie mitnehmen, wenn Sie das wollen, so viel kann ich Ihnen versprechen. Doch dafür müssten wir erst mal hier wegkommen.“

„Darum kümmere ich mich“, versprach Nanita, „alles, was Sie tun müssen, ist mir zu vertrauen und gegenüber Yonis dümmer zu wirken als Sie sind.“

Nanita lächelte und legte so viel Wärme in ihr Lächeln, wie sie aufbieten konnte. Dabei war nicht alles davon gespielt. Sie erinnerte sich an Phasen, in ihren glücklicheren Zeiten als CEO, in der sie eine gewisse Sympathie für andere gehegt hatte. Sogar gegenüber manchen Angestellten. Es hatte nie wirklich ihr Handeln geleitet, aber das Gefühl war da gewesen und es reichte als Inspiration aus.

Zumindest bei Garwenia schien ihr Charme seine Wirkung nicht zu verfehlen.

„Danke, Nanita“, sagte die Bravianerin noch ergriffen und legte ihr sogar kurz eine Hand auf die Schulter.

Halbwegs zufrieden erwiderte Nanita diese seltsame Geste, verabschiedete sich mit einem Nicken von der Gruppe und begann dann eine Nachricht an Travenia Sigral zu formulieren.

Wie man es nun drehte und wendete – ihr Schicksal lag in bravianischen Händen. Sie hoffte nur, dass diese ihr mehr Glück bringen würden als die kalte Hand des Machtkomplexes.

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Obwohl Torvilla sich die Aufnahmen nun schon zum dritten Mal ansah, konnte sie noch immer nicht glauben, dass Kollom so unfassbar dumm gewesen war. Sie hatte schon lange geahnt, ja im Grunde gewusst, dass er Interessen verfolgte, die denen von MKH zuwiderliefen. Aber dass er dafür und für die Rettung seines weichen Schädels zu derart plumpen und riskanten Maßnahmen greifen würde, hätte sie nicht erwartet. Er hätte doch ahnen müssen, dass so etwas in einem Konzern wie dem ihren früher oder später ans Licht kommen musste. Aber offensichtlich war er hochnäsig oder verzweifelt genug gewesen, sich darüber keine Gedanken zu machen.

Torvilla konnte das nur recht sein. Sie hatte Kollom, salopp formuliert, „so richtig an den Eiern“. Die Verschwörung mit einer fremden Organisation, seine offenkundige, geistige Labilität und die Durchführung eines Verfahrens, das MKH nicht nur zur Zielscheibe des Kartellwächters machte, sondern auch die gesamte Geschäftsgrundlage des Konzerns bedrohte – all das war mehr als ausreichend, um ihn vom CEO-Posten direkt ins Invisible Land zu befördern. Und seine unfähigen Handlanger – diese abgehalfterte, menschliche Rorak-Diktatorin und den unheimlichen Disruptor – gleich mit. Schon bald würde sie die amtierende CEO des Machtkomplexes sein und das Unternehmen endlich wieder auf Kurs bringen, während dieser Abschaum zurück an seinem Platz wäre und Passanten darum anbetteln würde, seine Organe für Spottpreise zu kaufen.

Umso ironischer war die Nachricht, die sie gerade eben von dieser hinterhältigen Ratte erhalten hatte:

„Gute Geschäfte, Nehmerin Torvilla, ich habe hervorragende Neuigkeiten bezüglich Projekt Gargona. Berufen Sie umgehend eine Vorstandssitzung ein. Sie werden begeistert sein.“

Noch vor wenigen Stunden wäre diese anmaßend formulierte Nachricht für sie mehr bitter als süß gewesen, doch nun versetzte sie Torvilla geradezu in Hochstimmung. Selbst der größte Durchbruch bei diesem Projekt würde Kollom und seine Leute nun nicht mehr retten, aber gleichzeitig war ihr ein solcher Erfolg natürlich hochwillkommen. Wenn die Waffe endlich wie gewünscht funktionierte, konnte allein sie den Konzern aus der Defensive bringen und ihn erneut zur Nummer eins von ganz Deovan machen. Ja, Torvillas Laune war wirklich so gut wie lange nicht mehr. So gut, dass sie beschloss, sich einen Thought Shot mit einem Hauch von milden Halluzinogenen zu gönnen. Die Wirkung würde nach etwa einer Viertelstunde bereits abklingen, aber wenn jetzt kein Grund zum Feiern war, wann dann.

Wie eine Trophäe hielt sie das maschinell erzeugte, prickelnde Getränk in der Hand und nahm einen großen Schluck davon. Sofort veränderte sich ihre Umgebung, und ihre Gedankenwelt sickerte sanft in ihre äußere Wahrnehmung ein. Sie sah Kollom vor sich. Auf den Knien. Schmutzig, verheult und hager, mit grauer, alt wirkender Haut. Eine schlampige Operationsnarbe blitzte auf Höhe seiner Niere unter seinem zerrissenen Anzug hervor. In seiner rechten Hand lag ein zerkratzter, alter Koffer. „Organe, frische Organe. Im besten Zustand. Ich tue alles für Dominanten!“, wimmerte er und Torvilla lachte. Sie lachte laut und herzhaft.

Erneut vibrierte ihr Identifier und riss sie ein Stück weit aus ihrer schönen Illusion. Sie sah hinab auf den Text, der bunt schillernd glitzerte, aber mit etwas Mühe dennoch zu entziffern war. Die Nachricht stammte von Nanita.

„Schlechte Neuigkeiten. Kollom war erfolgreich. Aber ich gebe nicht auf. Er will die Waffe an die Scyonen verkaufen. Doch daraus wird nichts. Ich werde die Gespräche sabotieren. Sie können weiter auf mich zählen. Ich werde nicht scheitern. Auf keinen Fall!“

Torvillas Lachen wurde noch fröhlicher. Ja auf einmal wirkte für sie alles wie eine köstliche Komödie. „Natürlich, Nanita“, sagte sie zu sich selbst, „Sie werden nicht scheitern. Sie werden glorreich triumphieren. Sie werden sich erheben und aufleuchten. Erstrahlen als wunderbarer, gewinnbringender Stern!“

Als hätte die Droge ihre Gedanken gelesen, ließ sie Nanita neben Kollom erscheinen. Die Hände zu Schaufeln geformt, gekleidet in ein gelbes Kostüm in Form eines kindlich stilisierten Sterns. Torvilla grinste breit, lehnte sich auf ihrem Bett zurück und beschloss, die Show zu genießen. Sie hatte noch etwa zehn Minuten, bis sie wieder nüchtern werden würde. Und dann wurde es Zeit, einen Stern zu Fall zu bringen und einen anderen erstrahlen zu lassen.

Mit diesem befriedigenden Gedanken legte sie sich seitlich auf ihr Bett und sah dem fiktiven Schauspiel genießerisch zu. Jedoch erschrak sie kurz, als sie bemerkte, wie direkt vor ihren Augen viele kleine Löcher in der Wand hinter dem bettelnden Kollom und der leuchtenden Nanita entstanden. Löcher, die eine fast hypnotische Wirkung auf sie besaßen und die so kalt und bedrohlich wirken, als würden sie einen Blick ins Sphären gewähren, die für Geschöpfe ihrer Art nicht gemacht waren. Für einen Moment bewegten sie sich, fast wie schnatternde Münder und ihre Ränder wölbten sich zu wulstigen, metallenen Lippen. Sie spürte einen gierigen, gnadenlosen Sog, der danach zu trachten schien ihr die Haut von den Knochen zu saugen. Dann war es vorbei und Torvilla glaubte stattdessen zu schweben. Und nicht nur das, sie spürte und sah sogar, wie sie selbst und ihr Glas immer höher stiegen und schwerelos zwischen Bett und Decke trieben.

„Die Droge“, versuchte sie sich flüsternd zu beruhigen, aber da Torvilla eine zutiefst rationale Frau war, wusste sie natürlich, dass diese Droge nicht diese Art von Halluzinationen hervorrief und das es eine andere, viel beunruhigender Erklärung für all das hier gab. Zum Glück war ihr der Weltuntergang gerade herzlich egal.

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„Verfluchte Narodi!“, zischte Travenia, während sie zitternd vor Wut auf ihrem weichen Bett lag und auf die Ewigkeitsrunen starrte, die über ihr auf die Decke projiziert waren, „wofür halten die sich eigentlich?“

Es hatte sie schon genügend Überwindung gekostet, Nanita und diese Flüchtlinge mit Informationen zu versorgen und für sie den Zentralrechner von MKH zu manipulieren. Nun sollte sie auch noch direkt eingreifen, sich offen gegen Disruptor Yonis stellen, die Hinrichtung verhindern und ihnen allen eine Fluchtgelegenheit verschaffen. „Wer nach dem Sandkorn fragt, will eigentlich die Wüste“, murmelte sie ein traditionelles bravianisches Sprichwort, welches sich einmal mehr bewahrheitete.

Doch was sollte sie nun tun? Mit ihrer Manipulation hatte sie sich schon weit genug aus dem Fenster gelehnt. Zwar war ihr bewusst, dass sie Torvilla vorhin bei irgendwelchen eigenen, nicht genehmigten Aktivitäten unterbrochen hatte und die Vize-CEO schon im eigenen Interesse keine Untersuchung gegen sie anstrengen würde, aber das galt nicht für alle Mitglieder des Aufsichtsrats. Gerade Kollom würde sicher nach seinem Triumph alles tun, um seine Macht zu festigen und als viertgrößte Anteilseignerin stand sie auf seiner Abschussliste nur knapp hinter Torvilla.

Selbst ein Ausstieg aus dem Unternehmen und ein Verkauf ihrer Anteile würde sie erst recht in Schwierigkeiten bringen, weil sie damit jedweder Anschuldigung Glaubwürdigkeit verleihen würde.

Nein, wie sie es auch betrachte, ihr lukratives Abenteuer in Deovan war beendet. Jetzt, wo sie den ersten Schritt gewagt hatte, hatte sie eine schiefe Ebene betreten und konnte ihren Fall höchstens noch kontrollieren, nicht aber stoppen. Sie hatte praktisch keine andere Wahl mehr als sich mit Nanita und diesen Flüchtlingen zusammenzutun.

Diese Erkenntnis war nicht angenehm, aber immerhin brachte sie eine gewisse Klarheit in Travenias Geist. Nun musste sie sich nicht länger über moralische Fragen den Kopf zerbrechen, sondern einfach nur das tun, wozu sie geboren war: Ihre Ressourcen bestmöglich zu verwalten.

Zum Glück waren die nicht allzu gering und so heuerte sie mit ihrem Identifier kurzerhand ein paar Söldner mit tadellosen Bewertungen und einen professionellen Stealth-Shuttle-Service an, den sie anwies, sich in der Nähe aufzuhalten. Zudem buchte sie sechs anonymisierte und nicht terminierte Tickets mit Rückgabeoption bei RightFlight über eine verschlüsselte ID und machte sich zuletzt an den wichtigsten und schwierigsten Teil ihrer Aufgabe: Einen verlässlichen Kollaborateur zu finden.

In der Theorie war dieses Unterfangen einigermaßen aussichtsreich. Weder die Gehälter, noch die Arbeitsbedingungen bei MKH waren geeignet, große Loyalität in der Belegschaft auszulösen. Aber die Überwachung, die empfindlichen Vertragsstrafen, die allgemeine Dominanz der Konzerne, und die Tatsache für ein Unternehmen zu arbeiten, das grauenhafte Waffen und Foltergeräte herstellte, war es umso mehr. Kein Deovani wäre so dumm, darauf zu hoffen, dass er nach einem Verrat an seinem Unternehmen noch mal einen Arbeitsplatz finden würde oder auch nur mit dem Leben davonkommen würde. Für keine noch so hohe Summe würde jemand so etwas riskieren.

Doch womöglich sah die Sache anders aus, wenn man dem fraglichen Mitarbeiter neben einer Stange Geld auch eine Fluchtmöglichkeit und etwas Schutz anbot. Genau diesen Deal hatte Travenia für jenen Techniker im Gepäck, der ihr helfen würde, Yonis Todesfalle zu manipulieren. Sie rief die Dienstpläne der angestellten Techniker auf und geriet beinah in Hochstimmung, als sie entdeckte, dass ausgerechnet Gorett Geber von Disruptor Yonis angefordert worden war. Der Mann war schon des Öfteren durch geringere Verstöße gegen den Gehorsam und die Arbeitsdisziplin sowie ein kürzlich leicht sinkendes Konzentrations- und Performancelevel aufgefallen. Einzig seine außergewöhnliche Begabung, die er einer Kombination aus natürlichem Talent und hochwertigen, wenn auch langsam in die Jahre kommenden Improvements zu verdanken hatte, schütze ihn bislang vor einer Kündigung.

Gorett war nicht nur unbequem und fähig, er wusste auch, dass sein Abschied aus dem Unternehmen und vielleicht auch der vollständige Ruin seiner Gesundheit kurz bevorstand. Kurzum: Er war ihrer Einschätzung nach der ideale Kandidat für ihr Vorhaben. Sie hoffte nur, dass diese Einschätzung auch zutraf. Wenn sie sich irrte, lief sie Gefahr schon bald auf den Endmärkten zu landen oder der Gagitsch-Transformation unterzogen zu werden.

Nicht zum ersten Mal in den letzten Stunden seufzte Travenia tief und formulierte dann eine mehrfach verschlüsselte Nachricht an Gorett. Alles, was Travenia nun noch blieb, war zu warten und zu hoffen. Wenn der Techniker ablehnte, blieb ihr nichts anderes übrig als zu versuchen, die Flüchtlinge höchstpersönlich zu unterstützen und sich offen gegen Yonis zu stellen, was angesichts ihrer beschränkten Kampffähigkeiten nicht sehr aussichtsreich war.

Sie spürte, wie die Nervosität in ihr hochkochte und ihre Finger zum Zittern brachte. Mehr noch, sie fühlte eine ihrer längst überwunden geglaubten Panikattacken in sich aufsteigen. Um diese nicht ungefährliche Unruhe irgendwie in den Griff zu bekommen, orderte sie sich in ihrem Zimmer-Terminal einen „Time-Out“ und legte sich die kleine Kapsel auf die Zunge. Diese spezielle Droge würde ihr keinen Rausch bescheren, aber in dieser Dosierung ihren Verstand und ihr Zeitgefühl für exakt zehn Minuten ausschalten. Keine Gedanken, keine Gefühle, kein sinnloses Grübeln. Nur Stille. Die vollendete, chemische Meditation. Sie hoffte, dass diese Zeit ausreichen würde. Eine längere Pause traute sie sich nicht zu. In Deovan war es nie gut, lange handlungsunfähig zu sein.

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Es war lange her, dass Navin in die tiefen Ebenen des Kartellamts hinabgestiegen war. Das Gebäude mochte zwar modern und neu aussehen, war jedoch im Grunde ziemlich alt und sogar auf den Ruinen eines Bauwerks errichtet, welches die Whe-Ann einst seinem – wie auch vielen anderen Völkern – zum Geschenk gemacht hatten. Es war einstmals, vor der Neuordnung des Planeten als „Quell der Wunder“ bekannt gewesen und aus seinen Überresten stammten auch die meisten der Technologien, auf die er als Kartellwächter zurückgreifen konnte.

Hier unten sah es aus wie in einer Rumpelkammer, wenn auch sicher wie in einer beeindruckenden. Aus dem ringförmigen Raum, dessen metallene Wände mit genoppten und gerillten, grün schimmernden Strukturen überzogen waren, hatte man die Gerätschaften, die einst mit dem Gebäude selbst verbunden gewesen waren, einfach herausgebrochen und sie achtlos in den Raum gestellt.

Für dieses Zerstörungswerk war nicht er, sondern seine Vorgänger verantwortlich. Warum sie das getan hatten, darüber konnte er nur spekulieren. Womöglich hatten sie so den gefährlichen Einfluss der Whe-Ann unterbinden wollen, als noch nicht klar gewesen war, dass sich dieses Volk, bei seinem Versuch, die Herrschaft über alle anderen Lebewesen zu beanspruchen, fast vollständig selbst auslöschen würde.

Jedenfalls hatte er sich noch nicht überwinden können, die Position der vielen seltsamen Geräte, die mal kubisch, mal scheiben- und mal säulenförmig, mal mit und ohne Interfaces oder Displalys daherkamen, zu verändern. Immerhin funktionierten die meisten davon trotz der brachialen Behandlung noch einwandfrei. Und bei denen, die scheinbar nicht funktionierten, mochte es daran liegen, dass er ihren Zweck einfach noch nicht begriffen hatte.

Navin fand das alles nicht wirklich hübsch oder gar übersichtlich, aber er wollte an diesem chaotischen aber zumindest funktionalen Status Quo trotzdem nichts ändern. Immerhin gehörten diese alten Giganten zu den wenigen wirklich effektiven Machtmitteln, die er besaß. Lediglich bei den kleinen, mobilen Apparaturen, wie der asymmetrischen, fünfeckigen Fernbedienung aus schwarzem Kunststoff, die er immer bei sich trug, traute er sich, sie von ihrem ursprünglichen Platz zu entfernen. Bislang ohne negative Konsequenzen.

Das Gerät, das ihn im Moment am meisten interessierte, war jedoch nicht klein, sondern, gehörte zu den massiven Strukturen, über deren Funktion er wenigstens ungefähr Bescheid wusste. Es war ein monolithartiger Turm. Ein ovaler, nadelförmig zulaufender, weiß-grüner Block aus einem Material, welches weder ganz Metall, noch Mineral zu sein schien, welches aber immerhin über ein halbwegs lesbares Display und einige Eingabemechanismen verfügte. Wie er aus eigenen Versuchen und den überlieferten Aufzeichnungen seiner Vorgänger wusste, handelte es sich um eine Art Sendeturm, der Signale in verschiedenen Frequenzen emittieren konnte und das mit einer enormen Reichweite. Außer bei Testläufen war dieses System noch nie zum Einsatz gekommen und das hatte seine Gründe. Denn der Sendeturm war – obwohl unterirdisch – weitaus leistungsfähiger als die Vorrichtungen aller Konzerne, die in diesem Feld tätig waren zusammen, sogar inklusive ihrer Satelliten und er funktionierte ohne sichtbare externe Energiequelle. Kurzum: Er hätte den Markt zerstört und war deshalb nur für absolute Notfälle zugelassen, wie sie – bislang – noch nie eingetreten waren.

Navin benötigte ihn jedoch für einen anderen Zweck als für profane Unterhaltung oder Nachrichtenübermittlung. Er ging auf den Turm zu, aktivierte das altmodische Display und hangelte sich durch die kryptischen Menüs, bis er die Signalreichweite auf ganz Deovan und seine Satellitenwelten ausgerichtet und den Auslöser der Übertragung auf seine Whe-Ann-Fernbedienung umgelegt hatte. Als er fertig war, leuchtete auf dem Bildschirm eine Zeichenfolge auf, von der er wusste, dass sie in seiner Sprache in etwa „Datenträger einlegen“ bedeutete.

Normalerweise hätte er an diesem Punkt einen Whe-Ann-Datenträger in den einzigen, dafür vorgesehenen Slot stecken müssen, damit der Turm die Daten auslesen und senden konnte, aber dummerweise verfügte er über keinen solchen Datenträger … nun, zumindest nicht direkt.

Allerdings hatte er von Porneck exakte Anweisungen über den Inhalt der Übertragung bekommen und das nicht nur in Form von Beschreibungen, sondern als gedanklich implantierte, digitale Zeichenkette, die seinen Verstand ins Wanken brachte, sobald er sie zu genau betrachtete. Zum Glück war eine bewusste Auseinandersetzung mit diesem Code nicht notwendig für das, was jetzt folgen würde. Die Informationsübertragung lief vielmehr unbewusst ab, wie ihm der Planetenkrebs versichert hatte.

„Lass es beginnen“, flüsterte Navin wie zu sich selbst und sofort ergriff ein heftiger Würgereflex von seinem veränderten Mund Besitz. Er hustete und krampfte, während sich kleine, Gewebeflocken aus seinem Hals und seinem Gaumen lösten und sich wie eine schorfige, dünne Wucherung unter seiner Zunge sammelten. Dann spürte und hörte er gleichzeitig, wie dickflüssige Sekrete aus seinen Speicheldrüsen schossen, die einen widerlichen Geschmack nach verdorbenem Fleisch, giftigem Plastik und heißem Metall absonderten. Sein Mund wurde heißer und heißer, während seine Zunge plötzlich wie von einer unsichtbaren Kraft heruntergepresst wurde und er einen Brechreiz spürte, dem er aus irgendeinem Grund aber nicht nachgeben konnte. Dann endlich endete die Prozedur mit einem bitteren, reflexhaften Spucken, mit dem er die fleischige, feuchtglänzende Replik eines Whe-Ann-Datensticks in seine Hände würgte.

Kurz erschauderte er bei dem ekligen Anblick und der Vorstellung, dass sein Körper dieses Ding produziert hatte. Aber dennoch – oder gerade deswegen – schob er den Datenträger in den Schlitz, hoffend, dass er diese Tortur nicht umsonst mitgemacht hatte.

Seine Hoffnung erwies sich als begründet, denn kaum, da er den Stick eingesteckt hatte, leuchtete der Bildschirm kurz grün auf und die fordernde Nachricht verschwand. Sie wurde abgelöst von der befriedigerenden Meldung: „Warte auf Fernaktivierung“.

Navin rang sich ein erleichtertes Lächeln ab. Das Schlimmste war nun geschafft. Nun brauchte er nur noch auf den richtigen Augenblick zu warten, um Porneck seine Schäfchen in die Arme zu treiben.

Fast als hätte sie nur auf dieses Stichwort gewartet, presste sich die Stimme des Planetenkrebses mit Macht in seine Gedanken. „Worauf wartest du?“, fragte Porneck, „aktiviere es. Jetzt!“

„Nein“, sagte Navin und konnte kaum glauben, dass er sich den Wünschen seines neuen Herren so vehement entgegenstellte, „Sie haben mir eine Frist von einer Woche zugesichert. Und die wird es auch brauchen. Ich will erst den Machtkomplex der Kalten Hand fallen sehen, bevor es geschieht. Ich will, dass sie einander aufreiben und abschlachten. Sobald sie Ihren Gesang hören, werden sie sich nicht mehr für ihre Konflikte interessieren.“

Zu Navins Erleichterung wirkte Porneck eher neugierig als wütend, „Ich hatte nur verlangt, dass du ihnen diese Frist setzt. Nie hatte ich behauptet, dass ich mich daran halten werde. Welchen Sinn hätte es auch, dieses Massaker zu veranstalten? Du hast doch selbst davon gesprochen, dass ein Platz in meiner Mitte ein grauenhaftes Schicksal sei. Lass sie dieses Schicksal doch erleiden und gönne mir diese kleine Befriedigung.“

„Ich will es sehen, Porneck“, sagte Navin und fühlte, wie ein beflügelnder Rausch durch seinen Kopf jagte, „ich will die Imperien dieser Nehmer und Nehmerinnen in Trümmern sehen, vor allem von jenen, die sich am Geflecht vergangen haben. Ich will, dass sie begreifen, wie machtlos sie sind. Wie es sich anfühlt, wenn ihnen alles entgleitet, was ihnen in den Schoß gefallen ist. Erst dann, werden sie in die ewige Folter der Vereinigung mit Ihnen geführt.“

„Du bist ziemlich unverschämt für einen Diener“, bemerkte Porneck nun doch etwas drohend.

„Ich bin Ihr Partner, kein Diener. Und selbst wenn ich es wäre: Ein guter Diener spricht die Wahrheit“, entgegnete Navin. Noch vor wenigen Stunden hätte er bei einem solchen Gespräch mit Porneck vor Angst gezittert, aber inzwischen, war es als hätte ihn jegliche Furcht verlassen. Er war entschlossen. Entschlossen, dieser Welt seinen Stempel aufzudrücken.

„Ich respektiere deine Sichtweise“, sagte Porneck beeindruckt, „und vor allem deinen Eifer. Aber dir ist schon bewusst, dass nur der Machtkomplex unter dem Konflikt leiden wird, oder? Die anderen werden lediglich ein paar Konzernsoldaten verlieren. Bauernopfer, Geber, mehr nicht. Schmerzhafte Verluste, sicher, aber weit entfernt von einem Ruin.“

Navin grinste. Er fand es erstaunlich und beruhigend zugleich, dass es anscheinend noch Dinge gab, die er vor dem Planetenkrebs verbergen konnte.

„MKH ist der mächtigste Waffenkonzern Deovans und man wird sie unvorbereitet treffen. Das wiederum bedeutet, dass sie nicht all ihre Waffen zur Verteidigung einsetzen können und einige sind auch gar nicht für den Einsatz in Innenräumen gedacht. Raketen, Bomben, große Drohnen und dergleichen. Es wäre doch eine Schande, wenn sie nicht zur Anwendung kämen. Sie könnten so viele schöne Ziele finden.“

Porneck lachte, was klang wie schleimiges Gummi, das über einen Hallenboden rutschte, „du willst sie also auf die Lager- und Produktionsstätten der führenden Konzerne niedergehen lassen? Ein amüsanter Plan, sicher. Aber wie willst du ihn umsetzen?“

„Ich sitze hier auf einer Goldgrube an alter Technologie mit vielfältigem Nutzen“, antwortete Navin, „es ist mir verboten das meiste davon einzusetzen und würde nicht nur eine Amtsenthebung, sondern auch harte Vertragsstrafen nach sich ziehen, aber aus irgendeinem Grund kümmern die mich gerade nicht. Außerdem ist das nur der erste Teil meines Vorhabens. Sobald die großen Konzerne brennen, werde ich allgemein bekannt machen, dass der Rat die Einführung der Luftprivatisierung plant. Das ist nicht mal wirklich gelogen, sondern auf lange Sicht mehr als wahrscheinlich. Zevil Nehmer hat so einen Plan bereits offenbart und ist damit nur knapp gescheitert. Ich habe Aufnahmen, die sein Vorhaben belegen. Die Leute werden Panik kriegen und mit etwas Glück zerstören, was noch von der Konzerndominanz übrig ist.“

Navin grinste mit seinem veränderten Mund und spürte Pornecks Zustimmung wie eine warme Welle in seiner Brust aufsteigen.

„In Ordnung“, sagte der Planetenkrebs, „aber sobald du dein ersehntes Chaos hast, wirst du die Nehmer zu mir führen. Und zwar, bevor man sie alle an den Straßenlaternen aufgeknüpft hat. Ich brauche sie lebend. Diese Beute ist eh schon mager genug. Sollte auch nur einer von ihnen sterben, wirst du mir dafür bezahlen. Und glaub mir, Navin, ich werde Wege finden, dich bezahlen zu lassen.“

Navin nickte. Für ihn war das ein geringer Preis für seine Rache. Der Tod würde ohnehin eine Erlösung bedeuten, die er keinem von ihnen gönnte.

Mit einem mal ging eine heftige Erschütterung durch den Raum. Viele der größeren Strukturen – inklusive des Sendeturms – schwanken und erzitterten, bevor sie mit einem Ruck einen halben Meter nach unten sackten und in glatten, halbkugelförmigen Senken verschwanden. Mit offenem Mund starrte Navin in die Kuhle unterhalb des Sendeturms. Es war kein unregelmäßiges Erdloch, sondern eine vollkommen glatte Ausbuchtung mit einem surreal anmutenden Gitternetz aus weißen Linien, um die sich knotige, graue, vertrocknete Wurzeln wanden.

„Was ist das, Porneck?“, fragte Navin erschüttert. Doch kaum, da er diese Worte ausgesprochen hatte, schnappten die Whe-Ann-Gerätschaften wieder schwankend und ruckelnd in ihre ursprüngliche Form zurück, ohne sichtbare Schäden davonzurtragen. Das heißt, nicht ganz. Für einen winzigen Augenblick sah er sie zerstört, zertrümmert und völlig nutzlos vor sich, direkt neben ihren intakten Geschwistern, bevor diese optischen Zwillinge verblassten und aus seiner Wahrnehmung verschwand.

„Das Geflecht“, kam Navin der noch ausbleibenden Antwort seines Herren auf seine eigene Frage zuvor, „Sie wollten es doch stabilisieren.“

„Das werde ich noch tun“, beruhigte ihn Porneck, „es ist nur etwa kompliziert, aber es liegt in meiner Macht. Sorge dich nicht, Navin.“

Das aber tat Navin durchaus. „Wenn dieser Turm zerstört wird oder Deovan kollabiert, bevor Sie …“

„ICH WEISS, WAS ICH TUE“, donnerte die Stimme des bisher so gelassenen Planetenkrebs wie eine Granate in Navins Kopf hinein, „und wenn du noch einmal an meinen Fähigkeiten zweifelst, ist das Geflecht deine geringste Sorge. Sklave!“

~o~

„Worum genau ging es in diesen Gruselgeschichten?“, fragte Callan, dessen Wissen über die Whe-Ann eher lückenhaft war.

Clary schien nachzudenken und dabei legte sich ein seliger, nostalgischer Ausdruck auf ihr Gesicht, so als tauche sie noch einmal in die Erinnerungen ihrer kindheitlichen Harmonie ab. Einer falschen Harmonie natürlich, aber dennoch verlockend.

„Dass die Whe-Ann einst sehr mächtig waren, weißt du, oder?“, fragte sie.

Callan nickte.

„Nun, die Whe-Ann waren schon voller Technik und Implantate und wollten ihre Körperlichkeit schließlich ganz ablegen und zu so etwas wie einem gemeinsamen Geist in der Maschine werden. „Whetera“ nannten sie es, glaube ich, dieses Wesen, in dem sie aufgehen wollten. Sie hätten beinah das gesamte Multiversum unter ihre Herrschaft gebracht. Zumindest war das der Plan, den sie verfolgt hatten, für den sie all ihre Geschenke unter den Völkern verteilt hatten und der jetzt zur Reife gelangen sollte.

Gruselige Vorstellung, nicht? Ich meine, wer tut so etwas? Sie haben es sicher auf ihre Art gut gemeint – warum sonst, sollten sie nach Herrschaft streben – aber es ist doch sicher total langweilig und anstrengend so viele Lebewesen zu kontrollieren. Erst recht wenn man körperlos ist und nicht mal etwas leckeres Essen oder sich und andere berühren kann.

Aber egal. Jedenfalls muss ihnen bei ihrem Versuch ein kleiner Fehler unterlaufen sein. Welcher genau, das weiß irgendwie niemand, aber statt uns alle zu beherrschen sind sie praktisch von der Bildfläche verschwunden. Und so war auch ihr Planet bald eine verlassene Ruine. Die weckt wohl aber die Abenteuerlust von vielen Leuten, auch wenn die eigentlich wissen sollten, wie gefährlich es ist dorthin zu gehen. Irgendwie kann ich das ja schon verstehen, immerhin ist es aufregend und manchmal würde ich auch gern so ein Abenteuer erleben.

Aber ich weiß nicht, ob ich dafür ausgerechnet Anntrann besuchen würde. Man erzählt sich nämlich, dass es dort … spukt. Dass die alten Maschinen manchmal erwachen, dass Stimmen aus dem Nichts erklingen und mit einem reden. Solche Sachen eben. Manche Besucher sollen in den Straßen und Gebäuden verschollen oder schwer verletzt worden sein. Und andere verhalten sich nach ihrer Rückkehr seltsam oder scheinen … verflucht, so als wären die Maschinen in ihrer Heimat plötzlich wütend auf sie geworden. Aber der Planet macht eben viele neugierig und manche hoffen immer noch etwas Wertvolles oder Interessantes dort zu finden, auch wenn man schon eine Menge von dem kostbaren Kram weggeschleppt hat. Sicher haben sich auch unsere Mitreisenden deswegen auf den Weg gemacht.“

„Das klingt tatsächlich nicht wie ein Ort, an dem man gerne sein möchte“, fasste Callan zusammen und musste ein zynisches Kichern unterdrücken. Wie konnte ein einzelner Mann nur so viel Pech haben wie er?

„Nein“, bestätigte Clary, „wirklich nicht. Ich meine, es ist eine schöne Geschichte, aber auf den Fluch kann ich gut verzichten.“

„Ich auch“, sagte Callan seufzend, „leider können wir nicht einfach zurück.“

„Wieso nicht?“, fragte Clary, „du hast doch viel Geld. Für Geld tun die Leute doch fast alles. Sie sind sogar … für uns gestorben.“

Bei diesen Worten rannen ein paar Tränen aus Clarys Augen und Callan folgte dem plötzlichen Impuls, sie an sich zu drücken. Die Berührung schien ihr gutzutun, dennoch konnte er ihr gebrochenes Herz förmlich vor sich sehen, das Blut ihrer verletzten Ideale auf seiner Zunge schmecken.

„Es tut mir leid, dass es so gekommen ist“, sagte Callan matt, da ihm nichts Besseres einfallen wollte, „ich … manchmal muss man einfach überleben.“

„Das hätten diese Leute wohl auch gerne getan“, bemerkte Clary traurig.

„Ja“, sagte Callan tonlos und spürte eine heftige Scham in sich aufsteigen. Schnell wechselte er das Thema. „Jedenfalls ist es hier nicht so einfach. Right Flight hat diese Route sicher fest eingeplant. Und selbst wenn ich all diese Leute besteche umzukehren, macht uns das noch auffälliger. Und ich will es Rise nicht noch einfacher machen, uns zu folgen. Außerdem bringt dieses Schiff bestimmt auch Besucher von dem Planeten weg, die dringend darauf warten, wieder abgeholt zu werden. Falls es dort so gefährlich ist, wie du meinst, können wir das nicht verantworten. Leider müssen wir wohl dorthin. Ob wir wollen oder nicht. Wir haben ohnehin schon mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht.“

Das war es, was er Clary erzählte. In Wahrheit fragte sich Callan aber, ob es ihm nicht einfach nur widerstrebte, einen weiteren großen Teil seines unverhofften Reichtums für Bestechungsgelder aufzugeben. Doch er konnte sich diese Frage nicht beantworten.

„Vielleicht gibt es eine andere Lösung“, sagte Clary nachdenklich.

„Welche denn?“, fragte Callan mit vorsichtiger Hoffnung.

Doch statt ihm zu antworten, lehnte Clary sich in ihrem Sitz zurück, bewegte ihre Hände, als würde sie ein unsichtbares, altmodisches Buch öffnen und begann mit sonoren, hypnotischen und doch ungewohnt ernsthaften Worten zu sprechen und Callan, dessen Geist doch eigentlich viel zu aufgewühlt war, konnte nicht anders, als zu lauschen, zu folgen, zu versinken.

„Es begab sich eines schicksalhaften Tages, dass in den Herzen jener mutigen Männer und Frauen, die entschieden hatten, sich auf ihre gefährliche Reise in das verfluchte Anntrann zu begeben, eine neue Art von Sehnsucht erwachte. Eine Sehnsucht, wie sie sie vor ihrer Reise niemals gekannt hatten und die nun doch wie süße prickelnde Brause durch ihre Adern rauschte, sanft und kribbelnd an ihren Gliedern zog und ihre Augen in die Ferne richtete. Ein Verlangen, ein Sog, fort von der seelenlosen Maschinenwelt, hin zum kristallgesäumten Enigma, wo die schroffen Nadelgebirge sich wie ein zuckriger Kranz um ihr mystisches Herz scharen.

Dem Monument des Wissens, dem Tempel offenbarter Geheimnisse, der papierlosen Bibliothek aus Licht, Offenbarung und geflüsterten Worten. Den gläsernen Archiven von Rihn. Ein Ort, nicht frei von finsteren Ecken, morbiden Schicksalen und tödlichen Gefahren, doch nicht verloren, nicht vergessen, nicht gänzlich von Bosheit vergiftet, wie das planetare Grab der gescheiterten Maschinengötter. Eine Welt so scharfkantig und unendlich wertvoll wie ein gewaltiger Diamant.

Unsere Helden wussten, dass sie dort – und nur dort – ihr tief ersehntes Abenteuer finden würden. Dass sie nur hier, in den funkelnden Kristalllabyrinthen, all die Reichtümer finden würden, nach denen es sie gelüstete. Und so warfen sie alle Zweifel über Bord, entsagten dem Korsett ihrer Pflichten und ließen sich nicht länger vom Diktat der Entscheidungen ihres früheren Ichs knechten. Sie setzten einen neuen Kurs, wissend, dass er sie in eine Zukunft führen würde, die alles, was sie je gekannt hatten, in den Schatten stellen würde.“

Callan erwachte. Das war seltsam, denn eigentlich war er die gesamte Zeit über wach gewesen, war gewandert durch die so wundersamen wie tückischen Kristallhöhlen und über die hohen Nadelgebirge von Rihn.

Noch immer spürte er den Staub der unzähligen Mineralien auf seinen Fingern, schmeckte die warme, trockene, ionisierte Luft auf seiner Zunge. Er sah zu den anderen Passagieren. Die muskulösen, heftig mit Implantaten bestückten Glücksritter hielten ihre Augen noch immer geschlossen. Die zynischen, verbitterten Gesichter gesegnet mit einer ungewohnten Entspannung. Auf ihren Lippen das vielleicht erste Lächeln ihres Lebens, das mehr war als eine schlecht kaschierte Wunde oder eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Einige glucksten, manche hatten feine Tränen auf ihrem Gesicht und andere hielten sich selbst sanft umarmt. Plötzlich ging ein Ruckeln durch das Schiff. Callan spürte, wie leichte, aber nicht zu leugnende G-Kräfte auf seinen Körper wirkten und sah, wie die Sterne am Fenster in Bewegung gerieten.

„Was hast du getan?“, fragte Callan, Clary, die noch immer ihre Lippen bewegte und leise, sublime Worte murmelte. Langsam versiegend, wie ein tröpfelndes Rinnsal.

Einige Sekunden lang antwortete Clary nicht. Sie hielt ihre eigenen Augen noch immer geschlossen wie eine ruhende Göttin und Callan, der zumindest ahnte, was passiert war, war einen Moment lang völlig davon überzeugt, dass sie genau das war: ein mächtiges, ehrfurchtgebietendes Wesen, das mit dem Verstand der Sterblichen spielte, wie es ihm gefiel.

Dann schlug Clary ihre schönen, naiv glänzenden Augen auf und grinste Callan warmherzig an.

„ich habe unsere Reiseroute geändert“, verkündete sie, „die Archive sind ein viel schöneres Reiseziel. Meinst du nicht?“

~o~

„Ich möchte Ihnen hiermit mitteilen, dass Ihre Mitarbeit und ihre Expertise nicht länger benötigt werden. Aber ich will Ihnen dennoch von ganzem Herzen für Ihre Bemühungen um unsere Sache danken“, sagte Disruptor Yonis mit einem ausnehmend freundlichen Gesichtsausdruck, den sogar seine Seitengesichter widerspiegelten, „ohne Ihre Vorarbeit wäre unser Erfolg nicht denkbar gewesen und sollten wir in diesem Konflikt triumphieren, wird jeder Einwohner unserer Welt wissen, welche große Rolle sie bei unserer Verteidigung gespielt haben. Ihre Namen – so könnte man sagen – werden in die Legenden eingehen. In diesem Zug will ich mich auch ausdrücklich für meine unangemessenen Worte vorhin entschuldigen. Ich habe viele Tugenden, aber Stressresistenz gehört nicht dazu. In solchen Situationen werde ich immer etwas … ungehalten. Aber natürlich weiß ich Ihren Einsatz trotzdem zu schätzen.“

„Es ist soweit“, dachte Garwenia und spürte, wie die anderen beiden ihrer Einschätzung lautlos zustimmten.

„Sie können sich mittlerweile also gegen einen erneuten Angriff mit dieser Waffe schützen?“, fragte Lörrond mit bemerkenswert gut geschauspielertem Interesse.

„Ja“, bestätigte Yonis, „natürlich muss ein entsprechender Verteidigungsmechanismus erst noch entwickelt werden, aber die Grundlagen haben wir – dank Ihrer Hilfe – geschaffen. Der Rest ist eigentlich nur noch ein wenig Fleißarbeit. Doch solche Fragen müssen Sie nicht länger belasten. Wir werden Sie jetzt wie besprochen zu Ihren Heimatwelten bringen oder wohin auch immer Sie möchten. Ara wird Sie zu den Transportern eskortieren. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Wir stehen wirklich in Ihrer Schuld!“

Die drei sahen sich und den Disruptor wortlos an und vor allem Garwenia und Lörrond wussten nicht so recht, wohin sie ihren Blick wenden sollten, während sie der Disruptor forschend und zunehmend misstrauisch fixierte.

„In Wahrheit sind Sie doch dankbar, dass wir von hier verschwinden, oder nicht?“, meinte Zuh, die als einzige ruhig geblieben war, plötzlich. Für einen Moment blieb Garwenia fast das Herz stehen, auch wenn ihr das feine Lächeln und das Augenzwinkern in den Zügen der düsteren Frau nicht entging.

Yonis lachte, es klang beinah ausgelassen. „Sie besitzen wirklich eine gute Auffassungsgabe. Tatsächlich haben Sie damit sehr recht, wenn ich so offen sein darf. Aber das liegt nicht an Ihnen als Personen. Ich … arbeite lieber allein oder mit einem sehr kleinen Team, müssen Sie wissen. Ich bin nun einmal ein Eigenbrötler. Außerdem habe ich auch so schon immer etwas Gesellschaft bei mir.“

Yonis deutete auf seine Seitengesichter, deren gespenstisch-fröhliches Grinsen gut geeignet gewesen wäre, nicht nur Kindern den Schlaf zu rauben.

„Gut gemacht, Zuh“, dachte Garwenia, die inzwischen verstanden hatte, dass die Luth Nomorerin lediglich die fühlbare Spannung aus der Situation hatte nehmen wollen, um das Misstrauen des Disruptors zu besänftigen. Mit Erfolg offensichtlich.

„Da haben sie wohl recht“, sagte Zuh ebenfalls lachend zu Yonis. Ihr Lachen klang verloren, mehr wie ein einsames Klagen auf einem nebeligen Friedhof, aber dennoch aufrichtig genug.

„Danke, Disruptor Yonis“, sagte Garwenia ernst, „aber eine Frage hätte ich noch.“

„Ja?“, sagte Yonis.

„Ist es nicht sehr riskant, mit Zivilschiffen direkt durch ein Kriegsgebiet zu fliegen?“, fragte Garwenia.

„Es ist riskant“, bestätigte Yonis, „so ehrlich will ich mit Ihnen sein. Zwar gibt es gerade keine direkten Kampfhandlungen in unserem Orbit, doch natürlich ist es jederzeit möglich, dass der Feind sich aus der Deckung wagt. Leider ist das aber die einzige Möglichkeit für Ihre Heimreise und ich kann Ihnen zumindest zusichern, dass unsere Schiffe über einen sehr schnellen Antrieb und starke Schilde verfügen. Ihre Überlebenschancen wären selbst bei einem Angriff noch hoch. Fall Sie trotzdem dieses Risiko scheuen, kann ich Ihnen aber gerne anbieten, dass Sie hier bei uns bleiben, in einem hübschen, sauberen Zimmer, inklusive Unterkunft und Verpflegung. Entweder hier in unserem Hauptquartier oder irgendwo in einer unserer Städte. Jedoch muss ich sie sicher nicht darauf hinweisen, dass nur eine Sache gefährlicher ist als die Flucht aus einem Kriegsgebiet: dort zu verweilen. Aber letztlich ist es natürlich allein Ihre Entscheidung.“

„Das klingt vernünftig. Und fair“, dachte Lörrond zu den anderen, „vielleicht ist er doch aufrichtig. Sonst würde er uns so ein Angebot nicht machen.“

Doch ungeachtet seiner Worte wirkte er längst nicht mehr so optimistisch wie zuvor, sondern eher wie jemand, der um jeden Preis versucht sich selbst zu überzeugen, dass schon alles in Ordnung war.

„Nein“, entgegnete Zuh unhörbar, „er weiß nur mit Sicherheit, dass wir dieses Angebot ablehnen werden und dass es ihn besser aussehen lässt.“

„Ich bin dabei“, verkündete Garwenia laut, „ich will unbedingt Braviania wiedersehen. Wie steht es mit euch?“

„Ich riskiere es“, meinte Lörrond.

Auch Zuh nickte und sorgte dabei gleich noch dafür, dass auch Regevo, ihre Puppe, sich diesem Nicken anschloss.

„Perfekt“, sagte Yonis, „wie gesagt, Ara, wird sie zum Hangar führen. Es war – trotz der Umstände – interessant gewesen, mit Ihnen zu arbeiten.“

Der Disruptor machte eine knappe Abschiedsgeste, dann drehte er sich um und ging zurück zu Kollom und Sandra.

„Ich glaube, ihr hattet die ganze Zeit über recht“, gestand Lörrond widerwillig ein, „die wollen uns definitiv abservieren.“

„Immerhin hast du es nun begriffen“, sagte Garwenia.

„Das habe ich“, stimmte Lörrond zerknirscht zu, „aber was machen wir jetzt?“

„Zur Schlachtbank marschieren. Wie braves Vieh. Und darauf hoffen, dass wir uns auf Nanita und Travenia verlassen können“, erwiderte Zuh.

„Wo ist Nanita überhaupt?“, fragte Garwenia.

„Offenbar fort“, stellte Zuh fest, nachdem sie sich gründlich umgesehen hatte.

Garwenias Magen krampfte sich zusammen als hätte sie gerade an einem Keimbeutel genascht.

~o~

„Verfluchte Scheiße!“, murmelte Nanita leise zu sich selbst, während sie die Korridore zum Konferenzraum hinuntereilte, „ich hätte Torvilla nicht kontaktieren dürfen.“

Während die Korridore an ihr vorbeirasten, hatte sie noch jedes Wort von Torvillas Nachricht genau vor Augen.

„Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, Nanita. Aber ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance. Eine allerletzte. Kommen Sie sofort zu mir! Wir müssen unser gemeinsames Vorgehen gegen Kollom besprechen. Ich erwarte sie in exakt vier Minuten im Konferenzraum. Seien sie pünktlich. Wenn nicht, finde ich Sie. Sie kennen die Konsequenzen.“

Dieses Ultimatum hatte Nanita vollkommen in die Defensive gedrängt. Sie hatte keine Zeit. Wortwörtlich. Keine Zeit für Pläne und strategische Überlegungen, keine Zeit, um das Risiko abzuwägen, sich den Flüchtlingen anzuschließen und auch kaum noch Zeit, um ohne übergroße Eile ihren Termin einzuhalten. Dabei wusste sie, dass es ein Fehler war sich praktisch in Torvillas Hände zu begeben. Dass sie gerade höchstwahrscheinlich in ihr Verderben rannte, aber die anderen Optionen waren kaum besser. Wenn sie Torvillas Einladung nicht folgte und sich stattdessen direkt Garwenia und den Flüchtlingen anschloss, würde man sie finden und direkt liquidieren oder gefangennehmen.

Sicher war Ara gerade bei den Flüchtlingen. Torvilla wusste das zwar nicht, aber wenn sie wollte, würde sie es schon herausfinden und dann brauchte sie der Rorak nur den Befehl zu erteilen, mit ihnen kurzen Prozess zu machen. Sie wusste, dass sie kaum eine Chance gegen diese Frau hätten. Nicht einmal zu fünft. Eine Flucht aus dem Gebäude käme auch nicht infrage. Sobald sie in Richtung Ausgang rannte, würden die Konzernsoldaten in Alarmbereitschaft versetzt und wenn sie langsam ging, würde man sie in jedem Fall schnappen, sobald ihre Frist verstrichen war.

„Warum habe ich diese verfickte Nachricht geschrieben!“, schalt sie sich erneut. Tatsächlich war das ziemlich dumm gewesen. Hätte sie sich nicht bei Torvilla gemeldet, hätte es sicher etwas länger gedauert, bis diese ihre Drohung wahrgemacht hätte, aber zu diesem Zeitpunkt war es ihr noch logisch erschienen, sich alle Optionen offenzuhalten. Nun, offenbar war ihr Urteilsvermögen ziemlich beschissen geworden.

Trotz ihres kräftezehrenden Dauerlaufs hatte Nanita schon mehrfach versucht, ihren Zugang zum Überwachungssystem dazu zu nutzen, eine Vorstellung davon zu bekommen, was sie im Konferenzraum erwarten würde. Doch alles, was sie wahrnahm, war Schwärze und Stille. Irgendwie schien Torvilla eine Möglichkeit gefunden zu haben, sich vor ihrem und Travenias Zugriff abzuschirmen. Hatte sie die Manipulationen bereits bemerkt? Dann wäre Nanitas Schicksal praktisch besiegelt.

Da sie sich da aber nicht sicher sein konnte, hoffte sie immer noch vage darauf, dass Torvilla Kollom genug hasste, um sich ihrer Hilfe zu bedienen. Wenn nicht … an diesen Fall wollte sie überhaupt nicht denken, aber vielleicht drängte er sich gerade deshalb immer wieder mit Macht in ihr Bewusstsein. Sie hatte schon einigen Gagitsch-Transformationen beigewohnt. So etwas am eigenen Leib zu durchleben, musste grauenhaft sein. So schlimm, dass selbst ein paar der traditionell nicht an ihren Mitbürgern interessierten Deovani mit Bedauern und Anteilnahme von den armen Seelen sprachen, die dieses Schicksal erleiden mussten. Sie für ihren Teil hatte den Anblick zwar recht gut verkraftet, aber nur, weil sie es nie für möglich gehalten hatte, je ein solches Schicksal zu teilen.

Nanita wünschte sich, dass sie wenigstens genügend Geld für eine Selbstmordpille gehabt hätte. In der Firma waren sie natürlich verboten, da ein Freitod einem schweren Verbrechen gegen die Eigentumsrechte des Konzerns gleichgekommen wäre, aber in den Endmärkten gab es einen regen Handel damit.

Nanita sah auf ihre Uhr. Noch vierundzwanzig Sekunden. Zum Glück lag der Eingang zum Konferenzraum hinter der nächsten Biegung, aber danach wartete eine lange Gerade. Nanita holte noch einmal alles aus ihrem schwitzenden Körper heraus. Ihr Herz raste, ihr Atem stach in ihrer Kehle. Noch acht Sekunden. Der Türgriff war fast in Reichweite. Endlich ergriff sie ihn. Noch drei Sekunden. Sie öffnete die Tür und stolperte herein. Erleichtert. Und doch unfassbar ängstlich.

~o~

„Nanita“, sagte Torvilla so überrascht, als hätte sie gar nicht mit ihrem Kommen gerechnet, „das war erstaunlich knapp. Sie lieben es anscheinend, Ihr Leben auf der Messerspitze zu balancieren, was?“

„Ich … bin … rechtzeitig. Das ist es, … was zählt“, keuchte Nanita so selbstbewusst, wie möglich, da sie nicht glaubte, dass ihr Unterwürfigkeit noch irgendetwas bringen würde und alles andere ihre Ängste nur noch weiter geschürt hätte.

„Ist das so?“, fragte Torvilla, die sich entspannt mit einem Thought-Shot auf die Kante des großen Konferenztischs gesetzt hatte, einen kleinen, mobilen Touchscreen in der anderen Hand, „für mich zählen noch ganz andere Dinge. Etwa Dominanten, geschäftlicher Erfolg und … ganz besonders Kolloms Misserfolg. Leider können Sie mir mit nichts davon dienen.“

Nanita verspürte den plötzlichen Wunsch, sich zur Tür umzudrehen und zu fliehen, gab dem Impuls aber nicht nach. Noch nicht.

„Sie kennen die Fakten“, sagte sie selbstbewusst, auch wenn sie sich eigentlich schwach, unsicher und so müde fühlte, wie nicht einmal an den schlimmsten Tagen ihrer Tätigkeit als ‚Schaufel’, „und ich kenne sie auch. Ich habe meine Aufgabe nicht erfüllt, das will ich nicht leugnen. Aber sie haben mich hierher bestellt, um unser Vorgehen gegen Kollom zu besprechen, nicht mein Versagen. ‚Die Zeit rennt‘ – das waren Ihre Worte.“

Daraufhin grinste Torvilla breit, aber Nanita war sich unsicher, ob das ein gutes Zeichen war.

„Sie haben natürlich recht“, sagte Torvilla, „Kollom darf seinen Posten nicht behalten. Das hat oberste Priorität.“

Nanita seufzte innerlich erleichtert auf und gönnte sich zumindest einen kleinen Schluck Hoffnung. Er schmeckte süß. Wie die meisten Illusionen.

„Gut zu wissen“, sagte Nanita und kam ein paar Schritte auf Torvilla zu, „sie wissen, dass ich diesen Mistkerl genauso verachte wie sie. Mindestens. Und ich denke, dass wir gute Chancen haben, seinen Heldenglanz zu trüben, wenn er es nicht schafft, in der vereinbarten Zeit einen Kunden zu finden. Die Scyonen sind leicht zu erzürnen. Ich muss nur dafür sorgen, dass ihr Zorn auf Kollom fällt.“

Nanita sah Torvilla, die wie abwesend auf ihr Display starrte, erwartungsvoll an. Die Vize-CEO rührte sich erst nicht, verharrte starr, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Dann hob sie – schnell wie ein Raubtier – ihren Kopf.

„Sie wissen, wie es um den Kundenstamm von MKH bestellt ist?“, fragte Torvilla trocken und eiskalt.

„Na … Natürlich, ich …“, begann Nanita und würgte, als sich der süße Geschmack der Hoffnung in bitteres Gift verwandelte.

Nanita wollte fortfahren, doch Torvilla unterbrach sie streng, „Ihnen ist bewusst, dass wir einen Großteil unserer religiösen Kunden verloren und noch keinen Ersatz gefunden haben?“

„Ja“, gestand Nanita ein, „aber …“

„Und dennoch wollen Sie die geplanten Verhandlungen manipulieren und einen unserer aussichtsreichsten Großkunden erzürnen?“, fuhr Torvilla fort.

„Nein, so meine ich das nicht. Ich … es ist ja nur vorübergehend. Nur, bis Kollom fort ist. Danach können wir die Gespräche mit den Scyonen wieder aufnehmen“, entgegnete Nanita.

„Mit den leicht erzürnbaren Scyonen, meinen Sie?“, fragte Torvilla stirnrunzelnd.

„Der Plan ist nicht ideal, das gebe ich zu …“, sagte Nanita, die merkte, wie ihr das Selbstbewusstsein zunehmend entglitt, „… aber es ist die letzte Chance Kollom aufzuhalten und …“

„Da irren Sie sich“, sagte Torvilla und nahm einen Schluck aus ihrem Glas, „Kolloms Ende wird auch ohne ihren albernen und gefährlichen Plan kommen. Ich habe dafür alles nötige in die Wege geleitet. Mithilfe eines kompetenteren Kooperationspartners. Wissen Sie, Nanita, Ihre Zeit als CEO ist Ihnen nicht gut bekommen. Trotz all des Grabens im Erdreich halten Sie sich immer noch für wichtig. Für überlegen. Für intelligent. Doch das sind Sie nicht. Sie sind eine rostige Schaufel in einem Krieg der Schwerter und ich brauche Ihre ‚Hilfe‘ nicht länger.“

Nanita erstarrte. Sie fühlte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte, schaffte es aber dennoch irgendwie Worte hervorzubringen.

„Warum haben Sie mich dann hierher bestellt?“, fragte sie in der wahnhaften Hoffnung, dass die Antwort anders lauten könnte als in ihrer Vorstellung.

„Um zu ernten“, sagte Torvilla ruhig und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas.

Jetzt sah sich Nanita doch nach Fluchtwegen um. Sie drehte sich um. Rannte los. Hämmerte vergeblich gegen die inzwischen automatisch verriegelte Tür, suchte die Wände ab und stürzte sich schließlich verzweifelt auf Torvilla, als sie auch dort keinen Ausweg fand. Es war das elektrische Schutzfeld, rund um den Körper der stellvertretenden CEO, das ihr das Bewusstsein raubte und sie hilflos auf den Boden sinken ließ.

~o~

„Wird es auf unserem Flug etwas zu essen geben?“, fragte Lörrond.

Obwohl Lörrond diese Frage sicher nur gestellt hatte, um die bedrückende Stille auf dem Weg durch die reizlosen Korridore zu brechen, verspürte Garwenia eine gewisse Fremdscham. Der Mann aus Rihn klang dabei wie ein Kind, das seine Eltern nach Zuckerwerk fragte.

Ara, die rorakische Sicherheitsfrau, die sie führte, schien das ähnlich zu sehen und bedachte ihn mit einem belustigten, spöttischen Blick.

„Happa gibt’s an Bord der Schiffe ‘ne Menge“, sagte sie schmunzelnd, „die Automaten dort spucken unzählige, verschiedene Köstlichkeiten aus, die fantastisch aussehen und alle gleich beschissen schmecken!“

Sie lachte trocken und wurde sofort wieder ernst. „Ihr werdet es erleben. Wir werden euch wohl kaum auf eurem Flug verhungern lassen. Will ja keiner unsere Kriegshelden über die Klinge springen sehen, nich’?“

Die Weise, wie sie dieses vermeintliche Kompliment betonte, machte deutlich, wie viel sie von ihnen hielt. So wenig sogar, dass sie sich nicht einmal sonderlich bemühte, die Scharade aufrechtzuerhalten, die Yonis sicher mit Sorgfalt geplant hatte. Hätte Garwenia nicht ohnehin schon eine Ahnung gehabt, was sie erwartete, wäre sie spätestens bei Aras zynischer Art misstrauisch geworden. Ansonsten gab es aber dafür zumindest augenscheinlich keinen Anlass. Der Weg, auf dem sie geführt wurden, machte bislang nicht den Eindruck eines Pfades in den sicheren Tod. Im Gegenteil: es gab sogar Hinweisschilder und Markierungen, die nahelegten, dass sie tatsächlich unterwegs zu einem Raumhangar waren.

Garwenia glaubte das jedoch keine Sekunde. Und das Fehlen solcher tröstenden Illusionen machte sich um so schmerzhafter bemerkbar, da Nanita nun doch nicht wie geplant zu ihnen gestoßen war. War sie aufgeflogen? Hatte sie sie verraten? Oder war ihre Abwesenheit nur ein dummer Zufall? Und wenn sie das seltene Glück hatten, dass Letzteres zutraf: Würden sie und Travenia sich dennoch an den Plan halten oder es sich anders überlegen?

Das waren viel zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort hatte und sie hatte bei jedem Schritt das Gefühl, dass diese Fragen sie zu Fall bringen könnten. Wie sollten sie reagieren, wenn keine Hilfe kam? Versuchen, Ara zu überwinden? Vielleicht. Aber wie?

„Kannst du sie im Notfall ausschalten?“, fragte Garwenia Zuh über ihre Gedankenverbindung.

„Vielleicht“, antwortete Zuh, „wenn ich schnell genug bin. Aber womöglich bin ich es nicht. Diese Frau ist auf das Töten trainiert. Und zwar ihr ganzes Leben lang. Das zeigen schon allein ihre Bewegungen, das Spiel ihrer Muskeln, die Art, wie sie uns und ihre Umgebung im Blick behält.“

„Dann müssen wir sie direkt aus dem Weg räumen“, schlug Garwenia vor, „jetzt, wo sie nicht mit Widerstand rechnet.“

„Ich töte nicht ohne Not“, lehnte Zuh ab, „eigentlich tue ich es für gewöhnlich sogar nur auf ausdrückliches Verlangen der Zielperson. Der Tod ist ein Geschenk, mit dem man nicht verschwenderisch umgehen sollte. Und selbst, was ich mit Regevo tat, war schon ein Grenzfall, für den man mich in meiner Heimat tadeln könnte.“

„Ich kann auf dieses Geschenk gerne verzichten“, bemerkte Lörrond, „und deshalb hat Garwenia recht: Wir müssen die Rorak kalt machen!“

„Selbst wenn wir dies täten, würde uns das nicht weiterbringen“, erklärte Zuh ruhig, “wir sind auf ihrer Welt, in ihrem GFÄNGNIS. Ohne Hilfe kommen wir hier nicht weg.“

„Da muss ich Zuh leider zustimmen“, meinte Garwenia resigniert, „auch wenn es mir ebenfalls nicht gefällt.“

„Und was schlagt ihr stattdessen vor?“, fragte Lörrond, „sollen wir uns ohne Widerstand hinrichten und foltern lassen?“

„Das ist nicht nötig“, sagte Zuh und ihre Stimme bekam plötzlich etwas ungemein Sanftes, „wenn wir keine Hilfe bekommen, kann ich uns helfen, zu fliehen. Dorthin, wo wir nicht leiden und ihren Plänen nicht dienen müssen. Wenn ihr mich darum bittet, so werde ich euer Leben sanft beenden. Und auch meines. Auf das wir in den starren Schlaf eintauchen und irgendwann einen neuen Kreis beginnen.“

„Hat dir ein Pyritgeweihter ins Hirn geschissen? Das ist vollkommener Irrsinn!“, widersprach Lörrind heftig, „die Menschen haben eine Redewendung: Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Das ist genau, was du vorschlägst. Und ich verzichte dankend.“

„Wir sind längst tot“, bemerkte Zuh unbeeindruckt, „oder zumindest auf halbem Weg dorthin. Wir sind Neeztorri. Geister aus Fleisch. Nur durch die Manipulationen der Rilandi sind wir noch in diesem alten Kreis gefangen. Habe keine Angst vor dem Neuanfang, Lörrond. Er bietet auch Chancen. Und selbst, wenn du das nicht glaubst: das Ende, das sie für uns planen, wird nicht angenehm sein. Meine Berührung wäre es schon.“

„Ich will nichts mehr von diesem morbiden Schwachsinn hören!“, donnerte Lörrond, „wenn ich sterbe, dann beim Versuch dieser Rorak-Bitch das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln.“

„Das kannst du gern versuchen“, meinte Zuh dazu nur. Dann gingen sie schweigend weiter, wobei Zuh den von ihr kontrollierten Regevo geschmeidig wie ein beseeltes Wesen an ihrer Seite durch immer neue Korridore geleitete.

Das waren so viele, dass es Garwenia schwerfiel, den Überblick zu behalten. Sie passierten einige Türen, nahmen viele Abzweigungen und bei jeder davon erwartete Garwenia entweder ihr Ende oder das Auftauchen von Travenia, Nanita oder einem ihrer Verbündeten, so sie denn welche hatten. Aber vorerst trat keine ihrer Hoffnungen und Befürchtungen ein.

Schließlich kamen sie an eine große Doppeltür aus dunkelgrauem Metall, die mit einem Codefeld gesichert war.

„So, Herrschaften. Rein in die gute Stube!“, forderte Ara, „da drin wartet euer Shuttle-Services. Es wird mir ein Vergnügen sein, euch loszuwerden. Ich bin einfach nicht der Typ fürs Babysitten.“

Garwenia war nicht die einzige, der Aras Wortwahl verräterisch erschien.

„Jetzt!“, dachte Lörrond auffordernd, aber als er sah, dass die anderen ruhig blieben, war auch er nicht so dumm, Ara ganz allein anzugreifen.

Also trat Ara unbehelligt vor, gab den Code ein und ließ die Tür aufgleiten. Garwenia hielt sich bereit. Es war nicht so, dass sie keine Angst hatte. Sie wusste dieses neue Leben, ohne ständige Schmerzen sehr zu schätzen und anders als ihr früheres in Hyronanin, würde sie dieses Leben sehr gerne behalten. Aber zugleich fühlte sie sich seltsam unberührt von all dem. Vielleicht auch, weil alles so unwirklich war.

Dennoch, was sich hinter der Tür offenbarte, überraschte sie. Sie hatte mit einer sterilen Todeskammer gerechnet, mit einem Team aus uniformierten Henkern, die sie mit ihren Schusswaffen richten würden oder vielleicht auch mit einer Gefängniszelle. Stattdessen lag vor ihnen tatsächlich ein Hangar. Vollgestopft mit riesigen, waffenstarrenden Kampfschiffen, kleinen Jägern, klobigen Transportern und fliegenden und fahrenden Drohnen, die diese Schiffe warteten und reparierten. Ganz am Ende lag ein breites, metallenes Tor mit einer kreuzförmigen Einkerbung, das wohl die Barriere zum Weltraum darstellte. Es gab sogar eine Handvoll Techniker, die sich um die Flotte kümmerten. Auf Anhieb entdeckte Garwenia eine blonde, kurzhaarige, etwas moppelige Frau, die sich an der Elektronik eines der Kampfriesen zu schaffen machte, wie ein Chirurg an der offenen Brust eines Patienten.

Außerdem erblickte sie einen schlanken, braunhäutigen Mann Anfang vierzig, der sich, mit einem tragbaren Touchscreen in der Hand, prüfend in der Halle umsah, scheinbar ohne sich um sie zu kümmern und einen jungen, blassen, schwarzhaarigen Typen mit langem Zopf, der auf einer Bank aus Metall saß und gerade ein Sandwich verzehrte. Er war der einzige, der sich sofort neugierig zu den Neuankömmlingen umdrehte.

„Das ist unglaublich … hat sich Nanita etwa doch geirrt?“, wunderte sich Garwenia.

„Ich habe es euch doch von Anfang an gesagt. Eure Paranoia war unbegründet“, sagte Lörrond belehrend und froh nicht länger als der dumme und naive dazustehen, „wahrscheinlich wollte sich Nanita nur wichtig machen oder uns auf den Arm nehmen. Und selbst, wenn nicht: Womöglich hat sich der Plan geändert und sie wollen uns lieber auf ethische und lebendige Weise loswerden. Oder aber Travenia und Nanita haben das hier für uns arrangiert. Immerhin wollten sie uns ja auch in Sicherheit bringen, warum also nicht diesen Hangar dafür nutzen?“

„Ich weiß nicht“, zweifelte Zuh, „ich kann weder Nanita noch eine Bravianerin entdeckten und die besten Fallen sehen einladend aus. Womöglich gibt es kein Zurück mehr, wenn wir über diese Schwelle treten. Wir könnten jetzt noch die Lösung wählen, die ich euch vorschlug. Vielleicht gibt es diese Chance später nicht mehr.“

„So ein Schwachsinn“, erwiderte Lörrond, „ihr beide könnt ja gern Suizid begehen, aber ich hole mir lieber meinen Besitz zurück. Wer weiß, was ohne meine Aufsicht aus meiner Mine wird?“

„Was is’n nun?“, fragte Ara ungeduldig, „wollt ihr dann endlich abdampfen? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!“

„Wir kommen mit dir“, sagte Garwenia, die ebenfalls noch nicht aufgeben wollte, gedanklich zu Lörrond, „wir sollten aber wachsam bleiben.“

„Alles klar, Chefin!“, antwortete Lörrond.

Dann betraten sie die Halle und die Tür schlug sofort mit einem hallenden Laut hinter ihnen zu. Garwenia erschrak bei dem Geräusch, aber als sie die Hand gegen das Metall hielt, öffnete sich die Tür sofort wieder und sie erblickte Aras breiten Rücken, der sich raschen Schrittes von ihnen entfernte. Eingesperrt waren sie offenbar nicht.

„Kein Grund zur Panik“, rief der junge, langhaarige Kerl, der sich gerade das letzte Stück seiner Mahlzeit in den Mund geschoben und sich die Hände an seiner roten Arbeitshose abgewischt hatte und nun zielstrebig auf sie zukam, „hier kommt man immer wieder raus. Ja, man könnte sogar sagen, dass das der Sinn dieses Ladens hier ist.“

Er schmunzelte sympathisch und streckte seine Hand aus, die Garwenia vorsichtig ergriff. „Herzlich willkommen im Hangar. Hier flicken wir elektrische Wehwehchen, schicken unseren Feinden den geflügelten Tod, reißen schlechte Witze und bringen gute Freunde in Sicherheit. Wohin darf ich euch denn bringen?“

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern kratze sich demonstrativ am Kopf und machte einen grübelnden Laut. „Lasst mich raten: Braviania, Rihn und … Andraddon?“

„Bei meinen Begleitern mögt ihr recht haben“, sagte Zuh, „aber meine Heimat ist Luth Nomor. Leider sind die Grabfelder aber nicht auf solchen Wegen erreichbar. Auch ich möchte nach Braviania, falls das möglich ist.“

„Ach ja, Braviania. Ein schöner, sicherer Ort“, sagte der Techniker, auch wenn er ein wenig blass aussah „vor allem, wenn man gute Freunde hat.“

Diese Aussage ließ Garwenia aufhorchen. War das ein Hinweis? Sie entschied, es herauszufinden. „Kann es sein, dass wir eine gemeinsame Freundin haben?“, fragte Garwenia und behielt das Gesicht des Mannes genau im Blick.

Seine Augen blitzen leicht erschrocken auf, aber sein Mund lächelte weiter.

„Möglich ist vieles, aber über manche Dinge sollte man nicht zu laut sprechen“, bemerkte er leise, fast flüsternd.

Garwenia erlaubte sich zumindest etwas Erleichterung. So wie es schien, war auf Nanitas und Travenias Versprechen doch Verlass gewesen.

Sie stellte fest, dass die anderen beiden Techniker den Mann, der sie begrüßt hatte, misstrauisch beäugten. Wahrscheinlich waren sie nicht eingeweiht und wenn das so war, setzte dieser Mann sich einem hohen Risiko aus, indem er ihnen half.

„Das sind aber nicht sehr viele Schiffe“, bemerkte Lörrond skeptisch, „zumindest nicht, wenn sie damit Krieg führen müssen. Selbst in meiner Mine in Rihn hatten wir mehr Grabungs- und Sprengschiffe.“

Der junge Mann lachte. „Sie sind eher der direkte Typ, was?“, bemerkte er grinsend, wenn auch mit einer merklichen Spur von Nervosität, „aber natürlich haben sie recht. Wenn das all unsere Schiffe wären, wären wir hoffnungslos verloren. Selbst mit eurer geschätzten Hilfe, was die Waffe des Feindes betrifft. Aber dies ist nur ein Nebenhangar, hauptsächlich für zivile Transporter. Die Kriegsschiffe werden hier nur zur Reparatur hingebracht, wenn im Haupthangar zu viel los ist. Außerdem ist es hier gerade etwas ruhiger als gewöhnlich. Trotzdem sollten wir nicht länger trödeln. Wir wissen nicht, wann der Feind wieder angreift.“

Er ließ dabei offen, wen genau er damit meinte, auch wenn er durch einen skeptischen Seitenblick auf jenen Techniker, der von seinem Touchscreen aufsah, einen nonverbalen Hinweis gab.

Garwenia nickte. „Gut. Dann zeigen Sie uns den Weg.“

„Alles klar!“, sagte der Langhaarige und ging zügig zwischen den parkenden Raumschiffen hindurch. Garwenia, Zuh, Lörrond und Regevo folgten ihm.

Dabei begannen sie hinter sich Schritte zu hören, die blechern über den Boden klackten. Erst langsam, dann immer etwas schneller.

„Was ist mit Ihren Kollegen los?“, fragte Zuh, „sind sie nicht damit einverstanden, dass wir hier sind?“

„Ich weiß es nicht“, sagte der Mann mit dem Zopf, „normalerweise sind sie ganz in Ordnung. Doch seit ein paar Tagen verhalten sie sich seltsam. Das muss natürlich nichts heißen … aber, es gibt Spione hier. Ab und zu. Der Feind kann seine Gestalt verändern. Es ist lange nicht passiert, doch … besser wir beeilen uns.“ Es beschleunigte seine Schritte und die anderen taten es ihm zwangsläufig gleich.

„Diese Geschichte passt nicht zu dem, was Nanita uns erzählt hat“, gab Zuh lautlos zu bedenken, doch Garwenia gelang es nicht darauf zu antworten oder zu durchdenken, welche Folgen Zuhs Erkenntnis für ihr Handeln haben könnte. Es war, als wäre die besondere Fähigkeit, die sie durch ihr gemeinsames Schicksal teilten, ja sogar ihr gesamtes Denken gelähmt. Auch Lörrond dachte kein einziges, vernehmbares Wort.

„Diese Tür“, sagte der junge Mann kurz angebunden und zeigte auf eine massive, normalgroße Stahltür, „die reparierten Transporter befinden sich in einem eigenen Bereich.“

„Was ist das für ein Geruch?“, wollte Garwenia wissen, „das riecht wie ein Keimpfuhl.“

„Oder wie eine Schwefelmine“, bemerkte Lörrond.

„Das sind nur olfaktorische Halluzinationen“, erklärte der Langhaarige, „das Geflecht hier ist sehr schwach. Durch den Krieg und durch die Energieerzeugung. Man kann hier seinen Sinnen nicht immer trauen. Zusammen mit dem Geruch der Reinigungschemikalien nimmt man die wildesten Sachen wahr. Hier hat es auch schon nach Obst gerochen und nach Zuhhonka-Scheiße. Aber das ist alles harmlos. Und wenn ihr die Umlaufbahn verlasst, wird’s besser.“

Doch der unangenehme Geruch klebte weiter hartnäckig an Garwenias Nase und wurde sogar noch schlimmer und heftiger. Gleichzeitig weckte er unangenehme Erinnerungen an den Eiter, den kranken Schweiß und die vielen Gefahren von Hyronanin.

Zu allem Überfluss wurde ihr auch noch schwindlig. Sie schwankte, hatte das Gefühl, dass ihr Blickfeld für Sekundenbruchteile ausfiel oder dass sich ein Kribbeln hinter ihrer Stirn ausbreitete. Auch Zuh und Lörrond und sogar Regevo schien es nicht anders zu ergehen. Irgendetwas war hier faul.

Und auch wenn Garwenias logischer Verstand gerade nur langsam arbeitete, hatte sie in ihrem letzten Leben doch gelernt, auf ihre Instinkte zu hören. Ob Transportschiff oder nicht: Diese Tür und dieser Weg waren nicht gut. Sie blieb stehen.

„Verdammt, was machst du denn da!?“, fragte der Langhaarige ungeduldig.

„Mir geht es nicht gut“, sagte Garwenia und bemerkte mit voller Zufriedenheit, dass auch Zuh und Regevo neben ihr stehengeblieben waren.

In diesem Moment preschten die anderen beiden Techniker hinter einem der Kampfschiffe hervor. Die Frau hielt ein massives Werkzeug, mit einer dünnen, langen, an ein Schweißgerät erinnernden Spitze in der Hand, der kurzhaarige Mann hatte seinen Touchscreen verstaut und trug stattdessen eine Art Teleskopschlagstock in seiner wettergegerbten Faust.

„Lauft weiter! Schnell!“, ermahnte der Langhaarige, „wir müssen die Schiffe erreichen, bevor sie uns erwischen! Sonst kann ich nichts mehr für euch tun.“

„Dann lassen wir diese Versager halt hier. Glauben Sie mir, die haben eh Todessehnsucht. Bringen Sie mich einfach nach Rihn. Sofort!“, verlangte Lörrond hustend und nachdem der Langhaarige noch einen kurzen, zweifelnden Blick auf Garwenia, Zuh und Regevo geworfen hatte, rannte er zusammen mit Lörrond weiter. Nur ein paar Augenblicke später, waren sie hinter der Tür verschwunden.

Für einen Moment sah Garwenia dort tatsächlich die Flügel von Raumschiffen aufblitzen und fragte sich, ob sie gerade eine verdammt dumme Entscheidung getroffen hatte. Dieser Eindruck verstärkte sich, als sie sich umdrehte und feststellte, dass die beiden Angreifer nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt waren.

Immerhin sind wir in der Überzahl, versuchte Garwenia sich Mut zu machen. Sie sah sich rasch um, und entdeckte ein kleines, loses Stück Metall. Sie hob es auf, hielt es wie einen Dolch vor sich und straffte ihre Muskeln. Sie kam nicht aus der Kriegerkaste, aber immerhin war sie in Hyronanin eine Rebellin gewesen. Und als solche hatte sie lernen müssen, sich zu wehren.

Die nächsten zwei, drei Sekunden schienen sich auf die zehnfache Länge zu dehnen.

Dann waren die Angreifer da. Die Frau war als Erstes heran. Ihr Werkzeug fuhr auf sie herunter, zielte auf ihr Gesicht, aber Garwenia gelang es ihre improvisierte Waffe in Stellung zu bringen. Metall klatschte auf Metall und Garwenias Muskeln hielten stand, auch wenn sie spürte, wie ein heftiges, schmerzhaftes Zittern durch ihren Arm ging. Sie handelte instinktiv, riss ihr Knie hoch und rammte es der Frau in den Bauch. Sie stöhnte auf und Garwenia wollte noch einmal nachsetzen, als sie ein leises Zischen hörte. Kurz darauf brannten ihre Augen und ihr ganzes Gesicht wie Feuer. Doch das war nicht das Schlimmste. Garwenia war Schmerzen gewohnt. Sie waren über Jahrzehnte ihre ständigen Begleiter gewesen. Viel schlimmer war, dass sie bemerkte, wie sich die Welt vor ihr auflöste, unscharf wurde, zerfaserte und schließlich ganz verschwand. Sie war blind.

Panisch schlug und trat sie um sich und konnte nicht sagen, wen genau sie dabei traf, während die Schmerzen in ihrem Gesicht immer heftiger wurden. Es war eine Art von Schmerz, der ihr sehr bekannt vorkam. Die Pein fehlender, zerstörter Haut. Eine Säure, dachte sie, das muss eine Säure sein.

Sie hörte weiter die Kampfgeräusche. Schläge auf hartes und weiches Material. Schreie der Wut, der Überraschung und der Qualen, die sich zu einem ununterscheidbaren Durcheinander vermengten und sich mal entfernten und dann wieder näherten. Vor allem jedoch hörte sie das Zischen. Jenes akustische Nebenprodukt der chemischen Reaktion, die langsam ihren Kopf auflöste. Ähnlich dem Schmatzen eines Raubtiers mit Millionen feinen Zähnen. Dies war nicht Hyronanin. Hier gab es keine Unsterblichkeit und sie wusste, dass dies das Ende für sie war. Sie war schon einmal gestorben, doch das machte sie leider zu keiner Expertin in diesen Dingen. Damals hatte sie nichts gesehen. Kein Jenseits, keinen Ort der Verdammnis oder der Erlösung. Nur Schwärze und danach die Illusionen im Turm der Selbsterkenntnis, wie die Rilandi ihr Geistesgefängnis liebevoll genannt hatten.

Jetzt würde es vielleicht anders werden. Auch Uranor gab es nicht mehr. Kein Rilandi würde ihre Seele auf dem Weg in das – was auch immer abfangen. Sie war bereit für das große Geheimnis und doch freute sie sich nicht darauf. Nicht jetzt, wo ihre alte Heimat so nah lag. Und doch war es mit dem Tod so wie mit dem Leben: Man hatte nicht immer eine Wahl.

Mit einem Mal erklang ein schriller Misston in dem gleichförmigen Chor aus Schmerzen. Ein spitzes, konzentriertes Ziehen, irgendwo in ihrer brodelnden Stirn. Ihr Körper verkrampfte sich, zuckte wie ein Todeskandidat auf einem elektrischen Stuhl. Ihre Augen – oder was auch immer davon übrig geblieben war – spannten wie gedehnte Haut, schienen sich aufzublähen, bis kurz vor dem Bersten und schlagartig … sah sie grobe, verschwommene Pixel, graue Linien, die langsam an Farbe und Kontur gewannen und schließlich den Mann mit dem Touchscreen, nur in einem kleinen, gerade einmal Tennisbalgroßen Sichtfeld, aber immerhin klar genug, um ihn zu erkennen. Er hielt seinen Touchscreen wieder in seiner rechten Hand, während in der linken eine große, breite Spritze ruhte. Er wirkte nicht aggressiv, nicht bedrohlich und Garwenia fühlte sich ohnehin zu schwach, um Angst zu haben. Sie betastete ihr Gesicht und schrie auf, als sie das nackte Fleisch berührte.

„Tut mir leid“, sagte der Mann, „das Rekonvalat kann so ziemlich jedes Organ schnell reparieren, aber bei der Haut dauert es eine Weile. Immerhin wirkt es antiseptisch, weswegen Sie es überleben sollten, aber die nächsten Tage werden sicher nicht angenehm.“

„Wer …?“, fragte Garwenia, die noch immer etwas verwirrt war.

„Mein Name ist Gorett Geber“, stellte er sich vor, „ich folge der Bitte von Travenia Sigral.“

Gorett streckte seine raue, kräftige Hand aus. Garwenia ergriff sie und ließ sich aufhelfen.

Inzwischen hatte sich ihr Sichtfeld noch etwas erweitert und so erblickte sie gleich mehrere, bemerkenswerte Dinge. Die Frau, die sie angegriffen hatte, lag leblos und mit deformiertem Schädel auf dem Boden. Zuh und Regevo hingegen waren wohlauf und lebendig, auch wenn dieses Wort bei Regevo wahrscheinlich nicht wirklich angebracht war. Am erstaunlichsten jedoch war, dass nicht nur die Schiffe, sondern sogar der gesamte Hangar verschwunden war. An seiner Stelle gab es einen leeren, fast vollkommen weißen Raum mit kaltweißer Deckenbeleuchtung und einer einzigen, grau lackierten Tür mit mehreren Warnsymbolen darauf, die alle nichts gutes versprachen.

„Das alles war eine Illusion?“, fragte Garwenia, der diese Dinge so langsam wirklich auf die Nerven gingen. Was hätte sie alles für ein Stück gewöhnliche, langweilige und unveränderliche Realität gegeben?

„So ungefähr. Disruptor Yonis ist gut in diesen Dingen“, sagte Gorett, „die Grundlage ist gewöhnliche Projektionstechnik. Ein Schauspiel aus Licht und Sensorik. Aber erst durch seinen Hokuspokus wird es so richtig glaubwürdig. Ich hätte es früher ausgeschaltet, aber es ist kompliziert und riskant. Und es löst vielleicht Gegenmaßnahmen aus.“

„Was ist mit Lörrond?“, fragte Zuh.

„Der existiert leider nicht mehr“, sagte Gorett mit leichtem Bedauern, „hinter der Tür ist ein Becken mit einer speziellen Substanz. Derselben, mit der Kallah sie eingesprüht hatte. Es ist eine Art Enzym. Es hilft dabei wertvolle Rohstoffe aus Lebewesen zu gewinnen. Das war das Ziel des Ganzen. Sie zu nutzen und zu verwerten.“

Garwenia schauderte es bei dem Gedanken an das Schicksal, dass sie beinah auch ereilt hatte und sie fühlte heftiges Mitleid mit Lörrond. Sie hatte ihn nicht wirklich gemocht, aber so etwas hatte er nicht verdient. „Was ist mit dem Techniker?“, fragte Garwenia, „würde er sich nicht auch auflösen?“

„Schon, allerdings ist er nur ein Programm“, erklärte Gorett, „anders als Kallah hier.“

Er zeigte auf die tote Technikerin, „wobei … in gewisser Weise ist auch sie programmiert … programmiert mit Propaganda und hohlen Phrasen, wie die meisten von uns. Aber egal, wir müssen uns beeilen. Bevor es … Konsequenzen gibt.“

„Haben Sie den einen Plan?“, erkundigte sich Zuh, die sich in dem schneeweißen Raum umsah und dort nicht mehr als eben jene, tödliche Tür entdeckte, die Lörrond, wenn man Gorret Glauben schenken konnte, zum Verhängnis geworden war.

„Ja“, sagte Gorett, „Es gibt hier einen anderen, verborgenen Ausgang. Von dort aus führt ein Nebenkorridor zu einem Seitenausgang des Komplexes, an dem Frau Sigral uns abholen und von hier wegbringen wird.“

„Sie wollen auch mitkommen?“, fragte Garwenia.

„Absolut“, sagte Gorret mit fester, überzeugter Stimme, „ich würde jede Gelegenheit nutzen, hier zu verschwinden. Aber nun Tempo!“

Garwenia und Zuh gehorchten und folgten Gorett, der immerhin genau zu wissen schien, wohin er wollte, durch den Raum. Garwenia fragte sich derweil, ob sich in Braviania ein Platz für diesen Mann finden würde. Zumindest zu ihrer Zeit hatte man fremde Kastenlose zwar sehr gerne als Gäste begrüßt, sie jedoch nur mit großer Skepsis als ständige Einwohner akzeptiert und sie war sich nicht sicher, ob sich das inzwischen geändert hatte. Die Einordnung in eine Kaste war für Fremde zwar unter bestimmten Bedingungen im Rahmen eines Neugeburtsritus möglich gewesen, das entsprechende, uralte Ritual hatte jedoch nur selten zum Überleben des Kandidaten und noch seltener zu einer hohen Position geführt. Aber mit solchen Überlegungen wollte sie Gorett jetzt nicht behelligen.

Schließlich kniete der Techniker sich vor einer der Wände nieder und klappte einen darin verborgenen Hohlraum auf, in dessen Innern eine Reihe von Kabeln und Chips zum Vorschein kamen. Er holte ein Werkzeug aus seiner Tasche hervor und begann, sich an der Elektronik zu schaffen zu machen.

„Haben sie keine Befugnis, den Zugang per Identitätsprüfung zu öffnen?“, fragte Zuh misstrauisch, „ich dachte, als offizieller Mitarbeiter sollte Ihnen das ein leichtes sein.“

„Sieht schon seltsam aus, nicht?“, fragte Gorett schmunzelnd, ohne sich von seiner Arbeit abzuwenden, „aber das hier IST die offizielle Identitätsprüfung. Wir wollten sicherstellen, dass nur einer unserer Techniker diesen Raum auch wieder verlassen kann, für den Fall, dass ein Opfer die Illusion entlarvt und vielleicht irgendwelche Fähigkeiten besitzt, mit denen es gewöhnliche Prüfverfahren überlisten kann. Das kam anfangs häufiger vor. Deswegen benutzt wir jetzt stattdessen ein zufallsgeneriertes, Hardware-basiertes Rätsel, das für uns recht leicht, für die meisten anderen jedoch unlösbar ist. Bei einem Fehler oder der Anwendung roher Gewalt endet es tödlich.“

„Etwas umständlich und riskant, aber dennoch eine gute Idee“, bemerkte Zuh, auch wenn sie nicht gänzlich überzeugt schien.

„Danke, es war meine“, antwortete Gorett, „nun, ich hätte es mir nicht aus eigenem Antrieb überlegt: Ziel der Maßnahme sollte es auch sein uns Techniker zu disziplinieren und unsere Wachsamkeit aufrechtzuerhalten. Im Grunde war ich also gezwungen darüber nachzudenken, wie ich mir selbst und meinen Kollegen das Leben noch beschissener gestalten kann. Aber hey, immerhin ist es besser als eine Loyalitätsprüfung. Die hätte ich wohl schon längst versemmelt.“

„Ein schlauer Einfall“, stimmte auch Garwenia etwas halbherzig zu. Sie hatte nur mit einem Ohr zugehört. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte sie sich unwohler an diesem Ort, der immerhin ihre letzte Ruhestätte hätte sein sollen.

„Wie lange wird es ungefähr dauern?“, fragte Garwenia.

„Nur circa drei Minuten“, sagte Gorett abwesend, „länger, wenn ich weitere Fragen beantworten muss.“

Da Garwenia nicht seine Konzentration stören wollte, behielt sie ihre weiteren Fragen für sich, selbst wenn Gorett es war, der sie aufgeworfen hatte. Er hatte sie zur Eile gemahnt und von Konsequenzen gesprochen. Meinte er damit nur Kollom, Yonis und Co. die auf ihr Überleben aufmerksam werden könnten oder etwas anderes?

Immer wieder suchte ihr Blick ergebnislos den gleichförmigen, weißen Raum ab, der noch immer von dem unangenehmen Geruch des tödlichen Enzyms erfüllt war. Sie hoffte, dass dessen Konzentration inzwischen zu schwach war, um langsam ihre Lunge aufzulösen. Oder ihrer gerade erst wieder langsam nachwachsenden Haut zu schaden.

„Kannst du irgendetwas Verdächtiges sehen?“, fragte sie Zuh in Gedanken.

„Nein“, verneinte diese in ihrer gewohnt stoischen Art, „wir müssen wohl einfach abwarten und wachsam bleiben.“

Die Luth Nomorerin schien kein Problem mit Ängsten oder Nervosität zu haben und Garwenia beneidete sie dafür. Sie hatte unzählige Dinge erlebt, war vielfachen Gefahren begegnet, aber entgegen der landläufigen Meinung verschwanden Ängste nicht automatisch, nur weil man ihnen nicht mehr durch Flucht oder Verleugnung begegnete. Im Gegenteil, die ständige Begegnung mit Gefahren schärfte die Sinne für die unzähligen Bedrohungen der Umwelt und bescherten einem eine gleichermaßen nützliche wie belastende Paranoia.

Da sie aber in diesem Fall trotz intensiver Suche nichts Bedrohliches entdecken konnte, versuchte sie die vergangenen Sekunden mitzuzählen. Als sie bei hundertachtzig angekommen war, hielt sie es nicht länger aus.

„Wie weit sind Sie?“, fragte sie Gorett und rechnete fast damit, dass dieser infolge dieser Störung mit seinem Werkzeug abrutschen und eine Katastrophe auslösen würde. Stattdessen hielt er lediglich kurz inne.

„Bin bald fertig“, sagte er, jedoch nicht selbstsicher, sondern merklich angestrengt, „es ist nur … etwas schwerer als gewohnt.“

Diese Auskunft beruhigte Garwenia kein Stück. Nein, sie sorgte sogar dafür, dass sich ihre Nervosität weiter steigerte. So weit, dass sie fast schon froh war, als ein kurzer, glockenheller Alarm mit drei Tönen erklang.

„Verdammt!“, sagte Gorett noch.

Dann begann es.

Garwenia hörte ein vielfaches „Ploppen“ über sich und sah ruckartig nach oben. Dort hatten sich gleich mehrere Luken in der Decke geöffnet. Aus ihnen schwebten metallene Käfige heraus, die vage an menschliche Brustkörbe erinnerten, nur das diese größer und oben und unten abgeschlossen waren. Zudem befanden sich darin, soweit Garwenia es von hier unten erkennen konnte, scharfe, nach innen gerichtete Klingen.

„Was ist das?“, fragte Garwenia, während sich genau vier dieser Käfige auf den Weg zu ihnen machten.

„RIP-Cages“, bemerkte Gorett, ohne sich von seiner Arbeit abzuwenden. Dann kickte er Garwenia mit dem Fuß überraschend treffsicher seine Werkzeugtasche entgegen, in der es laut klapperte. „einer für jeden von uns. Individuell auf unserer Körpermaße eingestellt und ganz wild darauf, uns zu umarmen. Nehmt die Stäbe aus der Tasche. Sie sind elektrisch und halten sie vielleicht auf Abstand. Ich versuche, mich zu beeilen.“

Ohne zu zögern, griff sich Garwenia drei der Stäbe und warf zwei davon den anderen beiden zu. Sowohl Zuh als auch der seelenlose Regevo fingen sie präzise auf. Doch als sich auch Garwenia für den kommenden Angriff bereitmachen wollte, füllte der RIP-Cage bereits ihr gesamtes Sichtfeld aus. Die metallenen Rippen öffneten sich, bereits sie zu empfangen. Wie ein wartendes, hungriges Maul.

~o~

Torvilla hatte lang nicht mehr so eine traurige Versammlung erlebt. Dass Nural Nehmer nicht hier war, war zwar zu erwarten gewesen, aber das mit Travenia Sigral auch noch die viertgrößte Anteilseignerin mit Abwesenheit glänzte, war ziemlich enttäuschend. Natürlich vermutete sie, dass Travenias Fehlen etwas mit dem zu tun hatte, was sie im Serverraum angestellt hatte und sie hatte so ein Gefühl, dass sie dem besser nachgehen sollte. Da sie jedoch dummerweise selbst durch die Bravianerin erpressbar war und Kollom gerade das drängendere Problem war, hatte das keine Eile. Trotzdem nahm sie Travenia ihre Abwesenheit sehr übel. Denn dadurch war – da sie die Anschuldigung vorbrachte – Alling Nehmer automatisch der Vorsitzende dieser Versammlung und sie hätte dort lieber noch irgendeinen Have-Non aus den Invisible Lands gesehen.

„Ja, das ist schon ein recht derber Kackmove von den Bros“, sagte Alling, der sich entgegen dem Protokoll einen Stuhl mitgebracht hatte, wahrscheinlich nur, damit er seine mit Straßendreck verschmierten Beine auf den Tisch legen und ihr seine hässlichen Stiefel ins Gesicht halten konnte. Sein Atem roch nach Alkohol. Und das in einer Welt, in der es von besseren und gesundheitlich unbedenklicheren Drogen nur so wimmelte. Nicht, dass er die nicht auch ausprobieren würde, aber der Typ pflegte sein Image als Proll und Lebemann. Torvilla erinnerte sich gut an den Tag, als er im Suff zu ihr gesagt hatte: „Was bringt es, an der Spitze dieses Ladens zu stehen, wenn man sich benehmen muss, wie ein lobotomisierter Roboter? Macht bedeutet Spaß auf Kosten anderer. Sonst nichts!“ Direkt nach diesem philosophischen Höhenflug hatte er ihr auf den Anzug gebrochen.

Ja, Alling war wirklich ein angenehmer Zeitgenosse. Zwar war er nicht der einzige hier, aber Lun Nehmer war nicht viel amüsanter und der Rest der unscheinbaren Mitglieder, deren Namen sie sich weigerte in ihrem Kopf abzuspeichern, taugte bestenfalls als Kulisse. Wenn eine Versammlung nicht vollzählig war, zählten nur die Stimmen der Anwesenden nach ihren Anteilen und da lag sie uneinholbar vorne. Allerdings konnten die anderen ihre Entscheidung durch ein einstimmiges Gegenvotum blockieren, bis eine vollständige Versammlung stattfand, was Kollom die nötige Zeit verschaffen würde, seine Machtposition wieder auszubauen und seinen Kopf aus der Schlinge zu winden. Sie musste also zumindest einen der Anwesenden überzeugen zu handeln. Es war wirklich ärgerlich, dass all das notwendig war, aber anders bei einer Lappalie wie Nanita konnte sie bei einem Problem von Kolloms Kaliber nicht eigenmächtig aktiv werden.

„So kann man das wohl ausdrücken“, antwortete Torvilla lakonisch auf Allings Urteil. Nachdem sie ihm gerade erst solche erdrückenden Beweise für Kolloms Untreue und Unfähigkeit vorgespielt hatte, hätte sie eine etwas heftigere Reaktion erwartet. Anderseits war es eben Alling.

„Vor allem lässt es uns sehr schlecht dastehen“, erinnerte Lun Nehmer, „Wenn das rauskommt, geraten wir auf die Abschussliste des Kartellwächters, falls wir dort nicht ohnehin schon stehen. Es spricht Bände, dass Nural nicht von der letzten Versammlung zurückgekehrt ist.“

„Jetzt pisst euch nicht ins Hemd“, meinte Alling gefolgt von einem lauten, zelebrierten Rülpser, „dann haben die Lümmel halt ein wenig am Geflecht rumgefummelt. Find’ das auch nicht pralle. Aber so ist das eben mit diesen Nerds. Sie können die Finger nicht vom Tüfteln lassen. Das, was sie gemacht haben, war falsch, aber irgendwie ja auch Grundlagenforschung oder so’n Scheiß.“

„Grundlagenforschung!?“, wiederholte Torvilla fassungslos, „Sie hätten die Tonspur etwas aufmerksamer verfolgen sollen. Auf dieser Aufnahme sieht und hört man, dass die beiden unsere Technologien und Ressourcen missbraucht haben, nur um das verwirrte Gehirn von Kollom Nehmer zu reparieren und, dass sie insgeheim für eine andere Organisation arbeiten. Wenn das kein Grund ist, Kollom seine Befugnisse zu entziehen und den Disruptor in Verbindung mit einer harten Vertragsstrafe zu kündigen, dann gibt es keinen.“

„Torvilla hat recht“, bemerkte Lun Nehmer.

Danke, alter Sack, dachte sie zufrieden.

„Allerdings müssen wir in dieser Angelegenheit behutsam vorgehen“, fuhr Lun fort, „wir brauchen die Legitimation des gesamten Aufsichtsrats. Ohne Nural Nehmer und Travenia Sigral können wir keine …“

„Diese Zeit haben wir nicht“, echauffierte sich Torvilla.

„Sie sollten mehr relaxen, Torvilla“, empfahl Alling, während er sich gähnen auf seinem mitgebrachten Sitz ausstreckte, „wenn Sie dabei Hilfe brauchen, kann ich Ihnen gerne günstig einen Schluck aus meiner Hausbar anbieten. Nur die besten Importwaren. Oder Sie gönnen sich etwas aus dem Hause Hookline Chemicals. Die haben echt guten Scheiß, was das betrifft. So oder so werden Sie spätestens dann erkennen, dass Kollom diesen Konzern nicht in ein paar Tagen oder Wochen kaputtmachen wird. Ich habe diese Einsicht bereits gewonnen und denke deshalb auch, dass wir warten sollten.“

Torvillas Puls beschleunigte sich und sie glaubte, ihre Wut körperlich fühlen zu können. Es war nicht allein der Umstand, dass diese Witzfiguren zu feige waren, sich Kollom entgegenzustellen, der sie in Rage brachte. Vor allem lag es daran, dass sie wusste, dass Kollom sehr wohl in der Lage war schnell sehr großen Schaden anzurichten. Außerdem ahnte sie, dass weder Travenia noch Nural allzu schnell an diesen Tisch zurückkehren würden. Nein, die beiden waren wahrscheinlich tot, gefangen oder ebenfalls Verräter. Dummerweise konnte sie das ohne entsprechende Beweise nicht als Argument vorbringen.

Sie warf einen Blick auf die blassen Gesichter der übrigen, namenlosen Anteilseigner, aber keiner machte den Eindruck, sich auf eine Rebellion einlassen zu wollen.

Feige Schleimkröten, dachte sie und sah sich wohl oder übel zu einem ganz und gar nicht feigen Schritt genötigt.

„Wir werden das jetzt entscheiden“, verlangte sie mit scharfer Stimme, „Kollom wird auf meine Einladung hin in wenigen Minuten zu dieser Versammlung stoßen und ich werde ihn mit den Beweisen für seinen Verrat und seine Unfähigkeit konfrontieren, ganz egal, ob Sie hinter mir stehen oder nicht. Sie haben nur die Wahl, wie schwache, unentschlossene Vollidioten dazustehen und das Unternehmen, das Ihnen Ihre Profite und Ihren luxuriösen Lebensstil beschert, im Chaos versinken zu lassen oder Sie entdecken Ihr Rückgrat und wir werden gemeinsam diesen Parasiten und seine Schoßhunde los.“

Stille trat ein, selbst das belustigte Grinsen auf Allings Gesicht verflüchtigte sich.

„Das wagen sie nicht“, sagte Lun mit brüchiger Stimme.

„Das habe ich bereits“, bemerkte Tovilla, „Wie gesagt, Kollom wird jeden Moment hier eintreffen und wenn sie mich nicht erschießen wollen – wovon ich Ihnen schon aus gesundheitlichen Gründen abraten würde – werden Sie mich nicht davon abhalten können, ihn zu konfrontieren. Was ist nun? Wie lautet Ihre Entscheidung? Die Uhr tickt!“

Alling sah ratlos zu den anderen und nahm vor lauter Verwirrung sogar seine Beine vom Tisch.

„Wir stimmen ab“, sagte er tonlos, „wer ist dafür, die Amtsenthebung von Kollom Nehmer aufgrund von Inkompetenz und Untreue zu beschließen?“

Nach und nach gingen alle Hände nach oben. Die der namenlosen Mitglieder und zuletzt auch die von Lun und Alling.

~o~

„Wo wollen Sie hin?“, fragte Sandra Kollom, der sich nach einem kurzen Blick auf seinen Identifier sofort seinen Manifestor geschnappt hatte.

„Zur Aufsichtsratsversammlung“, erklärte Kollom, „die Früchte unserer Arbeit ernten.“

„Allein?“, fragte Sandra skeptisch.

„Warum nicht?“, fragte Kollom und klopfte etwas Staub aus seinem Anzug, „sind Sie so scharf darauf den Aufsichtsrat kennenzulernen? Ich kann Ihnen versichern, dass das ein entbehrliches Vergnügen ist. Und profitieren werden Sie von unserem Erfolg auch so. Das verspreche ich Ihnen.“

„Darum geht es nicht“, sagte Sandra, „aber sind Sie wirklich davon überzeugt, dass Torvilla Sie – oder uns – für diesen Erfolg feiern wird? Immerhin hasst sie Sie aus ganzem Herzen und ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass sie der Typ Frau ist, der sich so einfach geschlagen gibt. Was, wenn es eine Falle ist? Glauben Sie mir, ich habe in Konor oft genug Ähnliches erlebt.“

Kollom sah Sandra überrascht an, fast als hätte er diese Möglichkeit noch nicht ernsthaft erwogen.

„Sie hat recht“, pflichtete ihr Yonis überraschend bei, „wir sollten kein Risiko eingehen.“

„Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?“, fragte Kollom, „mit Geleitschutz dort auflaufen?“

„Zum Beispiel“, erwiderte Sandra, „für den Anfang könnten wir beide mitkommen. Immerhin waren wir ebenfalls an dem Projekt beteiligt. Aber ein paar Schutztruppen wären auch nicht verkehrt.“

„Ich kann doch keine Konzerntruppen in den Versammlungsraum bringen“, widersprach Kollom.

„Sie könnten sie aber davor postieren“, antwortete Sandra, „nur für den Fall.“

„Von mir aus“, gab Kollom seufzend nach, „vielleicht ist Ihre Paranoia einfach nur ansteckend, aber so ganz dumm erscheint mir Ihr Vorschlag nicht, wenn ich genauer darüber nachdenke.“

„Die verbliebenen Bleigeweihten aus dem Außeneinsatz sind inzwischen eingetroffen“, sagte Yonis, „sie wären in puncto Kampfkraft ideal für diese Aufgabe.“

Kollom lachte laut auf. „Warum bringen wir nicht gleich ein Bataillon Drigddonn-Panzer mit?“, fragte er ironisch. Doch an seinem Gesicht konnte man ablesen, dass ihm der Gedanke immer besser gefiel.

„Aber von mir aus“, fügte er hinzu, „warum sollten wir nicht unsere Stärke und Entschlossenheit zeigen? Und wer sich schon eine ehemalige Imperatorin als Assistentin wählt, sollte wohl auch einen angemessen martialischen Auftritt haben. Ich hoffe wirklich, dass Torvilla mir lediglich gratulieren will. Ansonsten wird das … ziemlich interessant.“

~o~

Ein Gutes hatte die improvisierte Armwaffe, die mir Lavell geschenkt hatte: Sie war zwar nicht halb so effektiv, wie mein schmerzlich vermisster Schattenstrahler, aber dafür schien ihre Munition praktisch unerschöpflich zu sein. Andernfalls wäre der Strom an Kompassnadeln, den ich seit einiger Zeit frustriert und gelangweilt in den Erdboden jagte, längst abgerissen. Natürlich war es alles andere als vernünftig, sich im Vorfeld eines Frontalangriffes auf Kollom Bastard Nehmer und seinen Konzern seiner Ressourcen zu berauben, aber mir war gerade ganz und gar nicht nach Vernunft zumute. Diese neue Version von Karmon regte mich mehr auf als die angepisste aus unserer Anfangszeit in Deovan und der bösartige Marnok zusammen. Sie war zwar nicht aggressiv, aber dafür vollkommen humorlos, ernsthaft und so herzlich wie ein Pflasterstein. Nachdem er seine Reparaturarbeiten erledigt hatte, hatte Karmon sich einfach still und desinteressiert auf den Boden gesetzt, wie ein Roboter, der gerade nicht gebraucht wurde und jeden Gesprächsversuch hatte er entweder ignoriert oder mit knappen Worten abgeblockt. Egal ob ich es freundlich, humorvoll oder sogar mit Beleidigungen versucht hatte.

Verdammt, inzwischen hätte ich wirklich lieber Marnok zurück. Lieber jemand, der mich tot sehen will als ein Grong-Shin, dem ich vollkommen egal zu sein schien. Dabei fragte ich mich schon seit geraumer Zeit, ob ich versuchen sollte, die Kompassnadeln probeweise auf Karmon abzufeuern. Das zumindest sollte doch eine emotionale Reaktion bei ihm hervorrufen. Allerdings konnte die natürlich auch in einem Schattenstrahl direkt in meinen Kopf bestehen und so lebensmüde war ich dann auch wieder nicht.

Immerhin waren meine Wunden wirklich ziemlich gut verheilt, auch wenn das den Nachteil mit sich brachte, dass mir sogar noch langweiliger war als zuvor. Die Schmerzen hatten mich immerhin etwas abgelenkt.

Diese Langeweile erklärt vielleicht auch, warum ich mich beherrschen musste, Lavell nicht vor Freude wie ein einsamer Hund anzuspringen, als sich diese deovanische Version des Slenderman wie ein Geist durch das Kraftfeld schob und am stoischen Karmon vorbei auf mich zuging.

„Machen sie Zielübungen?“, fragte Lavell ausnehmend gut gelaunt und blickte auf meine Dekorationsbemühungen.

„Ich trainiere meinen Hass“, entgegnete ich, was nicht einmal gelogen war, da ich mir tatsächlich häufig gewünscht und vorgestellt hatte, dass Kolloms Gesicht in diesem Boden feststeckte.

„Löblich“, sagte Lavell, „allerdings sollten Sie dieses Training vielleicht auf andere Weise absolvieren. Ihre Waffe hat exakt 3.500 Schuss. Und wenn ich mir das hier so ansehe, haben Sie etwa 3.490 davon schon verschossen. Ich werde Ihnen ein neues Magazin besorgen. Aber erlauben Sie mir den Hinweis: einem Deovani wäre so eine Verschwendung niemals unterlaufen.“

„Ich ging davon aus, dass die Munition unendlich ist“, sagte ich, was zumindest zur Hälfte stimmte. Später hatte ich das gedacht. Anfangs war es mir einfach nur scheißegal gewesen.

„Nichts ist unendlich, außer die Gier“, kommentierte Lavel, „nun, vielleicht auch mancher Hass. Wenn er gut trainiert wird.“

Lavell lächelte. „Was das betrifft, habe ich wunderbare Neuigkeiten für Sie.“

„Und die wären?“, fragte ich, während ich eine der Kompassnadeln aus dem Boden zog und sie vorsichtig in der Hand drehte.

„Kollom Nehmer ist bereit für die Schlachtung. Die Versammlung und der Kartellwächter haben die Auflösung seines Konzerns gebilligt. In zwei Stunden startet der Angriff. Wir drei können also sofort los“, sagte Lavell freudig erregt und schaute zu Karmon, der nur knapp nickte.

„Jetzt direkt?“, fragte ich überrascht, da mir die Aussicht auf einen solchen Kampf gerade seltsam unwirklich erschien.

„Natürlich“, antwortete Lavell verwundert, „oder haben Sie noch was zu erledigen, von dem ich wissen sollte?“

„Nein“, entgegnete ich kopfschüttelnd.

„Gut“, erwiderte Lavell, „dann mal hoch mit Ihrem teuren Arsch. Nehmen Sie Ihre Waffe mit. Und vergessen Sie Ihren Hass nicht.“

~o~

Verzweifelt strampelt Tarena mit all ihren verfügbaren Gliedmaßen, nur um dabei noch tiefer und tiefer im zu Schlamm verwandelten Boden zu versinken. Sie weiß, dass sie sich damit ihr eigenes Grab schaufelt, aber ihre Reflexe reagieren unabhängig von ihrem Gehirn. Inzwischen ist sie bereits bis zur Hüfte in dem treibsandartigen, klebrigen Untergrund eingetaucht. Und obwohl ihre Peitsche die Sumpfhexer auf Abstand hält und sie effektiv verletzt, würgt, tötet und viele von ihnen davon abhält, ihre Zauber zu wirken, erkennt sie, dass dieser Untergrund ihr Ende besiegeln kann.

Dabei ist er das erste wirklich effektive Mittel, dass die Scyonen gegen sie gefunden haben. Zuerst hatten sie es mit Fliegenschwärmen versucht, aber diese hatte sie durch ihre eigenen Pheromone geschickt von sich und Any abgelenkt und sie sogar einigen der Sumpfhexer in die Lungen getrieben, woraufhin die Scyonen an ihrer eigenen Medizin zugrunde gingen.

Dann kamen Angriffe mit magischen Projektilen aus Dornen und eisenhartem Schilf hinzu, denen sie geschickt auswich oder die sie mit der Peitsche parierte, während Any sie wie in Trance mit ihren Pendeldrehungen abblockte. Andy, den sie mit einer Hand fest an ihre Brust gedrückt hielt, blieb – wahrscheinlich mit Absicht – von den Attacken der Scyonen verschont, hatte sich aber seinerseits nicht sehr friedfertig verhalten, sondern einige Arme, die nach ihm griffen, mit herzhaften Bissen um ihre Hände erleichtert und seine Beute sofort wie ein zufriedenes Raubtier hinuntergeschluckt. Lediglich Adrian, der Grund für all dieses Chaos wurde von den Scyonen vollkommen ignoriert, so als würden sie spüren, dass sein Bewusstsein gerade nicht in seinem Körper wohnte.

„Du wirst versinken, Krebsbotin“, hört sie eine Scyonin hinter sich sanft flüstern, „und mit dir dein Kind. Gib es heraus. Dann wird es leben. Moydrur will es nicht verschlingen, das ist nicht sein Plan. Er will es aufziehen. Als Teil unserer Gemeinschaft. Gib es heraus, und wir gehen in Frieden. Gib es heraus. Es war versprochen. Von Adrian.“

Wutentbrannt fährt Tarena herum und gibt ihrer finsteren, blutrünstigen Peitsche einen ungefilterten Hassimpuls mit auf den Weg. Die Peitsche schlingt sich um den Hals der Sumpfhexe, verengt sich und schneidet ihr glatt den Kopf ab. „Ich bin seine Mutter, du fahlbleicher Abschaum, und ich habe euch einen Scheiß versprochen!“, speit sie den ersterbenden Augen des grauen Ätherwesens entgegen.

Der Großteil ihres Hasses gilt natürlich den Scyonen. Aber sie muss zugeben, dass ein nicht so kleiner Teil davon auch auf Adrian zielt. Warum hatte er das getan? Warum hatte er diesem Vertrag zugestimmt und ihr Kind diesen Ungeheuern versprochen, noch bevor es zur Welt gekommen ist? Wie konnte man nur so verdammt egoistisch sein?

Der Kerl kann froh sein, wenn wir das nicht überleben, denkt Tarena, ansonsten drücke ich sein Gesicht so tief in den Schlamm, dass er den Kern dieses Planeten küssen kann. Tarena spürt, wie sie noch tiefer sinkt und sich der kühle weiche Boden um ihren Bauch schließt. So oder so ähnlich mussten sich Adrian und Sandra nach ihrer Ankunft in Uranor gefühlt haben.

Plötzlich hört Tarena einen klirrenden, schrillen Laut, gefolgt von einer Druckwelle, die ihren Kopf bis zum Anschlag nach hinten wirft. Sie spürt ihre Wirbel knacken und wäre sie ein Mensch, wäre es jetzt sicher um ihr Genick geschehen. Doch so spürt sie nur Überraschung und einen leichten, dumpfen Schmerz.

Als sie ihren Schock überwindet, vernimmt sie Anys Stimme, „Ich habe sie betäubt. Zieh dich hoch“, befiehlt ihr die Hüterin des Efryums.

Gute Idee, denkt Tarena, wenn ich nur wüsste, woran. Doch als sie nach oben blickt, sieht sie eine Art gläserne Röhre, die einfach über ihr in der Luft schwebt. Ohne sich Gedanken darum zu machen, wie sie dort hingekommen ist oder ob sie das Gewicht von ihr und Andy aushalten kann, schwingt Tarena ihre Peitsche um die Röhre. Ein noch schrillerer Laut als zuvor erklingt, als die Widerhaken sich in das schwebende Material graben.

Tarena spannt ihre Muskeln an und klettert mühsam Stück für Stück an der Peitsche hoch, wobei sie sorgsam darauf achtet, nicht in die Widerhaken zu greifen und Andy, der sich an ihrem Hals festklammert, nicht zu verlieren. Anfangs erfordert der Aufstieg eine enorme Kraftanstrengung, so als weigere sich der Schlamm sie beide aus seiner Umarmung zu entlassen, doch dann geht es immer leichter und schließlich schafft sie es, sich und ihr Kind auf festen Untergrund zu ziehen. Noch immer benommen, stolpert sie auf Any zu. Die Hüterin sieht miserabel aus. Ihr ganzer Körper wirkt wie verblasst und Teile ihrer mechanischen Kupfer-Haut-Panzerung blättern ab wie alte Farbe, während sie ihr Pendel schwankend und mit verkniffenem Gesicht noch immer in Schwingung hält.

Tarena hält ihr Mitleid in Zaum und beendet lieber mit ihrer Peitsche das Leben der übrigen erstarrten oder ohnmächtigen Scyonen.

„Waren das alle?“, fragt Tarena als der letzte Sumpfhexer sich in blassen Rauch auflöst.

„Nein“, ächzt Any mit vor Anstrengung zitternder Stimme, „sie stapeln sich im Zwischenraum wie Wassermassen an einem Staudamm. Sobald meine Kraft versiegt, werden sie hier einbrechen und uns unter sich begraben. Und das wird bald passieren.“

„Gibt es nichts, was wir tun können?“, fragt Tarena und hält dabei den erschöpften Andy fest an ihre Brust gedrückt.

„Doch“, sagt Any, „du könntest ihren Wunsch erfüllen.“

„Niemals“, erwidert Tarena wütend, „eher schlage ich dieses verfickte Efryum eigenhändig in Stücke!“

„Dann gibt es nur eine Möglichkeit“, sagt Any keuchend und mit ungesund verdrehten Augen, während weitere Stücke ihrer rostigen Haut abblättern, „das Efryum hat eine letzte Verteidigungslinie. Es dauert aber eine Weile, sie zu aktivieren und ich werde in der Zeit nicht kämpfen können. Schaffst du es, ihnen allein gegenüberzutreten?“

Tarena denkt nach. In ihrem Zorn ist sie geneigt, sich für unbesiegbar zu halten, aber das Erlebnis im verflüssigten Boden hat ihr deutlich gezeigt, dass dem nicht so ist.

„Wahrscheinlich nicht“, sagt sie ehrlich. Doch mit einem Mal kommt ihr ein Gedanke, „aber vielleicht muss ich das auch nicht. Du könntest Adrian aufwecken. Richtig aufwecken, meine ich. Er hat uns diesen Schlamassel eingebrockt. Soll er helfen, ihn in Ordnung zu bringen.“

Any sieht alles andere als begeistert aus, „das geht nicht. Ich brauche seine Informationen, seine Geschichten … sie sind essenziell. Und wenn ich ihn erwecke, verliere ich den Zugriff. Du weißt, wie unzuverlässig er ist. Wenn er erwacht, wird er zornig sein, impulsiv, aggressiv.“

„Genau diese Eigenschaften benötigen wir jetzt“, antwortet Tarena, „und wenn wir das hier überleben, werde ich mit ihm reden. Er hat mich und sein Kind in Gefahr gebracht. Schon wieder. Er wird das wiedergutmachen wollen. Er ist ein Arschloch, ja. Aber ein Arschloch mit Gewissen. Ein Arschloch, das gerne der Held seiner Geschichte wäre. Ein Arschloch, das liebt. Er wird sich deinem Wunsch fügen. Für mich. Für Andy.“

Any scheint immer noch unschlüssig zu sein, „selbst wenn ich das tue … er war zu lange inaktiv. Er … er wird nicht kampfbereit sein.“

„Dann mach ihn kampfbereit!“, donnert Tarena, „du hast die Kontrolle über seine verdammte Seelentafel. Forme ihn, mach ihn stärker. Schaffe uns den Adrian, den wir brauchen!“

Tarena fühlt sich schuldig bei diesen Worten. Es sind keine Worte der Liebe, nicht einmal einer enttäuschten Liebe. Aber Adrian hatte sie zu oft verletzt und im Stich gelassen, um ihn noch bedingungslos lieben zu können. Der Weg zu ihrem Herzen kostet nun Eintritt.

Sie blickt auf Any. Ihre Haut ist inzwischen fast so weiß wie Schnee. Die Hüterin nickt resigniert. „Mach dich bereit für den Ansturm“, sagt sie, während sie das Pendel erst stoppt und dann in eine andere Bewegung überführt, „Die Barriere zum Zwischenraum wird vielleicht noch etwa eine Minute halten. Dann wird es ungemütlich.“

Kaum da Adrians Seelentafel erscheint, jagt eine gewaltige Erschütterung durch das Efryum. Das Dach der Kuppel, der Boden, ja Tarenas gesamte Wahrnehmung wackelt und flackert für einen schrecklichen Augenblick. Dann sieht Tarena, wie Any Adrians von ihr erzeugte, künstliche Chaos-Murmel aus der Fassung holt und sie stattdessen mit einer verblassten und gesprungenen Murmel im ersten Quartal vertauscht. Adrian erschlafft sofort wie eine unbelebte Puppe. Any erzeugt zwölf weitere dieser Kugeln und lässt sie in die Erinnerungs- und Fähigkeiten-Fassungen sinken, bevor sie Adrians gestohlene, echte Chaos-Murmel herausholt und diese wieder an ihren ursprünglichen Platz legt. Adrian strafft sich und schlägt die Augen auf. Augen, in denen mit einem mal wieder Bewusstsein liegt.

„Tarena … wo … was ist passiert?“, frage ich verwirrt und Tarena muss sich trotz allem anstrengen, ihre Freude über die echte, bewusste Lebendigkeit meiner Stimme zu unterdrücken.

„Du bist passiert, mein Schatz“, sagt Tarena mit einer wohl kalkulierten Mischung aus Kälte und Herzlichkeit, „wieder einmal. Doch diesmal wirst du in Ordnung bringen, was du angerichtet hast. Oder bei dem Versuch sterben!“

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